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848. Zyklus Gottes, 40. Tag des Genasab
15. Jahr des wahren Aufstiegs
Gorian hatte mehr denn je das Gefühl, etwas Besonderes und sehr wichtig zu sein. So ähnlich wie ein Schauspieler, aber das hier war besser, weil die Schauspieler nur der Unterhaltung dienten. Was er tun konnte, vermochte das Schicksal aller zu verändern. Auch Ossacer war ausgewählt worden, aber er hatte so große Angst, dass er fast nichts Gescheites vollbringen konnte. Ein Glück, dass sie ihn für die einfachen Aufgaben ausgewählt hatten, sonst hätte er am Ende noch versagt, und sie hätten dumm dagestanden. Gorian wollte ihnen etwas viel Besseres zeigen.
Vater Kessian hatte ihn gebeten, es langsam anzugehen und alles zu erklären, was er tat, aber er war nicht sicher, ob sie überhaupt etwas verstehen konnten.
Im Stall herrschte ein schrecklicher Lärm. Die Kuh hatte furchtbare Schmerzen, und das Kalb in ihrem Bauch war eine Steißgeburt. Sie und auch ihr Kalb würden sterben, wenn nicht rasch etwas geschah. Eine Operation hätte nur dem Kalb helfen können. Er aber konnte beide retten.
Gwythen Terol war bei ihm. Sie hatte ihn über die Arbeit eines Herdenmeisters alles gelehrt, was sie wusste, und konnte ihm helfen. Schon im Alter von neun Jahren hatte er mehr gelernt, als sie je wissen würde. Als sie die Scheune betreten hatten, waren die Hinterläufe der Kuh eingeknickt. Die Schmerzen waren so stark, dass die Beine ihr Gewicht nicht mehr tragen konnten.
Sie hatte den Kopf zu Gorian herumgedreht, denn sie hatte seine Ausstrahlung gespürt, und warf ihm flehentliche Blicke zu, ihr zu helfen. Seine beruhigende Berührung erlaubte es den Hirten, Seile um ihren Bauch und über Balken zu schlingen, um sie aufzurichten, wenn der Augenblick gekommen war. Jetzt hielten zwei Männer ihren abgewandten Kopf fest, damit sie sich nicht selbst verletzte. Schon die Anstrengung, überhaupt am Leben zu bleiben, jagte Krämpfe durch ihren ganzen Körper. Ihre Lungen pumpten schwer, und sie war nass vor Schweiß.
Gorian ging auf die eine, Gwythen auf die andere Seite. Beide legten ihr die Hände auf die Flanken.
»Spürst du das Kalb?«, fragte sie.
Gorian nickte. Er ließ die heftig pulsierenden Energien der jungen Kuh in sich eindringen und filterte die Schmerzen heraus, bis er zwei schlagende Herzen spürte. Eines, das des Kalbs, war empfindlich und schlug schrecklich schnell.
»Es lebt noch, ist aber sehr aufgeregt«, sagte er. »Ich habe die Lebensenergien der Mutter durch mich geleitet. Auf diese Weise kann ich viel mehr als Gwythen fühlen, die nur allgemeine körperliche Zustände auffangen kann. Ich könnte euch jeden einzelnen Muskel, jeden Nerv und jede Ader beschreiben.«
»Wie ist das möglich?«, fragte ein Mann, dessen Stimme das Blöken der Kuh übertönte.
Gorian sah sich kurz um. Es war ein alter Mann, der nur die Stirn gerunzelt hatte, seit er vom Pferd gestiegen war. Anscheinend ein Ingenieur oder Wissenschaftler. »Ich bin mit allen Lebewesen verbunden. Wenn ich mich konzentriere, kann ich alles spüren und verändern. Allerdings erwarte ich nicht, dass Ihr das versteht, weil Ihr Euch nicht vorstellen könnt, was ich mit meinen Sinnen wahrnehme.«
»Gorian, konzentriere dich auf deine Arbeit«, ermahnte ihn Marschall Vasselis, dessen stolzer, aufgeblasener Sohn neben ihm stand, die Hand an seinem Schwert, das er wohl sowieso nicht zu benutzen verstand. »Wir wissen, dass diese Kuh und ihr Kalb bald sterben werden. Jetzt wollen wir sehen, was du bewirken kannst.«
»Ja, Marschall«, sagte Gorian. »Ich muss die genaue Lage des Kalbs bestimmen. Wir wissen bereits, dass es eine Steißgeburt ist, aber vielleicht kann man es noch drehen und beide retten.«
Er beugte sich dicht über die Kuh. Sie stank nach Schweiß, Kot und Angst. Ihre Haut war faltig, und Gorian konnte einige Nerven spüren. Wenn das Tier sich aufbäumte oder seine restliche Kraft zusammennahm und sich drehte, dann konnte es ihn zerquetschen. Doch es beschränkte sich darauf, seine Schmerzen und seinen ohnmächtigen Zorn herauszubrüllen. Er atmete die starken Gerüche ein und versuchte, den Gestank auszublenden.
»Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte er ihnen beiden zu.
Die Lebenskraft der Kuh strömte unregelmäßig, sie war dem Tode nahe, und ihre Kräfte verließen sie. Gorian suchte die Stellen, wo die Energiebahnen durchtrennt oder blockiert waren, dann holte er tief Luft. Im gleichen Augenblick schauderte die Kuh heftig und erbrach Galle und Blut.
»Was ist das?«, fragte Gwythen. »Ich spüre die Anspannung in vielen Muskeln, einige sind wohl auch gerissen.«
»Ja«, sagte Gorian. »Es ist sogar noch schlimmer. Um die Gebärmutter haben sich alle Muskeln verkrampft. Das Kalb ist keine saubere Steißgeburt. Es liegt mit dem unteren Rücken vor dem Geburtskanal, und die Mutter kann sich nicht weit genug entspannen, damit es sich bewegt.« Er hob die Stimme. »Ich kann die einzelnen Energiebahnen der Muskeln in der Gebärmutter spüren und erkennen, wie sie miteinander reagieren. Jetzt muss ich meine eigene Energie nutzen, um die Energien der Kuh durch diese Bahnen zu führen, damit sich die Muskeln in der richtigen Reihenfolge zusammenziehen und entspannen. Ich hoffe, Ihr versteht, was geschehen muss, auch wenn Ihr nicht nachvollziehen könnt, auf welche Weise ich dafür sorge.«
»Wirst du dein Bewusstsein einsetzen?«, fragte der große strenge Mann, der Jhered hieß. Der Einnehmer, der sie mit seinem scharfen Blick in Angst und Schrecken versetzen konnte.
»Nein, nicht ganz«, antwortete Gorian. »Mein Bewusstsein versteht, was meine Sinne mir zutragen, und so entstehen Bilder in meinem Kopf. Ich setze aber meinen ganzen Körper ein, um die Energien zu verändern oder zu verstärken, die ich selbst von außen hereinhole.«
»Das soll für den Augenblick reichen, Junge«, sagte Jhered. »Nun mach weiter und tu, was du tun musst. Der Lärm und der Gestank machen mich schwindelig.«
Im Grunde war es ganz einfach. Gwythen behielt die Kuh im Auge und passte auf, dass er ihr nicht noch mehr Schmerzen zufügte, während Gorian sich überlegte, wie er den Körper des Muttertiers einsetzen konnte, damit sich auch das Kalb bewegte. Er fand einen Rhythmus, und kaum dass er begonnen hatte, übernahm die Kuh den größten Teil der Arbeit selbst. Auch das Kalb reagierte und ruckte, bis seine Nase nach unten zeigte und den Ausgang suchte.
Die Kuh entspannte sich, sobald die Schmerzen nachließen und die Geburt näher rückte. Gorian speiste die letzten Bahnen mit Energie, während das Kalb in den Geburtskanal eintrat. Die Kuh reagierte so, wie die Natur es ihr eingegeben hatte, und versuchte aufzustehen.
»Gwythen, weg da!«
Gorian verließ die Box, die Kuh drehte sich und prallte gegen die Seite, wo er gerade noch gehockt hatte. Kräftige Arme zogen an den Seilen und zerrten sie hoch. Sie stieß ein langes, schmerzvolles Muhen aus. Obwohl er sie nicht mehr berührte, konnte Gorian durch die Luft spüren, wie angespannt ihr Körper war. Dann liefen Wellen durch ihre Flanken.
Das Kalb kam blitzschnell zur Welt. Es rutschte im Fruchtsack zusammen mit einem Schwall Blut und Schleim heraus und landete im Heu. Gorian stürzte sofort los und nahm das glitschige Neugeborene in die Arme, um Nase, Maul und Augen zu säubern. Der Besitzer griff ebenfalls zu und trennte die Nabelschnur. Gleich darauf versuchte das Kalb aufzustehen, während die Mutter sich drehen wollte, um es sauber zu lecken und mit sanften Stößen zum Euter zu bewegen, damit es trinken konnte.
»Jetzt ist alles überstanden, Kleines«, sagte Gorian, während er den schleimigen, bebenden Körper streichelte. »Dein Leben lag in meinen Händen, was? Ein Glück für dich, dass ich dich am Leben lassen wollte.«
Damit stand er auf und wischte sich die Hände an der Tunika ab, die mit Dreck und Blut verschmiert war. Lächelnd wandte er sich an Kessian und den Marschall, doch alle schienen die Stirn zu runzeln.
»Ich hab’s geschafft«, sagte er für den Fall, dass ihnen sein Triumph entgangen war. »Ohne meine Hilfe wären sie beide gestorben.«
»Was meinst du damit, es hätte Glück gehabt, dass du es am Leben lassen wolltest?«, fragte Jhered.
»Genau das, was ich gesagt habe«, erwiderte Gorian. Er war gereizt, weil sie kommentarlos über seine Arbeit hinweggingen.
»Bedeutet dies, dass du es ebenso leicht auch mit …« Er machte eine Geste und suchte nach den richtigen Worten. »Dass du es mit deinen Fähigkeiten hättest töten können?«
Gorian runzelte die Stirn. »Ich meinte nur, dass es überlebt hat, weil ich wollte, dass es überlebt. Ich bin da, ich konnte helfen, ich habe ihm das Leben geschenkt. Das hätte niemand außer mir tun können. Was wollt Ihr denn nur, könnt Ihr das nicht sehen?«
»Schon gut, Gorian«, sagte Kessian. »Er muss diese Fragen stellen. Bitte reg dich nicht auf.«
»Ich habe ihm das Leben geschenkt.« Er starrte Jhered an und stellte fest, dass er keine Angst hatte. »Und das Gleiche würde ich auch für Euch tun, wenn Ihr mich bitten würdet. Wärt Ihr dann auch misstrauisch?« Er wandte sich an seine Mutter. Meera war da und nickte ihm zu, um ihm zu zeigen, dass er seine Sache gut gemacht hatte. »Ich muss mich jetzt ausruhen, ich bin müde.«
Sie machten ihm Platz, damit er gehen konnte, aber hinter sich hörte er, wie sie redeten, wenngleich nicht über ihn. Sie hatten schon vergessen, was er getan hatte. So etwas konnte niemand außer ihm tun. Warum waren sie nicht erstaunt?
»Wohin gehen wir jetzt, Jhered?«, fragte Marschall Vasselis den Einnehmer.
»Ich glaube, wir gehen zur Leserin. Sie muss einige schwierige theologische Fragen beantworten. Danach zu Euch, Kessian. Bitte entfernt Euch nicht zu weit.«
Ihre Stimmen verloren sich hinter ihm.
»Was werden sie tun?«, wollte Gorian von seiner Mutter wissen.
»Das weiß ich nicht, Liebling«, sagte sie und drückte ihn an sich. »Aber du hast ihnen gezeigt, wie viel Gutes du bewirken kannst. Das haben auch Ossacer und die anderen getan, aber du hast zwei Tiere gerettet. Sie können dir nicht gratulieren, sie müssen misstrauisch bleiben. Das ist ihre Aufgabe. Aber mach dir keine Sorgen und ruh dich lieber aus. Sie werden morgen sicher wieder mit dir sprechen wollen.«
»Warum können sie uns nicht einfach so akzeptieren, wie es alle andere hier tun?«
Meera seufzte. »Oh mein Lieber, das ist eine schwierige Frage. Die Welt ist groß und voller Missgunst, und die Menschen haben Angst vor Dingen, die sie nicht verstehen. So war es eine Weile auch in Westfallen. Der Orden sieht die Dinge nicht so, wie Elsa Gueran sie sieht. Eines Tages wirst du es verstehen.«
»Warum ist der Orden dann nicht hier und stellt uns Fragen?« Meeras Miene verdüsterte sich. »Weil sie nicht daran interessiert sind, Fragen zu stellen oder ein gerechtes Urteil zu fällen. Wir können uns freuen, dass uns die Advokatur und nicht der Orden prüft.«
Obwohl er ihr zusetzte, wollte sie nichts weiter verraten.
Elsa Gueran wusste nicht, ob sie sich fürchten oder erleichtert sein sollte, ob sie sich lieber fügen oder sich auflehnen wollte. Allein stand sie im Haus der Masken vor Jhered, Harkov und D’Allinnius. Falls irgendjemand hier wirklich der Ketzerei schuldig war, dann musste sie an erster Stelle genannt werden. Die hübsche oder sogar schöne Frau hatte systematisch die Lehren des Ordens in ihrem eigenen und Westfallens Interesse verraten. Dies dachte Jhered jedenfalls, als er vor ihr stand. Ob sie ihn eines Besseren belehren konnte? Vielleicht konnte dies auch Harkov während der darauf folgenden Analyse tun.
»Ich weiß, dass Ihr schlecht von mir denken müsst, Schatzkanzler Jhered. So bitte ich nur darum, dass Eure Fragen gerecht sind und dass Ihr Euch meine Antworten anhören werdet. Ich bin sicher, dass ich in allem, was ich tue, Gottes Willen erfülle.«
»Seid versichert, dass ich sehr wenig von Euch halte. Die Tatsache, dass Ihr die Gewänder einer Leserin tragt und stolz im Haus der Masken sitzt, ist bereits eine Beleidigung. Es dreht mir den Magen um, da dies offenbar nur möglich ist, weil Ihr Komplizen innerhalb des Ordens habt, die Euch helfen, Eure Täuschung aufrechtzuerhalten. Ich frage mich, wie weit dies nach Estorr hineinreicht.«
»Soll ich diese Frage wirklich beantworten?«, fragte sie. Es fiel ihr schwer, angesichts seines heftigen Angriffs ihre Gefühle zu verbergen.
»Wir können ebenso hier wie an jedem anderen Punkt beginnen, und dies ist vielleicht noch die einfachste Frage, auf die Ihr heute antworten müsst«, sagte er. »Fahrt fort. Ich höre zu.«
»Was auch immer ich für den Orden als Organisation empfinde, und wie ich persönlich zu seinen Auslegungen stehe, kann in keiner Weise die außerordentlichen Dinge beeinflussen, die wir hier tun«, erwiderte Elsa. Jhered war überrascht, dass sie sogar lächelte. »Warum also sollte der Orden den Ruhm dafür beanspruchen?«
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, sagte Jhered.
Elsa erwiderte freimütig seinen Blick. Durch die offene Doppeltür strömte das Licht der Nachmittagssonne herein. Es spiegelte sich auf den polierten Schnitzereien, mit denen jedes Stückchen Holz im ganzen Haus verziert war, und auf den Masken an den Wänden, unter der niedrigen gewölbten Decke und auf den Regalen. Der kühle Seewind raschelte in den Blättern der Chroniken des Gedenkens und legte die älteren Seiten frei, die mit farbigen Zeichnungen, komplizierten Ornamenten und detaillierten, lebensechten Abbildern der Toten geschmückt waren.
»Westfallens Leser haben immer an die Wahrheit geglaubt, die vom verbotenen Zweig des Ordens repräsentiert wird, weil wir keine Angst vor dem haben, was er verkörpert. Wir glauben nicht, dass dies unsere Autorität untergräbt. Ganz im Gegenteil. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Leser aus einem kleinen Kreis von Ordensmitgliedern ausgewählt werden, von denen viele noch nie den Schlüssel zu einem Haus der Masken oder eine Wiese, auf der sie predigen konnten, erhalten haben.
Wir bleiben vorsichtig in Verbindung und bauen auf, was erbaut werden muss, weil es das wahre Wort Gottes ist, wie wir es sehen.« Sie hob beide Hände. »Mir ist klar, dass die meisten nicht unserer Meinung sind, und deshalb versuchen wir auch nicht, unsere Ansichten anderen aufzuzwingen, die sie nicht willkommen heißen.
Da wir den übrigen Orden nicht aufschrecken wollen, bleibt Westfallen abgesondert. Wenn man Verbündete hat, ist es leicht, andere davon abzuhalten hierher zureisen. Schließlich kann ich ebenso gut über diesen stillen, gläubigen Ort berichten, wenn ich mich nach Cirandon begebe. Wie Ihr wisst, haben wir einen sehr mächtigen Verbündeten.«
Jhered hatte sich unwillkürlich die Hände vor Nase und Mund gehalten. Jetzt ließ er sie langsam wieder sinken. Die Überheblichkeit der Frau verschlug ihm die Sprache. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich hinter den Schriften verschanzte und obskure Zitate hervorholte, die ihre ketzerischen Ansichten rechtfertigen sollten. Doch sie war unverfroren und selbstbewusst und vertraute denen, von denen sie annahm, sie würden sie schützen, weil der Orden nicht gekommen war, um Gerechtigkeit zu üben. Jhered hielt nicht viel von den eifrigen Verkündigungen der Kanzlerin, die überall die Kontrolle behalten wollte, aber das hier war mindestens genauso schlimm. Möglicherweise wurden hier Unschuldige verführt und vom Weg Gottes und des Glaubens abgebracht.
Er wandte sich an Harkov und D’Allinnius. Letzterer ließ sich nichts anmerken, Ersterer betrachtete Gueran anscheinend voller Achtung und mit einem leichten Lächeln. Genau deshalb hatte er die beiden auf diese Reise mitgenommen. Vasselis verdiente eine gerechte Beurteilung.
»Was Ihr gesagt habt, gilt nach den Gesetzen des Ordens als Schuldeingeständnis«, erklärte Jhered. »Ihr verhöhnt den Ort, an dem wir sitzen, und den Titel, den Ihr führt. Eure Taten sollten Euch eigentlich auf den Scheiterhaufen bringen. Euer Glück ist, dass Ihr in diesem Augenblick mir antwortet.«
»So ist es«, stimmte Elsa zu. »Aber warum seid Ihr ohne den Orden hier? Ihr sollt die Vernunft und Unparteilichkeit verkörpern, oder nicht?«
»Nein«, erwiderte Jhered energisch. »Ich bin auf Bitten der Advokatin hier, um zu beurteilen, ob eure … eure Experimente ein Verbrechen gegen die Konkordanz, den Allwissenden oder beides darstellen. Ich bin nicht unparteiisch, und Ihr tut gut daran, das nicht zu vergessen. Nun gut. Ich habe Fragen und will aufrichtige Antworten hören. Der Orden hat diesen Zweig des Glaubens vor Jahrhunderten für ungesetzlich erklärt. Es ist verboten, ihn weiter zu pflegen, da er eine Perversion von Gottes Lehren darstellt. Welches Recht habt Ihr, dies hier zu predigen !«
»Ich predige die Lehren der Schriften. Der verbotene Zweig, wie Ihr ihn nennt, wird hier nicht gepredigt. Er ist überall und durchdringt unser ganzes Leben. Ich muss den Leuten nicht erzählen, was sie sowieso schon wissen.«
»Ihr sagt, niemand in Westfallen lehnt euren Glauben ab?«, fragte Harkov.
Elsa schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich glaube nicht, dass auch nur einer von Euch die leiseste Ahnung hat, was Ihr hier erkunden sollt. Der verbotene Glaube, den wir übrigens den Aufstieg nennen, ist seit Jahrhunderten ein Teil des Lebens von Westfallen. Seit er vom Orden verworfen wurde. Es ist für uns die natürliche Lebensart, wie es bei allen sein sollte, die unserem Glauben anhängen.«
»Ihr strapaziert Euer Glück, Leserin Gueran«, schalt Jhered sie. »Ich habe die Schriften ausführlich studiert. Ich bin ein wahrer Anhänger des Glaubens und ein Angehöriger des Ordens der Allwissenheit. Ihr übt Euch in Ketzerei, wenn Ihr so mit der Natur spielt. Wie kann es der natürlichen Ordnung des Lebens entsprechen, Regen zu erzeugen, wenn Gott einen blauen Himmel erschaffen hat? Oder die Kontrolle über den Körper einer Kuh zu übernehmen, um ein Kalb in die Welt zu bringen, dessen Leben nach Gottes Willen nicht beginnen sollte? Wo in den Schriften steht das geschrieben?«
Elsa legte die Hände auf die vor ihr aufgestapelten Bücher.
»Vieles, was wir heute wissen, war noch nicht bekannt, als die Schriften entstanden. Was die Gesetze des Ordens nicht ausdrücklich erlauben, ist damit noch nicht gleich als etwas Verbotenes zu betrachten. Wäre Euer Argument zutreffend, dann dürften wir keine von Menschen gemachte Hilfsmittel verwenden, um die Kranken zu behandeln.«
Genau dorthin hatte er kommen wollen. Er wollte den Kern des Glaubens angreifen, den sie angeblich unterstützte. Dort würde er ihr Selbstvertrauen untergraben und ihre Naivität bloßstellen.
»Wäre das mein Argument gewesen, dann würde ich zustimmen. Aber das ist es nicht. Unsere Fortschritte in der Medizin und der Wissenschaft erlauben es uns, unseren Kranken die Mittel zu geben, sich zu erholen, falls ihr Wille stark genug ist und ihr Körper es will. Das kann man doch als Gottes Wille bezeichnen, oder?«
Gueran nickte. »Der natürliche Kreislauf des Lebens ist unberührt. Die Medizin darf nur bekämpfen, was den Körper, die Ernte oder das Tier gegen den Willen der Menschen oder Gottes befällt.«
Jhered knallte die Faust auf den Tisch zwischen ihnen. Die in Leder gebundenen Bände hüpften, und Elsa fuhr erschrocken zurück.
»Wie könnt Ihr dann an Euren Aufstieg glauben und gleichzeitig dem Orden treu bleiben, den Ihr nebenbei anprangert?«
»Ich prangere niemanden und nichts an, am allerwenigsten den Orden«, sagte Gueran nach einer Pause, als sie sich wieder gefasst hatte. »Der Orden verkörpert den Glauben, den ich mein Leben lang gekannt und geliebt habe, und daran wird sich nichts ändern. Er ist mein Leben. Mit jedem Atemzug fühle ich mich von den Beweisen für Gottes Segnungen überwältigt. Aber der Orden verschließt die Augen vor der Weiterentwicklung der Menschen und müsste um seine Existenz fürchten, falls er seine Macht über die Gläubigen der Konkordanz jemals verlieren sollte.«
Jhered lachte. Er hatte genug gehört.
»Glaubt Ihr, der Orden wäre blind? Ihr seid eine irregeleitete Frau, die nicht erkennen kann, was direkt vor Euren Augen liegt. Euer Aufstieg benutzt Euch, um seine Existenz vor Gott zu rechtfertigen, obwohl doch alles, was Ihr gelernt habt, Euch zurufen müsste, dass diese Kinder eine Abscheulichkeit sind, so unschuldig sie als hilflose Opfer des Verbrechens auch sein mögen.«
»Ich sehe nur, dass die Menschen wachsen und eine Ebene erreichen können, auf der sie besser als früher fähig sind, Gottes Werke zu tun und Frieden und Trost in die Welt zu bringen.«
»Aber sie stellen sich auf eine Stufe mit Gott«, rief Jhered. »Sie bemächtigen sich gottähnlicher Kräfte und halten Feuer und Wasser in ihren Händen. Sie rütteln am Fundament unseres Glaubens, selbst wenn Ihr sie hinter dem Glauben verstecken wollt.«
»Sie tun nichts dergleichen«, erwiderte Gueran mühsam beherrscht. »Gott ist der Allwissende. Sie sind nur vier Menschen, die sein Werk tun, wo immer es nötig ist. Sie stehen so wenig auf einer Stufe mit Gott wie ich. Wir sind alle seine Diener. Bitte versteht doch, Schatzkanzler Jhered. Das ist der Fortschritt. Er ist wundervoll, und wir sollten ihn begrüßen und nicht hassen. Ich bin eine Leserin des Ordens. Glaubt Ihr wirklich, ich würde dies alles auf den Feldern, über die ich wache, gutheißen, wenn ich das Gefühl hätte, es beleidige auf irgendeine Weise den Glauben, den ich liebe?«
»Ketzer versuchen immer, den wahren Glauben zu verletzen, indem sie sich in den Mantel der Frömmigkeit kleiden«, sagte Jhered.
D’Allinnius schaltete sich ein und sprach leise und behutsam mit brüchiger Stimme. »Der Ochse, das Maultier, das Pferd und das Schwein werden gezielt gezüchtet, da wir versuchen, ihre Gesundheit und ihre Fähigkeiten zu verbessern, dem gewünschten Zweck zu dienen. Dies nutzt ihren jeweiligen Besitzern. Aber wer wird Eure gezüchteten Menschen besitzen?«
»Niemand …« Gueran hielt gereizt inne. »Bei allem Respekt, Ihr seht nicht, worauf es ankommt. Unsere Aufgestiegenen beweisen, dass Männer und Frauen der Natur und damit Gott näher sein können – etwas, wonach alle Anhänger des Allwissenden streben. Ein Züchter, der ausgezeichnete Reitpferde für die Kavallerie züchtet, beweist doch nur, dass Beobachtung und Auswahl ein Tier hervorbringen können, das dem Zweck besser dient, statt einfach der Natur und dem Zufall zu vertrauen. In dieser Hinsicht sind wir nicht anders, und der Wille Gottes ist, dass wir solche Verbesserungen zu erzielen versuchen. In all diesen Fällen wird das Ergebnis aber auf natürlichem Wege eintreten, wenn genügend Zeit vergeht.«
Harkov räusperte sich. »Es tut mir leid, aber sollen wir nun glauben, dass die Kinder mit diesen Fähigkeiten auch ohne euren Eingriff geboren worden wären?«
»Früher oder später ganz sicher«, sagte Gueran. »Der Aufstieg glaubt, dass eines Tages alle Menschen, die geboren werden, in größerem oder geringerem Maße solche Fähigkeiten besitzen werden. Dies ist wichtig, bedeutet es doch, dass es der Wille Gottes ist, und dass wir nicht gegen seinen Willen verstoßen.«
»Aber es gibt kein nahe liegendes Rohmaterial«, wandte D’Allinnius ein.
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie sind bisher die Ersten und die Einzigen«, erklärte er. »Sie kommen anscheinend aus dem Nichts, auch wenn Eure Auswahl der Eltern auf Maßstäben beruhen mag, die wir noch nicht verstehen. Es gab bisher keine wie sie, zufällig ist so etwas bisher nicht geschehen. Auf welcher Grundlage konnten sie entstehen?«
Gueran runzelte die Stirn. »Nun, sie kommen alle aus Westfallen.«
»Ich verstehe«, sagte Harkov. »Demnach gibt es hier noch einige andere, die solche Fähigkeiten in gewissem Maße auf natürliche Weise zeigen?«
»Ja, offensichtlich.« Gueran konnte ihr Lächeln nicht unterdrücken. »Fast alle haben sie in einem gewissen Abschnitt ihres Lebens.«
Jhered fuhr auf, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige versetzt.
»Wie bitte?«