Der alte Geländewagen fuhr quietschend auf dem Parkplatz des Grenzpostens in Torkham vor – einer heruntergekommenen Stadt mit Häusern aus Lehm und hässlichem Beton, die durch die Präsenz der paschtunischen Militärs mit ihren geschulterten Kalaschnikows furchterregend wirkte.
»Gehen wir was trinken, bevor wir die Grenze passieren«, schlug Nicks Führer vor. »In der Mittagspause sind weniger Agenten vom pakistanischen ISI unterwegs, die unliebsame Fragen stellen könnten.«
»In Ordnung«, sagte Nick.
Die Reise hatte ihn erschöpft, und die Wunde an seinem Bein schmerzte immer noch. Nach seiner Flucht war er mit dem Auto über die italienische Grenze gefahren. Dort hatte er einen Bus nach Mailand genommen und sich dort behandeln lassen – ein Haushaltsunfall, so hatte er behauptet. Der junge Chirurg war ihm gleich sympathisch gewesen, ein Senegalese, der gerade sein Studium an der Universität Dakar abgeschlossen hatte und perfekt Französisch sprach. Nachdem er genäht worden war, hatte Nick unter falschem Namen ein Flugzeug nach Dubai bestiegen, dann ein weiteres nach Islamabad. Ein normaler Reiseverlauf für Geschäftsleute, Journalisten und Leute im Dienst humanitärer Organisationen, nichts, was große Aufmerksamkeit auf sich zog.
Obwohl er sich inzwischen pakistanische Kleidung zugelegt und sich seit zwei Tagen nicht rasiert hatte, sah man Nick an, was er war: ein junger Westler, der verloren wirkte in einem Land, in dem er sich nicht auskannte. Man musterte ihn verstohlen, bisweilen auch feindselig. Zum Glück verhinderte die Kalaschnikow, die ihm am Schulterriemen baumelte, lästige Nachfragen. In Islamabad hatte er sich von einem Taxifahrer, der kein Wort Englisch sprach, nach Peschawar fahren lassen, der Hauptstadt von Ost-Pakistan. Mitten in der Stadt war er ausgestiegen, um ein weiteres Taxi zu nehmen und einen Führer zu finden, der ihn an sein endgültiges Ziel brachte. Er hatte einen speziellen Erlaubnisschein kaufen müssen, der es ihm gestattete, die Stammeszone zu betreten. Die Erlaubnis gab es eigentlich kostenfrei, aber das Home Department of Tribal Affairs war so korrupt, dass er beinahe zweihundert Rupien hatte hinlegen müssen, um das Dokument sofort zu erhalten. Vorsichtshalber hatte er fünf Kopien des Passierscheins und seines Passes angefertigt und jeder einen Hundert-Rupien-Schein beigelegt. An den vier Kontrollposten, an denen er zwischen Peschawar und der Grenze angehalten wurde, wirkten die Fotokopien wahre Wunder: Die pakistanischen Militärs steckten das Geld ein und winkten sie ohne weitere Fragen durch. Am Checkpoint Michni bewunderte er das atemberaubende Panorama. Die Gegend war gefährlich, aber sein bewaffneter Führer – jeder Westler, der Peschawar verließ, musste einen haben – wirkte vertrauenswürdig. Er war Mitglied der Khyber Agency, der offiziellen Organisation, die das Monopol für den Begleitschutz der Reisenden aus dem Westen innehatte. Nick hatte sich als belgischer Arzt ausgegeben, der für eine humanitäre Organisation arbeitete. Sein Führer schien es ihm abzunehmen, hatte aber dennoch darauf bestanden, ihn zum Souk von Peschawar zu bringen, zweifellos dem weltweit größten Waffenmarkt unter freiem Himmel, wo alles produziert und verkauft wurde, von der als Füller getarnten Pistole bis zum Raketenwerfer. Er schien enttäuscht, als Nick sich weigerte, eine Waffe zur Selbstverteidigung zu erstehen.
Schweigend trank Nick seine lauwarme Cola und genoss diesen Augenblick der Ruhe vor dem letzten Teil seiner Reise. Zwischen Torkham und Kabul lagen mindestens zehn Stunden Autobahn, wenn alles gutging. Auf der anderen Seite der Grenze warteten unzählige Taxis auf afghanische und pakistanische Händler, die diese strategische Route täglich nahmen. Trotz seiner Müdigkeit spürte Nick eine leichte Erregung beim Gedanken daran, den berühmten Khaiberpass zu überqueren, eine schmale Lücke im Massiv des Hindukusch, dem höchsten Gebirge Afghanistans, durch das sich schon Generationen von Abenteurern gezwängt hatten.
»Glauben Sie, dass der Rest der Fahrt genauso ruhig verlaufen wird?«, fragte er den Führer, als sie ausgetrunken hatten.
»Die Strecke ist sehr gefährlich«, erklärte dieser in seinem bruchstückhaften Englisch. »Wir warten lieber auf einen militärischen Konvoi.«
Die Region war paschtunisch und den Machthabern gegenüber feindlich gesinnt, die Taliban bewegten sich zu beiden Seiten der Grenze frei. Die Achse Peschawar–Dschalalabad– Kabul war eine der wichtigsten im ganzen Land und wurde streng kontrolliert: im Osten von der pakistanischen Armee, im Westen von der afghanischen und nun von der NATO. Dennoch kam es ständig zu Überfällen. Wich man nur ein paar Kilometer von der Straße ab, befand man sich auf feindlichem Terrain.
Sie warteten zwei Stunden, bis mehrere weiße Geländewagen mit dem Emblem der UNO auftauchten. Sein Führer erkundigte sich. Ein paar Minuten später kehrte er zurück, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht.
»Sie fahren nach Kabul. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie Arzt sind, und sie haben sich bereit erklärt, Sie mitzunehmen. Sie müssen auf der anderen Seite auf sie warten.«
Nick verabschiedete sich von seinem Führer. Dann setzte er den Rucksack auf und ging zwischen großen Pfützen mit geschmolzenem Schnee zum Grenzposten hinüber. Er zahlte zwei ärmlich gekleideten pakistanischen Zöllnern fünfhundert Rupien, sie winkten ihn wortlos durch. Auf afghanischer Seite herrschte ein entsetzliches Durcheinander. Soldaten schliefen direkt auf dem Boden, in Decken eingerollt, um gegen die Kälte anzukämpfen. Überall warteten aufgebrachte paschtunische Händler darauf, die Grenze passieren zu dürfen, andere diskutierten leise mit den finster dreinblickenden Grenzern und zahlten Bakschisch in Höhe von ein paar Hundert Afghanis, um den Prozess ein wenig zu beschleunigen. Er steckte einem Mann zwanzig Dollar zu, worauf dieser ihm sofort ein Dreimonatsvisum für humanitäre Zwecke ausstellte. Zehn Minuten später fand er sich auf einem steinigen Parkplatz wieder.
***
Seit seiner Rückkehr hatte Osama die meiste Zeit bei sich zu Hause verbracht, er wollte niemanden treffen.
Nach dem Verlust von Abdullah waren Rangin und er freundlich in dem belutschischen Dorf aufgenommen worden. Man hatte ihnen eine Gruppe belutschischer Krieger als Geleitschutz für ihre Route durch feindliches, ödes Gebiet an die Seite gestellt. Und so waren sie nach fünf Tagen wieder in Kabul angekommen – mit Zwischenstationen in Kajaki Dam, dann in Kandahar, wo Osama Officer Kukur die Nachricht vom Tod ihres Sohnes hatte überbringen müssen. Sie, die seit Jahren Todesdrohungen, Mordversuche und Einschüchterungsversuche aushielt, ohne mit der Wimper zu zucken, war in Tränen ausgebrochen; er hatte sie nicht trösten können. Als er daran dachte, wurde ihm übel.
In jedem anderen Land hätte das Wiederauftauchen zweier als verschwunden deklarierter Polizisten großes Echo in der Bevölkerung gefunden und vielleicht sogar eine erregte Debatte ausgelöst. Seine Zeugenaussage wäre auf der Titelseite der Zeitungen gelandet. Nichts dergleichen war geschehen. Der Innenminister hatte sein übliches doppeltes Spiel getrieben. Während Osamas Abwesenheit hatte er rasch ein Gerücht in Umlauf gebracht: Er ließ alle Mitarbeiter des Kommissariats glauben, Osama und seine Männer seien von einer Gruppe Taliban angegriffen worden, die ihnen die Autos gestohlen und die Verletzten dann entführt und zu Tode gemartert hätten. Ihre leibhaftige Rückkehr war wie eine Bombe eingeschlagen, doch folgenlos geblieben.
Osama hatte insgeheim auf ein Wunder gehofft, als er die Überbleibsel der von der Springmine zerstörten CD den Leuten von der Spurensicherung übergeben hatte. Das Ergebnis war indes zweifelsfrei gewesen: Die Bruchstücke erwiesen sich als unbrauchbar. Der Qoumaandaan hatte vehement erklärt, von einer Drohne angegriffen worden zu sein und nicht von Taliban, doch es half nichts, es fehlten die Beweise. Die Wracks der beiden von den Geschossen zerstörten Wagen hatten sich in Luft aufgelöst, waren wahrscheinlich bereits an einen Schrotthändler verkauft worden.
Osama hatte eine mächtige politisch-militärische Maschinerie gegen sich aufgebracht, indem er die Verhaltensregeln missachtet hatte. Natürlich hatte er im Sinne der Ermittlung gehandelt, doch was unter dem Strich herausgekommen war, war erschreckend: Er hatte seine fünf besten Männer verloren, darunter seine beiden Assistenten, mehrere Unschuldige waren umgekommen, und die Akte Mandrake gab es nicht mehr. Mit einem Wort: Er hatte versagt.
Völlig versagt.
Als wäre dies nicht genug, hatte der Minister eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, weil er sich den Dienstvorschriften widersetzt hatte. Bald würde man ihn suspendieren, kein Zweifel.
Er brütete gerade über seinem Fehlschlag, als es an seiner Tür klopfte. Ein Junge überbrachte ihm einen Brief: der Bote Mullah Bakirs. Osama setzte sich, um den Brief zu lesen, der in eleganter Handschrift auf schönem Papier verfasst war.
Qoumaandaan,
mein Informant teilte mir mit, dass der Minister sich anschickt, einen Haftbefehl gegen Sie zu erlassen, der Ihnen in wenigen Stunden zugestellt werden wird. Der Minister bereitet diesen Schachzug seit mehreren Tagen vor. Er hat lediglich so lange gewartet, bis sein Kollege aus dem Justizministerium heute Morgen nach Europa geflogen, also außer Reichweite ist. Ein Staatsanwalt von Seinen Gnaden wird Ihren Haftbefehl unterzeichnen. Der Gegenstand der Anklage ist vielfältig. Zum einen klagt man Sie an, Kabul mit Ihren Männern verlassen und somit Ihren Kompetenzbereich überschritten zu haben, und zwar ohne einen entsprechenden Auftrag und auf einer Straße, die nicht zuvor von der Armee gesichert wurde; außerdem werden Sie des heimlichen Einverständnisses mit den Taliban bezichtigt, was erklären würde, weshalb Sie als Einziger zusammen mit Ihrem Kollegen Rangin mit dem Leben davongekommen sind.
Man wird Sie heimlich in Bagram inhaftieren, ohne dass irgendjemand Sie besuchen darf, ein Anwalt schon gar nicht. Zwei neue Assistenten werden Gulbudin und Babrak ersetzen. Der eine ist ein Turan aus Kandahar und steht dem Minister nahe, der andere ein Paschtune, der Sie verachtet. Die beiden haben den Auftrag, Ihre Abteilung gründlich »auszumisten«.
Widerstand zu leisten oder auf Ihre Unschuld zu pochen wäre in dem Fall völlig nutzlos.
Ich rate Ihnen, sich zu verstecken, bis wir etwas klarer sehen. Schicken Sie Ihre Frau aufs Land. Wenn Ihre Mittel zur Neige gehen, kann ich Ihnen schicken, was Sie brauchen, auch Waffen und Geld.
Verlieren Sie keine Zeit! Sie sind diesem Land nützlicher, wenn Sie am Leben bleiben, statt in dem düsteren Verlies, das Ihnen bestimmt ist, ›unglücklicherweise‹ umzukommen.
Es bleibt noch Hoffnung. Kämpfen Sie!
Ihr Freund,
Mullah Muhammad Bakir
Die Botschaft war niederschmetternd, aber nicht überraschend. Schnell fasste Osama sich wieder. Er packte ein paar persönliche Dinge in eine Reisetasche, steckte das gesamte Geld ein, das in der ganzen Wohnung auf diverse Schatullen verteilt war. Eine Pistole, mehrere Ersatzmagazine, Granaten, seine treue Kalaschnikow, seinen Koran. Viel mehr besaß er nicht. Dann entriegelte er die Tür zur Rumpelkammer. Er schob einen Haufen Kartons beiseite, um an die rückwärtige Wand zu gelangen. Mit dem Messer kratzte er den groben Mörtel ab, der ein Geheimfach in einem hohlen Ziegel verdeckte. Darin lagen zwei usbekische Pässe, die er 1998 einem Händler abgekauft hatte, damals, als die Taliban unbesiegbar zu sein schienen. Der erste Pass war auf den Namen Hamid Kadenis ausgestellt, der zweite auf Malalai Kadenis. Nachdenklich betrachtete er das gefälschte Dokument seiner Frau. Er hatte ihr nie etwas von diesem Pass erzählt, er hatte ihr ein Foto abgeluchst, ihn heimlich anfertigen lassen und dann versteckt. Sie wusste nicht, dass er damals daran gedacht hatte, mit ihr zu fliehen. Er hatte sich geschämt, so zu handeln, schämte sich bis heute für diesen Kleinmut, obwohl er sich dann ja entschieden hatte, Kabul den Rücken zu kehren und in den Bergen den Kampf gegen die Taliban aufzunehmen. Er nahm die beiden Pässe, brachte das Versteck wieder in Ordnung und kehrte zurück ins Haus.
Er war bereit zum Gehen.
Genau in dem Augenblick klopfte es an der Hintertür, die auf die kleine Straße hinausging und nie benutzt wurde. Neugierig, aber nicht sehr beunruhigt, griff Osama nach einer Waffe. Die Häscher des NDS hätten die Eingangstür eingetreten. Die Kamera, die er diskret auf dem Dach des Nachbarhauses hatte anbringen lassen und die auf seine Tür gerichtet war, sandte das Bild eines jungen Mannes, der allein, in Jeans und Sportjacke vor der Tür stand. Osama öffnete, die Waffe in der Hand.
»Kommissar Kandar?«, fragte der Fremde mit sanfter Stimme. Er war jung, ein Westler, hatte tiefblaue Augen und gelockte, ein wenig zu lange Haare.
»Ja. Wer sind Sie?«
»Ich heiße Nick Snee. Darf ich reinkommen?«
»Wozu?«, entgegnete Osama kühl.
»Ich würde gern mit Ihnen über Mandrake sprechen.«
Osama war sprachlos. Dann ließ er Nick eintreten.
»Wir haben nur sehr wenig Zeit. Ich muss fort von hier.«
»Sie sind im Begriff zu fliehen?«, fragte Nick überrascht.
»Das geht Sie nichts an. Wer sind Sie, und was wollen Sie?«
»Ich habe für eine Schweizer Organisation gearbeitet, die sich auf besonders heikle Missionen spezialisiert hat. Eine Geheimorganisation, die wir ›Die Firma‹ nennen.«
»Das sagt mir nichts.«
»Kein Wunder. Dennoch ist sie verantwortlich für das Leid, das man Ihnen in den vergangenen Wochen zugefügt hat, für die Angriffe, diverse Attentate. Minister Khan Durrani ist nur eine Schachfigur. Das Selbstmordattentat im Hamad Café. Die Mudschaheddin, die Sie auf dem Rückweg von Wali Wadis Büros überrascht haben. Die Drohne. Hinter alldem steckt die Firma.«
Osama stand auf, er war leichenblass geworden.
»Dreckskerl! Was fällt Ihnen ein, herzukommen und mich zu verhöhnen! Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus!«
»Ich habe nichts mit diesen niederträchtigen Aktionen zu tun! Ich bin nur Analyst und habe der Firma den Rücken gekehrt, seit ich diesen schmutzigen Machenschaften auf die Spur gekommen bin. Ich kann Ihnen helfen. Aus dem Grund bin ich hier. Damit wir gemeinsam gegen diese Mörder kämpfen.«
»Ich verstehe nichts von dem, was Sie da erzählen. Ich frage Sie erneut: Was wollen Sie?«
»Dass wir gemeinsam vorgehen.«
»Gemeinsam vorgehen? Wobei denn?«
»Dabei, Mandrake wiederzufinden.«
Osama lachte bitter auf. »Sie sind nicht auf dem neusten Stand, junger Mann. Meine Fahrt war ein Misserfolg. Die Akte Mandrake ist vernichtet. Meine Chefs haben mich angezeigt. Es ist alles aus! Tut mir leid. Sie sollten zurück in Ihr Land fahren und diese Geschichte vergessen. Ich jedenfalls habe damit abgeschlossen. Definitiv.«
»Mandrake ist nicht nur der Name einer Akte, sondern auch der eines Mannes auf der Flucht. Der Verfasser des Dossiers, das seinen Namen trägt. Und eben diesen Léonard Mandrake möchte ich ausfindig machen. Ich weiß, dass er sich hier versteckt hält, in Afghanistan.«
Mandrake … Osama war nie auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei Mandrake um eine Person handeln könnte. Ein weiterer Fehler, der ihm unterlaufen war. Er hatte wirklich viele Informationen übersehen bei der Bearbeitung dieses Falls. Zu viele. Eingehend musterte er Nicks staubbedecktes Gesicht. Der junge Mann sah erschöpft aus, er wirkte aufrichtig. Nicht nur seine Tätigkeit bei der Polizei, auch die Jahre im Krieg hatten Osamas Blick geschärft. Oft war er gezwungen, rasch Verbündete zu finden, mehrmals hatte er dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt.
»Wieso glauben Sie, dass er hier in diesem Land ist?«
Nick berichtete von seinen Recherchen.
»Wir müssen los«, sagte Osama, als Nick geendet hatte. »Ich werde festgenommen, wenn ich nicht von hier verschwinde.«
»Was ist passiert …?«
»Das erkläre ich Ihnen später.«
***
Joseph wartete in seinem kleinen Büro, dass seine Männer Nicks Spur aufnahmen. Seit zwei Tagen war er in Alarmbereitschaft, versuchte aber, so gelassen wie möglich zu wirken. Wer ihn nicht kannte, hätte beim Anblick seines völlig neutralen Gesichtsausdrucks glauben können, er sei gelangweilt. Nicks Flucht hatte diverse Konsequenzen. Zum einen war klar, dass er die Manipulation, deren Opfer er geworden war, durchschaut hatte. Schlimmer war, dass er ebenfalls begriffen zu haben schien, dass die Firma mit dem Mordversuch an Kommissar Kandar einen schweren Gesetzesbruch begangen hatte. Joseph wusste nicht, was Nick in den Computerdateien des Generals entdeckt hatte, aber er konnte es sich gut vorstellen. Es würde reichen, um einen enormen Skandal zu provozieren und sie alle ins Gefängnis zu befördern.
Er musste ihn wiederfinden und töten, bevor es zu spät war.
Wie hatte Nick, ein Analyst, der keinerlei Erfahrungen mit militärischen Operationen besaß, einfach untertauchen können? Noch hatte Joseph keine Antwort darauf, was einen weiteren beunruhigenden Faktor darstellte. In seinem Beruf entstanden aus solchen Details oft die größten Katastrophen. Unbedeutende Ereignisse, die im Zusammenspiel die Situation total außer Kontrolle geraten ließen. Es klopfte an seiner Tür, ein Mann legte ein Blatt auf seinen Schreibtisch. Jede Stunde reichte einer seiner Mitarbeiter eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse herein. Bislang hatten sie nicht viel herausgefunden. Fest stand, dass Nick nach Italien gefahren war, denn sein Wagen war auf einem Langzeitparkplatz auf der anderen Seite der Grenze gefunden worden. Im Wageninneren waren Blutspuren sichergestellt worden. Die Spurensicherung hatte eine DNA-Analyse durchgeführt, mit deren Ergebnissen in zwei Stunden zu rechnen war. Natürlich konnte dies eine falsche Spur sein, ein eigens für sie ausgelegter Köder, doch hatte Joseph seine Zweifel daran. Eine Staffel K-Männer mit Helikopter war in Mailand postiert worden und konnte im Bedarfsfall einen Großteil des italienischen Territoriums abdecken. Der Gedanke, dass Nick schlauer gewesen sein könnte als er, rief kalte Wut in Joseph wach. Er hasste Misserfolge. Jetzt musste er ihn unbedingt finden. Sein einziger Trost war, dass Nick nicht unbemerkt ein Flugzeug besteigen konnte. Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als eine andere Überlegung ihn durchzuckte. Er rief einen seiner Männer.
»Wo werden die unbenutzten Pässe gelagert?«
»Im Tresor.«
»In der Abteilung Logistik und technischer Support?«
»Ja, Chef.«
»Nick hat bei seinem Eintritt in die Firma sechs Monate in dieser Abteilung gearbeitet. Sehen Sie mal nach, ob einer fehlt.«
Ein paar Minuten später kam der Mann zurück, einen Karton in Händen.
»Hier drin sind vierundzwanzig Pässe, ich weiß nicht, ob einer fehlt.«
»Idiot! Es ist doch alles digital gespeichert.«
Sie gingen zu einer Programmiererin hinüber, einer fülligen Blondine, die eine Verbindung zum zentralen Server der Firma herstellte.
»In dem Karton müssten fünfundzwanzig Pässe sein«, verkündete sie.
»Suchen Sie den fehlenden Pass«, befahl Joseph.
»Es ist die Nummer 5678XV79«, teilte die Programmiererin wenige Augenblicke später mit. Ein belgischer Pass.
»Überprüfen Sie, ob er bei einer Fluggesellschaft registriert wurde.«
Sie öffnete ein neues Fenster, um sich in den Zentralrechner des Eidgenössischen Verkehrsdepartements einzuloggen, welches wiederum mit den meisten europäischen Ländern verbunden war. Es tauchte auf der Stelle ein Ergebnis auf. Ein Flug nach Dubai von italienischem Territorium aus.
»Ist das ein Irrtum?«, fragte der K-Mann, der ihr über die Schulter blickte.
»Nein. Nein, das ist kein Irrtum!«, rief Joseph. »Zeigen Sie mal das Passfoto.«
Sie klickte auf einen Thumbnail, um das Einreiseformular aufzurufen, das mit dem Pass verknüpft war.
Mit dem neuen biometrischen System war das Ganze ein Kinderspiel geworden. Gleich darauf füllte ein Foto den Bildschirm aus. Es war Nick.
»Suchen Sie mir alle Strecken heraus, die mit diesem Pass benutzt wurden. Sehen Sie sich auch die Eintragungen zu Nicks offiziellem Pass an, und finden Sie heraus, ob es Anschlussflüge bei Fluggesellschaften gibt, die ihre Passagierlisten nicht von sich aus veröffentlichen.«
Die Blondine begann mit Höchstgeschwindigkeit zu tippen. Gut zehn Minuten später drehte sie den Bildschirm zu ihnen hinüber.
»Ich habe einen einzigen Anschlussflug gefunden. Dubai– Islamabad mit Fly-Dubai, einem lokalen Billigunternehmen.«
»Was zum Teufel will er in Pakistan?«, fragte der K-Mann.
»Da fährt er nur durch, du Idiot. Er will nach Afghanistan. Über den Khaiberpass.«
»Aber … was will er dort?«
Auf einmal fiel es Joseph wie Schuppen von den Augen. Es war unglaublich. Völlig unerwartet.
»Kandar! Er will sich mit Kandar treffen!«
***
Osama fand es aberwitzig, dass die Kabuler Polizei, der er doch jahrelang treu gedient hatte, nun Jagd auf ihn machte. An den Kreuzungen standen noch mehr Soldaten und Polizisten und überwachten sie. Im Radio war ein Anschlag auf eine Kaserne gemeldet worden. Zwölf Shahids hatten sich einer nach dem anderen in die Luft gesprengt, drei Kämpfer waren daraufhin durch die Löcher in der Einfriedung auf das Gelände gestürmt und hatten mit Automatikwaffen auf alles gezielt, was sich bewegte. Die Taliban setzten ihr kleines makabres Katz-und-Maus-Spiel fort.
»Wohin fahren wir?«, fragte Nick.
Osama legte den Finger auf die Lippen: Er hatte das Gefühl, dass der Taxifahrer Englisch verstand, obwohl er es verneint hatte. Sie ließen das Taxi vor einem kleinen Café in der Nähe des Krankenhauses anhalten, in dem Malalai arbeitete. Sie suchten sich einen ruhigen Tisch, und als sie Platz genommen hatten, bat Osama Nick um einen möglichst vollständigen Bericht über seine Untersuchungen und Entdeckungen; nur gelegentlich unterbrach er ihn und stellte eine Frage.
»Haben Sie nichts Genaueres herausfinden können, was die Beziehungen zwischen Léonard Mandrake und Wali Wadi angeht?«
»Nicht mehr als das, was ich Ihnen erzählt habe. Mandrake reiste oft nach Pakistan, mehrmals pro Jahr, ich nehme an, dass er sich dort mit Wadi traf. Außerdem verabredeten sie sich auf der ganzen Welt zu heimlichen Treffen. Ich habe diverse Datenbanken durchschnüffelt und dabei festgestellt, dass Wadi nach Paris, London und Frankfurt flog und Mandrake genau zur selben Zeit an dieselben Orte reiste.«
»Mandrake war im Besitz von höchst sensiblen Daten, und irgendwie muss auch Wali Wadi darauf Zugriff gehabt haben«, sagte Osama nachdenklich. »Hat er sie gestohlen, oder haben sie sie ausgetauscht?«
»Niemand weiß es. Sicher ist nur, dass die Geschäftsleitung von Willard Consulting Panik ergriffen hat, als sie erfuhr, dass geheime Informationen in Umlauf waren. Man versuchte, die Angelegenheit allein zu erledigen.«
»Dortmund hatte den Auftrag, Wali Wadi in Kabul umzubringen, während ein anderes Team sich um Mandrake in Zürich kümmern sollte«, schlussfolgerte Osama. »Nachdem diese Unternehmungen zum Teil schiefgegangen waren, trat die Firma auf den Plan, und damit auch Sie.«
»Ich glaube, wir wissen jetzt, wie es weiterging. Ich muss Sie nun ganz direkt fragen: Sie sind auf der Flucht, Ihre Vorgesetzten haben einen Preis auf Ihren Kopf ausgesetzt. Können Sie mir noch helfen, Léonard und Zahra zu finden?«
Osama lächelte traurig.
»Meine Situation ist so, wie sie nun mal ist, aber dieses Land ist mein Land. Ich habe überall ein Netzwerk von Freunden. Wo sie sich auch verstecken mögen, wir werden sie finden.«
Er ließ Nick am Tisch sitzen und überquerte die Straße. Malalais Abteilung war leer. Er rief eine Krankenschwester, gab sich zu erkennen. Diese bat ihn, in ihrem Büro Platz zu nehmen, bevor sie seine Frau suchen ging. Zehn Minuten später kam Malalai herein.
»Entschuldige, ich war gerade im OP-Saal. Eine Entbindung. Wie nett, dass du vorbeischaust. Guck mal, ich habe auch eine Überraschung für dich.« Sie wühlte in einer Schublade und zog dann ein Stück Seife hervor, dessen Farbe an Lokum erinnerte und das sie triumphierend schwenkte.
»Sieh mal!«, verkündete sie stolz. »Ich bin beim Souk vorbeigegangen und habe Rosenseife gekauft, die magst du doch so gerne, nicht?«
Osama lächelte, während Malalai wieder ihre sterile Haube aufsetzte.
»Ach, und übrigens habe ich mich von einem Taliban beschimpfen lassen, weil ich nur einen Hijab trug und keine richtige Burka. Dieser nette Mensch hat mich als Hure bezeichnet und als Geschöpf des Teufels. Er drohte mir an, mir mit einer Schere das Gesicht zu zerkratzen. Ich habe ihn bei der Polizei angezeigt, doch die haben mich nur ausgelacht! Sie haben nicht einmal Anstalten gemacht, ihn zu verfolgen, dabei hätten sie ihn ohne Weiteres erwischen können!«
»Hoffentlich haben Sie dir nicht weh getan?«
»Nein, sofern es einem nicht weh tut, wenn man beim Einkaufen beleidigt wird. Wir haben gestern mit meinen Kolleginnen bei der RAWA darüber gesprochen. Wusstest du, dass es keine Vorschrift im Strafgesetzbuch gibt, die es Männern untersagt, Frauen zu beleidigen?«
Osama verneinte. Als sie sein besorgtes Gesicht sah, beugte Malalai sich zu ihm vor.
»Was ist los, Osama?«
In kurzen Worten berichtete er, was sich seit dem Morgen ereignet hatte.
»Glaubst du, du kannst dich vor dem NDS in Kabul verstecken?«
»Einige Zeit bestimmt. Außerdem weiß ich nicht, ob Mandrake in Kabul ist, vielleicht muss ich die Stadt verlassen, um ihn ausfindig zu machen.«
»Muss ich mich auch verstecken?«
»Es wäre besser. Melde dich krank.«
»Ich werde bei einer Freundin unterschlüpfen. Das ist klüger als bei meiner Familie.«
»Du solltest dein Telefon hierlassen. Man könnte dich sonst auffinden. Wenn du mit mir sprechen möchtest, hinterlässt du der Kollegin, die dir am vertrauenswürdigsten erscheint, eine Nachricht. Wie heißt sie?«
»Amina. Und ich, wie kann ich dich erreichen?«
»Über Mullah Bakir.«
Sie küsste ihn.
»Sind die Aussichten, diesen Schurken, den Mördern deiner Männer, das Handwerk zu legen, jetzt besser dank dieses jungen Mannes aus dem Westen?«
»Ich glaube schon.«
»Finde sie, Osama, und wenn du sie gefunden hast, dann bestrafe sie!«
Mit Tränen in den Augen nahm Osama Abschied von seiner Frau. Nick wartete bereits ungeduldig im Café auf ihn.
»Wie gehen wir jetzt vor?«, fragte er. »Statten wir Ihrem Freund Reza einen Besuch ab?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Er hat einen wichtigen Posten, und es ist bekannt, dass wir Freunde sind. Ich möchte ihn nicht grundlos in Schwierigkeiten bringen. Wir müssen weniger offensichtliche Quellen nutzen.«
Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Zeit und viel Koffein. Er bestellte einen doppelten turkmenischen Kaffee, eine Rarität in Kabul.
»Wir werden jemanden treffen, der uns helfen kann«, sagte er, nachdem er seine Tasse in einem Zug geleert hatte. »Und nur damit Sie Bescheid wissen, er ist ein Imam. Ein Mann, der im Lager Ihrer Feinde war.«
Nick wurde blass. »Ein Taliban?«
»Ein gemäßigter. Aber dennoch ein Taliban.«
»Kennen Sie niemand anderen?«
»Ich habe viele Freunde, auf die ich mich verlassen kann, ehemalige Mudschaheddin oder Leute aus dem Kommissariat, aber ich fürchte, sie werden streng überwacht. Der NDS ist sehr straff organisiert. Mullah Bakir lässt sich am leichtesten kontaktieren. Er hat mir das Leben gerettet, als Ihre Freunde mir einen Trupp Killer schickten, um mich zu ermorden.«
»Warum sollte uns ein Taliban helfen, und sei es ein gemäßigter?«
»Ich weiß es nicht. Fragen Sie ihn selbst!«
Sie riefen ein Taxi. Auf der Fahrt zur Moschee verharrten sie in Schweigen, ermüdet durch den Ernst der Situation. Kurz bevor sie an der Moschee ankamen, erblickte Osama ein Geschäft am Straßenrand, dessen Inhaber gerade das Rollgitter herablassen wollte. Er bat den Fahrer anzuhalten.
»Was haben Sie vor?«, fragte Nick.
»Sie können nicht so in die Moschee gehen. Spione des NDS könnten in der Umgebung herumstreifen. Sie müssen sich verkleiden.«
»Aber ich bin doch schon wie ein Afghane angezogen!«
»Sie sehen ebenso sehr nach einem Afghanen aus wie ich nach einem Trader von der Wall Street!«, erwiderte Osama. »Sie müssen unsichtbar werden.« Er wies mit dem Kopf auf die Auslage: Variationen von Burkas. »Wenn Sie das überziehen, ist die Tarnung perfekt!«
»Oh nein!«
Osama ließ ihn auf dem Bürgersteig stehen und erstand eine Burka mit Tunika und Hose.
»Ziehen Sie sich rasch in einer Seitenstraße um. Es ist schon fast dunkel, niemand wird Sie bemerken.«
Widerwillig hüllte Nick sich in die Burka, unsicher wankte er über den unebenen Boden.
»Geht’s?«, fragte Osama ironisch. »Fühlen Sie sich wohl?«
»Was soll das«, protestierte Nick, »man sieht ja gar nichts mit diesem Gitter vor den Augen! Wie kann man nur Leute zwingen, sich so anzuziehen? Das ist unmenschlich.«
»Die Afghaninnen schaffen das recht gut, Sie werden sich auch daran gewöhnen«, erwiderte Osama zögerlich und dachte dabei an Malalais Proteste.
Er selbst hatte nie eine anprobiert, auch nicht, um zu wissen, wie es sich anfühlte, wenn man so herumlaufen musste.
Sie gingen zu Fuß weiter, Nick konnte kaum Schritt halten mit Osama, wie eine unterwürfige Ehefrau, die ihrem Mann in einiger Entfernung folgte. Die Moschee war beinahe leer, ein paar wenige Gläubige beteten schweigend auf ausgebreiteten Teppichen. Der Einbeinige erkannte Osama. Er schien Nick daran hindern zu wollen, ihm zu folgen, doch Osama hielt ihn mit einer Geste zurück.
»Sie kommt mit mir.«
Mullah Bakir sah freundlich von seiner Arbeit am Computer auf, als sie eintraten; es war ohne Zweifel aufrichtig gemeint. »Bruder Osama, ich bin so glücklich, Sie heil wiederzusehen. Wirklich, was für eine Freude!«
Sie umarmten sich. Dann wandte sich der Mullah an Nick.
»Ihre Gattin Malalai? Man sagt ihr doch nach, sie sei allergisch auf die Burka?«
»Sie können Ihre Verkleidung abnehmen«, sagte Osama.
Verblüfft sah Mullah Bakir, wie Nicks Gesicht auftauchte. Es war ganz rot vor Hitze.
»Wer ist das?«
»Ein Schweizer Freund. Ich meine, bei meinem ersten Besuch englische Zeitschriften bei Ihnen gesehen zu haben, Sie sprechen es vermutlich.«
»Aber sicher! Willkommen in Afghanistan«, begrüßte der Mullah Nick. »Als ich jung war, habe ich in Genf studiert und in Cambridge.«
Er sprach perfekt Englisch, näselnd-arrogant, wie es sich für einen Absolventen einer Eliteuniversität gehörte.
»Was haben Sie in Europa studiert?«, fragte Osama.
»Zellmikrobiologie. Ich glaube, ich habe es sogar bis zum Doktortitel gebracht …«
»Aber … weshalb sind Sie dann zum Taliban geworden?«, fragte Nick ungläubig.
»Die Taliban von 1995, das war etwas ganz anderes als die von 2001. 1995 hielt man uns für eine Intellektuellenbewegung. Es stimmt, Mullah Omar, der, wie ich vermute, nicht einmal lesen kann, und ich hatten zum Schluss ein ziemlich schwieriges Verhältnis. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz, ich werde Ihnen gleich den Tee servieren.«
Osama ließ ihn gewähren. Schweigend warteten sie, bis der Tee abkühlte.
»Sie haben gut daran getan, mich gleich aufzusuchen«, sagte Mullah Bakir. »Der Minister hat erklärt, Sie hätten sich in die Berge geflüchtet und Ihre Männer im Stich gelassen, als diese massakriert wurden.«
»Was für eine feige Lüge!«, ereiferte sich Osama. »Ich, ein Mudschaheddin, hätte mich vor dem Kampf gedrückt?«
»Alle, die Sie kennen, wissen es besser, angefangen bei Ihren eigenen Männern. Aber was vermögen schon ein paar ehrliche Pules gegen die Staatsgewalt? Übrigens weiß ich nur zu gut, dass es auf jener Straße in den vergangenen zwei Wochen keinen Angriff der Taliban gegeben hat.«
»Meine Freunde werden mir helfen.«
»Die wird man zum Schweigen bringen.«
»Wer ›man‹?«
»Die Leute, die der ISAF nahestehen«, erwiderte der Mullah und warf Nick dabei einen Seitenblick zu. »Amerikaner, Franzosen, Engländer, vielleicht erfahren wir es eines Tages. Jedenfalls bin ich sicher, dass der Westen seine Hand im Spiel hat. Nette Leute, so zivilisiert … Natürlich, jemanden mit einem fünfhunderttausend Dollar teuren Geschoss umzubringen, das von einer ultramodernen Drohne aus abgefeuert wird, ist politisch weitaus korrekter, als jemandem die Kehle aufzuschlitzen, wie es meine Talibanfreunde tun. Die Ungläubigen, vor allem die Amerikaner, lieben die Technik über alles. Jemanden mit einem technisch ausgefeilten Objekt zu töten – das ist in ihren Augen kein Mord … Aber ist es moralisch besser? Denken Sie ruhig mal über diese interessante Frage nach.«
»Warum helfen Sie uns?«, fragte Nick.
»Wer sagt Ihnen, dass ich das tun werde? Sie sind ja schließlich nur ein Nazarener.«
»Hören Sie auf mit Ihren Spitzfindigkeiten.«
Ein Lächeln zeichnete sich auf Mullah Bakirs Gesicht ab.
»Sie haben recht. Ich habe nichts gegen die Ungläubigen, sollen sie doch ihren Gott anbeten, oder auch gar keinen, wie es derzeit in Europa Mode zu sein scheint. Ich respektiere den Glauben aller, solange man uns so leben lässt, wie wir es für richtig halten, als korangläubige Muslime. Was wissen Sie über die Beziehungen zwischen den Taliban und dem Westen?«
»Sie haben Bin Laden und seine Bande aufgenommen. Sie haben ihm dabei geholfen, die Attentate auf den Westen vorzubereiten, darunter auch das vom 11. September, bei dem Tausende von Amerikanern umkamen. Das ist es, was ich über die Beziehungen der Taliban zum Westen weiß!«
»Stellt sich Ihr Freund nur so dumm oder ist er es tatsächlich?«, fragte Mullah Bakir, an Osama gewandt.
»Die Attentate vom 11. September haben den Westen sehr nervös gemacht«, beschwichtigte Osama. »Und ganz so unrecht hat er nicht mit dem, was er sagt.«
»Das stimmt«, pflichtete der Mullah bei. »Sie sind jung und wissen über bestimmte, lokal begrenzte Gegebenheiten nicht Bescheid. Nun, bevor Mullah Omar den unverzeihlichen Fehler beging, al-Qaida und deren arabische Freunde mit offenen Armen zu empfangen, war unser Regime von den westlichen Regierungen wohlgelitten, wir hatten äußerst korrekte Beziehungen zu ihnen. Bis 1997 wurden wir sogar von Washington finanziert. Wussten Sie das nicht? Als wir damals an die Macht kamen, herrschte innigstes Einverständnis zwischen uns und den Vereinigten Staaten. Wir hatten die Opiumproduktion beinahe völlig abgeschafft, während dieses Land mittlerweile dank der Internationalen Schutztruppe und des korrupten Karzai-Regimes fast achtzig Prozent der Weltproduktion erzeugt. Wir hielten regelmäßigen Kontakt zu einflussreichen westlichen Persönlichkeiten, außerdem zu einigen internationalen Organisationen, die große Projekte in unserem Land verwirklichen wollten. Unsere Revolution hatte die Ordnung in einem Land wiederhergestellt, das Gleichgültigkeit, Warlords, Analphabetismus und Drogenhandel zerstört hatten.«
»Die Ordnung wurde wiederhergestellt, indem Frauen versklavt und dieses Land in die Steinzeit zurückgeführt wurde«, erwiderte Nick in schneidendem Tonfall.
»Dieses Land lebte bereits wieder in der Steinzeit, bevor wir die Macht übernahmen. Seit Kaiser Mogul Babur verjagt wurde, genauer gesagt im fünfzehnten Jahrhundert eures gottlosen Kalenders. Was die Auswüchse unserer Herrschaft angeht, so handelte es sich um eine Revolution … und alle Revolutionen haben ihre Auswüchse.«
»Nicht so sehr wie die Ihre!«
»Die unsrige war eine der unblutigsten der vergangenen Jahrhunderte. Denken Sie an die Franzosen. An die dreißig oder vierzig Millionen Toten der chinesischen Kulturrevolution. Das hindert Ihre Regierungen nicht daran, ihre chinesischen Amtskollegen mit allen Ehren zu empfangen. Aber unterscheiden sich die chinesischen Machthaber von heute so sehr von denjenigen vor vierzig Jahren? Nein. Studieren Sie lieber die Geschichte, die Sie nicht kennen, junger Mann, als hier moralische und stark vereinfachende Reden zu schwingen! Nur weil ich einen Turban trage, bin ich noch lange nicht beschränkt. Die Dinge sind immer komplizierter, als sie scheinen in dieser grausamen, multikulturellen Welt, wie die westlichen Kommentatoren sie nennen.«
Nach diesen großen Worten goss Mullah Bakir sich selbstzufrieden einen Tee ein, ohne seinen Gästen nachzuschenken.
»Nick, Mullah Bakir ist unser Freund. Sie können ihm vertrauen. Ich bürge für ihn.«
»Einverstanden«, brummte Nick.
»Was brauchen Sie?«, fragte der Mullah und füllte nun auch ihre leeren Gläser wieder. »Ich kann Ihnen dabei helfen, unterzutauchen, kann Informationen für Sie einholen. Und Ihnen Waffen besorgen. Kurzum, alles, was Sie wollen.«
»In Kabul haben wir alles, was wir brauchen«, entgegnete Osama. »Aber ich werde auf Sie zurückkommen, denn wenn wir in die paschtunische Zone fahren, benötigen wir sicher Hilfe. Danke, Mullah, dass Sie mich gewarnt haben, ohne Sie wäre ich verhaftet worden.«
Osama stand auf und umarmte den Mullah. Dieser wirkte winzig, wie er so an Osamas hünenhafte Gestalt gepresst dastand. Er schüttelte Nick höflich die Hand und sah ihnen nach, als sie den Raum verließen. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen.
»Und, was denken Sie?«, fragte Nick, wieder unter seiner Burka, als sie draußen auf der Straße waren.
»Er will wissen, was in dem Mandrake-Dokument steht. Weshalb, werden wir erst später begreifen.«
»Um der NATO eins auszuwischen, das ist doch klar!«, empörte sich Nick.
»Da bin ich mir nicht sicher. Mullah Bakir ist eher ein Revolutionär, ein gläubiger Nationalist als ein Islamist. Er ist der Überzeugung, dass das aktuelle Regime sich auflösen wird, und hofft, dass er am Tag der Rückkehr einer gemäßigteren Taliban-Regierung eine große Rolle spielen wird. Informationen über die Amerikaner oder irgendein anderes großes NATO-Mitglied zu besitzen könnte ihm dabei helfen, im geeigneten Augenblick ihre Unterstützung zu bekommen.«
»Die Schweiz ist kein NATO-Mitglied und gehört auch nicht zur ISAF.«
»Mit der Schweiz hat diese Sache nichts zu tun. Die Schweiz leiht der Firma ja keine Drohne, um mich umbringen zu lassen. Nur die Länder der Schutztruppe besitzen Drohnen.«
»Ach, darum geht es? Mullah Bakir braucht Unterstützung bei der Erstellung eines Dossiers, das die NATO kompromittiert?«
»Das werden wir noch erfahren. Erst einmal müssen wir unsere Unschuld beweisen. Wenn die Akte Mandrake veröffentlicht worden ist, können wir uns reinwaschen und die Machenschaften derjenigen aufdecken, die versucht haben, uns zu töten.«
»Wenn Sie meinen … Wo gehen wir jetzt hin?«
»Wir gehen zu Abdul Dost, einem Freund von mir. Er ist schon in Rente, aber wir haben lange zusammengearbeitet. Er war der Leiter des Kabuler Rauschgiftdezernats. Ein unbescholtener Mann, er war ein großartiger, von allen geachteter Polizist.«
Osama rief ein Taxi, das sie ins Viertel Karte Parwan brachte. Das Fehlen jeglicher Straßenbeleuchtung wurde hier durch die zahlreichen Kohlenbecken kompensiert, die an den Marktständen glimmten. Eine unglaubliche Menschenmenge drängte sich auf den Gehsteigen. Sie fuhren noch einen Kilometer weiter, bis sie in eine verwahrloste, in Dunkel getauchte Gegend gelangten. Vor einem Haus, das noch die Einschusslöcher der Kämpfe von 1995–96 trug, ließ Osama den Fahrer anhalten. Ein Schornstein rauchte auf dem Dach. Die Tür öffnete sich, und ein rundlicher Afghane mit einem dichten graumelierten Schnauzbart stand im Eingang.
»Du? Komm rein, schnell.«
Nick folgte Osama in einen kleinen Flur, dann in ein verräuchertes Zimmer, das zugleich als Wohnzimmer und als Essraum diente. Der Mann deutete auf ein paar Kissen.
»Soll sich meine Frau um die deine kümmern?«
Nick legte die Burka ab.
»Ein Freund aus der Schweiz. Wir haben Probleme«, kommentierte Osama nüchtern. »Wir müssten hier übernachten.«
»Ich weiß Bescheid, der NDS kam her und hat mich über dich ausgefragt. Sie wissen, dass wir Freunde sind, heute stand ein Spion vor meiner Tür, du hast Glück, dass du im Dunkeln gekommen bist. Morgen früh verschwindet ihr am besten durch die Hintertür.«
Osamas Gesicht verdüsterte sich. Abdul Dost war einer seiner alten Freunde, doch sie hatten sich seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wenn der NDS ihn ins Visier genommen hatte, so standen alle seine Freunde und Kollegen unter Beobachtung.
»Du wirst ihnen kaum entkommen können, wenn du in der Stadt bleibst«, fügte der ehemalige Polizist hinzu, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Du solltest Kabul verlassen. Versteck dich in Farah oder in der Nähe der iranischen Grenze, auf belutschischem Gebiet. Die Spione des NDS werden dort gelyncht, wenn sie sich nach dir erkundigen.«
»Erst muss ich hier noch eine Aufgabe erfüllen. Wir suchen ein Paar, das sich irgendwo in Kabul versteckt. Einen Schweizer und eine Afghanin. Kannst du mir helfen?«
»Wenn sie in einem Hotel oder einem Guest House sind, werde ich sie finden. Ansonsten habe ich nicht mehr viele aktive Kontakte, ich bräuchte mehr Zeit – und Geld.«
»Sie kennen niemanden in Kabul. Versuch also erst mal die Hotels. Die Frau bemüht sich um Dokumente für die Beantragung eines Visums nach Australien.«
»Hast du ihre Namen?«
»Der Mann besitzt vermutlich einen falschen Pass auf den Namen Lionel Milton. Die Frau benutzt vermutlich ihren richtigen Pass auf den Namen Zahra Kimzi.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann. Morgen, spätestens gegen Mittag, habe ich die Informationen beisammen. Einstweilen müsst ihr euch verstecken. Ihr könnt in Hamids Zimmer übernachten.«
Osama wusste, dass sein Freund nie über den Verlust seines einzigen Sohn hinweggekommen war. Hamid war zwanzig Jahre zuvor vom KGB ermordet worden, weil er an der Seite der Mudschaheddin im Widerstand gekämpft hatte. Abdul führte sie in ein kleines Zimmer, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien: Poster längst vergessener afghanischer Sänger hingen an den Wänden, Modelle von russischen MiGs und sogar sorgfältig zusammengelegte Kleidungsstücke fanden sich in den Regalen. Ganz so, als würde Hamid jeden Tag zurückkehren.
»Ich schlafe auf dem Boden, auf dem Teppich«, sagte Osama.
»Nein, lassen Sie mich dort schlafen«, widersprach Nick. »Nehmen Sie das Bett, dort haben Sie es bequemer.«
Abdul Dost legte Nick die Hand auf die Schulter.
»Sie sind ein mutiger junger Mann, und ich bin stolz, dass Sie an der Seite Osamas für uns kämpfen. Nehmen Sie das Bett meines Sohnes, ich freue mich, dass jemand wie Sie darin schläft.«
Während Nick auf der Stelle einschlief, fand Osama keine Ruhe. Er fühlte sich in seiner eigenen Stadt gefangen. Selbst zu Zeiten der Sowjets und dann der Taliban hatte er niemals dieses schreckliche Gefühl gehabt, in den Klauen einer ähnlichen Maschinerie zu stecken, die menschliche Netzwerke mit den geheimsten Technologien verband.
Der Jet setzte morgens um vier Uhr dreißig auf der Landebahn von Bagram auf. Es war ein dreistrahliges Flugzeug, das die Strecke Zürich–Kabul nonstop fliegen konnte. Zwanzig Personen waren an Bord. Die Maschine war in Panama registriert, bei einer Briefkastenfirma, gehörte aber in Wirklichkeit der Firma. Nun rollte sie über den Asphalt und blieb dann ein wenig abseits stehen. Der Flughafen war ruhig um diese Zeit, nur Drohnen und Aufklärungsflugzeuge waren unterwegs. Eine Hercules C-130 CANON knatterte startbereit. Die Gangway des Jets wurde heruntergeklappt, und die Männer begannen auszusteigen, Joseph an der Spitze. Neben vierzehn Killern zweier K-Truppen, jeder mit zwei großen Taschen für die Waffen beladen, gehörten auch zwei Programmierer und Informatikspezialisten zur Mannschaft. Die Männer verteilten sich auf fünf Geländewagen, die augenblicklich losfuhren. Ein Agent der Firma hatte ein Safe House für sie gemietet. Die Männer bezogen rasch ihre Unterkunft, doch sie hatten während des Flugs geschlafen und waren bereit, falls nötig, auf der Stelle einzugreifen. Alles war vorbereitet: Sie fanden gut fünfzehn Rechner mit gesicherter Internetverbindung vor, verschlüsselte Mobiltelefone, Ausrüstung fürs Gebirge. Joseph gab diverse Anweisungen. Ein Team sollte sich in die Datenbanken der Hotels und Guest Houses in Kabul einloggen, damit man feststellen konnte, wer zurzeit dort wohnte. Ein anderer Mann sollte eine Leitung zum NDS aufbauen und sich alle Kontakte durchgeben lassen, die Kandar nach seiner Rückkehr vermutlich aktivieren würde. Er sah auf seine Armbanduhr. Sofern Nick sich in dieser Stadt versteckte, würde er ihn aufspüren. Ungeduldig wartete er darauf, dass es hell wurde.
Abdul Dost verfügte weder über eine gesicherte Internetverbindung noch über Computer, aber er verstand sich auf die Arbeit nach herkömmlicher Manier, und zwar rasch und gut. Als Erstes suchte er das Hotel Intercontinental in Kabul auf, das beste Hotel der Stadt. Es lag auf einem Hügel, von wo aus die Gäste einen unverbaubaren Blick genießen konnten. Allerdings hatte diese Abgeschiedenheit auch eine Kehrseite: Das Hotel war eine bevorzugte Zielscheibe, so dass drei Radpanzerfahrzeuge die Straße dorthin bewachten, unterstützt von Soldaten mit schweren Waffen. Mehrere Männer an der Rezeption hatten seinerzeit als Informanten für Abdul gearbeitet, einer von ihnen erkannte ihn gleich und begrüßte ihn überschwänglich. Abdul Dost hatte, obschon Polizist im Ruhestand, noch immer genügend Einfluss, um jeden Kabuler, der in den Drogenhandel verstrickt war – und das war die Hälfte der Hotelangestellten –, ins Gefängnis zu bringen. Die Liste der Gäste zu bekommen war somit ein Leichtes. Allerdings befand sich kein Lionel Milton darunter, und die einzigen Personen, die bei der Eingabe ›Mandrake‹ auftauchten, waren Geschäftsleute oder Journalisten. Der ehemalige Polizist schlug den Weg zum Golden Star ein, das jedermann in Kabul kannte, weil es das einzige Hochhaus der Stadt war. Auch dort geriet er direkt an einen ehemaligen Kontaktmann, der inzwischen zum stellvertretenden Geschäftsführer des Hotels aufgestiegen war. Hier dauerte die Überprüfung etwas länger, denn es gab drei Paare und zwei angeblich alleinreisende Männer, deren Beschreibung zu der von Osama passte. Doch nach einer Durchsuchung der Zimmer stellte sich heraus, dass die Gesuchten auch hier nicht zu finden waren. Davon nicht entmutigt, begab sich Abdul Dost anschließend ins Safi Landmark, ein elegantes, wenn auch weniger renommiertes Hotel als die beiden vorherigen. Bei einem Selbstmordattentat vor einigen Wochen war ein Teil der Fassade zerstört worden. Auch dort hatte er Pech. Daraufhin fragte er vier Stunden lang in den weniger guten Hotels und in den Guest Houses nach, jedoch ohne Ergebnis. Gegen Mittag sah er auf die Armbanduhr. Er hatte alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Plötzlich fiel ihm ein, dass er das Serena am Rande des Zarnegar Parks vergessen hatte. Früher unter dem Namen Kabul Hotel bekannt, war es in den Besitz des Aga Khan übergegangen. Einige Suiten, so hieß es, übertrafen an Luxus alle anderen Hotels in Kabul, manche hatten sogar eine Privatsauna. Mehrere Monate zuvor war es von einem Kommando überfallen worden. Beinahe wäre der amerikanische Botschafter dabei ums Leben gekommen. War das Hotel wiedereröffnet worden? Abdul Dost hatte letzthin einige Zeit bei seiner Familie auf dem Land verbracht, dort waren Zeitungen Mangelware. Vielleicht war ihm diese Information entgangen. Er stieg wieder in seinen alten Toyota, der nur noch durch Eisendraht zusammengehalten wurde, und fuhr die Muhammad Jan Khan Watt auf der anderen Seite des Kabulflusses entlang, eine wichtige Verkehrsader, die zum Serena führte. Überall registrierte er Straßensperren, die von nervösen Polizisten bewacht wurden. Als er vor dem Hotel stand, stellte er fest, dass es sehr wohl in Betrieb war: Es herrschte ein geschäftiges Treiben aus an- und abfahrenden Taxis und Limousinen, Sicherheitspersonal, ANA-Soldaten und ein paar westliche Söldner mit Ohrstöpsel und M4-Karabinern am Schultergurt gingen auf und ab. Es bedurfte einiger Trickserei, bis er die doppelt gepanzerte Tür zum Schutz vor Attentaten passieren konnte. Die Eingangshalle war atemberaubend schön, eine Mischung aus traditioneller afghanischer Architektur, antiken Kunstwerken und moderner Technik. Abdul pfiff bewundernd durch die Zähne. Nie hätte er gedacht, dass in Kabul ein derart luxuriöses Hotel existierte. Lediglich die überall postierten Männer in schwarzem Anzug, die Jacken von den Waffen, die sie darunter trugen, ausgebeult, verdarben das Ambiente. Zu Abduls großer Erleichterung schien der Großteil des Personals aus dem Kabul Hotel übernommen worden zu sein. Der Portier strahlte ihn an. Abdul Dost hatte ihm einmal aus der Patsche geholfen, er würde sich sicher kooperativ zeigen.
»Salamu alaikum, degarman. Willkommen, kouch aamadeyn.«
»Guten Tag, guten Tag«, grüßte der Polizist. »Aber ich war nicht Oberstleutnant, das ist zu viel der Ehre, ich war nur Hauptmann.«
»Ich dachte, Sie wären schon in Rente, sind Sie wieder im Dienst?«
»Ja, in einer bestimmten Angelegenheit. Ich suche ein Paar, das sich möglicherweise hier versteckt hält. Ein Schweizer in Begleitung einer Afghanin. Sie kamen gemeinsam aus Europa. Er verwendet unter Umständen einen Pass auf den Namen Lionel Milton.«
Der Portier zog die Brauen zusammen.
»Milton, das sagt mir etwas.« Er suchte in seinem Computer. »Milton, hier habe ich ihn. Suite 308. Er kam vor fünf Tagen hier an, seitdem hat er keinen Schritt nach draußen getan. Ich habe ihn nie gesehen, kein einziges Mal. Nicht einmal für das Essen verlässt er seine Suite. Allerdings finde ich hier nichts von einer Frau.« Er sah von seinem Bildschirm auf. »Wenn sie mit ihm gekommen ist, hat er vermutlich einen der Rezeptionisten beim Einchecken bestochen. Manche Gäste machen das, wenn sie in Begleitung einer Geliebten kommen.«
Aufgeregt nickte Abdul. Er steckte ihm einen Zweihundert-Afghani-Schein zu und nahm ihm das Versprechen ab, Stillschweigen zu wahren. Dann hastete er zurück zum Auto.
Der Portier widmete sich wieder seiner Arbeit, ihm war entgangen, dass ein Kollege, ein junger Paschtune, der vor kurzem aus London zurückgekehrt war, das Gespräch belauscht hatte. Ihm vertraute der Portier einige der Nachtdienste an, bei ihm hatte der Fremde unter dem Namen Milton eingecheckt. Der Schweizer hatte ihm fünfhundert Dollar zugesteckt, damit er niemandem Auskunft über ihn erteilte. Nun schlüpfte er hinter dem Empfangstresen hervor.
»Ich bin in fünf Minuten wieder da.«
In der Halle nahm er die Treppe des Notausgangs, die zu den Zimmern führte, und eilte die Stufen hinauf zur ersten Etage. Dort fuhr er mit dem Fahrstuhl bis in den dritten Stock. Vor der Tür von Zimmer 308 machte er halt und klopfte.
»Wer ist da?«, fragte eine Männerstimme auf Englisch.
»Der Portier, der, bei dem Sie eingecheckt haben.«
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Der Schweizer musterte ihn mit besorgter Miene.
»Was ist los?«
»Jemand war da und hat sich nach Ihnen erkundigt. Ein Bulle.«
Der Mann machte die Tür ein Stück weiter auf. Der junge Portier erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine wunderschöne Frau, bevor sie wie ein Schatten im Schlafzimmer verschwand.
»Erzählen Sie.«
»Ein Polizist im Ruhestand, mit dem der Empfangschef bekannt ist. Er wollte wissen, ob Sie hier sind, Sie und diese junge Frau.«
»Weiß er, wer ich bin?«
»Ja, er hat Ihren Namen genannt, Lionel Milton. Als mein Chef ihm bestätigte, dass Sie hier abgestiegen sind, hat er ihm zweihundert Afghanis gegeben, damit er Stillschweigen bewahrt, und ist wieder gegangen.«
Mandrake drückte ihm ein Bündel Dollarscheine in die Hand und schlug die Tür vor seinem Gesicht zu.
»Was ist los?«, erkundigte sich Zahra beunruhigt.
»Man hat uns gefunden.«
Entsetzt presste sie die Hand auf den Mund. Mandrake packte sie bei den Schultern.
»Wir können nicht hierbleiben, wir müssen abhauen.«
»Wann?«
»Auf der Stelle.«
»Ich bekomme meine Papiere erst in fünf Tagen!«
»Ich weiß, aber wenn wir fünf Tage warten, sind wir tot.«
»Sollen wir in ein anderes Hotel gehen?«
»Unmöglich, sie kennen meinen falschen Namen. Wir müssen aus Kabul fliehen!«
»Wohin?«
»Keine Ahnung. Aber wir sollten möglichst schnell eine Lösung finden.«
»Ich bin am Empfang nicht gemeldet«, überlegte Zahra laut. »Sie kennen also meinen Namen nicht. Wir könnten in mein Dorf fliehen.«
»Wo ist das?«
»Zweihundert Kilometer weit weg, im Nordosten, nahe der pakistanischen Grenze. Von dort aus können wir noch weiter nach Norden fahren, Richtung Tadschikistan oder in ein anderes Land der ehemaligen Sowjetunion.«
»Wären wir dort in Sicherheit? Was passiert, wenn die Polizisten in deinem Dorf anrufen, bei deiner Familie?«
Zahra legte ihre Hand in die seine.
»Liebling, es gibt dort kein Telefon, kein Internet, keinen Strom. Es gibt nichts. Es liegt in Nuristan, der wildesten Gegend Afghanistans. Weder die Polizei noch die Armee begeben sich jemals dorthin. Niemand wird uns dort finden.«
»Gibt es dort Taliban?«
»Bei meinem letzten Besuch war es eines der wenigen Gebiete, in denen die Taliban verjagt wurden, und zwar ohne die Hilfe der Amerikaner.«
Mandrake schwieg und sah zum Fenster hin. »Ist der Weg dorthin nicht zu gefährlich?«
»Ich weiß es nicht. Aber mit Geld könnte man durchkommen. Immerhin habe ich es auch alleine mit meiner Mutter geschafft … bevor sie umgebracht wurde.«
Mandrake nickte.
»Okay, wir versuchen es, wir haben keine andere Wahl. Ich werde uns einen Wagen besorgen. Lass uns keine Zeit verlieren.«
Wie ein Raubtier im Käfig ging Joseph in dem überhitzten Raum auf und ab, in dem die Internetspezialisten am Werk waren. Der Minister persönlich hatte den NDS davon in Kenntnis gesetzt, dass Kandar untergetaucht war, aller Wahrscheinkeit nach in Kabul. Die Stadt wimmelte von Spionen: Allein wegen seiner ungewöhnlichen Körpergröße konnte der afghanische Polizist nicht lange unerkannt bleiben. Es war nur eine Frage von Tagen, bis sie ihn ausfindig gemacht hatten. Seine IT-Experten arbeiteten seit dem Morgen unablässig, durchforsteten die Gästelisten der Hotels auf der Suche nach Ausländern, nach Daten, die auf Nick zutreffen konnten. Da sie nicht wussten, ob dieser unter seinem echten Namen eingereist war, kontrollierten sie jede Datei manuell. Waren sie mit den Übernachtungen in Kabul fertig, würden sie sich, mit Hilfe des NDS, den anderen Städten Afghanistans widmen. Das würde einige Zeit in Anspruch nehmen.
»Sir!«, rief plötzlich einer der Spezialisten. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Es ist so unglaublich, das müssen Sie mit eigenen Augen sehen!«
»Nick?«
»Nein, Sir. Mandrake. Er hat sich unter dem Namen Lionel Milton angemeldet. Serena Hotel Kabul, Suite 308.«
»Was reden Sie da? Léonard Mandrake? Er ist hier, unter einem falschen Namen?«
»Joseph nahm den Ausdruck zur Hand. Er kannte Mandrakes Gesicht auswendig, kein Zweifel: Das war er. Was machte er hier, in Kabul, unter einem falschen Namen? Das war der letzte Ort, an dem er nach ihm gesucht hätte.
»Ist er das, Chef?«
»Ja.«
»Was treibt er hier?«
»Keine Ahnung. Seit zehn Jahren hat er mit diesem Scheißland zu tun, er muss Freunde hier haben, von denen uns nichts bekannt ist.«
»Was sollen wir tun?«
Ein warmer Schauer überlief Joseph, wie jedes Mal, wenn er einen Mann auf der Flucht aufgespürt hatte. Sein Jagdinstinkt. Alle hatten sie nach Mandrake gesucht, in Europa, in Asien, in den Vereinigten Staaten, aber er war der Erste, der ihn gefunden hatte.
Die Schlinge hatte sich zugezogen: Mandrake würde zur gleichen Zeit wie Nick und der afghanische Bulle sterben. Der Tod dieser drei Männer würde die Probleme, die er hatte, auf einen Schlag lösen. Endgültig.
»Macht euch fertig«, befahl er seinen Männern. »Waffen, schusssichere Westen. Wir greifen sofort ein.«
Hastig stieg Osama aus dem Wagen, gefolgt von Nick. Abdul Dost hatte ihnen Waffen geliehen, die sie jedoch im Auto an der Straßenecke zurücklassen mussten. Es war verboten, direkt gegenüber dem Hotel zu parken, und eine Waffe ins Innere des Hotels zu schmuggeln war ausgeschlossen, selbst dann, wenn man einen Polizeiausweis besaß. Das Hotel war wie ein Hochsicherheitstrakt bewacht. Am ersten Kontrollpunkt standen Wachposten mit Sturmgewehren. Osama zeigte seinen Ausweis vor. Der Wachposten salutierte und ließ sie aufs Gelände.
Im Inneren mussten sie erst die Röntgenschleuse passieren, bevor sie in den von Bäumen gesäumten überdachten Innenhof gelangten. Sie gingen unbehelligt am Empfangstresen vorbei, als seien sie Gäste, bogen in den Gang ein, an dem die beiden Fahrstühle zu den Suiten lagen.
»Nehmen wir die Treppe«, schlug Osama vor.
Der Flur auf der dritten Etage bestand aus weißem Marmor, auf dem Boden lag ein schöner dicker Teppich. Die Wände waren mit kostbarem Holz vertäfelt. Man hörte Vogelgezwitscher aus dem Garten. Nick war sprachlos angesichts des Luxus, der hier herrschte. Schließlich standen sie vor der Tür zu Zimmer 308. Osama klopfte vorsichtig an.
»Room service.«
Als niemand antwortete, rief er ein Zimmermädchen und zückte seinen Polizeiausweis.
»Polizei. Öffnen Sie bitte diese Tür.«
Erschrocken gehorchte sie, um gleich darauf eilig das Weite zu suchen. Sie betraten die Suite.
»Leer«, sagte Osama.
Zeitungen lagen auf dem Nachttisch und im Schrank ein paar Kleidungsstücke. Dennoch war es offensichtlich, dass die Gäste dieses Zimmers überhastet das Weite gesucht hatten. Nick deutete auf den Safe.
»Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn zu schließen. Es ist noch Geld drin.«
»Jemand hat ihnen gesteckt, dass wir uns für sie interessieren«, sagte Osama.
»Wir haben die Chance verpasst!«, rief Nick enttäuscht.
»Das ist nicht gesagt. Kommen Sie.«
Als sie ins Auto einstiegen, entdeckte Nick einen Konvoi aus drei mit Antennen gespickten Geländewagen, die ein Stück weiter weg parkten, direkt vor dem Hotel. Mehrere bewaffnete Männer stiegen aus, im Kampfanzug, und stürmten auf den Eingang zu. Nur einer von ihnen blieb am Straßenrand stehen und sah zu ihnen herüber. Joseph.
»Verdammt, wir müssen weg hier, schnell!«, brüllte Nick. »Das ist ein Mann von der Firma.«
Osama gab Gas. »Hat er uns erkannt?«
Die Antwort erfolgte prompt. Zwei Geländewagen setzten sich sofort mit quietschenden Reifen in Bewegung und nahmen ihre Verfolgung auf.
»Mit diesem Schrotthaufen schaffen wir es nie, denen zu entkommen, los, fahren Sie!«, rief Nick panisch.
Osama beschleunigte. Er bog in die Chirahi Pashtunistan ein und überholte mit halsbrecherischen Manövern mehrere Kleintransporter und Motorroller.
»Sie haben uns gleich eingeholt!«
Osama presste die Lippen aufeinander, fuhr zweimal rechts, raste so dicht an den parkenden Autos vorbei, dass er sie beinahe gestreift hätte. Nick sah die Kuppel einer großen Moschee vorbeifliegen.
»Das ist die Moschee Id Gah. Nicht weit davon liegt der Souk Shor«, sagte Osama. »Dort werden wir sie abhängen.«
Er bog in eine verstopfte Straße ein. Der Wagen begann zu schlingern. Gleich darauf gab es ein trockenes Klacken. Die Heckscheibe hatte ein Loch.
»Sie schießen auf uns!«, schrie Nick.
»Ich hab’s bemerkt«, erwiderte Osama finster. »Nehmen Sie die Kalaschnikow!«, befahl er. »Verfeuern Sie, was das Magazin hergibt!«
Nick griff ungeschickt nach der Waffe. Er beugte sich zum Fenster hinaus und versuchte zu zielen. Der Wind blies ihm Staub in die Augen. Er drückte auf den Abzug, spürte, wie ihm die heißen Patronenhülsen ins Gesicht flogen und mit einem metallischen Klacken im Wagen landeten. Der Geländewagen, der sie verfolgte, ließ sich nicht von seinem Kurs abbringen.
»Verfluchte Scheiße, das Magazin ist leer.«
»Wir sind fast da.«
Osama trat heftig auf die Bremse und riss im selben Augenblick das Steuer scharf herum. Der Wagen schoss beinahe im rechten Winkel davon, schrammte an einer Mauer entlang, hinterließ eine Staubwolke. Das Beifahrerfenster zersprang. Die Straße war so schmal, dass der kleine Toyota kaum hindurchpasste. Die beiden Rückspiegel waren abgerissen. Die beiden Geländewagen waren ihnen dicht auf den Fersen, sie mähten die Mauern mit einem apokalyptischen Dröhnen, Bruchstücke flogen in alle Richtungen. Nur der Kühlergrill tauchte aus dem Staubchaos auf und kam mit jeder Sekunde näher.
»Gleich haben sie uns!«, keuchte Nick.
»Keine Sorge.«
Ein dumpfes Fauchen ertönte. Plötzlich sackte der erste Geländewagen ein, die Motorhaube verschwand im Boden, während die Hinterreifen mehr als einen Meter in die Luft ragten. Der zweite Jeep knallte mit voller Wucht auf das erste Fahrzeug. Unter dem Aufprall wurde der erste Wagen in die Senkrechte geschleudert. Es krachte, ein Wasserschwall schoss empor. Mit offenem Mund sah Nick, wie sich zwei Männer aus dem zweiten Fahrzeug befreiten, das Gesicht blutüberströmt, den mit einem Schalldämpfer verlängerten Revolver in der Hand. Joseph und einer seiner K-Männer. Osama bog in die nächste Straße ein, die ebenso eng war wie die vorhergehende, ihre Verfolger verschwanden aus ihrem Sichtfeld.
Osama atmete tief durch. »Vor drei Jahren haben meine beiden Assistenten und ich einen Mann verfolgt, der uns durch dieselbe List entkommen war. Er hatte ein kleines Auto, wir einen Ranger. In diesem Viertel wurde die Kanalisation von einem zwielichtigen Unternehmer saniert, der dem Bruder Präsident Karzais nahestand. Um Geld bei der Straßenrenovierung zu sparen, hatte er die Rohre unter Holzplanken verlegt und direkt darauf den Teer gegossen. Da der Boden locker ist, bricht die Straße ein, sobald ein schweres Fahrzeug darüber fährt. Die Stadtverwaltung wollte das Ganze erneuern lassen, doch das Geld dafür wurde entwendet.« Osama schüttelte den Kopf. »Ich sagte mir, sollte ich einmal verfolgt werden, würde ich hier meine Verfolger abschütteln. Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht gedacht, dass es tatsächlich passieren würde.«
Der Kommissar schien kaum erschüttert durch die Tatsache, dass sie gerade dem Tod entronnen waren. Nick schloss die Augen, das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Sie fuhren eine Weile durch unbekannte Straßen, dann parkte Osama den Wagen. Er versteckte die Schlüssel unter der Fußmatte und winkte ein Taxi heran.
»Fahren wir zurück zu Ihrem Freund?«
»Unmöglich. Sie haben das Nummernschild notiert, der NDS muss bereits unterwegs zu ihm sein.«
»Und jetzt?«
»Im Augenblick können wir wohl bei Mullah Bakir unterkriechen.«