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Pfeil

 

844. Zyklus Gottes, 41. Tag des Solasauf

11. Jahr des wahren Aufstiegs

 

Nach einem von Albträumen geplagten Schlaf erwachte Mirron mit einem beklommenen Gefühl in der Magengrube. Draußen hörte sie die Rufe der Möwen. Heißes Sonnenlicht fand einen Weg durch die Lücken zwischen den Blenden der geschlossenen Fensterläden. Westfallen war wach und vollkommen wie immer.

Gestern wäre sie aus dem Bett gesprungen und hätte gerade noch innegehalten, um ihre Tunika überzustreifen, bevor sie in den wundervollen Tag hinausgestürmt wäre. Aber gestern war nicht heute. Heute pochte es in ihrem Kopf, ihr Magen verkrampfte sich vor Übelkeit, und vor ihrem inneren Auge liefen immer wieder die Ereignisse des vergangenen Abends ab.

Sie fühlte sich, als hätte man ihr etwas weggenommen, und als sei heute alles anders. Irgendwie hatte sie sich auch verändert, und das verwirrte sie. Es gelang ihr nicht, wieder zu dem zurückzukehren, was vorher gewesen war. Vielmehr sah sie immer wieder den Feuerstoß aus den Kerzen im Becken emporspringen und Gorians Handgelenk verbrennen. Sie konnte alles ganz genau verfolgen, das Zucken der Flammen und den Schaden, den sie angerichtet hatten. Sogar den Geruch der verbrannten Haare und der Haut konnte sie noch wahrnehmen, und sie wusste ganz genau, welch schreckliche Verletzungen die Flammen verursacht hatten. Gorian würde für immer mit einer Narbe gezeichnet sein. Er würde ihr nie verzeihen, und auch sie selbst würde sich nicht vergeben.

Wieder rollten ihr die Tränen über die Wangen. Alle hatten sie angelogen. Vater Kessian, Willem, Hesther. Sogar ihre eigene Mutter. Sie hatten ihr erzählt, der Aufstieg sei etwas Wunderbares und würde sie alle Gott näher bringen. Aber das stimmte nicht. Was sie getan hatte, hing auf jeden Fall mit ihren Gaben zusammen, aber es war weder schön noch friedvoll gewesen. Sie hatte einen anderen Menschen verletzt.

Es war das erste Mal, dass jemand seine Gabe auf diese Weise eingesetzt hatte, und ausgerechnet sie hatte einem anderen wehtun müssen. Nicht nur irgendeinem. Gorian. Dem Letzten auf der ganzen Welt, dem sie etwas Böses wünschte, und sie hatte es getan. In jenem Augenblick hatte sie es sogar gewollt. Sie hatte Angst vor dem, was sie angerichtet hatte. Was würde beim nächsten Mal geschehen?

Es sollte kein nächstes Mal geben. Sie presste den Kopf ins Kissen und weinte. Es klopfte leise an der Tür.

»Geh weg!«, heulte sie.

Der Türknauf drehte sich, die Tür wurde geöffnet, frische Luft strömte herein. Sie drehte sich um.

»Ich hab dir doch gesagt …« Es war Vater Kessian. »Ich dachte, du wärst meine Mutter.«

»Sprichst du so mit deiner Mutter, mein Kind? Sie liebt dich und will nur dein Bestes. Das weißt du doch, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum hat sie mich angelogen? Warum habt ihr mich alle angelogen?«

Kessian runzelte die Stirn, trat ganz ein, zog den Stuhl an ihr Bett und setzte sich. Im Dämmerlicht schien er sehr alt zu sein, seine Haut war ganz runzlig und faltig. Aber seine Augen strahlten warm, und er zerschmolz ihren Widerstand mit seinem Lächeln, wie er es immer tat.

»Warum glaubst du, wir hätten dich angelogen?«, fragte er und legte eine Hand auf sein Herz. »Es würde mir wehtun, wenn ich glauben müsste, dass ich es wirklich getan habe.«

»Du hast mir gesagt, ich würde ein guter Mensch, weil ich eine wahre Aufgestiegene bin. Aber ich habe Gorian verbrannt, und jetzt wird er mich für immer hassen. Ich will keine Aufgestiegene mehr sein.«

Kessian beugte sich vor und wischte ihr mit dem Daumen die Tränen ab. »Oh mein Kind, mir ist klar, dass du dich heute Morgen nicht so gut fühlst. Niemand will einem Freund und Kameraden wehtun, aber manchmal sind wir wütend und tun es trotzdem mit Worten oder Taten.

Du musst aber daran denken, dass du mit den besten Absichten im Herzen gehandelt hast. Du wolltest verhindern, dass Gorian Arducius noch mehr verletzt, und das ist dir gelungen. Dabei hast du allerdings etwas getan, das du lieber vermieden hättest. Das kannst du jetzt nicht mehr ändern, aber du musst dich nicht dafür hassen, dass es geschehen ist.«

»Es wird nicht noch einmal geschehen, das verspreche ich. Ich werde das Feuer nie wieder berühren.«

Kessian lehnte sich zurück. »Das würde mich noch trauriger stimmen als alles andere. Mirron, du bist eine geliebte Tochter des Aufstiegs. In dem, was du gestern Abend getan hast, liegt etwas sehr Bedeutendes und Wundervolles.«

»Aber ich habe ihm wehgetan!«, rief Mirron. Gorians rotes Handgelenk mit der Brandblase erschien abermals vor ihrem inneren Auge.

»Das wird heilen. Er ist ein starker Junge. Du aber kannst dich nicht vor dem verschließen, was du bist. Mir ist klar, wie schwierig das ist. Du bist so jung und unschuldig. Aber du musst uns helfen zu verstehen, wie du es getan hast, damit wir dir helfen können, es zu kontrollieren, und damit wir deinen Brüdern helfen können, es ebenfalls zu tun. Siehst du das ein?«

»Niemand sollte das haben«, erwiderte sie. Seine Stimme und seine Worte verwirrten sie. Ihr Herz raste. Er konnte doch nicht wollen, dass es noch einmal geschah, oder? Nicht nach dem, was sie angerichtet hatte. »Es ist gefährlich.«

»Ja, das ist es«, stimmte Kessian zu. »Es sei denn, es wird kontrolliert. Wenn wir es alle begreifen, kannst du es mit deinen Brüdern einsetzen, um zu helfen und zu heilen. Damit könnt ihr all das tun, was die Menschen wollen und brauchen. Dann werdet ihr auch mit euch selbst zufrieden sein. Ich verspreche dir, so wird es kommen.«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nicht, Vater Kessian. Ich habe Angst.« Abermals war sie den Tränen nahe.

»Ich weiß, meine Kleine. Wenn ich ehrlich bin, haben wir alle ein wenig Angst. Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt.« Er lächelte. »Pass auf, ich habe jemanden mitgebracht, der dich sehen will. Vielleicht kann er dir helfen. Komm rein, Gorian.«

Er folgte dem Ruf. Groß und stattlich war er, aber sehr müde. Er lächelte, seine blaue Tunika war sauber und frisch gebügelt, und sein Haar war gebürstet und glänzte. Sie wünschte, sie hätte Haare wie er. Die Locken waren so hübsch. Dann fiel ihr Blick auf seinen Arm, und sie hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Der Verband reichte von der Handfläche bis zum Ellenbogen hinauf. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie sich an die Hoffnung geklammert hatte, es sei vielleicht doch nicht ganz so schlimm, wie sie es in ihren Albträumen gesehen hatte. Doch das war es.

»Hallo, Mirron. Wie geht es dir?«

Sie brach in Tränen aus. Gorian wandte sich Hilfe suchend an Kessian, der ihn einfach weiter zum Bett schob. Der Junge legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie spürte den Verband und sah ihn an.

»Es tut mir leid, Gorian«, quetschte sie zwischen den Schluchzern heraus.

Kessian hatte ein Taschentuch gefunden, das er Gorian in die Hand drückte, damit er es ihr geben konnte. »Danke«, sagte sie.

»Ich weiß, dass es dir leidtut«, sagte Gorian. »Du wolltest mir nicht wehtun, du wolltest nur Arducius helfen. Ich habe mich schon bei ihm entschuldigt.« Er ließ den Kopf hängen. »Sein Arm ist gebrochen.«

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Mirron, während sie sich die Augen auswischte.

Gorian riss den Kopf wieder hoch. »Und du … wir haben gestern Abend beide etwas falsch gemacht. Arducius sagt, er verzeiht mir. Ich verzeihe dir.«

Die Erleichterung brach über Mirron herein, als stünde sie unter einem klaren Wasserfall. Sie fühlte sich erfrischt, als sei der Schmutz von ihr abgewaschen worden.

»Ich habe gebetet, dass du das sagen würdest.«

»Wir wollen alle tun, was du getan hast … nein, so meine ich das nicht. Ich meine, wir wollen unsere Begabungen richtig einsetzen. Vielleicht hilft uns das, neue Fähigkeiten zu entdecken. Ich kann dir helfen, es zu verstehen. Das können wir alle tun. Bitte, Mirron, komm raus und spiel mit uns. Vater Kessian sagt, wir müssen heute nicht lernen.«

Mirron lächelte, und dieses Mal weinte sie Freudentränen. Er hatte ihr wirklich verziehen. Sie atmete die frische Luft tief ein und fühlte sich wieder ganz lebendig.

»Ja, gut. Ich will mich nur anziehen. Hunger habe ich auch.«

Als Gorian aufstand, bemerkte sie seinen Blick. Er war eigenartig, weder warm noch glücklich. Erleichtert vielleicht. »Das ist schön. Wir sehen uns dann draußen im Hof. Vielleicht können wir schwimmen gehen.«

»Aber nur, wenn Jen mitkommt.«

»Ich frage sie.«

Er lief aus ihrem Zimmer, seine Schritte verhallten auf dem Marmorboden der Villa. Kessian drückte sich wieder hoch und küsste sie auf die Stirn.

»Danke, Mirron. Du bist für einen so jungen Menschen schon sehr erwachsen.«

Sie kicherte und wand sich verlegen.

»Vergiss nicht, dass wir immer da sind, um dir zu helfen und dich zu unterstützen. Du und deine Brüder, ihr seid uns sehr wichtig. Wir wollen nicht, dass euch etwas zustößt.«

Mirron strahlte ihn an. Vielleicht würde dieser Tag nun doch wie der gestrige werden.

 

Im Laufe der nächsten paar Tage, während die Menschen in Westfallen unter einem wunderschönen wolkenlosen Himmel arbeiteten und Handel trieben, begannen Kessian und die Autorität, das Wirken eines wahren aufgestiegenen Verstandes zu begreifen. Kessian hatte gleich am Morgen nach dem Vorfall im Hof eine Nachricht an den Marschallverteidiger Vasselis geschickt, und ihr Herrscher war bereits von Cirandon unterwegs, um die Fortschritte persönlich in Augenschein zu nehmen. Er brachte seine Frau und seinen Sohn mit, da er beschlossen hatte, im beschaulichen Dorf einen kleinen Urlaub zu verbringen.

Kessian stand hingegen unter einer gewissen Anspannung, da er nicht wusste, ob Mirron ihre Erfahrungen auf eine verständliche Weise weitergeben oder das Ganze wiederholen konnte. Nachdem er noch am Abend Gorians Aufzeichnungen gründlich durchgesehen hatte, war er jedoch sicher, dass sie einen Durchbruch erzielt hatten, genau wie Gorian es geschildert hatte: »Das Erwachen der Fähigkeit wird weder vom Ausübenden noch von den Zeugen übersehen. Es wird so natürlich werden wie das Atmen selbst. Lediglich der Ausdruck braucht seine Zeit.«

Wie sich zeigte, war gar nicht mehr viel Zeit nötig. Nach dem Ruhetag, an dem Gorians Haltung gegenüber seinen Geschwistern sich zu verändern schien, hatte Kessian sie zur Hauptschmiede nördlich des Forums geführt. Das war nicht ganz gefahrlos, da wegen des kommenden Solastro-Fests viele Händler in der Stadt waren, aber sie konnten sich recht gut abschirmen, und dies sollte kein zu großes Problem darstellen. Nur Ossacer war daheim geblieben. Der Schrecken über das Erlebnis saß bei ihm tiefer als bei den anderen, und seine ohnehin schwächliche Konstitution hatte ihn abermals im Stich gelassen. Er hatte ein besorgniserregendes Fieber bekommen.

Bryn Marr, der Schmied von Westfallen, war ein stämmiger, kräftiger Mann in mittleren Jahren, der stets finster dreinzuschauen schien. Er war in jungen Jahren selbst ein Feuerläufer gewesen, hatte in der siebten und achten Linie Kinder gezeugt und sollte in der elften noch einmal Vater werden.

Sein Stammbaum reichte bis tief in die Vergangenheit des Aufstiegs. Er war ein vertrauenswürdiger und hingebungsvoller Diener, wenngleich darüber verbittert, dass in seiner Familie nur flüchtige Begabungen entstanden waren. Dennoch hatten er und Willem Mirron eingewiesen, während sich ihr Talent entwickelte. Mit zehn Jahren war sie ihm schon weit überlegen. Kessian fragte sich, was er jetzt zu ihr sagen würde.

Bryn wartete schon auf sie, die Autorität und die drei jungen Aufgestiegenen. Er hatte rings um das mit Steinen eingefasste Schmiedefeuer so viel Platz wie möglich freigeräumt. Die Werkzeuge steckten in Kisten, Eisenstücke und Stahl waren im umzäunten Hof aufgetürmt. Trotz der offenen Seitenwände war es in der Schmiede sehr heiß, und die Luft war schwer von den Holzkohle- und Torfgerüchen. Kessian musste zugeben, dass er einen Stuhl brauchte, auch Willem und Genna mussten sich setzen.

»Wir sollten es lieber rasch hinter uns bringen«, sagte Bryn barsch, während er seine schmutzigen Hände an einem ebenso schmutzigen Tuch abwischte. »Nicht lange, und wir werden eine Menge Gaffer anlocken.«

Kessian beugte sich auf seinem Stuhl vor und stützte die Hände auf den Knauf des Stocks. »Mirron, bist du bereit, es zu versuchen?«

Sie wartete nervös neben Gorian und Arducius, deren verletzte Arme verbunden waren. Ihr Gesicht war bleich. Zwar hatte sie eingewilligt, den anderen zu erklären, wie sie die Kerzenflammen manipuliert hatte, doch in Wahrheit hätte sie sich am liebsten davor gedrückt. Das normalerweise sehr lebhafte Mädchen war verschüchtert und immer noch schockiert. Kessian begriff, dass sie Angst hatte, weil sie ihre eigenen Kräfte nicht kontrollieren konnte. Er hatte einen ganzen Tag gebraucht, um sie zu überreden, endlich hierherzukommen, und ihr zu erklären, dass ein ganz natürlicher Fortschritt eingetreten sei. Er war immer noch nicht sicher, ob sie ihm wirklich glaubte.

Sie sah ihn an und nickte verzagt.

»Dann tritt vor, gehe nahe an das Feuer heran. Du weißt ja, dass es dir nichts anhaben kann.« Darauf wurde er mit einem kleinen Lächeln belohnt.

Sie näherte sich dem Schmiedeofen, in dem die Holzkohle orangefarben glühte. Hin und wieder sprang eine kleine Flamme empor, deren Rauch durch den Kamin in den klaren Himmel aufstieg. Bryn gab ihr eine riesige Hand, in die sie einschlug.

»Nun, meine hübsche Schülerin, was willst du mir heute zeigen?«, fragte er mit leiser, aber immer noch unwirscher Stimme.

Hilfe suchend sah sie sich zu Kessian um. »Was soll ich tun, Vater?«

»Versuche, die Flammen aus der Holzkohle zu locken. Halte sie in den Händen, wenn du kannst. Lenke sie, wenn du dich stark genug fühlt. Versuche aber nichts, was du nicht kontrollieren kann.«

»Ich glaube, ich kann überhaupt nichts kontrollieren«, erwiderte sie.

»Du weißt schon, was ich meine.«

Bryn hatte skeptisch die Augenbrauen hochgezogen, und die übrigen Mitglieder der Autorität, die den Vorfall im Hof nicht gesehen hatten, teilten seine Verwunderung.

»Ich versuche es«, sagte Mirron.

»Braves Mädchen«, erwiderte Kessian. »Lass dir Zeit.«

Sein Herz raste, als Mirron sich zum Schmiedefeuer umwandte. Sie stand auf einem Hocker, damit sie auf das Feuer hinabblicken konnte. Bryn war dicht hinter ihr, um sie zu schützen, obwohl das nicht nötig war. Kessian konnte sie jetzt nur noch von der Seite sehen. Sie trug ein ärmelloses Kleid und hatte die Haare hinter dem Kopf zusammengebunden. Schließlich streckte sie die Arme zum Feuer aus, und aus Kessians Blickwinkel sah es aus, als würden ihre Hände im Schmiedeofen verschwinden.

Während sie sich vorbereitete, wurde Mirrons Gesichtsausdruck ruhiger. Genna drückte Kessians Hand, die auf dem Gehstock ruhte. Hinter ihm stand Hesther, die Hände auf seine Schultern gelegt. Er schwitzte stark im Gesicht und am ganzen Körper und betete darum, dass Mirron wiederholen konnte, was sie schon einmal getan hatte.

»Ich bin eins mit dem Feuer«, erklärte sie, »und verstehe seine Kraft. Die Holzkohle ist von ausgezeichneter Qualität, Bryn, aber der Torf ist auf der linken Seite etwas zu dick ausgelegt. Da ist eine kühle Stelle. Lass mich …« Sie bewegte sie Hände, Kessian hörte Holzkohlen knirschen. »Da. Jetzt kannst du Stahl schmieden.«

»Danke«, sagte Bryn. Etwas verlegen lächelte er.

»Jetzt herrscht überall die gleiche Hitze«, fuhr Mirron fort.

Sie zog die Hände etwas zurück, und nun kam wieder Bewegung in ihr Gesicht, als sie über das nachdachte, was sie als Nächstes versuchen musste. Sie nagte an der Oberlippe und atmete tief durch. Kessian sah, wie ein Schauder durch ihren ganzen Körper lief, sie schwankte sogar ein wenig. Bryn legte ihr eine Hand auf den Rücken, um sie zu stützen.

Endlich schloss Mirron die Augen und riss sie fast sofort wieder auf. Das Feuer glühte heißer und warf einen hellen Schein unter die Decke der Schmiede. Alle wichen unwillkürlich einen Schritt zurück, auch Kessian zuckte auf seinem Stuhl zusammen. Er beobachtete Mirrons Gesicht. Zuerst schien sie ängstlich, dann folgte etwas wie Neugierde und sogar Heiterkeit. Sie riss die Augen weit auf und entspannte sich.

Als Nächstes zog Mirron die Hände weiter aus der Holzkohle zurück und drehte die Handflächen nach unten. Die Temperatur im Schmiedeofen stieg. Züngelnde Flammen folgten den Bewegungen ihrer Hände, legten sich darum, schienen sie sogar zu streicheln und tauchten sie in ein warmes, orangefarbenes Licht. Kessian beugte sich mit angehaltenem Atem vor. Die Wärme, die ihn jetzt durchflutete, hatte wenig mit dem Schmiedofen zu tun. Staunend beobachtete er, was das Mädchen tat, und ein rascher Blick zeigte ihm ganz unterschiedliche Emotionen bei den Mitgliedern der Autorität und reine Freude bei Gorian und Arducius.

Die Flammen spielten über Mirrons Unterarme, als folgten sie den Bahnen ihrer Nerven oder Adern. Dabei schien das Mädchen jederzeit die Kontrolle zu behalten. Sie drehte die Handflächen zueinander, und die Flammen sprangen über die Spanne von etwa zwei Fuß hinweg. Das Flackern ließ nach, und schließlich entstand zwischen ihren Händen eine Art Röhre, die vom darunter brennenden Feuer gespeist wurde. Mirron bewegte leicht die Hände und verformte die Röhre, bis sie sich nach oben bog. Die junge Aufgestiegene leckte sich die Lippen.

»Kannst du uns sagen, wie du dich fühlst und was du siehst?«, fragte Kessian.

Mirron schwankte auf dem Hocker, die Flamme spuckte und erstarb. Das Mädchen sank in Bryns Arme.

»Oh mein Kind, es tut mir leid«, sagte Kessian. »Ich habe deine Konzentration gestört.«

Mirron sah ihn an, ein wenig entrückt zwar, aber offensichtlich sehr mit sich zufrieden.

»Ich habe versucht, mit der Flamme zu reden, aber sie wollte nicht länger bleiben«, erklärte sie. »Es war schön.«

»Das war es wirklich«, stimmte Kessian zu.

»Nein«, sagte sie. »Innen drin.«

»Was meinst du damit?«

»In meinem Körper und meinem Kopf. Ich konnte in der Luft und im Boden Wege sehen.«

Kessians Hals wurde trocken. Das war ein wörtliches Zitat aus Gorians Schriften gewesen. Er hatte genau beschrieben, was ein Aufgestiegener sehen würde. Hesthers Hände verkrampften sich auf seinen Schultern.

»Bist du sicher?«, flüsterte er. Seine Stimme verlor sich fast im Tosen des Schmiedefeuers.

Mirron nickte. »War das richtig?«, fragte sie mit bebender Stimme.

Kessian kicherte. »Oh meine Liebe, ich glaube, das war mehr als richtig.«

Bryn stellte Mirron wieder auf den Boden und bugsierte sie sanft zu Kessian hinüber. Anschließend legte der Schmied die Hände vor der Brust zu einer Schale zusammen und bildete so das traditionelle Zeichen des Ordens der Allwissenheit. Der Vater runzelte die Stirn. »Bryn, das ist doch ein wenig …«

Als er Bryns Gesicht sah, hielt er inne. Diesen Ausdruck hatte er zwei Abende zuvor bei Ossacer gesehen.

Todesangst.