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848. Zyklus Gottes, 40. Tag des Genasab
15. Jahr des wahren Aufstiegs
Die Straße nach Westfallen war in ausgezeichnetem Zustand, gesäumt von hervorragenden Unterkünften und äußerst sicher. Außerdem konnten die Reisenden eine friedliche und schöne Landschaft bewundern. Es war in jeder Hinsicht das ideale Heilmittel für Jhereds üble Laune nach seinem Streit mit der Advokatin.
Seine Entscheidung, den Vorbereitungen und den Spielen selbst fernzubleiben, die zu seiner Empörung den Titel »Ruhm der Konkordanz« trugen, musste jeder vornehme Bürger der Konkordanz als Beleidigung empfinden. Allerdings wussten sie nichts über die wahren Gründe seiner Abwesenheit und darüber, welche Auswirkungen diese möglicherweise auf ihren Glauben haben sollten.
Die Reise nach Port Roulent, Caraduks Haupthafen am Tirronischen Meer, war schrecklich gewesen. Er hatte mit einer Magenverstimmung, die ihm die Stärke, den Appetit und seine Seetauglichkeit genommen hatte, das Bett hüten müssen. So krank war er im ganzen Leben noch nicht gewesen. So empfand er es als Segen, als er endlich die Falkenpfeil verlassen konnte.
Aufgrund seiner Schwäche war er mit der Kutsche nach Cirandon gefahren und hatte sich die meiste Zeit ein nach Kräutern duftendes Tuch vor die Nase gehalten. Vasselis hatte sich wie üblich freundlich und großzügig gezeigt und darauf bestanden, dass er in der prächtigen dreistöckigen Villa des Marschallverteidigers mit ihren erstaunlichen Gärten und den luxuriösen privaten Bädern Quartier nahm.
Dank der Hilfe von Vasselis’ hervorragenden Ärzten und ihrer Kräuter und Gemüsesuppen hatte sich sein Zustand rasch gebessert. Das galt freilich nicht für seine Stimmung. Er misstraute Vasselis’ Motiven und hatte bislang kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Erst jetzt, als die Sonne seinen Körper wärmte, während er mit seinem Freund auf zwei vorzüglichen Pferden ritt, entspannte er sich allmählich.
Die Straße nach Westfallen verlief über weite Strecken am Ufer des Weste entlang. Wie alle wichtigen Straßen der Konkordanz war sie gut unterhalten. Auf dem Weg von Easthale nach Cirandon kamen viele Händler durch Westfallen, und nur selten mussten sie auf der Straße lange allein reisen.
Am Ufer des träge fließenden flachen Flusses wuchsen unzählige Blumen, dort wimmelte es von neuem Leben. Die Straße verlief am Südufer, während das nördliche Ufer der Natur überlassen blieb.
Ringsum erstreckten sich stellenweise fast hundert Meilen weit Marschen bis hin zu den hohen Dukanbergen. Die Sümpfe waren ein unvergleichliches Forschungsgebiet für alle, die wilde Tiere studieren wollten, aber allgemein ein unüberwindliches Hindernis. Es war ein flaches, konturloses Land, dessen Leere jeden Betrachter überraschte. Jhered mochte diese menschenfeindliche Region, die Rufe der Raubvögel und die klagenden Schreie der Tiere, die sich zu weit in den Sumpf gewagt hatten, aus dem sie nicht mehr entkommen konnten. Dies war eine gute Erinnerung daran, dass man die Erde immer achten musste. Gott herrschte hier mit all seiner Macht, und selbst in den friedlichsten Ländern gab es gefährliche Winkel.
Im Süden aber lag in Jhereds Augen die wahre Schönheit dieser Region. Dort gab es Ebenen voller Heidekraut und hoher Gräser, die sich im dort vorherrschenden Ostwind wiegten. Dahinter erhoben sich sanfte, mit Bäumen bedeckte Hügel mit kleinen Ansiedlungen, einzelnen Gehöften und den Alterssitzen reicher Beamter der Advokatur.
Er kannte dieses Land gut. Es war leicht, beim Jagen und Angeln die Zeit zu vergessen oder einfach nur durch die Wälder und an Seeufern zu wandern, wo das Licht auf kleinen Wellen tanzte. Irgendwann im nächsten Jahrzehnt wollte er dort auch für sich selbst eine Villa bauen, die fertig sein sollte, wenn seine Tage als Einnehmer vorüber waren. Eigentlich hätte er als Politiker weiter der Advokatur dienen können, aber die Vorstellung widerte ihn an. Er mochte weder Menschenmengen noch Speichellecker. Der Ruhestand und der Friede waren unendlich anziehendere Aussichten. Vorausgesetzt, es gab überhaupt noch eine Konkordanz, wenn die Zeit für den Ruhestand gekommen war.
»Hast du dir schon ein Stück Land ausgesucht?«, fragte Vasselis, der anscheinend seine Gedanken gelesen hatte.
Jhered deutete auf ein Tal, in dem es, wie er wusste, einen ausgezeichneten Angelplatz gab.
»Am Nordhang über dem Phristos-See«, erklärte Jhered. »Gutes Weideland für meine Pferde und die beste Aussicht in Caraduk.«
»Außerdem kannst du den Marmor in Glenhale schlagen und stromaufwärts liefern lassen. Ein schöner Platz, auch wenn ich dir hinsichtlich der Aussicht widersprechen würde. Es ist höchstens die zweitbeste.«
»Immer vorausgesetzt, sie ist nicht erobert und gebrandschatzt, wenn es für mich an der Zeit ist, meine alten Knochen auszuruhen.« Jhered wunderte sich selbst über seine Hoffnungslosigkeit.
Vasselis sah ihn von der Seite an und runzelte unter der breiten Krempe seines Huts die Stirn.
»Jetzt übertreibst du aber«, sagte er.
»Wirklich?«, gab Jhered scharf zurück. Seit jenem Abend war seine Achtung Vasselis gegenüber stark gesunken, und die Enttäuschung nagte immer noch an ihm. »Worauf gründest du deine Einschätzung?«
»Ich reise häufig nach Estorr, Paul.«
»Aber du siehst nicht, was die Einnehmer sehen.«
»Dann kläre mich doch auf.«
Verdammt sei dieser Mann mit seiner Verständnisbereitschaft.
»Wir stehen unter Druck. Der Sieg in Tsard ist nicht gewiss, obwohl dort so viele gute Generäle und erfahrene Legionen eingesetzt sind. Die Front an der Grenze von Omari und Dornos ist zum Stillstand gekommen. Hinzu kommt die Flotte, die wir im Tirronischen Meer, in Gorneons Bucht und im großen Nordmeer unterhalten müssen. Wir haben unsere Kräfte zu weit zersplittert. Die Überfälle in Atreska und Gosland beeinträchtigen die Moral und Loyalität unserer Bürger. Auch Gestern gerät immer mehr unter Druck. Als wäre das noch nicht genug, gelingt es auch Yuran nicht, die inneren Unruhen in seinem Land beizulegen. Eines Tages werden wir uns eine blutige Nase holen, wenn nicht noch Schlimmeres. Was wird dann geschehen? Eines ist jedenfalls sicher. Die Spiele sind nicht die Lösung.«
»Darin stimmen wir überein.«
»Tsard ist stark und entschlossen, und wir haben keine nennenswerte Verteidigung mehr«, sagte Jhered. Er war froh, dass ihm endlich jemand zuhörte; in Estorr hatte es niemand tun wollen.
»Gegen wen denn?«
»Gegen eine schwere Niederlage.«
»Das ist aus deinem Munde eine kühne und beunruhigende Aussage«, erwiderte Vasselis ernst.
»Du warst nicht in Atreska oder Tsard.«
Es gab eine Pause. »Du meinst es ernst, was?«
Jhered wäre beinahe aus der Haut gefahren. »Siehst du mich lachen, Marschall?«
»Nein«, erwiderte Vasselis. »Nein, das sehe ich nicht.«
Jhered hatte ihn nicht vor den Kopfstoßen wollen. Er war ebenso schnell wieder mürrisch geworden, wie sich seine Stimmung zuvor gehoben hatte. Er schwieg eine Weile.
»Wie lange dauert es noch, bis wir es sehen?«
»Was denn?«
»Westfallen natürlich.«
»Entschuldige«, sagte Vasselis. »Ich habe an etwas anderes gedacht.« Er kratzte sich unter dem Hut am Kopf. »Nicht mehr lange. Nur noch diese Anhöhe dort hinauf, und dann siehst du es unter uns liegen wie das perfekte Bild des Friedens, das es zweifellos auch ist.«
Jhered bemerkte, wie Vasselis’ Augen glänzten, und endlich konnte er das Gesicht zu einem warmen Lächeln verziehen.
»Gibt es eigentlich irgendetwas, das dir wichtiger ist als diese anscheinend unvergleichliche Stadt?«
»Abgesehen von meiner Frau und meinem Sohn? Eigentlich nicht.« Er kicherte und entspannte sich. »Du warst wohl noch niemals hier, oder? Du hast, meinen guten Ratschlägen zum Trotz, immer nur Untergebene geschickt, um die Steuern einzunehmen.«
»Vielleicht hatte ich ja unbewusst immer Angst vor dem, was unter der Oberfläche lauern mochte«, erwiderte Jhered. Dabei fragte er sich allerdings, ob er selbst glaubte, was er gerade gesagt hatte.
»Das ist nicht nötig«, erklärte Vasselis.
»Das werden wir noch sehen.« Jhered rieb sich den Staub aus den Augen. Es war ein heißer Tag. Der Himmel war strahlend blau, die Luft stand reglos im flachen Tal, in dem sie bergauf ritten. »Wie lange ist es überhaupt her, dass ich das letzte Mal in Cirandon war?«
»Ungefähr zwei Jahre«, erwiderte Vasselis.
»Dein Sohn ist in der Zwischenzeit doppelt so groß geworden.«
Er sah sich nach Kovan um, der bei seiner Ermittlungsgruppe ritt und mit den Leuten schwatzte. Netta fuhr in einem gedeckten Wagen, der sie vor der Sonne schützte. Kovan war nicht nur des Vergnügens wegen mitgekommen. Er war ein nützlicher Zeuge, und wie Jhered wusste, auch ein möglicher Mitverschwörer. Das Gleiche galt für seine Mutter.
»Versprich mir, dir etwas Zeit zu nehmen und mit ihm zu trainieren«, sagte Vasselis. »Du solltest ihn aber durchaus ernst nehmen. Er zählt, obwohl gerade erst siebzehn, zu den zehn besten Kämpfern in Cirandon.«
»Das will ich gern tun. Ich könnte etwas Übung brauchen.«
»Auf welchem Platz stehst du inzwischen?«
Jhered knurrte. »Nach den Spielen werde ich nirgends mehr sein, im Moment bin ich Dritter. Allerdings habe ich kaum noch Zeit für Wettkämpfe. Ich habe außerhalb von Estorr viel zu tun.«
»Du bist Dritter? Vielleicht solltest du doch nicht mit ihm üben. Ich habe Angst, du könntest ihn verletzen.«
»Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein.«
»Dafür wäre ich dir dankbar.«
Die beiden Männer schwiegen, während ihre Pferde die letzte Anhöhe erklommen. Dort oben wehte der Wind stärker, und Jhered roch die Seeluft. Vasselis zügelte sein Pferd und hielt an.
»So, da wären wir«, sagte er. »Und nun sage mir, dass ich übertrieben habe.«
Das hatte er nicht. Westfallen war wunderschön, von den Fischerbooten in der Bucht bis zum erstaunlichen Wasserfall. Vom Strand mit dem goldenen Sand bis zu den weißen Häusern, die um das Forum und die Springbrunnen herum errichtet worden waren. Von den Feldern, auf denen der Weizen sich im Wind wiegte und das Gemüse spross, bis hin zur Wassermühle, deren gemächliches Klappern den Rhythmus des Lebens zu bestimmen schien. Es war ein Bild der Vollkommenheit. Kaum zu glauben, dass die Ketzerei, die Vasselis eingeräumt hatte, alle gepflasterten Straßen und alle Ziegelsteine der Häuser durchtränkte.
Jhered blickte nach rechts, als die anderen zu ihnen aufschlossen. Nur zwei Helfer hatte er mitgenommen, aber es waren die Allerbesten. Hauptmann Harkov aus der persönlichen Wache der Advokatin, den er seiner Familie und seinen Pflichten hatte entreißen können. Er würde die Angelegenheit besonders skeptisch und unbeeindruckt von religiösen Erwägungen betrachten. Außerdem Orin D’Allinnius, den Ersten Wissenschaftler der Advokatin, ein alterndes, immer besorgtes Genie. Er sollte die Sichtweise des Wissenschaftlers und Ingenieurs beisteuern, und es gab keinen besseren in der ganzen Konkordanz. Abgesehen höchstens von Rovan Neristus, den Roberto nach Tsard mitgenommen hatte.
Hinter ihnen hatte auch der Wagen gehalten. Vasselis zwanzig Wächter und Jhereds eigenes Levium, die Elitekrieger der Einnehmer, warteten auf den Befehl, die Reise fortzusetzen.
»Ich habe etwas Finsteres erwartet«, sagte D’Allinnius, dessen kleine Augen unter der gerunzelten Stirn kaum noch zu erkennen waren. »Ihr habt diesen Ort beschrieben, als wäre er eine Festung des Bösen. Ich glaube, hier würde ich mich lieber zur Ruhe setzen, als die Empfehlung auszusprechen, ihn dem Erdboden gleichzumachen.«
Jhered schüttelte den Kopf. »Ihr werdet Euch erinnern, dass ich sagte, die Ketzerei könne alles weiß malen, während das Herz im Innern schwarz und entschlossen bleibt.«
»Sehr poetisch«, meinte Vasselis wenig beeindruckt.
»Die Leute sollen nicht ihre Meinung ändern, nur weil alles so hübsch aussieht.« Er sah D’Allinnius scharf an. »Ist das klar?«
Der Ingenieur zuckte mit den Achseln. »Wissenschaft lässt sich nicht durch den äußeren Schein täuschen.«
»Hauptmann Harkov, möchtet Ihr noch etwas hinzufügen?« Jhered war aufgefallen, dass der Hauptmann Westfallen mit zusammengekniffenen Augen betrachtete.
»Ich frage mich, woher diese Wolke kommt.« Er deutete zur anderen Seite der Stadt, wo über einem Weizenfeld ein dunkelgrauer Fleck erschienen war.
»Dampf oder Rauch, würde ich vermuten«, meinte Jhered.
»Nein«, erwiderte D’Allinnius. »Danach sieht es nicht aus.« Er hielt inne und räusperte sich. »Eher eine Luftspiegelung, die durch die Hitze und die Nähe des Meeres entsteht. Ich vermute, daran ist nichts Ketzerisches, Schatzkanzler Jhered.« Er hielt inne. »Aber halt … ist das nicht …?«
Vasselis lachte. »Ja, das ist es. Erstaunlich, nicht wahr? Ein Wunder nach zwanzig Tagen ununterbrochenem Sonnenschein, meinst du nicht auch?«
Jhereds Herz raste, und er murmelte ein Gebet, Gott möge sie in seiner Umarmung sicher behüten. Es war eine einzelne Wolke, die sich nicht bewegte und Regentropfen ablud.
»Du hast es, du hast es«, rief Kessian, der auf einem Stuhl saß und zuschaute.
Mirron hörte ihn wie aus großer Entfernung. Seine Worte verliehen ihr sehr viel Zuversicht. Sie presste ihre Finger ein wenig stärker auf Arducius’ Kopf. Er kniete vor der Villa auf dem Boden an einer Stelle des Hügels, wo die Bewässerung versagt hatte und die Nutzpflanzen wegen der Trockenheit einzugehen drohten. Eine Hand hatte er in einen Wassereimer gesteckt, die andere zum Himmel erhoben.
Ihre Fähigkeiten hatten sich in der letzten Jahreszeit stark entwickelt. Als würde ein Nebel sich lichten und den Ausblick auf ein neues Land erlauben. Sie hatten gelernt, sich selbst zu schonen, während sie die Energien der Elemente ringsum benutzten, verstärkten und formten, um Ergebnisse zu erzielen, die zugleich wundervoll und entsetzlich waren.
Mirron hatte vor dem, was sie tun konnte, Angst bekommen. Alle hatten Angst, dachte sie, alle bis auf Gorian, auch wenn er sich anscheinend verändert hatte. Er war ruhiger und fleißiger geworden und nicht mehr so hitzköpfig. Sie schob den Gedanken an ihn fort, denn dabei begann jedes Mal ihr Herz heftig zu pochen, und in ihrem Bauch entstand eine große Hitze. Konzentriere dich, sagte sie sich und ahmte innerlich die Stimme des Vaters nach.
Arducius leitete die natürlichen Energien des Wassers durch ihre Körper. Er war der Windleser und hatte die Führung übernommen, sie verstärkte seine Bemühungen. Bisher hatten sie es nur in der Abgeschiedenheit der Villa probiert, aber jetzt brauchten die Bauern von Westfallen ihre Hilfe. Die Aussicht, in den Augen der Bürger von Westfallen an Achtung zu gewinnen, spornte sie an.
Arducius keuchte und verkrampfte sich. »Halt still, Mirron«, sagte er. »Wir schaffen das schon, siehst du?«
Mirron schaute auf. Die Energie des Wassers strömte ruhig und gleichmäßig durch ihren Körper. Sie war der Energie der Erde nicht unähnlich, aber kühler. Sie ließ sich davon erfüllen und stärken, und dann leitete sie die Kraft durch ihre Finger an Arducius weiter. Sie konnte sogar sehen, wie die Energiebahnen seine gespreizten Finger verließen und zum Himmel über ihnen hinaufgriffen. Die kühle Energie traf die heiße Luft und wurde in Form einer rasch wachsenden Wolke sofort sichtbar. Arducius benutzte die neue Energie, um die Wolke zu halten, damit sie sich nicht gleich wieder zu Dunst auflöste.
Sie staunte über seine Geschicklichkeit. Die Wolke war nicht groß, aber die Tatsache, dass er die Energien im Himmel lesen konnte wie jeder andere große Windleser und sie dann auch noch nach seinem Willen zu nutzen vermochte, war verblüffend. Sie fragte sich, ob sie seine Ideen auf ihre Experimente mit dem Feuer übertragen konnte.
Über ihnen wallte die Wolke und füllte sich, sie verdunkelte sich und warf einen Schatten auf den Boden, der sie selbst, die Villa und die Felder in der Nähe bedeckte. Sie schwebte nur einige Hundert Fuß über ihnen, niedriger, als Wolken eigentlich flogen, und war halb so groß wie der Hang des Hügels.
»Sie ist schön, Ardu. Mach weiter.«
»Solange du mich unterstützt.«
Sie wurden beide müde. Nachdem sie so viel Energie aufgewandt hatte, wurden ihr die Knie weich, und auch Arducius zitterte unter ihren Händen.
»Seid jetzt vorsichtig«, warnte Kessian. »Überanstrengt euch nicht. Ihr habt schon so viel erreicht.«
»Es wird Zeit, die Wolke freizugeben«, sagte Arducius. »Der Eimer ist leer. Bist du bereit?«
»Ja.«
Er klatschte in die Hände und zog sie auseinander, als wollte er mit Krallen ein Spinnennetz zerreißen. Ein Regentropfen landete auf Mirrons Stirn, dann noch einer und noch einer, schließlich schüttete es förmlich, und der Boden wurde nass. Sie umarmte Arducius, und trotz ihrer Müdigkeit lachten und tanzten sie im Regenguss.
Vater Kessian jedoch starrte entzückt zum Himmel hinauf und musste im Regen heftig blinzeln. In der Nähe begrüßten der Bauer, seine Frau und zwei seiner Arbeiter mit emporgestreckten Händen das Wasser und konnten kaum glauben, was sie sahen und fühlten. Dennoch mussten sie lächeln.
»Nun beruhigt euch wieder, ihr zwei.« Mithilfe seiner Stöcke stand Kessian von seinem Stuhl auf. »Ihr müsst euch jetzt ausruhen, ihr seid sicher müde.«
Mirron strahlte ihn an, und die beiden kamen zu ihm und umarmten ihn.
»Sieh nur, was wir tun können«, sagte Arducius etwas atemlos.
»Wirklich, ihr habt einen alten Mann sehr glücklich gemacht«, stimmte Kessian zu.
»Im nächsten Jahr kann ich mit einem einzigen Eimer den ganzen Himmel bedecken, warte es nur ab.«
Kessian lachte, und Mirron schaute mit ihm zur Wolke hinauf, die rasch dünner wurde, obwohl der Regen immer noch stark und dicht fiel, die Felder bewässerte und von den schlaffen Weizenhalmen abperlte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte der Farmer, der zu ihnen getreten war. »Ihr habt meine Ernte gerettet. Es … ach, ich weiß auch nicht.« Er deutete auf seine Felder und fuhr sich mit einer Hand durch das nasse Haar.
»Ich bin froh, dass wir dir helfen konnten, Farius«, sagte Arducius.
Er nickte und zauste Arducius’ Haar. »Ich bin froh, dass ihr das könnt. Wir alle haben in der letzten Jahreszeit eine Menge gelernt, was?«
»In der Tat«, stimmte Kessian zu. »Hoffentlich bekommst du deine Bewässerung wieder in Gang. Wahrscheinlich ist irgendwo ein Rohr gebrochen. Hm.«
Mirron kannte dieses Brummen. Vater Kessian hatte eine Idee.
»Ich frage mich, ob Ossacer so einen Bruch finden kann«, sagte er.
»Wie er es bei Knochen kann?«, fragte Mirron, die sofort verstanden hatte. »Er könnte das Wasser aufspüren, das irgendwo aus einer Bruchstelle rinnt, nicht wahr? Dahinter wäre es dunkel, weil das Wasser mit seiner Energie in der Erde versickert.«
»Kluges Mädchen«, lobte Kessian sie. »Wir reden später mit ihm, falls du einverstanden bist, Farius.«
»Eure Hilfe ist mehr als willkommen«, sagte er. »Ich wünschte nur, ich könnte euch dafür bezahlen oder als Gegenleistung etwas tun.«
»Sprich einfach nur gut von uns, wenn die Ermittler aus Estorr kommen, um mehr bitte ich dich nicht«, sagte Kessian. »Vergiss nicht, dass man uns nicht fürchten muss, und dass Gott Westfallen nicht verflucht hat. Vielmehr hat er uns Geschenke und Wunder gegeben.«
Farius nickte. »Du weißt, dass ich früher anders geurteilt habe. Es tut mir leid, dass ich gezweifelt habe.«
Kessian legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das ist nicht nötig. Wir hatten alle Angst vor dem, was wir gesehen haben, und wir alle haben unsere Herzen erforscht, um herauszufinden, ob wir gegen Gottes Willen handeln. Vertraue uns. Vertraue Elsa Gueran. Wir wollen nur das Beste für Westfallen, für Gott und die Konkordanz.«
Mirron seufzte. Sie hatte Vater Kessian noch nicht aus ihrer Umarmung entlassen. Sie freute sich, weil er mit solcher Überzeugung gesprochen und sie getröstet hatte. Er würde dafür sorgen, dass aus dem Aufstieg nur Gutes erwuchs. Er konnte alles vollbringen.
»Seht nur«, sagte Arducius.
Sie drehten sich in die Richtung um, in die er deutete. Auf der Anhöhe am Westrand der Stadt waren auf der Straße von Cirandon Reisende aufgetaucht. In gemächlichem Schritt kamen sie zu dem Ort herunter. Ihnen folgten eine Kutsche und wenigstens dreißig oder vierzig weitere Leute zu Pferd. Alle hatten gewusst, dass die Ermittler bereits unterwegs waren, aber sie nun zu sehen, jagte ihr, dem Vater und Arducius einen kalten Schauder über den Rücken.
»Es kommt mir vor, als würde ich schon sehr bald die Gelegenheit bekommen, euch einen Gefallen zu erweisen«, meinte Farius.
»So ist es«, bestätigte Kessian. »Kommt mit, Kinder. Wir müssen nach Hause gehen und uns vorbereiten.«
»Gott wird euch schützen«, sagte Farius. »Viel Glück.«
»Danke«, sagte Kessian.
Mirron lächelte Farius an. »Danke, dass wir dir helfen durften.«
»Ich werde den Aufstieg bedingungslos unterstützen«, erwiderte Farius.
Sie sah es in seinen Augen, er meinte es ernst.