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Pfeil

 

848. Zyklus Gottes, 2. Tag des Solasauf

15. Jahr des wahren Aufstiegs

 

Es war Nacht, und Kovan zitterte immer noch. Am Nachmittag hatte er zu schlafen versucht, aber der Schrecken hatte ihn nicht losgelassen, und auch in seinen Träumen hatte er nur Mirrons Verwandlung gesehen. Manchmal waren es nur ihre Hände gewesen, manchmal waren Blätter aus ihrem Körper gewachsen, und ihr Gesicht hatte ausgesehen wie krankes Holz.

Er hatte nichts tun können, außer mit anderen darüber zu reden, aber auch das hatte nichts genützt. Seine Mutter hatte ihn getröstet, sein Vater hatte ihn in die Villa begleitet, wo Vater Kessian und die Autorität ausführlich mit ihm gesprochen hatten, weil sie verstehen wollten, was geschehen war. Zuerst hatten sie ihm nicht glauben wollen und es für die Fantasie eines Heranwachsenden gehalten. Als aber Mirron wieder zu reden begonnen hatte, wären sie beinahe in Panik geraten.

Vieles hatte Kovan in seiner Benommenheit nicht mitbekommen. Auf jeden Fall hatten sie in ihren Büchern gesucht und immer wieder hitzige Debatten begonnen und sich sogar gestritten. Immer wieder hatten sie ihn ausgefragt, um sicher zu sein, dass er kein Detail ausgelassen hatte. Er hatte sogar still sitzen müssen, während ein Künstler seine Schilderung in Zeichnungen festgehalten hatte.

Endlich waren sie fertig mit ihm, obwohl nichts dabei herausgekommen war. Auch Mirron hatte das Rätsel nicht lösen können. Sie war und blieb verwirrt, wie es schien. Kovan hatte sich geweigert, die Villa zu verlassen, bis Vater Kessian ihm versichern konnte, dass ihr nichts fehlte. Es war schon spät, als der alte Mann schließlich in die Bibliothek kam, wo Kovan sich mit Büchern abzulenken versuchte. Er sprang sofort auf, als die Tür geöffnet wurde.

Schwer auf seine Krücken gestützt, schlurfte Kessian herein. Er wirkte erschöpft und war blass, weil er sich eine hartnäckige Infektion in der Brust zugezogen hatte. Mit zitternden Händen hielt er sich an den Gehstöcken fest. Genna Kessian trat hinter ihm ein, war aber eher um ihren Gatten als um Kovan besorgt.

»Es ist gut, dass du gewartet hast«, sagte Kessian. Er sprach leise, und man hörte den Schleim in der Brust rasseln. »Bleib nur sitzen.«

»Ich konnte doch nicht einfach verschwinden«, entgegnete Kovan. »Wie geht es ihr? Ist sie wohlauf?«

»Soweit wir es sagen können, fehlt ihr nichts«, sagte Kessian. »Weder Ossacer noch Genna können irgendetwas finden.«

»Hat sie noch etwas dazu gesagt, wie sie sich gefühlt hat und was passiert ist?«

»Dieses und jenes«, meinte Kessian. »Sie ist durcheinander. Es ist aber sicher, dass deine Berührung das aufgehalten hat, was im Gange war. Ob das nun richtig war oder nicht, können wir noch nicht bestimmen, weil wir nicht wissen, ob Mirron tatsächlich in Gefahr war oder nicht.«

»Aber sie hatte eindeutig Schmerzen, ich habe es gehört«, wandte Kovan schaudernd ein. »Das werde ich nie vergessen.«

Kessian lächelte. »Ich weiß, Kovan, und wir hatten Glück, dass du dich heute entschlossen hast, nach ihr zu sehen. Aber unsere Aufgestiegenen haben inzwischen gelernt, dass Schmerz und Schreck nicht immer ein Zeichen von Gefahr sind. Manchmal ist es nur der Schreck, wenn der Körper auf etwas Neues reagiert und sich umstellt. Vielleicht ist dies auch heute geschehen. Die Zeit wird es zeigen, und Mirron wird uns bald alles erklären können.«

»Habe ich ihr dann geschadet, als ich sie berührt und es aufzuhalten versucht habe?«

»Das bezweifle ich sehr«, beruhigte Kessian ihn. »Aber jetzt geh wieder nach Hause und schlaf dich aus. Eines darfst du nicht vergessen. Du hast aus völlig ehrenwerten Gründen gehandelt, weil du hören konntest, dass Mirron gelitten hat. Dafür ist sie dir ebenso dankbar wie wir alle. Außerdem warst du bei ihr und konntest Hilfe holen. Noch wichtiger, Mirron war nicht allein, als sie diese neue Erfahrung gemacht hat, und das kann man gar nicht hoch genug einschätzen.«

Kovan lächelte beruhigt, und erst jetzt fiel ihm auf, wie müde er war. Er kam sich klein und verwundbar vor, überhaupt nicht mehr groß und stark und siebzehn Jahre alt.

»Danke, Vater Kessian.«

»Morgen kannst du wieder herkommen und dich vergewissern, wie es Mirron geht«, sagte Genna. »Ich bin sicher, dass sie dich sehen will.«

Kovan wünschte ihnen eine gute Nacht, verließ die Bibliothek und wanderte durch den Garten und die Säulengänge. Die Springbrunnen und Blumen waren an diesem Abend wundervoll beleuchtet. Kleine, am Boden aufgestellte Laternen wiesen ihm den Weg.

»Na, läufst du jetzt nach Hause?«, sprach ihn jemand aus der Dunkelheit an.

Kovan blieb stehen und drehte sich zum Sprecher um. Hinter den Lichtern erkannte er einen Schatten, der nicht zum Garten gehörte.

»Es ist schon spät, Gorian«, sagte er. »Zeit, dass ich zu Bett gehe. Und kleine Jungs müssten sowieso schon lange schlafen.«

Gorian trat ins Licht und baute sich vor ihm auf.

»Du kannst sie nicht in Ruhe lassen, was?«, sagte er, während er Kovan entgegenschlenderte. Seine Sandalen scharrten über den Stein.

»Was?« Kovan starrte ihn an. Gorian war so groß wie er und wäre in ein paar Jahren sogar stärker als er. Aber so weit war es noch nicht.

»Glaubst du denn, sie ist dort hinaufgegangen, weil sie mit dir allein sein wollte?« Gorian stand jetzt nur noch einen Schritt vor ihm. »Sie braucht Freiraum und Frieden, um sich selbst und ihre Arbeit zu verstehen. Das brauchen wir alle. Wir verstehen und achten das. Warum achtest du das nicht? Du hast sie gestört.«

»Sie hat etwas erlebt, das noch keiner von euch erlebt hat«, erwiderte Kovan. »Vater Kessian sagte, es sei ein Glück, dass ich dabei war.«

»Glück?«, höhnte Gorian. »Wir haben Glück, wenn du nicht in unserer Nähe herumschwirrst wie Fliegen um die Kuhfladen. Was konntest du schon tun, um ihr zu helfen? Du gehörst nicht zu den Aufgestiegenen. Lass sie doch einfach in Ruhe. Sie ist auf den Hügel gestiegen, um vor dir Ruhe zu haben, kapierst du das nicht?«

Kovan zuckte mit keiner Wimper. Er wusste, dass dies Gorian verunsicherte. Es war die Taktik, die man auch im Duell anwandte. »Sie hätte mich bitten können zu gehen. Das hat sie nicht getan. Vielleicht wollte sie vielmehr dir ausweichen.«

Das hatte gesessen, es verschlug Gorian einen Moment die Sprache. »Du darfst sie nicht stören. Keiner von uns darf das«, wiederholte er schließlich.

»Was glaubst du eigentlich, wer die Aufgestiegenen beschützt, wenn mein Vater nicht mehr da ist?«, höhnte Kovan. »Eure Zukunft liegt in meinen Händen.«

Gorian lachte. »Nein, ganz sicher nicht. Bei Gott, der auf uns herabschaut, du hast keine Ahnung, was? Wenn Schatzkanzler Jhered seinen Bericht abliefert, werden wir nach Estorr zur Advokatin gerufen. Wo wirst du sein, wenn wir im Palast leben und unsere Ausbildung unter dem Schutz der Advokatin selbst fortsetzen? Wahrscheinlich liegst du dann schon tot auf einem Schlachtfeld in Tsard, weil du in den Krieg ziehen musstest, um dich auf das Amt des Marschallverteidigers vorzubereiten.«

Kovan fand keine Worte, und Gorian fuhr unerbittlich fort.

»Vergiss sie«, sagte er. »Du kannst sie nie haben. Sie ist für andere da.« Sein Lächeln war voller Bosheit. »Für mich, falls ich mich dazu entscheide.«

»Das wird sie selbst entscheiden«, sagte Kovan. »Deine Überheblichkeit wird dein Untergang sein. Deine Tricks sind ihr egal, weil sie das alles selbst kann. Ich habe ihr so viel mehr zu bieten.«

Gorian schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte, so wird es nicht laufen. Weißt du was, Vasselis? Eines Tages werde ich fähig sein, dich mit einer Berührung oder mithilfe einer Laune der Elemente zu töten, die meiner Kontrolle unterliegen. Deine Schwertkunst wird dir dann auch nicht mehr helfen.«

»Drohst du mir etwa, Gorian?«

»Wie klingt das denn?« Jetzt war es an Gorian zu spotten. »Am Ende wird dein Einfluss an den Grenzen von Caraduk aufhören, während meiner bis ins Herz der Konkordanz reichen wird.« Er hielt inne und sprach leise weiter. »Lass sie los, bevor es dir wehtut. In dieser Stadt leben Menschen, die mir wichtig sind. Werde ein guter Marschallverteidiger, wie es dir vorbestimmt ist, und kümmere dich um diese Menschen. Dann können wir vielleicht Freunde sein.«

Kovan war über das, was er da hörte, ehrlich überrascht. Er betrachtete Gorian einige Augenblicke und fragte sich, ob dies auch wieder nur Spott war, aber es kam ihm nicht so vor. »Ganz so einfach ist das Leben nicht. Du wirst lernen müssen, dass ein Vasselis sein Schicksal immer selbst in die Hand nimmt. Niemand legt es für ihn fest.«

»Dann werden wir vielleicht doch keine Freunde«, sagte Gorian.

Kovan zuckte mit den Achseln und ging an ihm vorbei. »Damit kann ich leben.«

 

Mirron erwachte in einer veränderten Welt. Es dauerte eine Weile, bis sie es genau benennen konnte. Jedenfalls fühlte es sich anders an als am Abend zuvor, als sie zu Bett gegangen war. Ihre Furcht war einer tiefen Ruhe gewichen, und sie hatte ungestört geschlafen, bis die Sonne durch die offenen Läden gefallen war und sie geweckt hatte.

Jetzt lag sie mit offenen Augen im Bett und starrte die Decke an, auf der das vom Teich vor ihrem Schlafzimmerfenster reflektierte Licht spielte. Sie hörte die Brunnen plätschern und spürte schon die aufkommende Hitze des Tages. Am Himmel spürte sie den Hauch des Windes in den Federn der Vögel, die über dem reifenden Korn dahinschossen oder sich am Hafen versammelten.

Westfallen war geschäftig, der Markt war gut besucht und blühte. Die Stadt pulsierte vor Leben, auch wenn hier und da ein grauer Fleck durch ihren Kopf zog, der eine Geisteskrankheit oder eine düstere Stimmung symbolisierte. Direkt vor ihrem Fenster sprossen die Pflanzen im Garten, stießen ihre Wurzeln in den Boden, wuchsen und gediehen. Die majestätische alte Buche in der hinteren Ecke jedoch lag im Sterben. Eine Krankheit hatte ihren Stamm ergriffen und tötete sie von innen her, während an den Zweigen nur ein paar eingerollte Blätter zu sehen waren. Es entsprach genau dem Baum gestern im Obstgarten …

Mirron schüttelte mit pochendem Herzen heftig den Kopf. Ihr war heiß, und die Angst war wieder da. Sie versuchte, sich auf die tanzenden Spiegelbilder unter der Decke zu konzentrieren, konnte die Gedanken aber nicht ganz verdrängen. Jedes Mal, wenn sie nur eine Spur abgelenkt war, spürte oder empfand sie das Leben vor ihrem Fenster. Sie kannte die Windstärke und Windrichtung und den genauen Stand der Flut im Hafen.

»Immer mit der Ruhe«, sagte sie sich. »Das wird schon wieder aufhören.«

Sie konzentrierte sich auf ihren eigenen Atem und ihren Puls und setzte die Entspannungsübungen ein, die Hesther ihnen in der Anfangszeit vor ihrem Erwachen gezeigt hatte. Dabei kam allerdings nichts weiter heraus, als dass ihr Körper lauter denn je zu ihr sprach. Sie spürte das Blut in allen Venen und Arterien, die Bewegungen ihres Darms und die Luft in den Lungen. Außerdem war da ein Knistern, bei dem sie aber nicht sicher war, ob sie es mit den Ohren wahrnahm oder nicht. Es klang wie das Wachstum der Wurzeln in der Erde.

Es hörte nicht auf. Zwar konnte sie ihren Herzschlag beruhigen, aber die Entspannung vertiefte nur noch die Eindrücke, die alle um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Sie konnte es nicht ausblenden. Beinahe geriet sie in Panik; sie packte das Bettlaken und hielt sich mit geballten Fäusten daran fest. Der Baum litt, die Büsche neben ihm waren gesund und strebten der Sonne droben und dem Wasser unter ihnen entgegen. Auf dem Markt, nicht weit von der Villa entfernt, herrschte ein Gewimmel von Leben, das sie völlig zu überwältigen drohte.

»Mutter!«, rief sie mit einer Stimme, die beinahe brach. »Mutter!« Es klang fast wie ein Wehklagen, auch wenn sie es nicht beabsichtigt hatte.

Sie wusste nicht, ob es überhaupt jemand hören konnte, aber sie wollte auch nicht aufstehen und selbst nachsehen, denn sie war nicht sicher, ob ihre Beine sie überhaupt tragen konnten, auch wenn sie absolut sicher war, dass ihr körperlich nichts fehlte.

»Ma …«

Draußen auf dem Marmor tappten Sandalen, das Geräusch wurde lauter. Mirron holte tief Luft und atmete seufzend aus. Dabei hörte sie auch das Tosen der Luft in ihren Lungen. Die Tür ging auf, und Gwythen Terol trat mit sehr besorgter Miene ein.

»Was ist denn, Liebes? Alles in Ordnung?« Sie durchquerte das Zimmer und trat auf den Läufer vor dem Bett, dann setzte sie sich auf die Bettkante und legte Mirron eine Hand auf die Stirn. »Dir ist ja ganz heiß, junge Dame, und dein Gesicht ist gerötet.« Sie runzelte die Stirn. »Du wirst doch nicht krank?«

Mirron schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht ausblenden, Mutter«, sagte sie. »Es ist in meinem Kopf und hört nicht mehr auf.«

»Was meinst du damit?« Gwythens Stirnrunzeln vertiefte sich noch.

Mirron wusste nicht, wie sie es erklären sollte. »Die Welt spricht zu mir«, sagte sie, immer noch mit den Worten ringend. »Ich nehme es überall um mich herum wahr und kann es nicht verhindern.«

Gwythen stand auf. »Warte, Mirron, ich will Vater Kessian holen. Er muss es hören.«

»Lass mich nicht allein«, sagte Mirron. Ihr schossen schon wieder die Tränen in die Augen.

»Sch-sch. Es dauert doch nur einen Augenblick. Er ist nicht weit weg.«

Mirron sah ihrer Mutter hinterher, und sobald die Tür geschlossen war, forderte die Welt lautstark ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte nicht anders, sie musste nach den Wurzeln all dieser Eindrücke tasten. Was sie wahrnahm, empfing sie nicht mithilfe ihrer Ohren, aber die Eindrücke kamen ihr vor wie Geräusche. Das war für sie die einzige Art, es zu beschreiben.

Mit jedem Augenblick wurde es lauter. Insekten huschten vorbei, was sie als hohes Summen im Kopf wahrnahm. Ihre Energie brannte hell und starb schon, während sie gerade erst geboren waren, so kurz war ihre Spanne auf der Erde. Am anderen Ende des Spektrums standen die schwerfälligen Regungen tief wurzelnder Pflanzen und Bäume.

»Lasst mich in Ruhe«, sagte sie. Es war kaum mehr als ein Wimmern. »Bitte.«

Doch es wurde immer schlimmer. Sie hörte ein tiefes Grollen, das direkt unter ihr zu entstehen schien – die Bewegung der Erde selbst. Ringsum knisterte und knackte es – das Wachstum und der Tod von Blättern, Blüten und Wurzeln. Ein Kratzen und Scharren – große und kleine Tiere im Untergrund, in der Luft über ihr und draußen im Garten. Dann das Summen der Bürger von Westfallen, das immer weiter anschwoll.

Als Vater Kessian langsam und unter Schmerzen eintrat, war ihr Kopf so voll, dass sie sich kaum noch auf ihn konzentrieren konnte. Seine Stimme beruhigte sie ein wenig, und schließlich konnte sie sein besorgtes und liebevolles Gesicht betrachten, die Falten und die Runzeln. Sie brach in Tränen aus.

»Oh mein Kind, nun weine nicht«, sagte er.

»Bitte, mach, dass es aufhört«, flehte sie.

Mühsam setzte er sich neben sie und legte ihr wie ihre Mutter eine Hand auf die Stirn. Seine Reaktion verriet ihr, dass er die Hitze spürte, die von ihr ausstrahlte.

»Nun versuche mir zu erklären, wie du dich fühlst«, sagte Kessian. »Ist es so ähnlich wie gestern mit der Baumrinde?«

Mirron nickte ein wenig erleichtert. Wie immer würde der Vater ihr helfen, und dann konnte sie nachdenken und etwas lernen.

»Als ich den Baum berührt habe, hat er ganz laut mit mir gesprochen«, sagte sie. »Jetzt spricht alles zu mir.«

»Was hast du mit dem Baum getan? Versuche, dich zu erinnern.«

»Ich weiß nicht … ich habe verstanden, warum er krank war, und wollte es in Ordnung bringen. Aber das war noch nicht alles. Ich hatte das Gefühl, ein Teil von ihm zu sein.« Sie hielt inne. »Ich habe mich für kurze Zeit mit ihm verbunden und bin eins mit ihm geworden. Bis Kovan den Kontakt unterbrochen hat.«

»Hattest du auch danach noch das Gefühl, dass er mit dir gesprochen hat?«

»So laut, dass es wehgetan hat.«

»Und du konntest seine Stimme nicht ausblenden?«

»Ich erinnere mich nicht. Es hat aufgehört, als sie mich aus dem Obstgarten geholt haben.«

»Ja, das verstehe ich«, sagte Kessian. »Du warst zu weit entfernt, um ihn zu fühlen.«

»Aber warum kann ich jetzt die Leute auf dem Markt fühlen?«

Kessian riss die Augen weit auf. »Bist du sicher?«

Mirron nickte, und der Lärm nahm sofort wieder zu. Unerträglich. »Ich muss die Energiebahnen nicht sehen, um zu wissen dass sie dort sind. Ich muss auch nicht die Bahnen sehen, um zu erkennen, dass die Buche im Garten stirbt. Schneide den Stamm auf, wenn du mir nicht glaubst.«

»Oh, ich glaube dir, Mirron. Nichts von dem, was du fühlst, ist so weit hergeholt, dass ich es nicht glauben würde. Kannst du dich auch auf mich konzentrieren? Was siehst du?«

»Das will ich nicht«, sagte sie, schickte aber trotzdem unwillkürlich ihre Gedanken zu ihm hinaus.

»Weil du keinen Körper fühlen willst, der stirbt?«

Sie nickte, und dann sah sie, in welcher Verfassung sich der Vater befand. Sie erkannte die grauen und dunklen Stellen in seinen Lebenslinien und wie wenig Energie ihm noch zur Verfügung stand. Sie wollte es verdrängen. Nicht mehr lange, und sie würde erraten können, wie viel Zeit ihm noch blieb, doch das wollte sie nicht wissen. Aber sie vermochte die Gefühle, die sie durchfluteten, nicht auszusperren. Es waren das versiegende Leben selbst und seine Geräusche, die sie quälten und an ihr zerrten. Die Geräusche eines Kampfs, der nicht zu gewinnen war.

»Ich will das nicht fühlen müssen«, sagte sie und begann wieder zu weinen. »Hilf mir, damit es aufhört.«

»Mein Kind, du verbindest dich auf einer neuen Ebene mit der Welt um dich her«, erklärte Kessian sanft. »Du spürst die ganze Erde und die Elemente, aus denen wir alle bestehen, ob es ein Mensch, ein Tier oder eine Blume ist.«

»Warum denn?«, klagte sie. »Ich will das nicht. Es ist so laut.«

»Du wirst lernen, es zu steuern, wie du es bei den Visionen der Energiebahnen gelernt hast. Es ist ein Teil deiner Entwicklung, auch wenn es etwas ist, was noch niemand beschrieben hat. Versuche, es willkommen zu heißen und zu verstehen.«

»Das kann ich nicht!«, rief sie.

Die Eindrücke stürzten auf sie ein wie eine Welle am Strand. Lauter denn je forderte jedes Lebewesen ihre Aufmerksamkeit. Das -Grollen in der Erde ließ ihr die Zähne klappern, und das Kreischen des Windes in der Bucht rasselte in ihrem Kopf. Die Energie auf dem Marktplatz war jetzt ein Brüllen, und sie konnte nicht einmal mehr die einzelnen Bestandteile herausfiltern, die beim Erwachen zu ihr gesprochen hatten. Überwältigt keuchte sie und schloss fest die Augen. Es tat weh. Es tat so schrecklich weh, dass sie fürchtete, es würde sie zerreißen.

»Hilf mir«, wimmerte sie und starrte an Kessian vorbei zu ihrer Mutter. »Helft mir.«

»Versuche, ruhig zu bleiben«, sagte Kessian.

Mirron verkrampfte sich am ganzen Körper.

»Helft mir!«, schrie sie.

Die Woge riss sie mit.