Kapitel 36
Da sitze ich nun und warte wie ein Cop, der seit drei Monaten trocken ist und sich am liebsten einen richtigen Drink gönnen würde, auf meinen Kaffee und meinen Donut. Allerdings hat meine Unruhe nichts mit meiner Abhängigkeit von Starbucks oder fettigem Gebäck zu tun. Vielmehr rührt sie daher, dass dieser Tag – mit den Worten von Barry Manilow – ein komplettes Desaster ist.
Zwar halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass Tommy in Bezug auf Mandy lügen könnte. Doch wenn man bedenkt, dass Alex Tommy von Jimmy Saltzman erzählt hat, spricht nichts dagegen, dass er auch meine Schwester verraten hat. Und wenn Tommy einen Zehnjährigen in den zwanzigsten Stock des Sir Francis Drake schaffen kann, ohne dass es Aufmerksamkeit erregt, dann habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass meine Schwester hier irgendwo auf der Etage ist. Und dass sie vermutlich ziemlich sauer ist. Höchstwahrscheinlich auf mich.
Um mich von meiner Schwester und Jimmy und dem Chaos des heutigen Tages abzulenken, fange ich ein Gespräch mit Tommys Schläger an.
»Und wie heißen Sie?«, frage ich.
Keine Reaktion. Der Schläger verharrt stumm und mit gefalteten Händen vor mir und erinnert mich an eine Statue mit Verstopfung.
»Wie lange arbeiten Sie denn schon für Tommy?«
Noch mehr Schweigen.
»Hat Ihnen mal jemand gesagt, dass Sie ein exzellentes Benehmen haben?«
Nichts. Nicht mal ein Gähnen oder ein böser Blick.
So viel zum Thema Small Talk.
Ein paar Minuten später werden mein Cappuccino und mein Donut von Starbucks geliefert. Der Schläger von draußen bringt sie herein und lädt beides auf dem Glastisch neben der Glückskatze ab; dann nickt er dem anderen Schläger als Zeichen der Schläger-Verbundenheit zu und nimmt wieder seinen Posten vor der Tür ein.
Ich nehme den Donut aus der Tüte und fange an zu essen. Jeden Bissen spüle ich mit etwas Cappuccino herunter, lasse mir Zeit und suche weiterhin nach einem Ausweg.
Wenn es mir irgendwie gelingt, das Pech aus meinem Rucksack zu holen und in meinen Cappuccino zu kippen, könnte ich damit den Schläger begießen, von hier abhauen und hoffentlich auch Jimmy und Mandy retten. Dummerweise fixiert der Schläger mich wie ein besessener Stalker. Das macht es schon schwierig, sich am Arsch zu kratzen, ohne verdächtig zu wirken.
Wäre ich bloß früher auf die Idee gekommen, hätte ich auf die Toilette gehen können, um die Phiole mit dem Pech herauszuholen und sie dann in der Hand zu halten oder in die Tasche zu stecken. Dann könnte ich sie jetzt einsetzen. Dummerweise habe ich mich auf meinen inneren Indiana Jones verlassen und deshalb schlicht nicht daran gedacht, so weit vorauszuplanen. Außerdem ist der Gedanke alles andere als reizvoll, eine zerbrechliche Phiole mit Pech in der Hand zu halten oder sie in der Tasche zu haben. Das Pech in einem Beutel mit der Hausmischung von Starbucks mit sich herumzutragen finde ich schon gruselig genug.
Apropos gemahlener Kaffee: Da kommt mir eine Idee. Ob sie etwas taugt, weiß ich nicht, aber aus der Idee wird binnen Sekunden ein Plan – und einen Plan zu haben ist aktuell das Einzige, das für mich zählt.
Ich hoffe nur, mir reichen weniger als fünf Minuten für die Umsetzung.
Und so gebe ich vor, meinen Cappuccino auszutrinken, während ich aber knapp die Hälfte davon im Becher lasse, stehe auf und nehme mir meinen Rucksack vom Tisch. Dabei werfe ich die Glückskatze um, deren erhobene linke Pfote abbricht.
Zum Glück bin ich nicht abergläubisch, denn sonst müsste ich jetzt wohl davon ausgehen, ziemlich am Arsch zu sein.
Stattdessen schaue ich mit einem Lächeln zu dem Schläger und zucke die Schultern. »Ups.«
Er schüttelt den Kopf. Das ist immerhin besser als gar keine Reaktion.
»Ich bin bereit, wenn du es bist, Quasselstrippe«, sage ich.
Quasselstrippe öffnet die Vordertür und sagt dem Schläger, was wir vorhaben. Dann führt er mich zu dem Zimmer, in dem Jimmy festgehalten wird.
»Ich habe fünf Minuten, richtig?«, frage ich.
Er nickt, dann schließt er die Tür auf.
»Ich mag Menschen, die wenig Worte machen«, sage ich zu ihm und trete ein. »Macht es leichter, einen Streit zu gewinnen.«
Dann fällt die Tür hinter mir ins Schloss, Quasselstrippe schließt ab und lässt mich mit meinem Rucksack und einem halbleeren Starbucks-Becher in der Hand zurück. Oder mit einem halbvollen Becher – das ist natürlich eine Frage des Standpunktes. Aber aktuell quelle ich nicht gerade über vor Optimismus.
Jimmy steht mitten im Zimmer und mustert mich argwöhnisch, während der Harry-Potter-Film im Hintergrund lautlos weiterläuft.
»Was machst du hier?«, fragt er.
Seine große Klappe und der gespielte Heldenmut sind verschwunden. Jetzt wirkt er ganz einfach wie ein ängstlicher kleiner Junge. Ich schätze, dass so etwas mit einem passiert, wenn man entführt und in einem Hotelzimmer eingesperrt worden ist.
Da ich vermute, dass Quasselstrippe uns durch die geschlossene Tür belauscht, ziehe ich die Kopfhörer aus dem Flatscreen-Gerät, damit der Ton des Fernsehers unser Gespräch übertönt.
»Ich bin hier, um dir zu helfen«, flüstere ich.
»Warum? Ich dachte, du wärest einer von den Bösen.«
»Kommt drauf an, wie man böse definiert.«
Ich merke an seinem Gesichtsausdruck, dass dieser Satz bei Jimmy nicht für ein Gefühl der Erleichterung sorgt.
»Es ist kompliziert«, erkläre ich. »Gehen wir aufgrund des Zeitdrucks und der Situation mal davon aus, dass ich einer von den Guten bin. Okay?«
»Aber ich hab dich mit ihm gesehen.«
»Meinst du den alten Asiaten?«
Jimmy nickt.
»Glaub mir«, sage ich. »Ich hatte keine Wahl.«
Jimmy scheint das Gehörte abzuwägen. Ich wünschte bloß, dass er sich damit etwas beeilen würde. Schließlich bleiben uns nur noch vier Minuten.
»Du bist also hier, um mir zu helfen?«
»Theoretisch«, erwidere ich und stelle den halbleeren Starbucks-Becher auf den Tisch. Dann hole ich den Beutel mit der Hausmischung und den leeren Becher von Peet’s aus meinem Rucksack.
»Was hast du damit vor?«
»Ist alles Teil des Plans. Musst du mal aufs Klo?«
»Nein«, sagt er und sieht peinlich berührt aus.
»Nicht mal ein bisschen?«
Wieder schüttelt er den Kopf.
»Bist du sicher?«
»Ja«, antwortet er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ich bin sicher.«
Erst dann fällt mir auf, dass sein Schritt und eins seiner Hosenbeine feucht sind.
Na, das ist ja super. Ohne zusätzliche Flüssigkeit kann ich meine Idee nicht umsetzen. Und das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann, ist, all mein Glück herauszulassen und am Ende schutzlos zu sein.
»Okay«, sage ich, »hör zu, Jimmy: Es gibt für uns nur einen Weg hier raus, und selbst der ist nicht sehr sicher. Wenn es also funktionieren soll, musst du mir vertrauen. Vertraust du mir?«
Jimmy schüttelt den Kopf.
»Falsche Antwort«, sage ich. »Ehrlich, aber falsch.«
Ich nehme den Kaffeebeutel und schütte etwas von dem Pulver in den Rest meines Cappuccinos, bis eine dicke und klumpige Mischung entsteht. Dann fülle ich meinen Peet’s-Becher etwa zur Hälfte mit Kaffeepulver. Mit dem Rücken zu Jimmy öffne ich meinen Hosenschlitz und entleere meine Blase in den Becher. Mir schießen Tränen in die Augen, als Donnas und Dougs weiches Glück erster Güte meinen Körper verlässt. Obwohl es mir durchaus eine gewisse Freude bereitet, auf Starbucks-Kaffeepulver in einem Peet’s-Becher zu pinkeln.
Ich fülle den Becher zu zwei Dritteln mit Urin und der Starbucks-Hausmischung, stelle ihn auf den Tisch, mache meinen Reißverschluss wieder zu und ziehe die Zwei-Unzen-Phiole mit Pech aus dem Beutel mit Kaffee. Schon jetzt bekomme ich Gänsehaut, und die Berührung mit der Phiole schickt ein Beben durch meine Glieder. Also rede ich mir ein, dass es nur Motoröl ist.
Außerdem rede ich mir ein, dass alles klappen wird, dass die gemahlenen Kaffeebohnen wie ein Schwamm wirken und das Pech aufsaugen werden, so dass es sich nicht durch den benutzten Pappbecher aus Recyclingpapier fressen wird. Zumindest nicht sofort. Aber momentan habe ich so viel Zuversicht wie ein Chicago-Cubs-Fan im September, denn da geht es mit dem Team ja meist den Bach runter.
»Was ist das?«, fragt Jimmy und zeigt auf die Phiole.
»Das willst du nicht wissen«, erwidere ich und beginne, die Kappe abzuschrauben.
»Warum?«
»Pass nur auf, dass du Abstand hältst, still bist und keine plötzlichen Bewegungen machst, okay?«
»Warum?«
»Weil ich nervös bin.«
»Warum?«
»Weil es gefährlich ist.«
»Warum?«
»Weil ich es sage.«
»Warum?«
Meine Hände zittern, und meine Nerven sind vollkommen überreizt. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Phiole mit dem Pech liegt oder an den dauernden Fragen von Jimmy oder daran, dass ich das ohne Schutz tue, aber ich merke, dass ich es nicht schaffe. Ich kann nicht riskieren, etwas von dem Pech zu verschütten – und erst recht nicht, etwas davon abzubekommen. Wenn das passiert, kommt keiner von uns hier lebend raus.
Ich schraube die Kappe wieder zu und lege die Phiole neben meinen Becher. Dann gehe ich zu Jimmy rüber und hocke mich vor ihn. »Streck deine Hände aus.«
»Warum?«, fragt er und versteckt die Hände hinter dem Rücken.
Ich habe keine Zeit, um mir eine ausreichend vertrauenerweckende Geschichte auszudenken, und deshalb muss ich etwas tun, das mir eigentlich widerstrebt: Ich sage ihm die Wahrheit.
»Weil ich mir etwas von dir leihen muss, das uns dabei helfen wird, hier herauszukommen.«
»Was willst du dir denn borgen?«
»Dein Glück.«
»Mein Glück? Wie soll das denn funktionieren?«
»Ich bin was Besonderes«, sage ich. »Ich bin schon so auf die Welt gekommen. Sich Glück borgen zu können ist ein ganz natürliches Talent.«
»So wie Zaubertricks?«
»Ja, so in der Art.«
Er starrt mich an und lässt seine Hände weiterhin dort, wo sie sind. »Ich kenne einen Zaubertrick.«
»Das ist super«, entgegne ich. »Aber wir haben keine Zeit für Spielchen.«
Er starrt mich an und macht ein beleidigtes Gesicht.
»Hör mal«, sage ich. »Ich weiß, unsere erste Begegnung ist danebengegangen, aber wenn wir hier rauskommen wollen, müssen wir zusammenarbeiten. Du wirst mir vertrauen müssen.«
Nichts. Immer noch das gleiche abweisende Mienenspiel. Langsam denke ich schon daran, die Mischung aus Starbucks-Kaffee und Urin runterzuwürgen, um ein gewisses Maß an Schutz zu haben. Wobei ich allerdings sowieso befürchte, dass mein Plan mit nur einem Becher Pech kaum klappen wird.
»Sie versprechen aber, dass Sie es mir zurückgeben, wenn Sie fertig sind?«, will Jimmy wissen.
»Das schwöre ich bei allem, was mir lieb und teuer ist«, antworte ich. Was wahrscheinlich ein Fehler ist, wenn man bedenkt, dass ich mein Versprechen brechen und dann einen Becher mit thermonuklearem Pech in die Hand nehmen werde. Aber momentan bin ich an dem Punkt, an dem ich wirklich alles versprechen würde.
Mit einem Nicken zieht Jimmy seine Hände hinter dem Rücken hervor und streckt sie mit den Handflächen nach oben vor sich aus. So verletzlich, unschuldig und vertrauensvoll.
Ich atme tief ein und greife mit meinen Händen nach den seinen. Bilder von meinem Großvater, meiner Mutter und meiner Schwester wirbeln durch meinen Kopf. Ich sehe meine Mutter, wie sie blutend und tot im Auto liegt. Meine Schwester, die mir voller Zorn zu verstehen gibt, dass ich gehen soll. Meinen Großvater, in dessen Blick Verlangen und Abscheu miteinander ringen.
Ich kann es nicht tun.
»Gute Arbeit«, sage ich, stehe auf und entferne mich von ihm. »Du hast den Test bestanden. Jetzt können wir sehen, dass wir Land gewinnen.«
»Echt jetzt?«
»Ja, echt. Tu einfach, was ich dir sage, und bleib hinter mir.«
Um ehrlich zu sein, sollte ich lieber hinter ihm bleiben. Wenn er mit Pech bekleckert wird, schadet ihm das nichts. Wenn mir das passiert, sieht die Sache ganz anders aus. Aber mal ehrlich: Wie viel schlimmer kann es noch werden?
Ein letztes Mal atme ich tief durch, dann nehme ich die Phiole und schraube den Deckel ab. Den Großteil des Pechs will ich für Tommy aufsparen, und abgesehen davon bin ich nicht sicher, ob es klappt. Deshalb kippe ich ein Viertel des Inhalts der Phiole in den Peet’s-Becher mit der klumpigen Mischung aus Kaffee und Urin. Ich schaffe es, ohne etwas auf mich zu kleckern oder ohnmächtig zu werden, was immer ein gutes Zeichen ist. Danach verschließe ich die Phiole wieder und schiebe sie in meine linke Hosentasche. Bleibt nur zu hoffen, dass mich niemand in die Eier tritt.
»Kannst du dir wirklich das Glück anderer Leute ausborgen?«, fragt Jimmy.
»Nein. Das war nur Teil des Tests.«
»Schade eigentlich. Wäre ziemlich cool, wenn du das könntest.«
»Ja«, sage ich. »Das wäre es.«
Ich stecke den Beutel mit Kaffee in meinen Rucksack und setze ihn mir auf den Rücken. Anschließend nehme ich den harmlosen halbleeren Becher mit Cappuccino und Kaffeepulver und gebe ihn Jimmy.
»Ich muss dich ein paar Minuten allein lassen«, sage ich. »Aber bald komme ich zurück, und dann habe ich den Schlüssel dabei. Dein Auftrag ist, das hier zu halten und es nicht zu verschütten. Okay?«
»Versprichst du, dass du zurückkommst und mich holst?«
»Ich verspreche es.«
Mit diesen Worten schnappe ich mir den Peet’s-Becher mit dem Urin und dem mit Pech getränkten Kaffeepulver und klopfe an die Tür. »Bin fertig.«
Quasselstrippe öffnet umgehend und steht nun direkt vor mir. Ich bin zuversichtlich, dass er nicht bemerkt, dass ich mit einem Starbucks-Becher hineingegangen und mit einem Peet’s-Becher ohne Deckel wieder herausgekommen bin, und ich habe Glück: Es fällt ihm tatsächlich nicht auf. So weit, so gut.
»Bring mich zu deinem Anführer, Erdling«, sage ich, während ich spüre, wie der Becher in meiner Hand warm wird. Das ist nicht die gemütliche Wärme eines Kaminfeuers. Es ist eher die Wärme einer Tür, hinter der ein wütendes Feuer lodert, das genährt werden will.
Quasselstrippe schließt Jimmy wieder ein und steckt den Schlüssel in die Hosentasche. Weil der Kerl mir so nahe ist und ich langsam die Nerven verliere, kippe ich ihm den Inhalt des Bechers fast ins Gesicht. Aber beide Schläger müssen in Reichweite sein, damit mein Plan funktioniert.
Er zeigt auf die Vordertür, und ich folge der stummen Aufforderung. Der Becher in meiner Hand wird immer wärmer. Ich spüre, wie er schmilzt und sich an die Form meiner Finger anpasst. Die Frage der Stunde kommt mir erst jetzt in den Sinn: Wenn sich das Pech durch Plastik frisst, was wird es dann mit meiner Hand anstellen?
Entschlossen öffne ich die Vordertür und gehe hinaus auf den Flur, vorbei an dem anderen Schläger. Und sobald sich auch Quasselstrippe auf dem Flur befindet, schleudere ich den beiden die Pech-Urin-Kaffee-Schlacke aus meinem Becher ins Gesicht.
Die Brühe spritzt auf ihre Wangen und ihre Stirn, ergießt sich über ihre Hälse und Hemden. Ein Klümpchen landet im linken Augen von Quasselstrippe, ein weiteres auf der Lippe des zweiten Schlägers. Erst reagieren beide nur, indem sie versuchen, die Sauerei wegzuwischen. Fast bin ich schon überzeugt, dass ich einen großen Fehler gemacht habe. Dann stolpert Quasselstrippe zurück in den Türrahmen, und kurz darauf fangen beide an zu schreien. Ich beobachte, wie die Spritzer der Pampe sich auf ihrer Haut ausbreiten, zu etwas Rankenartigem mutieren und schließlich vom Fleisch aufgenommen werden.
Ich schätze, es funktioniert.
Noch ehe ich die Chance habe, die Nerven zu verlieren, gehe ich zu Quasselstrippe und trete ihm in die Eier. Nicht sehr fair, zugegeben, aber ich bin ja auch ein Glückswilderer. Als er umfällt, drehe ich ihn mit meinem Fuß um und fische in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel für Jimmys Zimmer. Die beiden Schläger bleiben als sich windende und schreiende Bündel auf dem Boden liegen.
Großvater hat mir immer gesagt, dass Glück und Pech wie lebende Organismen sind, die eine symbiotische Beziehung mit ihrem Wirt eingehen. Reißt man sie aber aus dieser Beziehung heraus und führt sie einem neuen Wirt zu, weiß man nie, wie das Diebesgut und der Empfänger reagieren werden. Die Chancen, dass bei Glück keine unangenehmen Nebeneffekte eintreten, stehen gut: Glück ist sehr viel wohlwollender – wie ein freundlicher Streuner, der nach einem Zuhause sucht. Pech hingegen gleicht eher einem Virus oder Krebs. Es greift den neuen Wirt an, verbreitet sich von Zelle zu Zelle und beißt sich wie ein tollwütiges Tier mit unersättlichem Hunger in ihm fest.
Und wenn Pech hungrig wird, dann will es fressen.
Ich habe meinem Großvater nicht geglaubt. Bis zum heutigen Tag.
Natürlich habe ich zuerst daran gedacht, einfach Jimmys Hände zu packen, um zu verhindern, dass auch ich auf der Speisekarte lande. Aber als ich jetzt die Tür öffne und den Ausdruck auf Jimmys Gesicht sehe – so voller Erleichterung und Vertrauen –, erkenne ich, dass mein Charme und mein gutes Aussehen allein ausreichen müssen, um aus dieser Situation herauszukommen.
Und bislang hat diese Strategie ja auch wunderbar geklappt.
»Komm schon«, fordere ich den Jungen auf.
Draußen im Flur sind die beiden Schläger verstummt. Ich schaue kurz zu ihnen rüber, wie sie da ohnmächtig auf dem Boden liegen. Zumindest vermute ich, dass sie ohnmächtig sind. Andererseits: So wie der Tag bisher gelaufen ist, würde es mich nicht überraschen, wenn sie sich binnen Kürze in Zombies verwandeln würden.
»Denk dran, hinter mir zu bleiben«, sage ich und drehe mich zu Jimmy um. »Aber bleib dicht hinter mir. Okay?«
Jimmy nickt, nimmt eine seiner Hände vom Starbucks-Becher und zeigt auf mich. »Was ist mit deiner Hand passiert?«
Ich folge seinem Fingerzeig, und erst da fällt mir auf, dass ich den Peet’s-Becher nicht mehr in Händen halte. Habe ich ihn fallen lassen? Es muss so sein, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Vielleicht habe ich ihn ja auch weggeworfen. Oder er hat sich aufgelöst. Aber jetzt ist meine rechte Hand, meine Glücksdieb-Hand, bedeckt mit den Überresten von dem mit Wachspapier überzogenen Recycling-Pappbecher. Und diese Überreste sehen aus, als wären sie mit meiner Hand verschmolzen.
»Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhige ich ihn, halte mich aber selbst nicht an diesen Rat. Tatsächlich kann ich mich kaum zusammenreißen und bin kurz davor durchzudrehen. Doch momentan kann ich ohnehin nicht sehr viel dagegen tun – außer zu lernen, mit der linken Hand zu wildern, versteht sich.
Ich nehme den Starbucks-Becher von Jimmy und klopfe vorsichtig meine Tasche ab, um zu prüfen, ob die Phiole noch da und unversehrt ist. Tatsächlich kann ich die Wärme, die sie ausstrahlt, an meinem Oberschenkel spüren und frage mich unwillkürlich, ob es eine gute Idee ist, das Zeug so dicht an meinem Hoden zu haben.
»Bist du bereit, Jimmy?«, frage ich.
Der Junge nickt. Jetzt und hier mit ihm unterwegs zu sein – ohne seine Aufmüpfigkeit und mit diesem Ausdruck bedingungslosen Vertrauens in seinen Augen – lässt mich erstmals erahnen, warum Eltern sich all den Ärger mit dem Bekommen und Erziehen von Kindern aufladen.
Aber dann fällt mir wieder ein, dass Jimmy behauptet hat, ich würde wie Katzenpisse riechen, und das Gefühl der Rührung vergeht.
»Alles klar«, sage ich. »Gehen wir.«