Kapitel 27
He!«, rufe ich, während ich vom Taxi aus zu den Tischen renne.
Mehrere Gäste vor dem O’Reillys drehen sich um und schauen zu mir herüber. Als mich das Roller-Mädchen entdeckt, entfernt sie sich vom Eingang und trifft mich vor der danebenliegenden Gasse.
Ich habe wahrscheinlich keine Zeit dafür, aber ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal die Chance bekomme, sie zur Rede zu stellen. Oder sie zu fragen, ob sie mit mir ausgeht.
»Was machst du hier?«, fragt sie.
»Streng geheim«, antworte ich und versuche, zu Atem zu kommen. »Ich würde es dir verraten, aber dann müsste ich … na ja, du weißt schon.«
Ich schenke ihr mein bezauberndstes Lächeln und hoffe, dass sie es erwidert, aber ich bekomme nur einen schiefgelegten Kopf, als sie an mir vorbei zum Taxi schaut, das an der Ecke wartet.
»Bist du mir gefolgt?«
»Nein. Ich war nur zufällig in der Gegend und habe dich gesehen.«
»Aha. Was willst du?« Sie ist immer noch wütend wegen des Essens.
»Das mit dem Essen tut mir leid. Ich habe mich danebenbenommen. Es geht mich nichts an, für wen du arbeitest.«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich für niemanden arbeite.«
»Okay«, sage ich. »Ist auch egal. Ich bin ein Glücksdieb. Du bist eine Glücksdiebin. Wir sollten auf der gleichen Seite sein. Lass mich dich zum Abendessen einladen, damit wir das besprechen können.«
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
»Ach, komm schon. Es ist nur ein Abendessen. Es ist ja nicht so, dass ich dich entführen will.«
Sie lächelt. »Schau mal, Nick. Trotz allem bist du irgendwie niedlich, und unter anderen Umständen würde ich vielleicht tatsächlich darüber nachdenken, deine Einladung anzunehmen. Aber mit uns beiden kann es nichts werden.«
»Und warum nicht?«
»Sagen wir einfach, dass es kompliziert ist, und belassen wir es dabei.«
»Aber …«
»Leb wohl, Nick«, unterbricht sie mich und winkt mir zu. Dennoch bewegt sie sich nicht. Sie steht nur da und schaut mich mit schiefgelegtem Kopf an.
Und dann endlich begreife ich und gehe zurück zum Taxi. Ich fühle mich wie ein Highschool-Nerd, der die Ballkönigin eingeladen und eine satte Abfuhr kassiert hat. Als ich mich wieder auf den Rücksitz gleiten lasse, verschwindet das Roller-Mädchen im O’Reilly’s.
Kurz überlege ich, ob ihr nachgehen soll, um herauszufinden, was sie mit Es ist kompliziert meinte. Und was sollte dieser Trotz-allem-Quatsch? Aber wenn ich nicht doch noch beim Leichenbestatter in der Green Street enden will, kann ich es mir nicht leisten, zu spät zur Bank zu kommen. Deshalb gebe ich dem Taxifahrer meine Adresse und werfe noch mal hundert Dollar auf den Beifahrersitz.
Weniger als zehn Minuten später bin ich in meinem Apartment, stopfe die Flaschen mit dem Kleinen und dem Mittleren Glück aus meinem Kühlschrank in den Rucksack und lasse eine Flasche mit Limonade zurück, weil Tommy nur zwei auf der Liste hatte. Dann entlasse ich Donna Bakers Glück in eine Wasserflasche, die halb mit einer Mischung aus Wasser, Eis und Zucker gefüllt ist. Das Wasser soll den Urin verdünnen, das Eis soll dafür sorgen, dass das Glück nicht überhitzt, und der Zucker soll die Mischung für den Verzehr süßer machen.
Als Glückswilderer solltest du dich nie auf Notmaßnahmen oder Schnellschüsse verlassen. Es ist immer besser, einen Plan zu haben. Aber wenn du dir deinen Plan während der Ausführung erst noch zurechtlegen musst, musst du improvisieren. Und ich kann es mir nicht leisten, unbewaffnet gegen gierige chinesische Mafiabosse, den Wichser Barry Manilow und mehrere Tuesdays anzutreten. Was heißt, dass du manchmal auch Dinge tun musst, zu denen du lieber nicht stehen möchtest.
Wie deinen eigenen Urin zu trinken.
Wenn du keine Zeit zum ordentlichen Extrahieren des Glücks oder keine Extraktionsausrüstung zur Hand hast, das Glück aber trotzdem nicht verschwenden willst, bleibt nur eine Möglichkeit: Du musst es trinken. Wenn es nicht dein eigenes ist, will es nicht in deinem Körper bleiben und wird letzten Endes sowieso entweichen. Aber die positiven Effekte des Glücks lassen sich verlängern, wenn du es ausscheidest und wieder zu dir nimmst.
Wenn du es nicht direkt oder mit Wasser und Zucker vermischt trinken willst, kannst du es durch einen Kohlenstoffwasserfilter laufen lassen. Das verbessert Säure, Farbe und sogar den Geschmack. Nur stehen lassen sollte man es nicht, denn sonst explodiert die Anzahl der Keime darin.
Einige Glücksdiebe frönen der Urophagie und trinken regelmäßig Urin. Sie behaupten, dass sie dadurch nicht nur den Glücksrausch verlängern, sondern auch ihre eigene Fähigkeit des Glückswilderns verstärken. Für den zweiten Punkt gibt es zwar keinerlei Beweise, aber die Hoffnung auf Verlängerung der positiven Effekte gestohlenen Glücks durch Urinverzehr ist nicht völlig unbegründet.
Ein Stamm in Sibirien, der psychoaktive Pilze für zeremonielle Zwecke einsetzt, trinkt den Urin und teilt ihn auch auf. Da der Urin die berauschende Wirkung der Pilze enthält, trinken einige Stammesmitglieder, die sich keine Pilze leisten können, den Urin anderer, die Pilze zu sich genommen haben, während andere Stammesmitglieder ihren eigenen Urin trinken, um die Erfahrung zu verlängern.
Am Anfang erst mal eine Runde pisswarmen Urin rumgehen lassen – mehr braucht es nicht, um eine Party auf Touren zu bringen.
Auch wenn die meisten Kulturen derlei nicht regelmäßig praktizieren, wurde Urin im Laufe der Jahrhunderte doch immer wieder für unterschiedlichste Zwecke eingesetzt.
In China schreibt man dem Urin junger Knaben eine heilsame Wirkung zu.
Im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts badeten Frauen in Urin, um ihre Haut zu verschönern.
Im alten Rom hellte man sich mit Urin die Zähne auf.
Um nur einige Beispiele zu nennen.
Ganz zu schweigen von den Leuten, die Urin zum sexuellen Vergnügen trinken oder denen einer abgeht, wenn man sie anpisst.
Und solange man seinen Urin nicht trinkt, wenn man dehydriert ist, und ihn ausreichend mit Wasser verdünnt, gibt es bei der Sache auch keine besonderen Risiken – von bakteriellen Infektionen der Harnröhre und dem hohen Salzgehalt mal abgesehen. Und Glücksdiebe, die ihren Urin nicht mit Wasser verdünnen, leiden manchmal aufgrund des hohen Säuregehalts unter einem Rückgang des Zahnfleischs.
Bisher musste ich noch nie auf dieses Mittel zurückgreifen, aber ich habe einfach nicht die Zeit, um das Glück vernünftig zu extrahieren und in eine verzehrbare Form zu bringen. Und wie man so sagt: In der Not frisst der Teufel Fliegen – und der Wilderer trinkt seinen Urin.
Also dann: Auf den Mund und rein damit …
Schmeckt nicht so schlimm, wie man denken würde. Etwas würzig. Und ich bedauere, dass ich gestern Abend gedünsteten Spargel gegessen habe. Aber ich tue so, als ob es richtig schlechte Limonade wäre, und das hilft, den Nachgeschmack zu rechtfertigen.
Jetzt brauche ich nur noch etwas für frischen Atem.
Als ich zum Taxi zurückkomme, ist es Viertel vor sechs. Mit etwas Glück schaffe ich es noch zur Wells Fargo an der Ecke Grant Avenue, bevor die Bank schließt, was hoffentlich dafür sorgt, dass mich Tommy in Ruhe lässt, während ich mir überlege, wie ich ihn mit dem Pech infizieren kann, das ich in Tenderloin abholen soll.
Und ich dachte bislang, es wäre das Höchstmaß an Herausforderung, mit mehreren Baristas parallel zu schlafen.
Wir rasen über die Lombard Street. Ich sitze mit einer Tasche voller Glück auf der Rückbank und denke über Tuesdays Anruf nach. Und darüber, dass das Roller-Mädchen ins O’Reilly’s gegangen ist. Ich frage mich, ob es eine Verbindung zwischen den beiden gibt. Ob sie einander kennen. Ich lasse die Ereignisse des Tages Revue passieren und versuche, ausnahmsweise Detektiv zu spielen. Einen Hinweis zu entdecken. Etwas zu bemerken, das ich übersehen habe.
Neben der Schärfung der körperlichen Sinne sorgt Glück auch für Momente allwissender Klarheit. Je reiner das Glück ist, desto besser ist die Wirkung: Man gewinnt eine fast gottgleiche Einsicht in Situationen, die ansonsten verwirrend und verworren wären. Einzelmomente und Umstände, die zunächst nicht miteinander in Verbindung zu stehen schienen, werden plötzlich zu einer Folge von Ereignissen, die zum Jetzt führen mussten.
Allerdings ist die Wirkung von Glück, das man ein zweites Mal in sich aufnimmt, nicht vorhersehbar.
Jetzt erlebe ich keinen Aha-Effekt. Ich habe keine Offenbarungen.
Vielleicht gibt es also wirklich keine Verbindungslinien. Vielleicht kennen sie sich nicht. Vielleicht lenken mich die Umstände von etwas anderem ab, auf das ich mich konzentrieren sollte. Auf einen geräucherten Hering. Oder steht »Roter Hering« für eine falsche Fährte?
Redewendungen waren noch nie mein Ding.
Vermutlich ist es tatsächlich nur ein Zufall, dass sie beide im O’Reilly’s sind. Allerdings habe ich im Laufe der Jahre eine Sache gelernt: Es gibt keine Zufälle. Nein, halt, streichen wir das. Ich habe zwei Dinge gelernt:
Erstens gibt es keine Zufälle.
Zweitens lassen sich viele Frauen gern mal übers Knie legen.
Da ich nun gerade darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich noch ein oder zwei andere Dinge gelernt habe. Aber mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es mal war.
Ein Teil von mir wünscht sich, ich wäre im O’Reilly’s geblieben. Dann hätte ich warten können, bis Tuesday auftaucht, und hätte sehen können, ob sie sich mit dem Roller-Mädchen trifft. Und das meine ich nicht in Bezug auf irgendwelche Lesbenporno-Phantasien – wobei ich nichts dagegen hätte, bei derlei zuzuschauen. Ich dachte eher daran, dem Gespräch der beiden zu lauschen. Was weniger unterhaltsam, aber in Anbetracht der aktuellen Lage wesentlich relevanter wäre.
Auf der anderen Seite: Wenn ich dortgeblieben wäre, hätte ich Tommys Zorn auf mich gezogen. Und ich konnte nicht riskieren, dass er noch wütender wird, als er ohnehin schon ist. Außerdem musste ich dringend pinkeln. Und ich zweifle daran, dass zwischen den beiden Frauen was gelaufen ist. Deshalb hoffe ich einfach, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Worauf ich angesichts der jüngsten Ereignisse nicht gerade Wetten abschließen würde.
Noch ein weiterer Hunderter extra, und der Taxifahrer fährt mich in Rekordzeit zur Wells Fargo. An der Straße gibt es keinen Parkplatz. Also gebe ich ihm etwas Zeit für eine Tasse Kaffee, einen Burger oder einen Quickie und sage ihm, dass er in fünf Minuten zurückkommen soll. Danach gehe ich in die Bank, um die Flaschen mit dem Glück zu hinterlegen.
Als ich eintrete, kommt ein großer männlicher Angestellter auf mich zu: kanariengelbes Hemd, schwarze Hose und ein dazu passender Schlips. Er sieht aus wie eine ausgehungerte Hummel – und wenn man seinem Namensschild Glauben schenken darf, heißt er Oscar.
»Willkommen bei der Wells Fargo«, begrüßt er mich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich muss zu meinem Schließfach.«
Er zeigt auf die Schlange, in der fünf Personen vor zwei offenen Schaltern warten. »Wenn Sie bitte dort drüben warten würden? Sobald jemand verfügbar ist, kümmert sich ein Mitarbeiter um Sie.«
Ich bin mit einer Femme fatale verabredet und habe daher keine Lust zu warten.
»Hören Sie zu, Oscar«, sage ich und hoffe, dass Donna Bakers Glück und Tommy Wongs Einfluss auch hier etwas bewegen können. »Ich soll hier jemanden treffen und bin etwas in Eile. Ich heiße Nick Monday, und ich …«
»Oh, natürlich. Hier entlang, Mr. Monday.«
Das war leichter, als ich dachte.
Oscar führt mich zu den Schließfächern im hinteren Teil, wir müssen uns noch nicht einmal eintragen. Er nimmt meinen Schlüssel, öffnet eines der großen Fächer in der unteren Reihe, zieht einen Kasten heraus und führt mich in eine Kabine. Dann steht er draußen vor der Tür Wache, während ich Plastikflaschen mit flüssigem Glück in den Kasten stelle. Keine sechzig Sekunden später bin ich fertig und verlasse die Bank mit meinem leeren Rucksack, während vier der fünf Leute von vorhin immer noch in der Schlange stehen und mich zornig anstarren.
Anscheinend hat es auch seine Vorzüge, für die chinesische Mafia zu arbeiten.
Als ich wieder rauskomme, ist mein nicht-veganer Fahrer noch nicht zurück. Also warte ich an der Ecke Grant Avenue und Market Street auf ihn und hoffe, dass er bald auftaucht, damit ich am Ende nicht meine Verabredung zum Drink mit Tuesday und ihren Brüsten verpasse.
Manchmal kann ich meine Fixierung einfach nicht kontrollieren.
Kaum eine Minute verstreicht, als jemand nach mir ruft.
»Hey, Holmes!«
Es ist Doug, der in seiner besten Gangsta-Rap-Imitation betont lässig auf mich zuschlendert, die Hose halb über dem Hintern und ein breites Grinsen im Gesicht.
»Dachte ich mir doch, dass du das bist«, meint er und schlägt seine Fingerknöchel gegen meine. »Wie läuft’s?«
»Wie Schmiere.«
»Schmiere?«, fragt Doug und schaut mich vollkommen perplex an.
»Klar, das hast du doch gehört. Das hat Groove, das hat Bedeutung.«
»Ich hab keinen Schimmer, wovon du da sprichst, Holmes.«
»Tja. Dann sind wir schon zwei.«
Auf der Market Street kommt ein Taxi mit ausgeschalteten Scheinwerfern an uns vorbei. Es ist allerdings nicht meins. Offenbar hat mein Fahrer nicht begriffen, was ich mit »Quickie« gemeint habe.
»Krasser Aufzug, Holmes«, sagt Doug und grinst wieder. »Was soll der edle Zwirn?«
»Ich habe ein heißes Date.«
Eine Straßenbahn fährt vorbei, der Verkehr fließt nach Osten und Westen, alle müssen irgendwohin, und ich sollte auch woanders sein, stehe aber immer noch hier.
Eine Krähe landet auf dem Straßenschild neben mir, und Doug pfeift.
»Was ist?«, frage ich.
»Das bringt Pech, Holmes.«
»Was?«
Er zeigt auf die Krähe. »Wenn es zwei wären, würde es Glück bringen, aber eine einzelne Krähe bedeutet Pech.«
Was für eine Überraschung.
»Drei Krähen bringen Gesundheit«, fügt er hinzu. »Vier Reichtum, fünf Krankheit und sechs den Tod.«
Na ja, wenigstens sind es nicht sechs.
»Aber vielleicht ist noch eine in der Gegend«, sagt Doug und sucht die Market Street in beiden Richtungen ab.
Mir ist es egal, wie viele Krähen hier sind. Es ist nach sechs, mein Taxi ist noch nicht wieder da, und ich sehe auch nirgendwo ein freies. Wenn ich nicht bald zum O’Reilly’s komme, sieht es schlecht aus für mein Date mit der falschen Tuesday.
»Hey, Bow Wow, hast du einen fahrbaren Untersatz?«
»Scheiße, ja! Direkt um die Ecke. Soll ich dich mitnehmen, Holmes?«