Osama kehrte ein wenig später als gewöhnlich nach Hause zurück, gegen neun Uhr abends. Er wohnte weit entfernt vom Zentrum Kabuls, im Armenviertel Khirkoma; bei seinem Gehalt konnte er sich nichts Besseres leisten, und das, obwohl seine Frau ja auch etwas verdiente. Freilich, hätte er Bestechungsgelder angenommen oder wäre seine Frau in der Privatwirtschaft tätig gewesen, sie hätten es einfacher gehabt. Andererseits mochte er die Ausgelassenheit und die fröhliche Stimmung in seinem Viertel, wo man sich unter Nachbarn häufig besuchte, Frauen und Männer natürlich streng getrennt. Sein größtes Vergnügen bestand darin, am Samstag zu Fuß zum Panjsad-Familli-Markt ganz in der Nähe zu gehen und dort zwischen den Vogelhändlern umherzuschlendern. Die Händler kannten Osama und führten ihm immer gern und stolz ihre Neuzugänge vor. Ohne dass der Kommissar es sich recht erklären konnte, erfüllte ihn das Gefühl, eine dieser kleinen flauschigen Kugeln in seinen großen Händen zu halten, mit großer Freude.
Er grüßte den Polizisten, der vor seiner Haustür Wache stand, und betrat das Haus. Es war ein bescheidenes Heim aus Ziegelsteinen und Lehm, mit einem Flachdach, wie man es in allen einfachen Vierteln afghanischer Städte findet: nur ein Stockwerk, drei Schlafzimmer, ein großes Wohnzimmer, eine Küche – und überall hingen die Leitungen aus der Wand. Zumindest besaß das Haus fließendes Wasser; nur wenige Hundert Meter weiter, im Elendsviertel Postakacho gab es niemals Wasser. Die Frauen mussten jeden Tag zahlreiche Kilometer zurücklegen, im Winter bei eisiger Kälte, im Sommer bei glühender Hitze, um ihre Familien mit ein oder zwei Kanistern zu versorgen. Wenn Osama den Zug dieser Frauen sah, der jeden Tag ein wenig länger wurde, zog sich sein Herz zusammen.
Er legte seine Aktentasche auf dem Sofa ab und öffnete ein Fenster, um zu lüften. Die Teppiche aus Ziegenwolle auf dem Boden waren einfach, aber in gutem Zustand, er besaß mehrere Möbel, außerdem auch etliche handbemalte Schachteln für seine Wertgegenstände. Das Badezimmer verfügte – ein unerhörter Luxus – über einen alten russischen Boiler, der warmes Wasser lieferte. Allerdings hatte Osama nie genügend Geld zusammenkratzen können, um eine moderne Heizung einbauen zu lassen; sie mussten sich im Winter mit einem alten Ofen begnügen. Aus der Küche kamen Geräusche. Seine Frau war aus der Klinik zurückgekehrt. Sie betrat das Wohnzimmer in einem orangefarbenen Hausgewand, ihre langen roten Haare fielen ihr auf die Schultern; in der Hand hielt sie eine Zeitschrift – aus einem westlichen Land.
Malalai Kandar war Gynäkologin. Sie war unabhängig, emanzipiert und hatte liberale Ansichten. Ihr Medizinstudium hatte sie zum Großteil in Baku absolviert, noch zu Zeiten der Sowjetunion. Die afghanischen Moralvorschriften ertrug sie mehr schlecht als recht, ihre Aufgabe wurde insofern erleichtert, als sie ohnehin nur Frauen behandelte. Für die anderen Ärztinnen war das Leben unmöglich geworden: Sie durften keine Männer mehr behandeln und sich nicht gemeinsam mit männlichen Kollegen, Ärzten, Vorgesetzten oder Krankenpflegern in der Öffentlichkeit zeigen. Seit dem Abzug der Russen schloss sich die fundamentalistische Reuse immer enger um die Afghaninnen und verdammte sie zu einem Leben in absoluter Unterwürfigkeit.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie.
»Interessant. Ich hab was ganz schön Seltsames erlebt.«
Obwohl sie schon dreißig Jahre verheiratet waren und zwei mittlerweile erwachsene Kinder hatten – das dritte war im Krieg gegen Russland umgekommen –, hielten sie so fest zusammen wie am ersten Tag. Osama hatte seine Frau niemals betrogen und auch nie daran gedacht, eine Jüngere zu heiraten. Das islamische Gesetz hätte ihm ermöglicht, bis zu vier Frauen zu heiraten, sofern er ihnen denselben Lebensstandard bieten konnte, doch Malalai hatte geschworen, ihm die Eier abzuschneiden, wenn er den Gedanken auch nur im Entferntesten in Erwägung ziehen sollte. Er hatte nicht weiter darauf bestanden. Mehrere seiner polygamen Kollegen machten sich hinter seinem Rücken über ihn und die Pseudoherrschaft lustig, die seine Frau in der Beziehung ausübte. Osama wusste, dass dies sein berufliches Ansehen schmälerte, doch er war glücklich mit seiner Situation, er brauchte keine vier Frauen.
»Erzählst du’s mir?«
Nach kurzem Zögern berichtete er ihr über den Selbstmord Wali Wadis, seine Zweifel, die Anwesenheit des Ministers und des Amerikaners von DynCorp.
»Khan Durrani ist ein Nichtsnutz«, sagte sie verächtlich, »ein bestechlicher Trottel. Er fraß den Russen aus der Hand, dann den Taliban, jetzt den UNO-Truppen. Wenn morgen die Marsmenschen landen, wird er ihnen Datteln verkaufen. Wegen Menschen wie ihm leben wir wieder wie im Mittelalter!«
»Er ist nicht schlimmer als viele andere!«
»Das glaubst du doch selber nicht!«
»Es wird ja besser. Präsident Karzai wurde trotz des Drucks von Seiten der Taliban wiedergewählt. Die Schulen sind wieder geöffnet, die Wirtschaft erholt sich.«
»Und immer jüngere Mädchen werden gezwungen, die Burka anzulegen …«, brachte Malalai den Satz zu Ende. »Solange die Russen da waren, konnte ich mich normal anziehen, mich in ein Café setzen, mit meinen Freundinnen ins Kino oder ins Restaurant gehen, mir diese idiotischen Zeitschriften kaufen, ohne mich verstecken zu müssen. Jetzt komme ich mir vor wie eine Gefangene. Diese Stadt wird jeden Tag ein wenig mehr zum Gefängnis.«
Seit seiner Wiederwahl spielte Präsident Karzai ein gefährliches Spiel. Er gab vor, die nationale Aussöhnung mit den Ex-Taliban herbeiführen zu wollen, ließ aber zu, dass sie unter der Hand immer größeren Einfluss auf den Staatsapparat erhielten und de facto ihre Rückkehr an die Macht vorbereiteten. Minister, Abgeordnete, überzeugte Gegner der Taliban, mehrere einflussreiche Berater – alle waren sie entmachtet und durch Islamisten ersetzt worden. Der Druck auf die Frauen nahm sogar noch zu. Die Angst brachte viele dazu, die Seite zu wechseln.
»Pass auf!«, erwiderte Osama. »Sonst bist du gleich als Kommunistin verschrien.«
»Mir sind die Kommunisten lieber als die Taliban. Zumindest hatten die Frauen bei ihnen Rechte!«
Osama antwortete nicht, er wusste, dass seine Frau recht hatte. Außerdem war er noch nie besonders gut im Diskutieren gewesen, und mit Malalai hatte es gar keinen Sinn, zu diskutieren, sie fand dann doch immer irgendein Argument, das ihn mundtot machte.
»Wie wirst du verhindern, dass dieser Idiot von Minister dir Probleme schafft?«
»Ich weiß es noch nicht. Auf jeden Fall muss ich sehr vorsichtig sein, die Sache stinkt.«
»Bitte geh kein zu großes Risiko ein.«
»Ich muss meine Ermittlung zu Ende bringen. Wenn dieser Mann eines gewaltsamen Todes starb, dann muss ich den Schuldigen finden.«
»Mein armer Liebling«, sagte Malalai und zog ihn zu sich herab. »Du bist der Einzige, der in diesem Land seine Arbeit macht. Komm, wir essen zu Abend, ich habe Qabali palaw und pikant gewürztes Mantu gemacht, so, wie du es liebst.«
»Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich dir«, sagte Osama mit fester Stimme. »Jetzt gehe ich erst einmal beten. Wir essen später.«
***
Auf dem Rückweg ins Büro gelang es Nick nicht, seinen Chef zu sprechen, obwohl er mehrere Versuche unternahm. Jedes Mal, wenn er anrief, hieß es: »Keine telefonischen Auskünfte zu diesem Thema möglich, auch nicht verschlüsselt. Kommen Sie ins Büro.«
In der Zentrale herrschte hektische Betriebsamkeit. Im Gemeinschaftsraum wimmelte es trotz der späten Uhrzeit von Menschen – Menschen, die Nick dort nie zuvor gesehen hatte. K-Truppen-Mitglieder, die schon bereit waren für das nächste Briefing, obwohl sie gerade erst ihr Gepäck ablegten: kugelsichere Westen, Schutzhelme, Übertragungsgeräte, Sturmgewehre, Schalldämpfer. Als Wilfried, der Anführer, der Werner getötet hatte, Nick erspähte, ging er lässig auf ihn zu.
»Tut mir leid wegen deinem Kumpel«, sagte er beiläufig.
»Was ihr da getan habt, ist absolut unverzeihlich!«
»Nick, ihr habt die Sache vermasselt, du und Werner. Wir hatten euch verboten, das Gebäude zu betreten. Was hattet ihr da drinnen herumzuschnüffeln?«
»Ohne Vorwarnung loszuschießen ist ein Verbrechen! Wenn du vor dem Losballern einfach mal dein Hirn angeschaltet hättest, wäre Werner noch am Leben.«
»Ich habe mich nur an die Vorgabe gehalten. Werner und du, ihr habt euch benommen wie Amateure!«
Nick wollte auf ihn losgehen, als der General eiligen Schrittes auf sie zusteuerte.
»Schluss mit dem Kinderkram!«, zischte er.
Sein zorniger Gesichtsausdruck sprach Bände. Seit ihrer Gründung war dies der erste Fehlschlag der Firma – und zwar ein eklatanter. Er sah abwechselnd Wilfried und Nick an. Da die Zeit drängte, hatte er seine K-Truppe losschicken müssen, obwohl ihr Anführer, Joseph, nicht verfügbar war, weil er in Frankreich zu tun hatte. Er hatte Wilfried, der weniger erfahren war, die Operation durchführen lassen. Dessen Team hatte vor dem Einsatz die Pläne der Fabrik genau studiert, doch sie waren fehlerhaft und verzeichneten einige Abflussrohre nicht, durch die der Gesuchte entkommen sein musste.
Der General wandte sich an Nick. »Snee, in mein Büro. Und zwar sofort!«
Wie betäubt folgte Nick ihm.
Das Büro des Generals war das eines mächtigen Mannes: siebzig Quadratmeter groß, mit sensationeller Aussicht dank dreier riesiger Panzerglasscheiben. Für etwas Abwechslung in dem recht manieriert möblierten Raum sorgten einige Modelle von Propellerflugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein riesiges Ölgemälde, das eine B52 darstellte, wie sie ihre Bombenfracht über einem Reisfeld herabregnen ließ, nahm eine ganze Wandfläche ein. Eine Reminiszenz an die Anfänge seiner militärischen Laufbahn bei den Fallschirmspringern, so mutmaßte man. Nick jedenfalls hatte den deutlichen Eindruck, dass der General Flugzeuge Menschen vorzog.
»Setzen Sie sich«, herrschte der General ihn an. Obwohl er in Zivil gekleidet war, strahlte er Autorität aus. »Sie haben es vergeigt, Snee. Sie sind in diese Fabrik eingedrungen, ohne unsere Männer darüber zu unterrichten. Sie haben im Augenblick des Eingreifens dazwischengefunkt. Ein Anfängerfehler! Ihretwegen ist Werner nun tot!«
»Unsere Männer hätten das Feuer nicht ohne Vorwarnung zu eröffnen brauchen.«
»Ohne Vorwarnung? Sie träumen wohl? Es geht hier nicht um Vorwarnungen, wir sind doch keine Bullen, Snee. Wir sind Soldaten im Krieg, auch wenn wir in Zivil operieren.«
»Aber …«
»Wir werden den Angehörigen Ihres Kollegen mitteilen, dass er während einer Übung umgekommen ist. Werner war geschieden, er hatte keine Kinder. Es wird keine Untersuchung geben, und Sie werden gefälligst die Schnauze halten – das ist ein Befehl. Sollten Sie die geringsten Schwierigkeiten machen, sind Sie erledigt!«
Für den General hatte Werners Tod keine Bedeutung. Er war lediglich ein »Zwischenfall«. Nick versagte sich jeden Widerspruch und nickte stumm.
»Sagen Sie laut: ›Jawohl, Herr General!‹«, befahl sein Gesprächspartner mit fester Stimme.
»Jawohl, Herr General«, gab Nick mechanisch zurück. Großer Gott, weshalb stand er nicht einfach auf und sagte diesem Psychopathen einmal ordentlich seine Meinung? Nick verfluchte sich innerlich.
Plötzlich zeichnete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Generals ab. »Sie werden sehen, Snee, man lernt, solche Dinge zu vergessen. Im Krieg verliert man nun einmal Menschen. Das ist traurig, aber es ist die Realität. Wir arbeiten für die Zivilisation, wir halten westliche Werte hoch, es lohnt sich, dafür Risiken einzugehen. Und nun nennen Sie mir einen Grund, einen einzigen Grund, weshalb ich Sie nicht augenblicklich wegen Verletzung der Gehorsamspflicht aus der Firma entfernen lassen sollte.«
Nick fühlte sich von dem plötzlichen Richtungswechsel seines Chefs völlig überrumpelt. Der General hatte Werners Tod bereits unter »Gewinne und Verluste« verbucht.
»Ich kann Ihnen keinen Grund nennen. Ich habe getan, was ich für richtig hielt, und trage keinerlei Verantwortung an Werners Tod, auch wenn Sie das anders sehen. Ich hätte aber auch eine Frage. Suchen Sie zufällig ein Dokument mit dem Titel ›Akte Mandrake‹?«
Der General schnappte nach Luft.
»Was ist das für eine Frage? Wovon reden Sie?«
»Von dem hier.« Nick legte die CD-Hülle, die er in der Fabrik eingesteckt hatte, auf den Schreibtisch. Nach kurzem Zögern nahm der General sie in die Hand und sah Nick scharf an.
»Gehen Sie nach Hause, Snee.«
»Weiß man, was diese Akte Mandrake sein soll?«
»Nick, ich untersage Ihnen offiziell, über diese Sache auch nur ein Wort zu verlieren. Auch nicht gegenüber Ihren Kollegen in der Firma.«
Nick ahnte, dass er mehr wohl nicht erfahren würde. Er stand auf. Als er bereits an der Tür war, rief der General ihm nach: »Die Existenz dieses Dokuments steht unter strengster Geheimhaltung. Sogar sein Name ist ein Geheimnis. Haben wir uns verstanden?«
***
Nach einem unspektakulären Vormittag überreichte Gulbudin, der zweite Assistent Kommissar Kandars, seinem Vorgesetzten den ersten Entwurf eines Berichts über Wali Wadis Selbstmord. Der fünfundvierzigjährige Gulbudin war seit zehn Jahren Chefinspektor. Er hatte einen Fuß verloren, als er einige Jahre zuvor in den Bergen von Khawak auf eine russische Mine getreten war, bewegte sich aber sehr gewandt – dank einer Prothese, die er über ein von der UNO finanziertes Hilfsprogramm bekommen hatte. Außerdem hatte er bei der Explosion einer Granate ein Auge eingebüßt, als 1996 Massuds Truppen ein wahres Massaker bei der Bombardierung Kabuls anrichteten, worauf sie sich den Hass der Mehrheit der Bevölkerung zuzogen. Schwer verletzt, war er von Osama aufgelesen worden, der ihn trotz des Granatengewitters um sie herum selbst ins Krankenhaus gebracht hatte. Seither war Gulbudin dem Kommissar treu ergeben. Zumal er Hazara war und kein Paschtune.
Osama las den Bericht aufmerksam durch – er war perfekt. Er gab keiner Spur den Vorzug, ließ aber eben auch jede Deutungsmöglichkeit offen. Gulbudin konnte solche Berichte schreiben wie kein Zweiter. Osama, der sich in dem bürokratischen, verschraubten Milieu des Innenministeriums bisweilen nur schwer zurechtfand, war er eine wertvolle Hilfe. Die meisten jungen Polizisten entstammten einer Generation, die nichts als die Koranschule kannte, da die Taliban die weltlichen Universitäten geschlossen hatten – entsprechend beklagenswert war das Niveau ihrer schriftlichen Äußerungen. Dies war einer der Gründe, weshalb Gulbudin und Babrak, abgesehen von ihrer Treue und ihrem Menschenverstand, unverzichtbar für ihn waren: Sie waren blitzgescheit. Osama war stolz darauf, dass seine Assistenten über einen höheren Abschluss verfügten als er selbst, und er ließ keine Gelegenheit ungenutzt, sie seinen Vorgesetzten gegenüber lobend zu erwähnen.
Er trat auf den Gang hinaus und rief die anderen Mitglieder seines Stabs zu sich: Abdul, einen jungen aufstrebenden Polizisten, der zwei Jahre ein Praktikum bei der deutschen Polizei absolviert hatte, außerdem Dschihad und Rangin, zwei Fahnder um die dreißig, beide ziemlich furchterregend. Dschihad war als Sprengmeister der Nordallianz im Einsatz gewesen und einer der wenigen Paschtunen, die sich den tadschikischen Truppen Massuds angeschlossen hatten. Er stammte aus einer Familie, die Anhänger des Wahabismus war, einer der strengsten Glaubensrichtungen des Islam. Seine vier Brüder hießen Dschihad, seine fünf Schwestern Palästina. Trotzdem schwärmte Dschihad für Amerika, Hardrock und Kino. Er hielt sich an die traditionellen Gebetsvorschriften, wie man es in einem Land, in dem der Islam Staatsreligion war, eben tat – jedoch nur halbherzig. Osama hatte nicht im Geringsten das Gefühl, dass er gläubig war. Außerdem hatte Dschihad den Schädel zumeist kahlgeschoren und kleidete sich wie ein westlicher Student, mit Jeans und Turnschuhen. Rangin dagegen war der Sohn eines Nichtkonfessionellen und obendrein überzeugten Kommunisten, der zur Zeit der russischen Besatzung für den Khad, den Geheimdienst, gearbeitet hatte. Rangins Vater war von den Taliban umgebracht worden, als diese an die Macht kamen. Rangin hatte rote Haare und grüne Augen, wie etliche Afghanen aus dem Norden, aber er wirkte so slawisch, dass sein Auftauchen im Kommissariat Misstrauen erweckte: Viele hielten Rangin, da er wenige Monate nach der sowjetischen Invasion gezeugt worden war, für einen russischen Abkömmling … Im Unterschied zu Dschihad war er sehr religiös, obschon auch er sich westlich kleidete und immer ordentlich rasiert war. Rangin und Dschihad waren unzertrennlich und arbeiteten immer im Duo. Sie waren die einzigen Paschtunen in Osamas Stab, und der Kommissar vertraute ihnen blind.
»Gulbudins Bericht ist hervorragend«, verkündete Osama unvermittelt. »Jetzt können wir noch einige Tage ungestört weiterarbeiten. Bravo!«
Gulbudin senkte bescheiden den Blick.
»Was ist davon zu halten, dass der Minister in Wali Wadis Wohnung zugegen war?«, fragte Dschihad.
»Was soll man von einem Mann halten, der eine Rolex im Wert von einer Million Afghanis am Handgelenk trägt? Misstraut ihm, misstraut allen, die für ihn arbeiten, den Männern aus seinem Clan. Von heute an arbeiten wir im Geheimen, kein Wort zu euren Kollegen, keine Vertraulichkeiten. Diese Untersuchung ist top secret, verstanden?«
»Ja, Qoumaandaan.«
Osama wandte sich an Babrak.
»Was ist mit der Leiche?«
»Ich habe gleich eine Autopsie beantragt. Daktar Mimuda hat Dienst, aber da ich weiß, was Sie von ihm halten, habe ich Daktar Katun gebeten, sie durchzuführen. Er hat versprochen, sich der Sache anzunehmen – weil Sie es sind. Ich habe ihm versprochen, dass Sie ihm einen Korb mit Erdbeeren mitbringen, von denen er schwärmt, sobald sie auf dem Markt zu haben sind.«
Osama brummte. Das Obst aus dem Panschirtal war in der gesamten Gegend berühmt, vor allem die ersten Erdbeeren im Frühjahr. Das würde ihn mindestens fünfzig Afghanis kosten, aber sie waren ja gut angelegt. Katun war ein renommierter und angesehener Chirurg, der seine Assistenzzeit in Aserbaidschan absolviert hatte, wohingegen Mimuda, der Chefarzt der Universität, wahrscheinlich nicht einmal das Abitur hatte. Mimuda gehörte zu jener Sorte ungebildeter und hinterhältiger Menschen, die während der Talibanherrschaft groß geworden waren und die man nach deren Rückzug nicht zu entfernen gewagt hatte, man wusste ja nie …
»Bitte den Daktar, sich den Hals des Toten anzusehen. Ich habe keine Druckstelle entdecken können, aber wenn man ihn erwürgt hat, ist sein Kehlkopf vielleicht verletzt. Außerdem soll er nach Spuren von Haut unter den Fingernägeln suchen.«
»Du meinst, man hat ihn festgehalten, während er sich umgebracht hat?«
»Irgend so etwas in der Art. Seine Hände müssen einem Schießpulvertest unterzogen werden, ich konnte nichts riechen. Außerdem soll er seine Achseln untersuchen, seine Haut, seinen Mageninhalt, sein Zahnfleisch. Wenn wir nachweisen können, dass er sich vor seinem Tod die Zähne geputzt hat, haben wir ein unschlagbares Beweismittel. Vor allem soll er den Bericht zur selben Zeit ans Justizministerium schicken wie an mich.«
Babrak nickte wissend. Seit 2002 war die vorherige Zustimmung eines Staatsanwalts nötig, um eine kriminalistische Untersuchung durchführen zu können. Trotz ihrer Bemühungen war es den Polizisten nicht gelungen, diese abenteuerliche Vorschrift zu blockieren, die sich am italienischen Rechtssystem orientierte. Glücklicherweise hasste der Justizminister, ein Tadschike, der in Russland studiert hatte, Khan Durrani. Wenn er den Bericht erst einmal hatte, würde es schwierig für den Innenminister werden, durchzusetzen, dass er neu geschrieben würde, oder die Staatsanwaltschaft dahingehend zu beeinflussen, dass sie sich gegen eine offizielle Untersuchung aussprach.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Gulbudin.
»Wir müssen uns mal Wadis Büros ansehen«, erklärte Osama. »Nur Gulbudin und Babrak, ihr anderen arbeitet weiter an den Akten.«
Sein Jeep wartete bereits vor der Tür, der unvermeidliche Pick-up voll finster dreinblickender Polizisten stand dahinter.
Wali Wadis Büros lagen im alten Viertel Murad Khane, unweit des Zentralkommissariats. Die Sicherheitsbestimmungen missachtend, hatte Osama das Fenster heruntergekurbelt und atmete die Gerüche der Stadt ein. Kabul war im Wiederaufbau begriffen, überall gab es Baustellen. Die ISAF ließ haufenweise Dollars auf die Hauptstadt herabregnen, die sogleich von den diversen Clans um Präsident Karzai eingesackt wurden, doch es blieb immer noch reichlich übrig, um einen Bauboom zu finanzieren, wie ihn die Stadt seit dem Einfall der Sowjets nicht mehr erlebt hatte. Außerdem waren da die Milliarden, die der Drogenhandel einbrachte, was wiederum zu einer ungezügelten Bodenspekulation führte. Wenn der Krieg von neuem begann, würden die Raketen der Taliban wieder einmal alles dem Erdboden gleichmachen, und die Stadt würde von vorn anfangen müssen. Das war entmutigend. Dennoch verspürte Osama kein Bedürfnis, woandershin zu ziehen: Kabul war seine Stadt.
Plötzlich hörte man in der Ferne eine Explosion. Mit einer Verzögerung von einem Sekundenbruchteil erzitterten die Fensterscheiben des Autos. Osama tauschte einen Blick mit Gulbudin. Noch ein Selbstmordattentat. Allein in den vergangenen zehn Tagen hatten sich zwei Talibangrüppchen mitten in der Menge in die Luft gesprengt, einmal, als gerade ein Konvoi von Bauunternehmern aus dem Westen vorbeifuhr, ein anderes Mal, um einen hohen Geheimdienstfunktionär aus dem Weg zu räumen. Kabul lebte im Rhythmus dieser zerstörerischen Überraschungsangriffe, die eine immer drückendere Atmosphäre schufen, unter der auch seine fatalistisch gestimmten Einwohner zu leiden begannen.
»Wir werden bald wissen, wer da in die Luft gejagt wurde«, sagte Babrak aufgeregt. »Bestimmt ein hohes Tier.«
Nach einer halben Stunde im dichten Verkehrsgewühl parkte der Fahrer in zweiter Reihe neben einem heruntergekommenen Neubau. In der Eingangshalle saß ein müder Wachmann, er erkundigte sich nicht einmal, wen sie denn zu sprechen wünschten. Allerdings wirkten die drei Polizisten in Zivil, die Osama begleiteten, auch nicht im mindesten abschreckend. Neben der Pförtnerloge hing ein Schild mit der Aufschrift »Wali Wadi Holding, 3. Etage«. Der Fahrstuhl war außer Betrieb, sie nahmen die schmale Treppe bis in den dritten Stock. Eine einzige Tür, daneben dasselbe Schild wie unten. Ohne anzuklopfen, trat Osama ein. Hinter der Tür bot sich ihnen ein völlig anderes Bild: edles Parkett, frisch gestrichene Wände, die moderne Gemälden dekorierten, ähnlich denjenigen, die der Kommissar schon in Wadis Privatwohnung gesehen hatte. Ein junger Mann saß hinter einem Schreibtisch und telefonierte. Als er die bewaffneten Männer hereinkommen sah, wurde er blass und legte hastig auf. Osama zog seinen Dienstausweis hervor.
»Arbeiten Sie für Wali Wadi?«
»Ja, Sahib, ich war sein Privatsekretär«, antwortete der junge Mann leise. »Ich habe Sie erwartet.«
Aus der Nähe sah Osama, dass der Mann seine Augen mit Kajal geschminkt hatte – was aber nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte, auch die jungen Taliban schminkten sich.
»Kann ich mal sein Büro sehen?«
Der Privatsekretär nickte stumm, erhob sich und führte sie in einen riesigen Raum mit doppelten Vorhängen, die ihn in ein angenehmes Halbdunkel tauchten. Auch der Straßenlärm war nicht mehr zu hören. Gepanzerte Fensterscheiben, dachte Osama. Ein Arbeitstisch aus dunklem Holz, mehrere pompöse Sessel, zweifellos libanesischer Herkunft, ein Sofa. Wadi war wohl erfolgreicher gewesen, als er sich vorgestellt hatte.
»Sind bereits Kollegen hier gewesen?«, fragte Osama.
»Nein, niemand«, antwortete der junge Mann. »Ich habe die Nachricht vom Tod des Sahib Wadi heute Morgen im Radio gehört.«
Sie hatten demnach einen kleinen Vorsprung vor den Häschern des Innenministeriums, dachte Osama befriedigt.
»Ist alles in Ordnung? Keine Anzeichen für einen Einbruch?«
»Der Alarm war eingeschaltet, das Büro aufgeräumt. Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt. Und am Safe hat sich auch niemand zu schaffen gemacht.«
»Es gibt einen Safe?«
»Hinter dem Bild.«
Der Mann hob eine Lithographie an, und es kam die Tür eines Safes von beträchtlichem Ausmaß zum Vorschein, mit einer Tastatur und einem kleinen eingebauten Bildschirm. Osama registrierte das Logo: »Hartmann«. Ein derart modernes Modell sah er zum ersten Mal, meistens fand man nur alte russische Safes in Kabul. Er untersuchte ihn etwas genauer. Ein weit nach innen reichendes Schloss. Es sah neu aus, schien unzerstörbar zu sein.
»Sahib Wali Wadi hatte ihn erst letzten Monat erhalten«, erklärte der junge Mann. »Es ist ein europäisches Modell, er hat es extra bestellt. Es ist das einzige Modell dieser Art in Afghanistan«, fügte er stolz hinzu.
Osama fragte sich, ob Wali Wadi einen Schlüsselbund bei sich gehabt hatte, als die Leiche gefunden wurde. Er wandte sich an Gulbudin, der denselben Gedanken gehabt hatte.
»Ich hab nicht drauf geachtet, Chef. Ich überprüfe es sofort, wenn wir zurück sind.«
Osama wandte sich wieder dem jungen Privatsekretär zu.
»Kam dir dein Chef irgendwie anders vor in letzter Zeit? Als ob er Sorgen hätte oder deprimiert wäre?«
»Er hat nicht viel mit mir geredet. Die Geschäfte schienen gut zu laufen. Sogar ausgezeichnet!«
»Weshalb hat er diesen Safe angeschafft?«
»Sahib Wadi sagte mir, jetzt, wo er bei den Großen mitmische, müsse er für größere Sicherheit sorgen.«
»Sagte er tatsächlich, ›bei den Großen mitmischen‹?«
»Ja. Er kaufte auch einen für seine Wohnung.«
Erneut blickte Osama seinen Assistenten an, der den Kopf schüttelte. Der Tresor war ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Osama fluchte innerlich. Wie hatten sie Wadis Wohnung nur so oberflächlich durchsuchen können! Sie mussten noch einmal von vorn anfangen, und zwar gründlich.
»Vor drei Monaten haben wir die Schlösser zum Büro ausgetauscht«, fuhr der junge Mann fort, »und eine Videokamera am Eingang installiert.«
»Die habe ich gar nicht gesehen.«
»Sie ist in die Decke eingelassen, nur das Objektiv ragt ein wenig hervor. Ebenfalls ein europäisches Modell.«
Osama spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
»Weißt du, wo die Aufnahmen gespeichert werden?«
Der junge Mann nickte. Er führte Osama in einen kleinen Raum neben der Küche. Das neueste Computermodell surrte auf einem Tisch.
»Ist alles auf der Festplatte.«
»Prima.«
Osama befahl, die Daten herunterzuladen. Die Durchsuchung des Büros brachte keine nennenswerten Ergebnisse zutage, abgesehen von einigen Flaschen Whiskey, Wodka und französischen Weinen und einem beeindruckenden Stapel aktueller Pornozeitschriften. Mit einem Blick gab Osama Babrak und Gulbudin zu ihrer großen Freude die Erlaubnis, den Alkohol mitzunehmen. Ein Festtag – sie würden ihn zu einem guten Preis an Journalisten oder UNO-Mitarbeiter aus dem Westen verkaufen.
Als seine Leute mit der Auswertung des Materials aus der Überwachungskamera kamen, war es Zeit für das Morgengebet. Osama breitete seinen Gebetsteppich mitten im Büro aus und gab sich seinem rituellen Gebet hin; vor den Augen seiner Assistenten erflehte er das Erbarmen Allahs. Gulbudin und Babrak waren, aus unterschiedlichen Gründen, nicht gläubig. Gulbudin, weil er im Grunde ein überzeugter Agnostiker war, der dem kommunistischen Regime nachtrauerte, und Babrak, weil er, wie viele junge Menschen seiner Generation, lieber westliche Musik hörte, mit Freunden wegging und im Internet surfte, anstatt zu einem Gott zu beten, der sein Land schon vor Urzeiten verlassen hatte. Osama nahm keinen Anstoß daran – er selbst aber war tiefgläubig.