Elftes Kapitel
Dystran, der Herr vom Berge, hörte das ferne Brüllen der Männer und die Einschläge der Sprüche. Er nahm den leichten Geruch von Rauch wahr, den der Wind durch die offenen Fenster hereinwehte, und wusste, dass der Morgen gekommen war. Dieser Morgen war jedoch anders als die vergangenen. Eilig zog er sich an und ließ das Tablett mit dem Frühstück unbeachtet, das man ihm, während er noch geschlafen hatte, auf die Kommode gestellt hatte. Er eilte die Treppen seines Turms hinunter, der inmitten eines Kreises von sechs ähnlichen Türmen stand.
Mit einem Schnippen rief er seine Leibwache zu sich und wartete ungeduldig im Stall, während die Pferde geholt und gesattelt wurden. Er hätte auch seine Ratgeber konsultieren können, doch er verzichtete darauf. In diesem Krieg geschahen zu viele Dinge, die er nicht aus erster Hand sah. Die Verzögerung erlaubte es ihm immerhin, einige Befehle zu geben. Es sollten seine einzigen Worte bleiben, bis er über dem Osttor auf dem Wall stand.
»Holt mir Chandyr zum Tor, und zwar schnell. Es ist mir egal, ob er in einer Lache seines eigenen Blutes liegt, ich muss mit ihm reden. Außerdem will ich in meinem Sprechzimmer, wenn ich zurückkehre, eine Einschätzung der Stärke Julatsas hören und einen Mann vorfinden, der Bescheid weiß und mit dem ich darüber reden kann. Drittens will ich wissen, um welche Stunde wir eine Angleichung der Dimensionen erreicht haben, die es uns erlaubt, eine Dimensionsverbindung oder etwas ähnlich Zerstörerisches zu wirken. Und jetzt macht Platz, ich muss zu den Wällen. Ich habe zu tun.«
Einer seiner Leibwächter rannte zum Kreis der Türme zurück, um Dystrans Anweisungen weiterzugeben. Zwei weitere stiegen auf die Pferde und eilten im Galopp zum Osttor des Kollegs. Die übrigen drei nahmen Dystran in die Mitte, als er sein Tier mit den Hacken antrieb und in die Stadt aufbrach.
Er war lange nicht geritten. Es war leicht, sich vorzustellen, der Krieg verlaufe nach Plan, solange er sicher und abgeschirmt im Kolleg saß. Sobald die Tore geschlossen waren, konnte man mühelos die Wirklichkeit verdrängen. Doch hier draußen in den Straßen war sein Volk alles andere als gelassen. Geschäfte gingen bankrott, die Menschen begannen allmählich zu hungern, während die Rationen knapp wurden. Es war Frühling, und auf den Feldern der Bauernhöfe, die Lebensmittel nach Xetesk lieferten, hätten Korn und Früchte wachsen sollen. Doch die meisten Höfe waren verlassen und verwildert – oder, noch schlimmer, sie belieferten die Feinde.
Dystran musste seinem Volk begreiflich machen, dass sie nicht so weit gegangen waren, um jetzt noch umzukehren und sich der alten Ordnung zu unterwerfen, die Xetesk entmachten wollte. Die ihn entmachten wollte. Er musste sein Volk hinter sich wissen, und es musste an den Ruhm von Xetesk glauben. In den ersten Tagen der Belagerung war die Unterstützung unerschütterlich geblieben. Seine Versuche, alle Bürger in die Anstrengungen einzubeziehen, damit sie das Gefühl bekamen, um ihr eigenes Überleben zu kämpfen, hatten zunächst funktioniert. Von den Sanitätern über die Wasserträger und die Köche in den Suppenküchen bis zu den Waffenschmieden hatte jeder seine Aufgabe übernomen. Ein außerordentlicher Gemeinschaftsgeist war entstanden.
Wie schnell doch diese Unterstützung schwand. Kaum vierzig Tage Kampf, und schon verloren sie ihren Glauben. Die Augen, die sie auf ihn richteten, blickten ängstlich oder wütend oder beides zugleich. Er konnte ihre Sorgen verstehen. Keiner von ihnen durfte die Kämpfe beobachten, wenn er nicht als Hilfskraft eingeteilt war, und dies bedeutete, dass die meisten nichts als Gerüchte zu hören bekamen, die Tag für Tag die Runde machten. Die meisten waren übertrieben, einige musste man beinahe als Lügen bezeichnen. Dagegen konnte Dystran nicht viel tun, denn da es keine überzeugenden Anzeichen eines Sieges gab, sahen die Menschen das Verhängnis nahen, und darüber konnte man bei einigen Gläschen vortrefflich jammern.
Es war ein so schwerer Weg gewesen. Er hatte versucht, den Glauben seines Volks zu erhalten, ohne offen sagen zu können, warum sie solche Qualen erdulden mussten. Ein Krieg, den sie nicht sehen durften, der sie aber trotzdem in den Abgrund reißen konnte, falls sich das Los gegen sie wandte.
Wie konnte Dystran ihnen erklären, dass sie nur noch ein paar Tage warten mussten? Wenn er es tat, würden es auch seine Feinde erfahren, und das durfte nicht sein.
»Haltet nur durch«, flüsterte er, als er an den Menschen vorbeikam, die sich verzweifelt an ihn wandten. »Haltet durch.«
Er ritt durch die Militärstellungen am Osttor. Die Befestigungen sahen an allen vier Eingängen der Stadt ähnlich aus. Wachtposten winkten ihn durch und wiesen ihm den Weg zum mächtigen, verschlossenen Tor. Es war siebzig Fuß hoch, mit Eisen beschlagen und saß in einem hundert Fuß hohen Steinbogen, der bis zur Spitze des großen Turms am Osttor reichte. Dort oben im Turm gab es einen Bogengang, von dem aus die Generäle die Schlacht leiten konnten, die eine halbe Meile entfernt auf offenem Gelände stattfand. Dort oben waren sie sicher und standen hoch über zahlreichen Pechnasen und verstärkten Wällen.
Zu beiden Seiten des Turms erstreckten sich, eine Meile weit oder noch länger, die Mauern der Stadt, auf denen in regelmäßigen Abständen weitere, mit Bogenschützen und Wächtern besetzte Türme standen. Im Augenblick war es dort ruhig, weil ein großer Teil der Streitkräfte auf den Schlachtfeldern zusammengezogen war. Doch auch die Mauern selbst waren schon abschreckend genug. Tief in der Erde verankert, von innen weiter verstärkt und ein wenig nach außen geneigt, ragten sie siebzig Fuß auf, ebenso hoch wie die Tore. Sie waren noch nie bezwungen worden, und Dystran dachte beruhigt daran, welche Kräfte die Feinde aufbieten müssten, um die Sicherheit der Stadt ernstlich zu gefährden.
Doch wie in allen eingefriedeten Siedlungen waren auch hier die Tore der Schwachpunkt.
Inmitten des kriegerischen Lärms stieg er ab. Hunderte Soldaten eilten umher, Offiziere bellten Befehle, Schmiedehämmer klirrten auf neuen Waffen, Hufeisen und beschädigten Rüstungen. Hier war es gut zwanzig Grad wärmer als im Kolleg. Links von ihm wehte Dampf aus einer Küche, und dahinter lagen im Lazarett Männer im Sterben, die Tag für Tag vom Schlachtfeld hergebracht wurden.
Doch noch viel mehr Männer waren bereit und warteten gut ausgebildet auf den Befehl zum Vorstoß. Der Tag war nahe, obwohl nicht einmal seine Generäle eingeweiht waren. Nur Dystran und Ranyl wussten es. Er musste die Karten, die er noch im Ärmel hatte, mit Bedacht spielen.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Dystran die Wendeltreppe zum Wall hinauf. Sein Unbehagen nahm zu, er rannte fast über den Wehrgang und stürmte über die zentrale Treppe in den Turm. Oben angekommen, sah er, dass Chandyr schon dort war … und er sah zum ersten Mal mit eigenen Augen das Opfer, das im Namen von Xetesk und für den Herrn vom Berge erbracht wurde. Er stützte sich auf das unbequeme, schön geschnitzte Geländer und starrte auf die Schlacht hinaus, so weit er sie überblicken konnte.
Die jüngste Trockenheit hatte die Erde ausgedörrt, sodass eine Staubwolke über den kämpfenden Parteien hing, die vom Rauch der Feuer und den brennenden Sprüchen noch verstärkt wurde. Dystran konnte im Dunst gerade eben die Kampfreihen ausmachen. Die Xeteskianer waren in einer fünfhundert Schritt breiten Linie diszipliniert aufgestellt, an zehn Punkten von Protektoren verstärkt.
Die riesigen maskierten Krieger führten die Verteidiger an und sorgten im ganzen Kampfgebiet für einen gedankenschnellen Informationsaustausch. Außerdem flößten sie seinen Männern Selbstvertrauen ein. Dystran stellte sich den Seelenverband tief in den Katakomben des Kollegs vor, der vor Aktivität förmlich brodelte. Obwohl sie individuell kämpften, waren die Protektoren durch ein Gruppenbewusstsein miteinander verbunden und konnten sich im Kampf gegenseitig auf Gefahren und Gelegenheiten aufmerksam machen. So wurden sie zu einer schrecklichen Streitmacht – schwer zu besiegen und vernichtend für die Moral der Feinde.
Hinter der Frontlinie stand die Reserve bereit. Die Kämpfer stießen aufmunternde Rufe aus, schleppten die Verletzten vom Schlachtfeld und füllten die Lücken in den eigenen Reihen.
Noch weiter hinten saßen oder standen Magier unter dem Schutz von Wächtern in Gruppen beisammen. Einige feuerten offensive Sprüche auf die feindlichen Kräfte ab, andere hielten gemeinsame Schilde aufrecht, an denen feindliche Sprüche und Geschosse abprallten.
Seine Bogenschützen und die Kavallerie vervollständigten das Bild. Beide waren ständig in Bewegung, beide besaßen eine eigene magische Verteidigung.
Je nach den taktischen Gegebenheiten wurden sie an verschiedenen Stellen eingesetzt. Die Bogenschützen beschäftigten die feindlichen Magier und zwangen sie, ständig Schutzschilde zu halten, während die Kavallerie in Dreiergruppen links und rechts und im Zentrum aufgestellt war, um Vorstöße der gegnerischen Schwertkämpfer oder Reiter abzuwehren oder etwaige Schwächen in den feindlichen Linien auszunutzen.
Während Dystran zuschaute, geriet das Zentrum der feindlichen Reihen unter Druck, und immer mehr Männer wurden in ein Handgemenge verwickelt. Stahl funkelte im Rauch und im Staub. Das Brüllen der Kämpfer wurde lauter, und hinter den feindlichen Kriegern flogen Sprüche in hohem Bogen durch die Luft. Feuerkugeln, grün oder gelb gefärbt, stiegen mit dampfendem Schweif auf und stürzten weiter hinten auf die Reihen der Magier und Bogenschützen. Dunkelblaue Schilde blitzten über den geschützten Truppen und wehrten die sonnenheißen Mana-Kugeln ab. Die Kraft der feindlichen Sprüche wurde in den Boden abgelenkt und warf Erdbrocken hoch.
Gleich nach dem magischen Feuer kamen Pfeile geflogen, dann setzte die Kavallerie mit blitzenden Waffen und donnernden Hufen nach. Energisch stießen sie auf der linken Flanke vor. Es war ein mitreißender Anblick. Dystran zuckte zusammen, als die xeteskianische Kavallerie losritt, um die Gegner zwischen den Fronten abzufangen.
Die feindlichen Kräfte trafen aufeinander und lösten sich in kleinere Gruppen auf, bis in der Masse von Männern und Pferden viele einzelne Kämpfe entbrannt waren. Dann aber schlug der lysternische Kommandant einen Bogen, nutzte mit atemberaubender Geschwindigkeit eine Schwäche aus und schoss durch eine Lücke, die Dystran aus dieser Entfernung nicht sehen konnte, um einen xeteskianischen Kavalleristen niederzumachen.
Es hätte Darrick sein können. Eigentlich sah der ganze Angriff danach aus, als wäre er vom ehemaligen General entworfen worden, so perfekt wurde er durchgeführt.
Die xeteskianischen Magier und Bogenschützen reagierten, Pfeilsalven wurden abgefeuert. Todeshagel prasselte auf Metall, Bogen und Schilde. Heißer Regen ging zischend nieder, jeder Tropfen zog eine Rauchfahne hinter sich her. Höllenfeuer raste aus dem klaren Himmel herab und übertönte mit seinem Brüllen vorübergehend alle anderen Geräusche. Die lysternischen Schilde blitzten grün und hielten die Einschläge ab, frischer Rauch stieg in die Luft. Am Rand brach ein Spruchschild zusammen, nachdem das Höllenfeuer ihn mit übermächtiger Wucht getroffen und durchschlagen hatte. Mit einem lauten Knall brach der xeteskianische Spruch durch. Die Bogenschützen darunter hatten keine Chance.
Dystran wartete noch einige Augenblicke und freute sich darüber, dass auch dieser jüngste Angriff der Gegner zurückgeschlagen worden war. Doch genau wie zuvor, als er aufgewacht war, konnte er das unbestimmte Gefühl nicht abstreifen, dass sich irgendetwas Wesentliches verändert hatte. Er hatte die Schlacht noch nicht lange genug beobachtet, um es genau bestimmen zu können, aber glücklicherweise stand er neben einem Mann, der Bescheid wusste.
»Sagt mir, Kommandant, Chandyr, was ist heute anders?«
Chandyr lächelte und wandte sich kurz zu seinem Lord um. Er war ein erfahrener Soldat, dessen wettergegerbtes Gesicht die Narben der unzähligen Scharmützel trug, die nun einmal zum Leben eines Berufssoldaten gehörten.
»Euch hätte ich gut in der Armee brauchen können, Mylord«, sagte er. »Den meisten meiner Ratgeber ist nichts aufgefallen.«
»Im Gegensatz zu Euch selbst.«
»Es gibt mehrere Veränderungen, und ich sollte Euch gleich sagen, dass dies an allen Fronten gleichzeitig geschieht. Ich war schon am Morgen gezwungen, weitere Reserven einzuteilen. Zuerst einmal greifen sie verbissener an als jemals in den vergangenen zehn Tagen. Meiner Ansicht nach glauben sie, wir würden bald mit einer Offensive beginnen. Zweitens sind nur noch wenige Elfenmagier im Einsatz, und das sagt mir, dass sie entweder ausruhen oder sich ihrer Fähigkeit, Sprüche zu wirken, nicht mehr sicher sind, oder beides zugleich. Drittens kann ich im Augenblick kaum noch Elfenkrieger entdecken. Das ist das Seltsamste, denn vor kurzem haben in der vordersten Reihe noch sehr viele von ihnen gekämpft.«
»Haben sie Verstärkung bekommen?«
»Das ist denkbar, aber woher?«, lautete Chandyrs Gegenfrage. »Und wenn man davon ausgeht, dass sie unsere Abwehr durchbrechen wollen, warum ziehen sie dann Kräfte zurück, statt sie nach vorn zu werfen?«
Dystran kicherte. »Mein lieber Chandyr, Ihr seid der Militärexperte. Ich glaube, diese Frage sollte ich Euch stellen, nicht umgekehrt.«
»Verzeihung, Mylord. Ich habe nur laut nachgedacht.« Chandyr räusperte sich. »Ich muss davon ausgehen, dass sie einige frische Söldner gefunden haben oder einen der Barone überzeugen konnten, sie zu unterstützen. Wie auch immer, so bekommen die Elfen eine Verschnaufpause und können sich neu formieren, und ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Sie rechnen damit, dass wir etwas unternehmen, und sie sind bereit.«
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Dystran.
»Wir haben nicht sehr viele Möglichkeiten, Mylord. Wie Eure Planungen auch aussehen mögen, ich würde vorschlagen, dass Ihr sie nicht umstoßt. Wir sollten auch nicht unseren Plan aufgeben, durch das Nordtor anzugreifen, denn alle anderen Möglichkeiten würden dazu führen, dass wir uns zu lange in offenem Feld bewegen müssen und das Überraschungsmoment verlieren. Ich glaube nicht, dass die Elfen einen großen Angriff planen, denn damit würden sie scheitern. Wir müssen aber damit rechnen, dass sie uns auf die eine oder andere Weise unter Zugzwang setzen.«
»Danke, Kommandant«, sagte Dystran.
»Mylord?«
Dystran wandte sich zu dem ängstlichen jungen Burschen um, der das Armband eines Boten trug.
»Sprich«, forderte der Herr vom Berge ihn auf.
»Ich habe Befehl, Euch vom Hauptmann Eurer Kollegwache auszurichten, dass er etwas gefunden hat, das Ihr Euch dringend ansehen müsst.« Er lächelte unsicher.
Dystran nickte. »Sehr gut. Geh und hole dir aus der Küche etwas zu essen, und dann kehrst du auf deinen Posten zurück. Gut gemacht.«
Der Bote verneigte sich und rannte auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen war. Dystran gab Chandyr die Hand.
»Haltet mich auf dem Laufenden. Unterrichtet mich sofort, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht. Unsere Zeit wird bald kommen, seid bereit.«
»Jederzeit, Mylord.«
Nach einem raschen Galopp zurück zum Kolleg wurde Dystran schon am Tor von Hauptmann Suarav abgefangen, einem vernarbten und zynischen Offizier, der über vierzig Jahre alt, pflichtbewusst und seinem Vorgesetzten treu ergeben war. Ein Mann, dem Dystran instinktiv blind vertraute. Er lächelte in sich hinein. Ranyl hätte ihn vermutlich daran erinnert, dass er auch Yron vertraut hatte, dem Helden, der zum Verräter geworden war. Er fragte sich, was aus Yron geworden war. Tot, nahm er an, und wahrscheinlich gestorben durch die Hände eines Elfenkriegers; also ein durchaus angemessenes Ende.
»Mylord, normalerweise würde ich Euch damit nicht behelligen, aber ich dachte, Ihr solltet es selbst sehen, bevor aufgeräumt wird.«
Dystran sprang vom Pferd und gab einem wartenden Stallburschen die Zügel.
»Was denn?«
»Hier entlang, Mylord.«
Suarav deutete zur Mauer des Kollegs und übernahm die Führung. Rasch liefen sie über die freie Fläche zwischen den Häusern der Stadt und dem Kolleg und näherten sich einer Ansammlung von schmucklosen Wohn- und Lagerhäusern mit kahlen Mauern. Der Hauptmann der Wache ging eine stinkende, schmale Gasse hinunter, bis er im Dämmerlicht stand, das dem strahlenden Morgen trotzte. Ein Summen, das sie vor sich hörten, entpuppte sich als Fliegenschwarm, der um drei hilflos mit den Händen wedelnde Wächter kreiste.
»Dies ist nicht der richtige Augenblick für eine Führung durch die Elendsviertel von Xetesk«, sagte Dystran, der sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum er hierher geführt wurde.
»Ich kann Euch versichern, dass mir nichts ferner liegt«, erwiderte Suarav. Sein Tonfall klang nicht eben fröhlich.
Schweigend gingen sie weiter durch die Gasse. Nach etwa dreißig Schritten stand Dystran vor fünf Toten. Die Ratten hatten die Leichen bereits angefressen. Zwei von ihnen trugen einfache Kleidung, und sie waren Dystran herzlich gleichgültig. Die anderen drei aber gehörten zur Stadtwache.
»Wie lange sind sie schon tot?«, fragte er.
»Einen Tag, vielleicht etwas länger«, erklärte Suarav. »Sie wurden vermisst, aber mit so etwas haben wir nicht gerechnet. Wie Ihr wisst, gab es auch einige Fälle von Fahnenflucht.«
Ohne auf den Leichengestank und die Fliegenschwärme über den Toten zu achten, knieten Dystran und Suarav nieder, um sich einen genaueren Eindruck zu verschaffen.
»Zuerst dachten wir, es habe eine Auseinandersetzung zwischen Dieben uns unseren Männern gegeben, aber diese Möglichkeit müssen wir ausschließen.«
»Warum?«, fragte Dystran, der genau dies bereits vermutet hatte. Er drehte den Kopf zur Seite, um etwas frische Luft zu schnappen.
»Seht Euch nur die Wunden an«, sagte Suarav. »Diese armen Kerle hier haben keine sichtbaren Verletzungen, aber ihre Hälse sind gebrochen. Ich fürchte, alle wurden von denselben Feinden getötet. Wir haben so etwas schon einmal in diesen Gassen gesehen.«
»Elfen«, knirschte Dystran. »In meiner Stadt. Schon wieder.«
Die Elfen hatten mit Yrons Hilfe das alte Bruchstück des Daumens direkt unter der Nase der Xeteskianer zurückgeholt. Damit hatte die Elfenseuche schlagartig aufgehört, und Xetesk war ins Hintertreffen geraten. So etwas durfte keinesfalls noch einmal geschehen. Dystran richtete sich rasch auf und verließ die Gasse, Suarav folgte ihm auf dem Fuß.
»Verdoppelt die Streifen, verdreifacht die Wachen vor den Archiven und setzt alle verfügbaren Männer ein, um die Zugänge zu den Katakomben zu überwachen. Heute Nacht wird in diesem Kolleg niemand schlafen, der ein Schwert führen oder einen Spruch wirken kann. Habt Ihr verstanden?«
»Mylord?«
»Heute haben nicht viele Elfen an der Schlacht teilgenommen. Chandyr ist der Ansicht, sie bereiten sich auf einen Ausbruch von uns vor, aber das trifft nicht zu, nicht wahr?« Dystran schüttelte den Kopf. »Einige dieser Bastarde wollen heute Nacht hier eindringen. Vielleicht sogar alle.«
Das Problem war nur, überlegte er auf dem Rückweg zum Turm, dass praktisch alle verbliebenen Protektoren aus dem Kolleg verbannt worden waren, weil ihre Loyalität infrage stand. Dystran vermutete, auch wenn er es nicht beweisen konnte, dass sie beim Diebstahl des Daumens eine Rolle gespielt hatten. Ohne die Protektoren hatte er jedoch nicht genug Männer, um das Kolleg gegen die Elfen zu sichern. Ein normaler Angriff wäre kein Problem gewesen, aber diese Gegner waren viel zu klug und viel zu verbissen. Er musste unbedingt Wachen auf den Stadtmauern postieren.
Es gab viel zu tun.
Am ersten Abend hatten Tessaya und Devun nicht viel besprochen. Der Wesmen-Lord hatte gesehen, wie müde die Schwarzen Schwingen waren, und sich für ihre Behandlung entschuldigt. Er hatte darauf bestanden, dass Devun und seine Männer in einem neu aufgeschlagenen Zelt außerhalb des Lagers untergebracht wurden.
Erst am Mittag des folgenden Tages war Devun wieder zu Tessaya gerufen worden. Er und seine Männer hatten sich inzwischen ausruhen, erfrischen und satt essen können, waren aber angesichts ihrer Lage immer noch nervös. Von einem mürrischen Wesmen-Krieger in äußerst stockendem Balaianisch zu Tessayas Zelt gerufen, entspannte Devun sich merklich, als er die Blüten in dampfenden Schalen und die Duftkerzen roch.
Tessaya war mehr oder weniger wie am Vorabend gekleidet und lud Devun ein, sich auf ein Sofa zu setzen und sich mit Brot, Früchten und Fleisch zu bedienen, die auf dem Tisch bereitstanden. Dann setzte er sich auch selbst.
»Wo waren wir gestern Abend stehen geblieben?«, fragte er. »Ihr habt mir erzählt, die Kollegien zeigten sich kriegslüstern, Julatsa habe nach unserer erfolgreichen Eroberung nach wie vor große Schwierigkeiten, und Xetesk werde gerade von den vereinigten Truppen von Lystern und Dordover belagert, nicht wahr?«
»Ja, Mylord«, bestätigte Devun.
»Bitte.« Tessaya hob eine Hand. »Ich bin nicht Euer Lord. Für Euch bin ich Tessaya, und Ihr seid für mich Devun.«
»Danke«, sagte Devun, der sich ganz wider Willen vom Charme dieses Mannes entwaffnet sah, von dem er bisher nichts anderes gehört hatte, als dass er ein Wilder sei. »Dabei genießen sie die Unterstützung der Elfen, die vom Südkontinent Calaius gekommen sind.«
»Ja, das ist faszinierend«, sagte Tessaya. »Und sie sollen sehr gute Kämpfer sein, sagtet Ihr.«
»Außerordentlich gute Kämpfer«, erwiderte Devun. »Ich wurde selbst Zeuge eines Angriffs. Drei Elfen töteten fünfzehn meiner Männer. Wie ich hörte, sind sie den Protektoren ebenbürtig.«
Tessaya zog die Augenbrauen hoch. »Das wäre wirklich sehenswert. Aber kommen wir zur Sache. Ihr wendet Euch an mich, weil Ihr Hilfe braucht. Mir ist allerdings nicht ganz klar, wie ich Euch helfen kann. Ich kann mich kaum einer Belagerung anschließen, die von meinen Erzfeinden durchgeführt wird, und ich sehe auch keinen Sinn darin, sie anzugreifen und damit Xetesk, dem weitaus schlimmsten unter den Kollegien, aus der Klemme zu helfen.«
Er lehnte sich zurück, nahm einen Apfel vom Teller und biss hinein, dann spülte er mit einem Schluck aus dem Weinkelch nach. Devun sah sich von Tessayas eindringlichem Blick durchbohrt, seine Augen funkelten unter den dicken Augenbrauen.
»Ich stimme Eurer Einschätzung zu, und ich will Euch auch nicht bitten, Euch der Belagerung der Kollegien anzuschließen. Bevor Selik vom Raben ermordet wurde, baute er eine Armee der Gerechten auf. Gewöhnliche Balaianer, die genau wie Ihr und ich dem Übel, das Magie genannt wird, ein Ende setzen wollen.
Er wollte gegen Xetesk eine neue Front eröffnen, die Mauern niederreißen und es damit Lystern und Dordover erlauben, die Türme des Kollegs zu zerstören. Unsere Armee verzagte jedoch angesichts der Wälle und braucht frische Energie. Die Wesmen könnten uns als Freunde und Verbündete diesen Ansporn geben.«
Devun hoffte, sein Anliegen so geschickt vorgebracht zu haben, wie Selik es getan hätte. Mit leicht zitternder Hand schenkte er sich ein Glas schweren Rotwein ein und bemühte sich, seine angespannten Schultern zu lockern.
»Die Wesmen sind nicht daran gewöhnt, als bloße Ablenkung aufzutreten«, erwiderte Tessaya. »Es bleibt unser erklärtes Ziel, eines Tages im Zentrum von Xetesk zu stehen und die Türme selbst niederzureißen. Nun sagt mir, glaubt Ihr, dass Xetesk sich in dieser Belagerung gut hält?«
»Bisher halten sie sich sehr gut, wie es scheint. Sie haben keine Anstalten gemacht, die Belagerung zu durchbrechen, doch nach allen Berichten, die ich bekommen habe, sind ihre Kräfte vor den Toren noch nicht einmal ernsthaft auf die Probe gestellt worden. Allerdings muss ich zugeben, dass meine Informationen alles andere als erschöpfend sind.«
Tessaya leerte sein Glas und schenkte sich nach, während er antwortete. »Ihr seid kein geborener Militärtaktiker, Devun. Das soll keine Respektlosigkeit sein. Ich dagegen habe die Kriegführung im Osten studiert, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelt hat, seit unsere Schreiber solche Dinge aufzeichnen. Auch die Geister können uns viel verraten, wenn man weiß, welche Fragen man zu stellen hat.
Nach Euren Ausführungen und nach dem, was ich aus anderen Quellen weiß, halte ich zweierlei für denkbar. Zuerst einmal die Möglichkeit, dass die Belagerer Xetesk nicht niederwerfen, sondern zur Aufgabe bewegen wollen. Lystern hat meines Wissens kein Interesse, Xetesk sterben zu lassen, strebt aber offenbar einen Wechsel der Führung an. Über Dordover weiß ich wenig, sie scheinen aber kämpferischer zu sein. Zweitens besteht die Möglichkeit, dass Xetesk auf eine günstige Gelegenheit wartet. Verwechselt nicht das Ausbleiben von Taten mit der Unfähigkeit zu handeln.«
»Warum sollten sie darauf verzichten, die Belagerung bei der erstbesten Gelegenheit zu durchbrechen?« Devun war gleichermaßen verwirrt und verlegen.
»Wer kann schon sagen, was im Kopf eines Magiers vor sich geht, Devun?«, erwiderte Tessaya lächelnd, und Devun fühlte sich, als habe ihn sein Vater milde zurechtgewiesen. »Vielleicht irre ich mich auch. Jedenfalls müssen wir sehr scharf nachdenken. Ich sehe beispielsweise die folgende Schwierigkeit: Falls ich als Anführer einer Armee in Erscheinung träte und ins Land der Kollegien einmarschierte, würden sich die Kollegien sofort gegen den neuen, gemeinsamen Feind verbünden.
Es ist seltsam, dass Ihr und Selik diese Möglichkeit nicht bedacht habt, und ein misstrauischer Mann könnte sich durchaus Gedanken machen, was Eure wahren Motive dafür sind, hierher zu kommen und mich aufzufordern, in den Krieg zu ziehen.«
Er hielt inne, und Devun wurde kreidebleich. Eigentlich wollte er protestieren, doch falls Tessaya ihn wirklich für einen Agenten hielt, der irgendwie im Auftrag der Kollegien tätig war, dann war er sowieso schon so gut wie tot. So beschränkte er sich darauf, einen großen Schluck zu trinken.
Tessaya kicherte. »Gut. Ich bin froh, dass Ihr es nicht für nötig haltet, Euch zu rechtfertigen. Außerdem kenne ich die Überzeugungen der Schwarzen Schwingen, und ich teile sie. Ich glaube, Euer einziges Verbrechen ist Eure Naivität. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Feldzug nicht infrage kommt, dann müssen wir hoffen, dass die Xeteskianer zuschlagen. Wenn wir weiter annehmen, dass sie genau wie wir die Vorherrschaft im Land der Magier gewinnen wollen – was werden sie dann tun?«
Diese Frage konnte Devun beantworten, weil Selik es ihm gesagt hatte. »Sie wollen nach Julatsa«, erklärte er. »Um zu vollenden, was Ihr begonnen habt.«
»Genau. Dadurch helfen sie auch uns, und zugleich locken sie einen großen Teil der Belagerungsarmee von ihren Mauern fort, die sie natürlich aufhalten will. Falls sich dies bewahrheiten sollte, könnte ich mich überzeugen lassen, ebenfalls zuzuschlagen.«
»Was soll ich dann tun?«
»Kehrt nach Xetesk zurück. Beobachtet sie, bis sie ihren Vorstoß unternehmen, falls sie das wirklich tun. Vergesst nicht: Wenn sie keinen Ausfall unternehmen, dann hilft uns das ebenso, wie uns ihr Marsch gegen Julatsa helfen würde. Und wenn sie sich ergeben, dann würde ich sogar vorschlagen, dass wir als Erstes gegen Julatsa ziehen.«
»Ihr seid anscheinend sehr gut informiert«, sagte Devun.
»Nein«, erwiderte Tessaya, »aber ich kann erraten, was in den Köpfen der Militärführer vorgeht. Deshalb lebe ich noch.«
»Ich habe bereits gehört, welche großen Taten Ihr vollbracht habt«, sagte Devun.
»Es waren lediglich notwendige Entscheidungen, damit mein Volk nicht ausgelöscht wurde.« Tessaya winkte beschwichtigend ab. »Wir müssen noch über eine weitere Angelegenheit sprechen, ehe Ihr wieder aufbrecht – nämlich über die Frage, was die Wesmen durch ein solches Bündnis zu gewinnen hätten. Ich gehe doch davon aus, dass Ihr die Autorität besitzt, mir zu gewähren, was ich verlange.«
»Sagt mir, was es ist, und ich will alles in meiner Macht Stehende tun, damit Ihr es bekommt«, sagte Devun.
»Ah, genau da liegt ja das Problem. Wie groß ist Eure Macht? Und bitte begeht nicht den Fehler zu glauben, wir würden uns einfach wieder hinter die Blackthorne-Berge zurückziehen, wenn die Kollegien niedergeworfen sind.«
Wieder lief es Devun kalt den Rücken herunter. Er hatte die Konsequenzen nicht bis zum bitteren Ende durchdacht, und nun war Tessaya über die Schwäche des östlichen Balaia bestens informiert. Es war zu spät, um den Geist wieder in die Flasche zurückzuschicken.
»Die Schwarzen Schwingen, die ich anführe, haben das Volk hinter sich. Wenn die Magie verschwunden ist, können der Osten und der Westen Seite an Seite leben. Wir können Balaia in eine Zukunft führen, in der wir alle im Wohlstand leben können. Das wird natürlich eine Weile dauern. Die Menschen werden misstrauisch sein, und selbst meine Worte reichen möglicherweise nicht aus, falls andere beschließen, die Lage zu ihrem Vorteil zu nutzen.«
»So ist es.« Tessaya lächelte breit. »Jetzt trinkt aus und redet mit Euren Männern. Ich muss Pläne schmieden, den Rat einberufen und die Armee mobilisieren, und das alles muss sehr schnell vor sich gehen. Ich rufe Euch heute Abend wieder zu mir. Dann werdet Ihr mir sagen, was Ihr den Wesmen anbietet, und ich werde Euch erklären, welche Garantien wir Euch geben. Enttäuscht mich nicht.«
»Davor braucht Ihr keine Angst zu haben.« Devun stand auf, sein Herz pochte heftig, und sein Magen machte Bocksprünge. Er versuchte, nicht weiter über das nachzudenken, was er gerade in Gang gesetzt hatte.
»Oh, noch eins, wenn Ihr so freundlich sein wollt«, sagte Tessaya. »Ihr habt den Raben erwähnt. Was ist eigentlich aus ihm geworden?«
Zorn verdrängte das flaue Gefühl, als Devun alles erzählte, was er wusste.