17

Osama erwachte als Erster. Lautlos schlüpfte er aus dem Haus. Die Sonne war noch nicht über die Berge gestiegen, auf denen sich jedoch bereits ein rosiger Morgenschimmer abzeichnete. Er nahm seinen Teppich, da er plötzlich ein Bedürfnis verspürte, oben auf dem Hügel über dem Dorf zu beten, dort, wo er einen großartigen Blick über die ganze Umgebung hatte. Als er dort ankam, hatte sich der Morgendunst aufgelöst, und die Sonne warf ihr Licht auf die nackten Berge, die sich orange und grau färbten. Eine herrliche Landschaft, schweigend betrachtete er sie; er empfand ein Gefühl tiefer Dankbarkeit. Allah hatte diese Schönheit geschaffen, wie schade, dass die Afghanen sie nicht einfach genießen konnten, in Frieden. Bald würde er nach Kabul zurückkehren und Wali Wadis CD lesen. Da er diese Informationen nicht aufbewahren konnte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, würde er sie dem Justizministerium überantworten oder sie sogar im Internet veröffentlichen: Sobald die Daten aller Welt zugänglich waren, durfte er sich in Sicherheit wiegen. Er dachte an Mullah Bakir, der diese Informationen haben wollte, an die Westler, die versucht hatten, ihn dafür zu töten. Er musste wissen, was sich auf der CD befand, vorher konnte er nichts unternehmen und auch keine Konsequenzen in Betracht ziehen.

Während er zum Beten niederkniete, bemerkte er eine Bewegung in der Ferne. Er kniff die Augen zusammen. Es waren die Silhouetten von bewaffneten Männern, die durch die Berge zogen. Sie mussten an die zwanzig sein, einige zu Fuß, andere zu Pferd. Vielleicht sogar fünfundzwanzig. Nur die Taliban waren imstande, sich so im Gebirge fortzubewegen, zu Fuß und zu Pferd. Osama verspürte ein leichtes, aber deutliches Unbehagen. Sogleich rollte er seinen Gebetsteppich zusammen und sprang den Hang hinab, um zurück ins Dorf zu gelangen. Rangin war dabei, sich das Gesicht mit dem Wasser aus seiner Feldflasche zu waschen.

»Was ist los?«, fragte er, alarmiert von Osamas Nervosität.

»Eine Gruppe bewaffneter Männer, weniger als eine Stunde Fußmarsch von hier entfernt. Sie haben Pferde, wir müssen fort von hier. Wo ist Abdullah?«

»Der schläft noch.«

»Weck ihn auf, wir fahren auf der Stelle los.«

Osama begab sich auf die Suche nach ihrem Gastgeber. Er fand ihn hinter dem Haus, bei der Verrichtung seiner Notdurft.

Osama räusperte sich. »Die Straße ist nicht sicher in Richtung Osten«, verkündete er nach einer höflichen Pause. »Ich habe eine Gruppe Männer dort gesehen. Wir müssen sofort in eine andere Richtung aufbrechen.«

Osama rief sich die Landkarte in Erinnerung, die er in Kandahar zusammen mit Officer Kukur studiert hatte. Im Südwesten der Gegend, in der sie sich augenblicklich befanden, lag eine belutschische Zone. Dorthin würden ihn die paschtunischen Taliban nicht verfolgen.

»Wie kommt man nach Südwesten«, fragte er schließlich, »zur belutschischen Zone? Gibt es einen Weg, den man mit dem Auto befahren kann?«

Der Anführer überlegte.

»Es gibt eine Schotterpiste vom Dorf aus, dort unten. Folgt ihr zwei Stunden lang. Dann kommst du zur Kuppe eines Hügels, dem höchsten weit und breit. Anstatt wieder ins Tal hinunterzufahren, musst du rechts in Höhe des Hügels weiterfahren. Vielleicht trägt der Weg deinen Wagen, vielleicht auch nicht. Nach einem halben Tag Fahrzeit gelangst du zu einem weiteren Kamm, noch höher als der vorherige, du wirst ihn erkennen, man nennt ihn die blaue Hügelkette. Hütet euch vor den Minen, die Russen haben Hunderte in diesen Bergen abgeworfen. Springminen und Spielzeugminen, viele Männer, Frauen und Kinder kamen durch sie um. Nach dem Hügelkamm folgt eine Hochebene. Dort leben die Belutschen, aber seid vorsichtig, sie kennen nicht die Gastfreundschaftder Paschtunen. Wie es heißt, schlitzen sie Fremden, die sich verirrt haben, die Kehle auf.«

»Wir werden uns schon durchschlagen«, sagte Osama.

Wenig später holperten sie über eine Schotterpiste, noch schlimmer als die auf der Hinfahrt, der Toyota konnte sich nur im Schritttempo vorwärtsbewegen.

»Was meinte er genau, als er uns vor den Springminen warnte?«, fragte Rangin. »Und was sind Spielzeugminen? Ich dachte, alle Minen funktionieren nach dem gleichen System.«

»Springminen sind spezielle Minen, die die Russen gegen Ende des Kriegs abgeworfen haben«, erläuterte Osama. »Sie sind durch Wind und Wetter von Staub und Sand bedeckt, bleiben aber lange Zeit aktiv. Wenn man drauftritt, werden sie von einer Feder in die Luft geschleudert und explodieren. Anstatt einem das Bein abzureißen, bohren sich die Splitter in Kopf und Brust. Die Spielzeugminen sind Modelle im Taschenformat aus farbigem Plastik, die speziell für Kinder angefertigt werden. Sie fühlen sich von den kräftigen Farben angezogen. Wenn ein Kind eine aufhebt, wird ein Detonationsmechanismus ausgelöst. Hier in diesen Bergen gibt es viele Kinder, denen eine Spielzeugmine die Hand oder den Arm abgerissen hat. Widerwärtig.«

Rangin schwieg schockiert. Er war ein junger Mann aus der Hauptstadt, der nicht Bescheid wusste über all die Grausamkeiten, die auf dem Land begangen worden waren, sowohl von den Russen als auch von den Taliban. Osama beneidete ihn um die Fähigkeit, sich noch entrüsten zu können. »Ich habe Angst, dass sie uns einholen. Fahren wir denn schneller, als ein Mensch zu Fuß geht?«, fragte Rangin nach einer Weile beunruhigt.

»Nur unwesentlich«, erwiderte Osama.

Als sie auf der Spitze des ersten Hügels waren, griff Osama nach dem Fernglas. Die Taliban hatten inzwischen beinahe das Dorf erreicht.

»Sie werden doch nicht alle umbringen?«, fragte Rangin voller Sorge.

»Nein. Hier auf dem Land ist die Melmastia oberstes Gebot. Man kann diesen Dorfbewohnern nicht verübeln, dass sie anderen Muslimen Gastfreundschaft gewährt haben.«

Ein Schuss, dem weitere folgten, widerlegte Osamas Worte. Leichenblass griff er erneut zum Fernglas. Er sah, wie die Krieger die Dorfbewohner aus den Häusern scheuchten und sie zu Boden warfen.

»Mein Gott, sie werden sie doch nicht umbringen, diese Dreckskerle!«, rief Rangin. »Wir müssen hin, um ihnen zu helfen!«

»Wir sind zu dritt, und sie sind mehr als zwanzig. Alles, was wir erreichen werden, ist, dass sie uns auch umbringen.«

Osama hoffte, dass sie die Frauen wenigstens sofort umbrachten, obwohl er nur zu gut wusste, dass es anders laufen würde. Sie würden sie erst foltern und vergewaltigen, ehe sie sie töteten. Nach ihrer Untat würden sie die Häuser anzünden und anschließend die ISAF-Schutztruppe des Verbrechens bezichtigten, ein Attentat der Alliierten sei fehlgeschlagen, behaupteten sie dann. Einige Journalisten glaubten ihnen, andere nicht, obwohl sie die Nachricht dennoch brachten, denn ein Krieg, bei dem keine Unschuldigen ums Leben kamen, interessierte niemanden. Viele Massaker der Taliban waren den amerikanischen Bombern in die Schuhe geschoben worden und hatten die Ressentiments einer unzureichend informierten Bevölkerung geschürt, die stets bereit war, zu glauben, dass die Besatzungsmächte für die Gräueltaten verantwortlich waren.

Zwei Stunden fuhren sie unbehelligt weiter, mit derselben nervtötenden Schrittgeschwindigkeit. Ab und zu prüfte Osama mit dem Fernglas die Lage. Der Abstand zwischen ihnen und ihren Verfolgern hatte sich kaum verringert. Wenn sie jetzt eine Panne hatten, wären sie verloren. Gleichsam als Echo auf seine Gedanken stieß Abdullah plötzlich einen Fluch aus.

»Was ist los?«, fragte Osama.

»Wir haben einen Platten.«

In fiebriger Hast wechselten sie den Reifen. Die Bolzen hatten sich verklemmt, sie dachten schon, sie könnten das Rad niemals abschrauben. Endlich fuhren sie weiter, nachdem sie mehr als eine halbe Stunde gestanden hatten. Der Pass, den der Dorfälteste erwähnt hatte, ragte vor ihnen auf. Plötzlich tauchten zwei Männer wie aus dem Nichts auf dem Kamm auf. Männer mit Turbanen und einem Gewehr in der Hand.

»Halt an«, befahl Osama.

Er stieg mit der Dragunow aus. Das Gewehr mit dem charakteristischen massiven Holzkolben und dem riesigen Zielfernrohr war ihm vertraut, er hatte jahrelang damit gelebt, hatte damit gekämpft, es nachts an sich gedrückt, hatte es beim Schießen an seine Wange gepresst und jedes Mal sein Zittern gespürt, wenn sich der ohrenbetäubende Schuss löste. Während er eine Kugel in den Gewehrlauf steckte, erinnerte er sich voll Bitterkeit daran, dass er sich geschworen hatte, nie mehr ein Gewehr mit Zielfernrohr zu benutzen. Doch was galt schon ein Versprechen in Afghanistan? Er verfluchte die Taliban und stützte sich mit dem Gewehr auf das Autodach. Die Silhouette des ersten Mannes war deutlich im Visier zu sehen. Er drehte am Schärferegler. Der Mann war ungefähr tausend Meter weit weg, es wehte ein heftiger Wind, seine Zielobjekte waren in ständiger Bewegung. Ein kniffliger Schuss, der nur ganz wenigen Scharfschützen unter diesen Bedingungen glückte.

Die Detonation hallte wie Kanonendonner in der Stille des Tales wider. Eine der beiden Gestalten bäumte sich auf und wurde dann wie eine Marionette nach hinten gerissen. Osama ließ dem zweiten Taliban keine Zeit zum Überlegen, er lud durch, drückte ab. Ein neuerliches Grollen. Auch die zweite Gestalt ging zu Boden.

»Alhamdullilah, Sie haben sie beide erwischt. Aus fast einem Kilometer Entfernung!«, stieß Rangin entsetzt und doch erleichtert aus.

»Los, fahren wir weiter!«, sagte Osama knapp.

Oben am Kamm angekommen, sahen sie die beiden toten Taliban am Wegrand liegen. Die Kugeln der Dragunow hatten ihnen keine Chance gelassen. Rangin stieg aus, um ihnen die Waffen abzunehmen, alte pakistanische Kalaschnikows, vor allem aber das Radio, das er im Wagen verstaute. Einer der Männer trug einen gekrümmten Dolch bei sich, die bevorzugte Waffe der Taliban, mit denen sie ihren Feinden die Kehle durchschnitten. Er warf ihn in den Graben.

»Wenn wir an jedem Gebirgspass erwartet werden, kommen wir nie weiter«, sagte er.

»Wir befinden uns in einer Gegend, die zum größten Teil eine Wüstenlandschaft ist, ich glaube nicht, dass sie hier so ohne weiteres viele Männer postieren können«, erwiderte Osama. »Wir haben also eine Chance.«

Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Der Geländewagen schoss wie von einer Riesenhand angeschoben nach vorn, bis er unter Knirschen und Quietschen stehen blieb. Sie stiegen aus, um den Schaden zu begutachten. Die Schotterpiste hatte nachgegeben, der Toyota steckte in einem Loch, die Hinterreifen hingen in der Luft. Abdullah besah den Wagen von unten.

»Die Vorderachse ist verbogen. Wir brauchen eine Winde, um den Wagen wieder herauszukommen. Der ist hinüber!«

»Gehen wir zu Fuß weiter«, entschied Osama. »Wir sind nicht mehr weit von der belutschischen Hochebene entfernt.« Er deutete auf die Bergspitze. »Sie liegt hinter dem Kamm. Bis dorthin sind es noch drei Stunden Fußmarsch, vielleicht auch nur zwei.«

Sie deckten sich mit reichlich Wasser, Lebensmitteln und Munition ein und marschierten los.

»Sehen Sie nur!«, schrie Rangin plötzlich.

Osama drehte sich um. Die Reiter hatten sich von der Gruppe gelöst und kamen im Galopp auf sie zu. Er überlegte nur kurz. Dann hielt er Abdullah die CD hin.

»Ich werde sie mit der Dragunow in Schach halten. Du bist Paschtune, vielleicht lassen sie dich weiterziehen. Wenn du durchkommst, übergib diese CD deiner Mutter, sie soll sie dem Chef des Nachrichtendiensts bei der Polizei in Kabul zuspielen. Es ist ein Freund von mir, er heißt Reza, er weiß, was damit zu tun ist. Dann geh bitte zu meiner Frau, sag ihr, dass ich sie liebe und dass es mir leidtut, mein Leben nicht an ihrer Seite beenden zu können.«

Er umarmte die beiden Männer, stellte sich in Positur, das Gewehr auf einen Felsen gestützt, und wartete. Er musste ihre Verfolger näher herankommen lassen, bis sie in Schussweite waren. Die Sonne wärmte sein Gesicht, Schweißtropfen liefen ihm ins Auge. Keine zwanzig Minuten später sah Osama, dass sie die richtige Entfernung hatten. Einen Kilometer. Er sah sich nach seinen beiden Gefährten um. Sie liefen auf den Kamm zu, sie hatten keine Chance, den Reitern zu entkommen. Er ging in Schussstellung und zielte auf den Kopf des ersten Reiters. Eine krachende Detonation. Er setzte auf den zweiten Reiter an, der dritte versuchte hastig, sein Pferd zu wenden, doch Osama ließ ihm keine Gelegenheit mehr dazu. Seine Kugel traf den Mann im Rücken und ließ ihn seitlich vom Pferd stürzen. Schweißgebadet richtete Osama sich wieder auf, die drei Pferde waren unruhig stehen geblieben. Er konnte sie nicht am Leben lassen, sie kämen der Nachhut der Reiter gelegen. Die Tiere waren zu weit weg, als dass er sie zu Fuß hätte einfangen können, und er konnte nicht abschätzen, wie schnell die anderen Verfolger zu Fuß waren. Daher erschoss er sie mit einer genau platzierten Kugel. Ihn überkam tiefe Traurigkeit, als er die Dragunow wieder über die Schulter legte und seinen Kameraden in strammem Tempo hinterherlief, die jenseits des Kamms warteten. Als er kurz innehielt, blickte er auf eine immense, mit Büschen und einzelnen spärlichen Bäumchen bestandene Hochebene. Sie erstreckte sich kilometerweit vor seinen Augen. Dahinter erkannte man ein Dorf, überragt von dem Minarett einer Moschee. Belutschen, Männer seines Volkes. Sie waren gerettet. Osama eilte auf seine beiden Kameraden zu. Plötzlich sah er, wie der junge Abdullah den Weg verließ und auf einen großen Felsen in einigen Hundert Metern Entfernung zusteuerte.

Er brüllte aus Leibeskräften. »Abdullah! Nein! Bleib, wo du bist!«

Als er ihn rufen hörte, blieb der junge Mann stehen, doch er war zu weit, um ihn verstehen zu können. Er winkte Osama freundlich zu und marschierte zu dem Felsen hinüber, während er sich die Hose aufknöpfte. Fieberhaft zurrte Osama am Haltegurt seines Gewehrs. Er musste unbedingt Abdullahs Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im selben Augenblick hörte er ein trockenes Knacken. Wie in einem Alptraum sah er eine Art graue Scheibe in die Luft steigen, über den Kopf des jungen Mannes. Die Scheibe explodierte und traf Abdullah direkt im Gesicht. Der junge Mann vollführte eine makabre Pirouette. Als Rangin ihm zu Hilfe eilen wollte, schoss Osama zweimal in die Luft. Rangin stockte und blickte sich um. Osama hielt die Hände oberhalb seines Kopfes über Kreuz, das Zeichen, sich nicht von der Stelle zu bewegen.

»War das eine Springmine?«, fragte Rangin leichenblass. Er zitterte am ganzen Leib.

»Ja, bleib hier. Ich werde zu Abdullah hinübergehen, indem ich in seine Fußstapfen trete.«

Der Leichnam bot kein schönes Bild. Osama musste sich überwinden, ihn zu durchsuchen. Die CD, er brauchte die CD. Als er sie schließlich entdeckte, wollte er seinen Augen nicht trauen. Das Plastik war geschmolzen. Verzweifelt senkte Osama den Kopf. Es gab keine CD mehr. Es gab keine Spur mehr. Er hatte verloren.

Osama starrte auf Abdullahs Blut, das ihm von den Händen tropfte. Überall war Blut. Abdullahs Blut. Babraks Blut. Gulbudins Blut.

Zum ersten Mal seit dem Tod seines Sohnes begann er, hemmungslos zu weinen.