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834 Zyklus Gottes, 1. Tag des Genasauf
1. Jahr des wahren Aufstiegs
Da waren sie nun und schliefen den Schlaf der Gerechten. Neugeboren und hilflos. So schön und zerbrechlich. Darin unterschieden sie sich nicht von allen anderen Kindern, die auf Gottes gesegneter Welt geboren wurden.
Noch nie jedoch hatte man vier Neugeborene so ausgiebigen, stummen Beobachtungen unterzogen und sie mit solcher Angst und Hoffnung und voller Staunen untersucht. Eine Spannung lag in der Luft, die sie hätte wecken und ärgerlich weinen lassen müssen. Sie schliefen.
Um die Reihe der Bettchen hatten sich diejenigen versammelt, für die diese drei Jungen und das Mädchen den Höhepunkt einer generationenlangen Hingabe darstellten, und betrachteten die winzigen Gesichter der Kinder, die erst vor wenigen Stunden das Licht der Welt erblickt hatten. Trotz all der gesammelten Weisheit und der umfangreichen schriftlichen Aufzeichnungen derer, die vorher gelebt hatten, war noch nicht klar, ob diese vier den Erwartungen gerecht werden würden.
So lange sie die Kleinen auch anstarrten, ein Zeichen würden sie nicht bekommen. Die Kinder gaben nicht zu erkennen, ob sie alles oder überhaupt irgendetwas von dem besaßen, was die erschöpfenden Berechnungen vermuten ließen. Dennoch starrten sie andächtig. Einmütig hatte sich die Autorität des Aufstiegs versammelt. Alle spürten, dass etwas Besonderes geschah. Nach unzähligen Enttäuschungen und falschen Hoffnungen war es dieses Mal anders. Es musste einfach so sein.
Shela Hasi stand hinter den kleinen Betten, sechs der acht Mitglieder der Autorität drängten sich vor ihr. Nun begann die unvermeidliche, unbestimmbar lange Wartezeit, bis sich die wahre Begabung zeigte. In den kommenden Jahren konnten sie nur hoffen und träumen, dass sich ein Schicksal erfüllen werde, das in den Nebeln der alten Religion und der überkommenen Glaubenssätze vorgezeichnet war.
In Gegenwart der Autoritäten empfand sie Ehrfurcht. Alle in Westfallen standen einander nahe, und doch besaßen die Autoritäten eine Ausstrahlung, die sie von den anderen abhob. In ihnen schlummerten die Fähigkeiten, sie besaßen eine außerordentliche Hingabe und eine unerschütterliche Entschlossenheit.
Shela konnte nicht verhehlen, dass sie gelegentlich auch etwas Neid empfand. Bis zu ihrem zehnten Geburtstag war sie selbst eine Wassergeborene gewesen. Eine wundervolle Zeit, die sie nie vergessen würde. An dem Tag, als die Gabe sie im Stich gelassen hatte, wäre sie beinahe ertrunken.
Das war jetzt fast vierzig Jahre her, und immer noch schmerzte sie der Verlust gelegentlich so sehr wie damals. Eine Verletzung ihres Körpers. Der Raub von etwas, das sie als selbstverständlich zu betrachten gelernt hatte. So beneidete sie die Autoritäten um ihre weiter bestehende Verbindung zum Aufstieg, um ihren Zugang zu dem Potenzial, das diese Kinder hoffentlich ebenfalls besaßen.
Gleichzeitig empfand sie Mitleid mit ihnen, da sie sich Tag für Tag ängstigen mussten. Gewöhnlich verblasste die Gabe schon früh im Leben, es konnte jedoch auch erst in späteren Jahren zu diesem Bruch kommen, wenn der Schmerz ungleich schwerer zu ertragen wäre. Jede Nacht betete sie wie alle Angehörigen ihrer Linie, der Autorität möge nichts Böses widerfahren. Bisher hatte Gott ihre Gebete erhört.
Lächelnd beobachtete sie die erhabensten unter den Einwohnern Westfallens, die ihrerseits hingerissen die Kinder betrachteten. Ardol Kessian, einer von nur drei Überlebenden der ersten Linie. Jen Shalke, noch keine zwanzig und sehr bemüht, sich mit ihrer hohen Bestimmung abzufinden. Ardol Kessian war ein ausgesprochen liebenswürdiger Mann von mittlerweile einhundertzweiunddreißig Jahren, völlig haarlos und gebeugt, aber ungebrochen. Sein Lächeln vermochte einem kalten Tag die Schärfe zu nehmen, und seine tiefe, wohltönende Stimme spendete der Autorität seit Generationen Trost. Er war ein unvergleichlicher Windleser und hatte ihnen bereits erklärt, wie warm es während der Geburten und in den folgenden Tagen sein würde. Ihn und seine beachtlichen Fähigkeiten würden sie sehr vermissen, wenn er eines Tages unweigerlich in die Erde und in Gottes Umarmung zurückkehren musste.
»Sind sie nicht schön?«, sagte Shela. Laut durchbrach ihr Flüstern die Stille in der behaglichen, von der Sonne durchfluteten Kinderstation. Durch die offenen Fenster wehte eine leichte Brise frischer Seeluft herein. Shela hörte den warmen Wind durch das Hypokaustum unter den Bodenfliesen streichen. Auf diese Weise wurden die empfindlichen Neugeborenen zusätzlich von unten gewärmt.
Kessians unergründliche grüne Augen blitzten unter den haarlosen Augenbrauen. »Wundervoll und kostbar. Auf ihnen ruhen all unsere Hoffnungen und Wünsche, auch wenn sie es nicht wissen.« Er nickte. »Auch ihre Namen billige ich, alle sind gut gewählt.«
Er streckte seine leicht zittrige Hand aus und berührte der Reihe nach jedes Kind an der Stirn, während er leise Worte sprach.
»Mirron, vieles wird auf deinen Schultern ruhen. Du wirst neben allen anderen Bürden auch die Schmerzen der Mutterschaft ertragen müssen. Deine Linienbrüder, die heute neben dir liegen, werden dich stets so unterstützen, wie du sie unterstützt. Ossacer und Arducius, ihr tragt zwar die Namen großer Kriegshelden, aber niemals sollt ihr euch gezwungen sehen, einen anderen zu erschlagen. Euer Schicksal ist der Friede. Gorian, du bist mit dem Namen unseres Vorvaters gesegnet. Werde ihm gerecht und ehre sein Andenken. Erfülle deine Bestimmung und erreiche zusammen mit deinen Brüdern und deiner Schwester, was wir nicht vermögen. Nutze die Gabe zu unser aller Wohl unter den Augen des Allwissenden.«
Er wandte sich an Willem Geste von der zweiten Linie, der seit hundert Jahren sein Freund war. »Willem, ein Gebet.«
Die Autoritäten rückten zusammen und ließen sich auf ein Knie nieder. Eine Hand berührte den Boden, die andere hoben sie geöffnet zum Himmel. Shela legte die Hände auf zwei Kinderbetten und schloss in Gedanken auch die anderen Neugeborenen ein.
»Vor dir, unserem Gott, stehen die Vertreter des Aufstiegs und empfehlen diese Neugeborenen deiner Obhut an. Wir beten, dass diese Kinder deine mächtigsten Diener auf unserer Erde werden. Wir geloben, sie zu ernähren und auszubilden, damit sie dein Werk verrichten, solange du ihnen zu leben gewährst. Wir bitten dich, sie zu schützen, über sie zu wachen und sie zu lieben, wie du alle deine Kinder liebst. Darum bitten wir dich im Namen des wahren Glaubens an den Allwissenden. Wir von den reinen Linien des Aufstiegs senden dir, unserem Gott, dieses Gebet. So soll es sein.«
»Wie es immer war«, schlossen die anderen.
»Danke, Willem«, sagte Kessian, während er sich wieder erhob. »Bevor Shela uns alle hinauswirft, sollten wir vielleicht freiwillig Abschied nehmen und die Kleinen ruhen lassen.«
»Darf ich noch etwas bei ihnen bleiben?« Jen Shalkes Frage klang sehr enttäuscht.
Kessian legte einen Finger auf die Lippen. Shela lächelte in sich hinein.
»Gleich, junge Jen«, sagte er. »Aber zuerst, Gwythen und Meera, müsst ihr wieder ins Bett. Was ist nur in euch gefahren, dass ihr so kurz nach der Geburt so lange bei uns steht? Ihr müsst erschöpft sein.«
»Wir sind Autoritäten des Aufstiegs«, erwiderte Gwythen Terol, Mirrons Mutter. »Es ist unsere Pflicht.« Sie sprach voller Stolz, doch ihr Gesicht war verschlossen.
»Dennoch, ruht euch jetzt bitte aus«, sagte er sanft, und trotz des milden Vorwurfs klang seine Stimme so warm wie immer.
»Willem, Genna, wir haben viel Arbeit, wir müssen die Texte studieren. Dort gibt es Antworten, die wir noch nicht gefunden haben, auch wenn ich glaube, dass vieles von dem, was wir wissen wollen, dort in diesen Kinderbetten schlummert. Alles andere muss warten, bis wir erkennen, was aus ihnen wird.
Und was dich angeht, junge Jen, so bin ich sicher, dass Shela sich in den kommenden Tagen und Jahreszeiten über deine Gesellschaft freuen wird. Heute aber muss unsere Amme sich allein mit ihren Schutzbefohlenen bekannt machen. Unterdessen gilt es, Fische zu fangen, und die Fischer möchten wissen, wo sie ihre Netze auswerfen sollen. Es ist ein schöner Tag, das Meer ist warm. Vielleicht findest du einen Schwarm für uns? Denn sonst wird das Fest heute Abend nicht so schön, wie es werden sollte.«
Jen lächelte anbetungsvoll, und wieder empfand Shela einen Funken Neid auf die Fähigkeiten der jungen Wassergeborenen. Auch sie selbst hatte eine Weile die Freiheit der Welt unter den Wogen auskosten dürfen, bis ihr alles wieder entrissen worden war. Oft träumte sie von den Dingen und Orten, die sie gesehen und besucht hatte. Wenn Jen darüber sprach, durchlebte sie noch einmal ihre eigene Vergangenheit, und wenn es nach ihr ging, dann war sie die Einzige, die diese junge Frau wirklich verstehen konnte. Sie standen einander sehr nahe. Shela senkte den Blick. Auch wenn sie als Angehörige der Linie und für ihre Fähigkeiten als Amme geachtet wurde, sie war doch keine von ihnen und blieb ausgeschlossen von dem Ruf des Aufstiegs, den die anderen so selbstverständlich in sich vernahmen.
Die Tür der Kinderstation ging auf, Hesther Naravny trat ein und schloss die Tür hinter sich. Die Landhüterin der fünften Linie war eine leidenschaftliche, temperamentvolle Frau von Mitte sechzig. Hesther wandte sich an die Aufgestiegenen, und ihr Gesicht verfinsterte sich.
»Meera, was hast du hier zu suchen? Auch du, Gwythen. Ihr solltet das Bett hüten.«
»Die Autorität hat sich versammelt, um die Neugeborenen zu segnen«, erwiderte Meera. »Vielleicht sollte ich eher fragen, warum du nicht hier warst?«
»Immer das quengelige Kind«, murmelte Hesther. »Muss ich denn auf dich aufpassen, bis du alt und grau bist, Meera?«
»Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du nicht meine Mutter bist.«
Etwas freundlicher gestimmt, trat Hesther nahe an Meera heran und nahm deren Gesicht in beide Hände. »Nein, aber ich bin deine Schwester, und ich liebe dich mehr als jedes andere Geschöpf unter Gottes Himmel. Du bist eine Mutter der neunten Linie, und wir alle beten, dass diese Linie uns den Einen schenken möge, der uns zum Aufstieg führt. Ich kann nicht dulden, dass du dich selbst in Gefahr bringst. Bitte, Meera, du hast eine schwere Geburt hinter dir. Du musst dich schonen.«
Meera lenkte ein und nickte. »Ich weiß. Aber es ist so … sieh dir nur mein schönes Kind an.«
Hesthers Miene hellte sich auf. »Ich bin eine stolze Tante und Schwester, noch bevor ich Angehörige der Autorität bin. Du hast einen wunderschönen Sohn, der für uns alle sehr wichtig ist. Aber jetzt komm. Gwythen, du auch. Helft einander ins Bett.«
Die Autoritäten machten ihnen Platz, Willem hielt ihnen die Tür auf.
»Gott segne euch«, sagte er. »Schlaft gut.«
»Nun denn«, fuhr Hesther fort, als die Tür wieder geschlossen war. »Ardol, das Forum ist seit dem Morgengrauen brechend voll. Sie üben sich in Geduld, aber es ist doch gewiss an der Zeit, ihnen die Neuigkeiten mitzuteilen.«
Kessian nickte. »Wir wollen sie nicht länger auf die Folter spannen. Es gibt noch viel zu tun.«
»In der Tat«, stimmte Hesther zu. »Shela, wie geht es den Kindern?«
»Sie schlafen friedlich, aber etwas Ruhe könnte ihnen nicht schaden.«
Hesther zwinkerte ihr zu und ging zur Tür. »Ich spreche zu den Einwohnern der Stadt. Ihr anderen, hinaus mit euch.«
Direkt hinter der Kinderstation begann die mit Marmorfliesen ausgelegte Kolonnade, die den Innenhof und den Garten vor der Villa der Aufgestiegenen umgab. Hesther lief eilig zwischen den Säulen hindurch und trat ins Sonnenlicht hinaus, das die Steinplatten unter ihren Sandalen wärmte und das Wasser der vier Springbrunnen funkeln ließ. All die Düfte und Farben der Blumen, Gräser und kleinen Bäumen zeugten vom aufkeimenden Leben. Hesther atmete tief ein.
In der Kinderstation ruhten nun die kühnsten Hoffnungen des Aufstiegs. Mit einer geradezu kindlichen Erregung trottete sie durch den schönen Garten und durch die lange Vorhalle, durch den kühlen Empfangssaal und schließlich auf die Straßen von Westfallen hinaus.
Der Ort lag am Ende einer von hohen Klippen umgebenen Bucht, die sich hundert Meilen im Süden zur Weite des Ozeans hin öffnete. Eine halbe Meile jenseits der Hafenmauern ergossen sich die spektakulären Genastrofälle über tausend Fuß tief ins Meer. Sie bildeten den Abfluss des Weidensees, der zwei Meilen östlich der Stadt lag.
Die Villa stand auf einem Hügel oberhalb der Stadt und überblickte die prächtige goldene Bucht und den aus Stein und Beton erbauten Hafen. Die sanften Hänge ringsum wurden von größeren Wohnsitzen und dem zugehörigen Ackerland eingenommen. Das Korn reifte auf den Feldern, die Tiere grasten oder dösten an diesem beschaulichen Tag in der Sonne. Unten, in der Nähe des Forums, drängten sich an den Pflasterstraßen und Plätzen dicht an dicht niedrige Wohnhäuser und Gebäude mit ebenerdigen Geschäften.
Die Stadt war wie verlassen. Sämtliche Fischerboote lagen hoch auf dem Strand, unter den träge flatternden Markisen der Läden rührte sich nichts. Alle waren auf dem Forum. Hesther hörte bereits das Summen der Stimmen und hatte die vor dem Oratorium versammelte Menge längst bemerkt. Hunderte Menschen warteten dort auf Neuigkeiten. Während sie so schnell lief, wie sie konnte, ohne außer Atem zu geraten, hörte Hesther Gelächter aufbranden. Immerhin war jemand auf die Idee gekommen, den Wartenden einen Zeitvertreib zu bieten.
Von der Rückseite des Oratoriums aus betrat sie das Forum und stieg die wenigen Stufen zum Podium hinauf. Die Läden und Stände, die den gepflasterten Platz umgaben, waren verlassen. Die polierten Säulen, die gekalkten Wänden und die rot gedeckten Dächer strahlten in der Sonne. Die Menschen verstummten, kaum dass Hesther erschienen war. Die jungen Akrobaten und Jongleure verschwanden rasch in der Menge.
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, strich ihr einfaches ärmelloses blaues Kleid glatt und rückte die Gürtelschnalle zurecht. Dann ordnete sie ihre langen brünetten Locken und blickte zu den Stadtbewohnern hinab, die den ganzen Tag auf die Neuigkeiten gewartet hatten. Jetzt spürte sie das Gewicht ihrer fünfundsechzig Jahre und die Erwartungen, die auf ihr lasteten, ebenso wie die Hoffnung, ihnen allen möge endlich ein Erfolg beschieden sein.
Alle hier wollten weiterleben wie bisher, ohne den Druck, irgendetwas verändern zu müssen. Doch was sie zu verkünden hatte, war der Vorbote eines sehr grundlegenden Wandels. In allen Gesichtern sah sie die Erwartung. Bei denen, die keiner Linie angehörten, erkannte sie auch Erregung und Naivität. Die Menschen sehnten sich nach den Neuigkeiten, die sie überbrachte, und hatten keine Ahnung, wie sehr ihr Leben sich verändern würde, wenn die Neugeborenen die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllten.
Schuldgefühle hatte sie keine, vielmehr war sie begeistert, weil die Mienen der Einwohner zum Ausdruck brachten, dass sie unerschütterlich zum Aufstieg stehen würden. Die Stille war unerträglich, sie musste endlich sprechen.
»Meine Freunde, sie sind geboren und wohlauf.«
Das Freudengebrüll hätte sie fast von den Beinen geworfen.
Ardol Kessian stemmte die Ellenbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf die Hände. Unbehaglich grunzend rutschte er auf der harten Bank hin und her. Eigentlich hätte ihm doch längst jemand ein Kissen holen sollen. Inzwischen war es Nacht, der ganze Himmel bis zum Horizont von Sternen übersät. Die Luft war klar und immer noch warm. In den nächsten sieben Tagen würde es keinen Regen geben, auch wenn in zwei Tagen vereinzelte Wolken die Luft etwas abkühlen würden.
Vor ihm drängten sich die Menschen auf dem Forum, ihre Gesichter leuchteten hell im Schein des Feuers und der Laternen. Die Kapelle, die auf dem Oratorium spielte, brachte die müden Tänzer noch einmal mit einem bekannten Stück in Schwung. Handtrommeln und Kesselpauken bestimmten den Rhythmus, Lyren und Flöten lieferten die Melodien, eine kräftige Stimme leitete die Tänzer an.
Es war lange her, dass er es gewagt hatte, sich zum Tanz mitten auf das Forum zu wagen. Er hatte das vermisst. Die Lebenskraft und die Freude, die Nähe der Frauen, ihr Duft, wenn sie sich drehten. Ihre Blicke, die auf ihm ruhten, während sie tanzten und sprangen.
Jetzt gab er sich damit zufrieden, die jüngeren Generationen dabei zu beobachten, wie sie all die Fehler wiederholten, die auch er in der Jugend begangen hatte. Ja, es war lange her. Er blickte nach rechts und nahm Gennas Hand.
»Weißt du noch, wie wir uns beim Tanzen kennen gelernt haben?«
»Ja, Ardol«, erwiderte Genna ergeben. »Das fragst du mich jedes Mal, wenn wir Leute tanzen sehen.«
»Wirklich?« Kessian lächelte. »Das vergesse ich immer wieder.«
»Weil es dir so passt.«
Er drückte Gennas Hand. Er würde zuerst gehen. Genna war dreißig Jahre jünger als er. In den letzten achtzig Jahren hatten sie zusammen das Land bestellt. Er fragte sich, wie sie ohne ihn zurechtkäme. Wahrscheinlich wäre sie froh, endlich Frieden und Ruhe zu finden.
»Jen hat ihre Sache heute gut gemacht«, sagte er, um in einer festlichen Nacht wie dieser nicht vollends in Melancholie zu versinken.
»Ja, das hat sie«, stimmte Genna zu.
Die Gerüche von gebratenem Fisch und Holzrauch, schmorendem Fleisch und der Hefegeruch von verschüttetem Bier wehten herüber. Jen hatte Seebarsch und Sardinen gefunden, die Netze waren prallvoll gewesen, und wenn die Katerstimmung am nächsten Morgen verflogen waren, würde es auf dem Markt viel zu kaufen geben.
»Ich hoffe, ich störe nicht?«
Kessian schaute auf. Vor dem Tisch stand Arvan Vasselis, der Marschallverteidiger von Caraduk. Er war am Nachmittag mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn eingetroffen, nachdem er fünf Tage zuvor die Botschaft erhalten hatte, dass die Geburten unmittelbar bevorstanden. Seine dunkelblaue, golden eingefasste Flagge, die zwei auf den Hinterläufen stehende Bären zeigte, flatterte über seiner Residenz, die einen unvergleichlichen Ausblick auf Bucht und Hafen bot.
»Dein Zeitgefühl ist makellos wie immer«, sagte Kessian und machte Anstalten, sich zu erheben. Vasselis winkte ab.
»Eine Feier in Westfallen habe ich noch nie verpasst. Ich habe sogar etwas Wein mitgebracht.« Damit stellte Vasselis zwei wundervoll modellierte Keramikkrüge mit einem zweifellos sehr alten und kostspieligen Inhalt auf den Tisch. »Darf ich mich setzen?«
»Da musst du doch nicht eigens fragen«, sagte Kessian.
»Ein hoher Rang ist kein Freibrief für Unhöflichkeit«, erwiderte Vasselis, während er die gegenüberstehende Bank zurechtrückte. Bevor er sich niederließ, beugte er sich vor und küsste Genna auf beide Wangen. »Nun schenk schon ein.«
Genna kippte den Rest in ihren Kelchen aus und schnappte sich einen weiteren, den jemand auf ihrem Tisch stehen gelassen hatte. Nachdem sie alle drei mit einem Tuch, das sie an der Hüfte trug, ausgewischt hatte, teilte sie Vasselis’ Wein aus.
»Wo ist denn die erste Dame unseres Landes?«, fragte sie.
»Netta? Oh, ich nehme an, sie bringt Kovan ins Bett. Das hier ist wohl alles ein wenig zu viel für ihn. Es ist am besten, er schläft einfach durch bis morgen früh.«
»Hast du denn für solche Arbeiten keine Diener?«
»Wir kommen als Eltern ganz gut allein zurecht«, erwiderte Vasselis. »Außerdem müssen wir uns wohl kaum Sorgen machen, oder? Jedenfalls nicht hier.«
»Du wirst dich wohl nie an die Begleiterscheinungen deines Ranges gewöhnen, was?«
Vasselis kicherte. »Wenn du aus der Reihe tanzt, Kessian, dann wirst du feststellen, dass ich meinem Rang sehr wohl gerecht zu werden weiß.«
Er hob seinen Kelch, die drei stießen an und tranken.
»Sehr gut«, lobte Kessian, als der Rotwein samtig durch seine Kehle glitt und einen Nachgeschmack von saftigen, reifen Pflaumen hinterließ.
»Hast du auch nur einen Augenblick daran gezweifelt?«, fragte Vasselis.
Die Freunde verstummten. Kessian betrachtete Vasselis, der seinerseits die Tänzer und die Festlichkeit beobachtete. Er war stolz, diesen Mann mitten unter seinem Volk sitzen zu sehen, völlig entspannt; offenbar fühlte er sich weder als etwas Besonderes, noch sah er seine Autorität in irgendeiner Weise bedroht.
Kessian hatte ihn von einem jungen, vom Meer faszinierten Burschen zum Herrscher von Caraduk heranwachsen sehen. Er war der mächtigste Verbündete des Aufstiegs und ein entschlossener Hüter seiner Geheimnisse. So unerschütterlich er auch auf ihrer Seite stand, es war ein ständiger, von ewigen Sorgen begleiteter Kampf, die Geheimnisse Westfallens zu hüten. Wenn sich ihre Hoffnungen erfüllten, würden sie ihn in den kommenden Jahren mehr denn je brauchen.
Unvermittelt hörte Vasselis auf, mit den Fingern im Takt der Trommeln auf den Tisch zu klopfen, und richtete die großen braunen Augen auf Kessian. Vasselis hatte kurzes dunkles Haar und ein weiches, freundliches Gesicht, was einige Unglückliche gelegentlich als Anzeichen von Schwäche missverstanden.
»Nun«, sagte er, »sind sie es?«
Kessian zuckte mit den Achseln. »Es hängt wohl davon ab, ob man eher an Vorzeichen glaubt oder sich lieber auf die Wissenschaft verlässt. Selbst für mich ist das Zusammentreffen aufregend. Mathematisch gesehen würde ich mich allerdings auf nichts verlassen.« Er lächelte und schüttelte den Kopf. Vergeblich versuchte er, die Anspannung zu vertreiben, die ihn erfasste, sobald er an die Kinder dachte. »Alle wurden zur gleichen Stunde von Müttern innerhalb und außerhalb der Autorität geboren, und alle hatten eine schwere Geburt zu einer Stunde, in der es zu regnen aufhörte, die Wolken sich auflösten und die Sonne durchbrach. Wenn man Andreas Koll und Hesther Naravny glauben will, war es auch eine Stunde, in der alle Vögel schwiegen und jede Kuh, jedes Schlaf und jedes Schwein, jeder Hund und jede Katze den Kopf zur Villa wandte.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Vasselis.
Kessians Lächeln wurde breiter. Er trank sein Glas aus. »Ich glaube, dass um die Geburtsstunde etwas in der Luft lag, das die ganze Gemeinschaft gespürt hat. Außerdem glaube ich an die Theorie der Massenempathie, wenn Gefühle wie Hoffnung oder Liebe ausgesandt werden. An Vorzeichen und Omina glaube ich jedoch nicht. Jedenfalls bemühe ich mich.«
»Ardol, mein alter Freund, du weichst meiner Frage aus. Sind sie es?«
Kessian nagte an der Unterlippe. Er blickte zum Forum, zu den Tänzern und den anderen, die sich angeregt unterhielten und tranken. Die Musik und das Lachen, die Essensgerüche und das grelle Licht der Flammen und Laternen ließen ihn fast schwindelig werden, was der Wein auf unangenehme Weise noch verstärkte. Er fragte sich, wann das Gefühl eingesetzt hatte.
»Ich bin alt, Marschall Vasselis. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie es nicht sind.«