Osama, Nick und Mullah Bakir ruhten auf abgewetzten Teppichen im Hinterzimmer von Kalkana, dem Schreiber der Unberührbaren. Niemand würde hier mitten im Slum nach ihnen suchen. Und tatsächlich fühlten sie sich in Sicherheit in diesem armseligen Haus, trotz der ständigen Stromausfälle, der Tatsache, dass es kein fließendes Wasser gab und es im ganzen Viertel bestialisch roch.
Fünf Tage hatten sie für die Rückfahrt gebraucht. Eine auf die Motorhaube des Geländewagens gelegte Decke, über die sie jede Viertelstunde Eiswasser gossen, hatte genügt, um die Wärmeabstrahlung des Wagens so stark zu verringern, dass er von den Drohnen, welche die NATO ihnen hinterhergeschickt hatte, nicht entdeckt wurde. Léonard Mandrake und Zahra hatten sie am Straßenrand in einem improvisierten Grab beerdigt. Mullah Bakir hatte eine kurze ökumenische Trauerzeremonie gehalten und sogar ein christliches Vaterunser gebetet. Sie hatten einige Steine auf dem Grab aufeinandergeschichtet.
Nun warteten sie ab. Nick hatte getan, was sie gemeinsam beschlossen hatten. Der Würfel war gefallen.
Am nächsten Tag, am frühen Nachmittag, setzte ein Privatjet in Bagram zur Landung an. Zwei Männer im Anzug stiegen aus, begleitet von einem Dutzend weiterer Männer im Kampfanzug. Sie stiegen in gepanzerte Jeeps ein, die auf der Stelle in Richtung Kabul losfuhren. Einer der Männer im Anzug wählte sich mit seinem Blackberry ins Internet ein. Er schickte eine SMS an die Adresse, die Nick angegeben hatte. Die Nachricht lautete: »Bin angekommen.« Einige Sekunden später erhielt er die Antwort, die lediglich aus einer Reihe von Ziffern bestand: eine Telefonnummer, die er unverzüglich anwählte.
»Nick, hier ist der Chef der CIA«, sagte er. »Ich bin soeben in Kabul gelandet.«
»Ich werde Ihnen die Adresse geben«, erwiderte Nick. »Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, dass der Bericht in zwei Stunden im Internet steht, wenn Sie irgendwelche Dummheiten machen.
»Bleiben Sie ganz ruhig!«, rief der Direktor der CIA, und in seiner Stimme schwang Panik mit. »Tun Sie vor allem nichts, was die Situation verschlimmern könnte. Ich habe Ihnen gestern Abend mein Wort gegeben, dass nichts gegen Sie unternommen wird. Ich komme persönlich, um zu gewährleisten, dass dieses Problem aus der Welt geschafft wird, und zwar ohne erneutes Blutvergießen.«
»Ist mein Vater bei Ihnen?«
»Ich reiche ihm den Hörer.«
Nick hatte seinen Kameraden vorgeschlagen, eine Einigung mit dem neuen Chef der CIA zu erzielen, einem erfahrenen Mann, der von Präsident Obama selbst eingesetzt worden war. Die Anwesenheit seines Vaters war ihre Garantie: Vor seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt war er jahrzehntelang als Diplomat im Foreign Office und als wichtiger englischer Geheimagent tätig gewesen. Nick hatte sich immer wieder die Frage gestellt, inwieweit das Geheimnis, das seinen Vater umgab, die großen Taten, von denen man sich hinter seinem Rücken erzählte, ihn bei seiner Entscheidung, in den Schweizer Geheimdienst einzutreten, beeinflusst hatten. Der Wunsch nach Kontinuität? Oder wollte er seinen Vater beeindrucken oder sogar überflügeln?
Er unterdrückte ein Lächeln. Konnte man sich eine bessere Lebensversicherung vorstellen? Einen englischen Bürger aus dem Weg zu räumen, noch dazu einen ehemaligen Agenten des Secret Intelligence Service, Anwalt der Krone, bekannt und respektiert, war ein Ding der Unmöglichkeit, selbst für die Firma. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen entspannte er sich. Er hielt Osama und Mullah Bakir siegesgewiss den nach oben gereckten Daumen hin.
»Alles läuft nach Plan«, sagte er.
Eine Dreiviertelstunde später quälten sich zwei Fahrzeuge durch den dichten Verkehr in dem Elendsviertel. Sie schlängelten sich durch ein Gewirr aus verwinkelten Gässchen, bis sie vor dem Haus Kalkanas stehen blieben. Noch bevor die Motoren ausgeschaltet waren, sprang Osama aus dem Haus des Schreibers, die Kalaschnikow über der Schulter. Als einer der Bodyguards aussteigen wollte, hielt der Direktor der CIA ihn zurück.
»Nein. Nur Mr Snee und ich.«
Er stieg aus, Nicks Vater folgte ihm. Nick stand im Türrahmen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Endlich waren sie in Sicherheit.
»Jetzt ist es ausgestanden«, sagte Nicks Vater und umarmte seinen Sohn.
Osama trug seine Astrachanmütze und einen Panchol um die Schultern, die ihm das herrische Auftreten eines Mannes aus einem anderen Jahrhundert verliehen. Wenige Augenblicke später saßen sie zu fünft um einen Tisch. Die Anspannung war mit den Händen greifbar. Der Direktor der CIA stellte ein knisterndes eckiges Metallkästchen auf den Tisch.
»Dieses Gerät produziert intensive elektronische Geräusche, damit unsere Unterhaltung nicht aufgezeichnet werden kann. Das ist unabdingbar. Sind Sie einverstanden?«
»Ja«, sagte Osama.
Der Direktor der CIA wandte sich an Mullah Bakir.
»Wir haben eine ziemlich komplette Akte über Sie, Mullah. Wir betrachten Sie nicht als unseren Feind, sondern als akzeptablen Gesprächspartner.«
»Freut mich, zu hören. Soll das bedeuten, dass Sie mir das nächste Mal, wenn ich Kabul verlasse, keine Drohnen hinterherschicken?«
»Wir werden auch weiterhin die legitime Regierung Präsident Karzais unterstützen«, sagte der CIA-Direktor lächelnd, »zugleich aber die nationale Wiedervereinigung in Zusammenarbeit mit den gemäßigten Mitgliedern Ihrer Bewegung umsetzen. Wenn sich die politische Lage ändert, wird Amerika Sie sicher nicht vergessen, vorausgesetzt, dass Sie diesmal die Selbstmordattentate Ihrer Freunde in den Griff bekommen.«
»Mehr verlange ich gar nicht«, sagte der Mullah und deutete eine Verbeugung an. »Der gemäßigte Flügel unserer Bewegung hat seine Lektion verstanden. Wir werden die Dinge nicht aus dem Ruder laufen lassen.«
»Das Gespräch, das wir jetzt führen werden, erfordert die Preisgabe vertraulicher Daten. Ich habe vollstes Vertrauen zu Ihnen, aber …«
»Ich glaube, meine Loyalität in dieser Angelegenheit ausreichend unter Beweis gestellt zu haben«, schnitt Mullah Bakir ihm das Wort ab. »Darf ich Sie daran erinnern, dass Kommissar Kandar und Nick Snee ohne mich bereits tot wären? Sie verlangen ja wohl nicht, dass ich unten auf der Straße warte, während Sie hier untereinander ernste Dinge besprechen?«
Der Direktor der CIA antwortete nicht sofort. Nicks Vater legte ihm freundschaftlich eine Hand auf den Arm.
»Wir haben keine Wahl.«
»Gut. Gentlemen, einige Leute haben schwere Fehler begangen. Unentschuldbare Fehler. Mächtige Männer haben unter skandalösen Bedingungen Geld verdient, indem sie die Macht nutzten, die ihnen das Volk, vor allem das amerikanische Volk, anvertraut hatte. Sie haben gestohlen, gelogen und getötet. Bevor ich hierherkam, habe ich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gesprochen, er ist entsetzt über das, was hier passiert ist, umso mehr, als einer seiner wichtigsten Mitarbeiter glaubte, die Firma ermächtigen zu müssen, sich unter Missachtung aller Gesetze an die Verfolgung Léonard Mandrakes zu machen. Der Präsident hat mich gebeten, ich möge dem sinnlosen Gemetzel, das diese Affäre hervorgerufen hat, ein Ende bereiten. Meine Mission ist es, die bestmögliche Lösung der Situation zu finden. Dies bedeutet, die Schuldigen zu bestrafen, ohne jedoch einen Skandal zu provozieren, der uns alle in den Abgrund stürzen würde. Ich habe umfängliche Machtbefugnisse, um dies zu erwirken.«
»Lassen Sie hören.«
»Jeder, der sich persönlich bereichert hat, ist angehalten, das Geld zurückzuerstatten, wie der Präsident ausdrücklich betonte. Wer dies nicht tut, muss nicht mit einer Untersuchung durch den FBI oder die Geheimdienste der betroffenen westlichen Länder rechnen, sondern mit einer direkten, unwiderruflichen Handlung.«
»Was verstehen Sie unter einer direkten, unwiderruflichen Handlung?«, fragte Osama.
»Geld oder Leben. Der Präsident hat eine Verfügung unterzeichnet, der zufolge jegliche Aktion Vergeltungsmaßnahmen nach sich zieht, bis hin zu letalen Konsequenzen.«
»Das bedeutet im CIA-Jargon, dass jemand sterben muss«, erläuterte Nick Osama, für den Fall, dass dieser die sprachlichen Feinheiten nicht mitbekommen hatte.
»Unsere Freunde von der NATO, die ebenfalls in den Fall verwickelt sind, wünschen, dass jeglicher Skandal vermieden wird. Das Problem wird in allen betroffenen Hauptstädten auf ein und dieselbe Weise gelöst. Nur die holländische Regierungsbehörde wurde nicht informiert, da diese für die vorhergesehene Art von Entscheidung nicht … ausgerüstet ist. Wir werden an ihrer statt eingreifen. Die Rücktritte der entsprechenden Personen werden im Abstand von acht bis zehn Monaten vorgenommen, damit die Medien nicht den Zusammenhang wittern.«
»Das ist eine schwache Strafe«, bemerkte Osama.
»Diese Anweisungen gelten offensichtlich nicht für Patrick Willard. Er ist gestern Nacht im Schlaf gestorben.«
»Wie das?«
»Es gibt einige äußerst begabte Spezialisten für derartige Fälle. Der Arzt, der ihn untersuchte, stellte eine Hirnblutung fest, es wird keine Autopsie geben. Zur Stunde müsste die Einäscherung stattgefunden haben. In Ermangelung eines Erben hätte sein Unternehmen wohl verkauft werden müssen. Aber wir haben diskreten Einfluss auf die Schweizer Behörden ausgeübt. Willard Consulting wird aufgelöst, das Archiv zerstört werden. Eine Firma wird sich jenseits der Öffentlichkeit dieser Aufgabe annehmen, niemand wird etwas erfahren.«
»Wer bei dieser Unterhaltung bislang noch völlig unerwähnt blieb, das sind die Banken«, warf Mullah Bakir. »Natürlich haben sie sich nur indirekt bereichert, aber Sie können sich ja denken, dass die acht Milliarden Dollar, die da durch die Schweiz geflossen sind, Gebühren verursacht haben. Bestimmt hat man da geahnt, dass diese Geldströme illegal waren, oder?«
»Theoretisch haben Sie recht, aber es lässt sich nicht beweisen. Hunderte Milliarden fließen jährlich durch die Schweiz, da wird im guten Glauben gehandelt. Einige haben es sicher getan. Die Spreu vom Weizen zu trennen ist ohne eine eingehende gerichtliche Untersuchung unmöglich, man müsste dazu Verhöre in den betroffenen Banken durchführen, und zwar auf allen Ebenen. Diese Befragung kann aber nicht heimlich geschehen. Und daher fürchte ich, dass in dieser Hinsicht nichts passieren wird …«
»Wie üblich … Nick, Ihre Landsleute haben wirklich Dreck am Stecken!«
»Und die Unternehmen, die von dem Geld profitiert haben?«, fragte Osama. »Diejenigen, die falsche Dokumente ausgestellt haben? Was geschieht mit denen?«
»Die jeweiligen amerikanischen und europäischen Behörden haben die Entlassung der Verwaltungsräte der betroffenen Personen erwirkt.« Nicks Vater hatte nun das Wort ergriffen. »Vier der Aufsichtsratsvorsitzenden, die sich persönlich bereichert haben, werden in den kommenden Wochen ihr Amt aufgeben und dafür zum Ausgleich nicht strafrechtlich verfolgt werden. Sie müssen die Summen, die sie eingesteckt haben, wieder zurückgeben. Bei den anderen haben wir die Zusicherung, dass sie nur noch bis zum Ende der Laufzeit ihres derzeitigen Mandats im Amt bleiben werden, die Zeitspanne reicht da von sechs Monaten bis maximal drei Jahren. Abschließend möchte ich deine nächste Frage vorwegnehmen, Nick. Die Firma wurde aufgelöst, und zwar bereits gestern Nacht. Du hast es sicherlich bereits geahnt, nachdem du die Nachrichten vom Sieg der Taliban gehört hast, jedenfalls kann ich dir versichern, dass die Mitglieder der K-Truppen, die euch verfolgten, im afghanischen Bergland niedergemetzelt wurden. Wir haben ihre Leichen gefunden, es sind vierzehn, um genau zu sein. Wir gehen davon aus, dass sie vor ihrem Tod mehr als hundert Taliban erschossen haben, darunter auch Emir Beg, aber keiner von ihnen ist noch am Leben. Mit Ausnahme von Joseph. Seine Leiche wurde nicht gefunden.«
»Glauben Sie, dass er noch am Leben ist?«
»Möglicherweise. Ehrlich gesagt, wissen wir gar nichts über ihn, noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Vermutlich wird das Rätsel nie gelüftet werden.«
»Und der General?«
»Der hat sich heute Morgen um drei Uhr von einer Brücke in die Aare gestürzt. Er ist ertrunken.«
»Nur damit ich Bescheid weiß: Hat man ihn dabei unterstützt?«
»Dazu bestand kein Anlass. Der General hatte gewiss Fehler, aber er war sich der Tragweite seiner Handlungen völlig bewusst. Er war davon überzeugt, dass ihm keine andere Wahl blieb, als seine Mission auszuführen: die Sicherheit des Westens zu garantieren, egal um welchen Preis. Seine Verbissenheit hat der Sache geschadet, aber ich respektiere seinen Mut. Sein Selbstmord ist nur die letzte Konsequenz seines Handelns.« Mr Snee senior wandte sich Osama zu. »Haben Sie weitere Fragen bezüglich der Organisatoren des Kartells?«
»Nein«, sagte Osama nach kurzem Zögern. »Aber ich finde nicht, dass die Maßnahmen, die Sie gerade geschildert haben, dem Problem gerecht werden. Ich hoffte auf Gerechtigkeit, doch das hier ist eine Farce!«
»Wenn man den Fall im Kontext betrachtet, haben wir die richtigen Entscheidungen getroffen.«
»In welchem Kontext? Der Kontext ist eindeutig.«
»Ach ja?«, warf der CIA-Direktor ein. Sein ironischer Tonfall war kaum zu überhören. »War es also ein Zufall, dass Sie mit dem Fall zu tun hatten? Aus unserer Sicht bestehen da Zweifel.«
Da Osama nicht gleich antwortete, fuhr der Direktor der CIA fort. »Ich wiederhole meine Frage. War es normal, dass Sie selbst diesen Fall übernahmen? Gewisse Hinweise legen die Vermutung nahe, dass offenbar externe Personen ein Interesse daran hatten, Sie damit zu betrauen.«
»Glauben Sie, ich spiele ein doppeltes Spiel?«
»Nein. Wir fragen uns, ob Sie vielleicht manipuliert wurden. Ohne es zu wissen. Wer hat Sie auf den Fall angesetzt?«
»Ich weiß es nicht«, musste Osama zugeben. »Ich wurde von einem Polizisten informiert, dessen Spur ich aus Zeitgründen nicht mehr zurückverfolgt habe. Aber ich verstehe nicht, was das mit dieser Unterhaltung zu tun haben soll.«
Der Direktor der CIA legte Osama ein Foto vor.
»Ich glaube, ich kann zur Antwort beitragen. Erkennen Sie diesen Mann wieder?«
Auf dem Foto war ein junger Afghane zu sehen, der gerade die Straße entlangging. Eine Narbe quer über der Wange war deutlich zu erkennen.
»Natürlich!«, rief Osama. »Das ist er. Der Bursche, der mir vom Selbstmord Wali Wadis berichtet hat.«
»Sind Sie ganz sicher? Er hat Sie also an den Tatort geschickt?«
»Ja, ganz sicher. Wer ist dieser Mann?«
»Das ist Abdul Muhammad Kantor. Er arbeitet für den NDS, ist Mitglied der Unterabteilung Elektronische Gegenspionage, und zwar im Rang eines Hauptmanns. Aber in dieser Geschichte hat Kantor nicht für den NDS gearbeitet. Wir halten ihn für den heimlichen Verantwortlichen des afghanischen Netzes einer fremden Großmacht.«
Der CIA-Direktor legte ihnen weitere Fotos vor. Darauf sah man Kantor zusammen mit einem Asiaten, sie saßen gemeinsam an einem Tisch in einem Café.
»Wer ist der andere Mann?«, fragte Nick. »Ein Hazara?«
»Er heißt Zhao Lin. Offiziell ist er Kultureller Berater bei der chinesischen Botschaft, aber in Wirklichkeit ist er als Oberst in der Region für den Guoanbu zuständig, für den chinesischen Geheimdienst.«
»Ich verstehe gar nichts mehr. Was haben denn die Chinesen mit dieser Sache zu tun?«
»Die Chinesen engagieren sich immer mehr in Afghanistan und im Irak, nicht, um wie wir den Terrorismus in der Region zu bekämpfen, sondern um Fakten zu sammeln, die gegen uns sprechen. Sie wissen, dass alle Kriege finanzielle Umwälzungen oder Geldhinterziehung mit sich bringen. Sie engagieren sich bei der Suche nach kompromittierenden Informationen, damit sie etwas gegen die USA und die NATO in der Hand haben und sich dann das Lithium und die seltenen Metalle, die man im afghanischen Boden entdeckt hat, unter den Nagel reißen können. Wenn Sie die Akte Mandrake veröffentlichen, wäre die Legitimität unserer Arbeit hier zum Teufel. Sie würden dafür sorgen, dass man uns außer Landes jagt, und sich dann nehmen, worauf sie scharf sind: die Bodenschätze, die die chinesische Industrie so bitter nötig hat. Wir haben eine deutliche Zunahme der Intensität der elektronischen Signale zwischen der chinesischen Botschaft in Kabul und dem Sitz des Guoanbu kurz vor Wali Wadis Tod und auch in den Tagen danach registriert. Daraus haben wir gefolgert, dass sie irgendwie von der Affäre Wind bekommen hatten. Wali Wadi hatte die Chinesen vermutlich zur selben Zeit wie Willard kontaktiert, weil er dachte, er könnte den Preis für seine Informationen hochtreiben. Zum Glück kamen sie nicht dazu, das Geschäft abzuschließen. Da die Chinesen sich außerstande sahen, die Untersuchungen vor Ort durchzuführen, ohne ihre Deckung aufzugeben, beschlossen sie, einen Ermittler vor Ort einzusetzen, den sie aber, ohne dass er es merkte, aus der Ferne kontrollieren konnten. Und so fiel die Wahl auf Sie, Kommissar Kandar.«
»Ich bin keine Marionette. Niemals hätte ich Informationen über diesen Fall an Ausländer weitergegeben!«, rief Osama erbost. »Und außerdem, wie sollten die denn auf mich gekommen sein? Ich kenne keinen Abdul Muhammad Kantor. Und auch keine Chinesen.«
»Sie nicht, aber Ihr Kollege, der Chef der Nachrichtendienstlichen Abteilung in Kabul.«
Ein neues Foto wurde zu den bisherigen dazugelegt. Sein Freund Reza, in derselben Bar sitzend, in angeregtem Gespräch mit dem chinesischen Oberst.
»Sie kennen ihn, nicht wahr?«
Ungläubiges Staunen zeichnete sich auf Osamas Gesicht ab, und tiefe Enttäuschung.
»Als Sie Ihre Ausbildung in Moskau absolvierten, war er in Peking.«
Osama sah auf einmal ganz verloren aus. Als hätte ihm der Verrat seines Freundes, des Mannes, dem er während der ganzen Untersuchung blind vertraut hatte, einen tödlichen Schlag versetzt.
»Er war nur zwölf Monate dort, aber trotzdem hatte er einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Seit einigen Jahren erhält er jeden Monat eine bescheidene Summe auf ein Konto bei der Bank of China in Macao. Als Gegenleistung hilft er ihnen. Ihr Freund kaufte sich eine Villa am Strand südlich von Shanghai. Dort möchte er sich auf seine alten Tage mit einer hübschen jungen Frau zur Ruhe setzen. Reza war die Geheimwaffe des Guoanbu. Bestimmt war es seine Idee, Sie ins Spiel zu bringen, ohne dass Sie es ahnten. Er überwachte Ihre Ermittlungen. Sobald Sie irgendetwas herausfanden, waren die Chinesen umgehend darüber informiert, Reza hatte ihnen den Bericht oder eine Kopie davon besorgt. Objektiv betrachtet: ein großartiger Coup, einer der besten der letzten Jahre, der ihnen auch beinahe gelungen wäre.«
Osama war zu schockiert, um etwas zu entgegnen. Er sah zu, wie der Spion die Fotos wieder in seine Brieftasche steckte.
»Das ist die große Story hinter der kleinen. Sie werden einsehen, dass wir kein Interesse daran haben, diese Leute die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen.«
Nick und Osama tauschten einen Blick aus. Der Kommissar hatte sich bereits wieder gefangen, seine Enttäuschung hatte der Wut Platz gemacht.
»Was für eine Bestrafung hat Reza zu erwarten?«
»Keine.«
»Wie meinen Sie das, keine?«
»Wir werden ihn beschatten, dadurch haben wir die Machenschaften des Guoanbu besser im Blick. Es sei denn, Sie wollen selbst etwas unternehmen, Kommissar. Moral, das ist nicht unser Metier. Wenn Sie ihn bestrafen wollen, so tun Sie das, wir haben vollstes Verständnis dafür. Das ist Ihre Entscheidung.«
Osama nickte mit unbeweglichem Gesicht. Unmöglich zu erahnen, welche Entscheidung er getroffen hatte.
»Selbstverständlich sind alle Anklagepunkte gegen Sie null und nichtig. Osama Kandar, Sie werden morgen wieder zu Ihrer Einheit zurückkehren. Präsident Obama hat bereits mit Präsident Karzai telefoniert, um ihn darum zu bitten, den Minister für Innere Sicherheit zu ersetzen und dafür zu sorgen, dass Sie nicht mehr belästigt werden. Und Sie, Nick, arbeiten Sie doch für mich, Leute wie Sie kann ich in dieser Organisation gut gebrauchen.«
»Tut mir leid, aber ich möchte für keinen Geheimdienst mehr arbeiten, egal für welchen. Das ist nicht mein Leben.«
»Verstehe«, erwiderte der Direktor der CIA. Er wirkte enttäuscht. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. »Ich weiß, dass all diese Entscheidungen kein befriedigendes Ganzes ergeben«, meinte er dann. »Dass sie nicht die Entbehrungen aufwiegen, die Sie erlitten haben. Aber im wirklichen Leben gibt es niemals ein perfektes Setting. Das wahre Leben ist grau, manchmal hellgrau, ein andermal dunkelgrau.« Er seufzte. »Das ist die eleganteste Art und Weise, auf die wir diesen Fall abschließen konnten. Eindeutig.«
Nicks Vater legte die Hand auf die Akte und sah Osama direkt an.
»Die Welt ist, wie sie nun einmal ist, wir können sie nicht ändern. Mir wäre ein anderes Ergebnis lieber gewesen, aber das hier ist das einzig denkbare. Das ist kein Zynismus, sondern Pragmatismus. Wir wissen außerdem, dass Sie alle Stillschweigen über diese Angelegenheit bewahren werden. Das ist unabdingbar, keinem von uns bleibt eine andere Wahl. Dürfen wir jetzt das hier … an uns nehmen?«
Osama starrte mit leerem Blick in die Ferne. Diese Komplotte zwischen den Großmächten, China, der NATO, diese geheimen Dossiers und offenen Rechnungen, der Verrat seiner Freunde, die Fallgruben, all dies war zu komplex für ihn. Er war nur ein einfacher Polizist, der versuchte, seine Arbeit anständig zu machen. Er schob die CD zu seinem Gesprächspartner hinüber.
Dann stand er auf und ging. Er wollte nur noch eines: zu Malalai.