Kapitel 6
Ich lege auf und spähe über die Straße. Wo Tuesday wohl bleibt? Der Starbucks direkt gegenüber lockt mich wie die Sirenen Odysseus. Gerade als ich mich frage, ob mir genug Zeit für einen schnellen Cappuccino bleibt, ohne dass ich an den Klippen zerschelle, taucht Tuesday auf. Sie überquert die Stockton Street und erklimmt die Stufen zum Union Square. Also passiere ich die Hauptfiliale von Levi Strauss und nehme den Ampelübergang. Bei meiner Verfolgung von Tuesday achte ich weiterhin darauf, hinter ein paar Palmen und französischen Touristen in Deckung zu bleiben, bis ich die bepflanzte Mauer erreiche.
Von dort aus sehe ich zu, wie Tuesday zu einem der Tische beim Café Rulli geht, Platz nimmt und etwas bestellt. Die Bedienung ist noch nicht ganz verschwunden, als Tuesday ihr Handy zückt, eine einzige Taste drückt und zu telefonieren beginnt.
Von meinem Versteck aus kann ich sie unentdeckt beobachten, höre aber dummerweise kein einziges Wort ihrer Unterhaltung, und mit meinen Lippenlesekenntnissen ist es auch nicht sonderlich weit her. Ich habe nicht versucht, mich vor meiner Verfolgungsjagd optisch zu verändern, und ich habe nicht mal eine Kamera dabei, um Fotos zu schießen. Wie es scheint, bin ich ein wirklich lausiger Privatdetektiv.
Man sollte denken, dass jemand, dessen Hauptbeschäftigung die Glückswilderei ist, ein deutlich glamouröseres Leben führen sollte. Anstatt hinter Touristen in Deckung zu gehen. Anstatt sich nebenbei als Privatdetektiv durchschlagen zu müssen, um die Miete zahlen zu können. Anstatt Lucky Charms zum Frühstück zu essen. Fast kann ich meinen Vater spöttisch lachen hören: Das ist also aus dir geworden, Sohn! War ja nicht anders zu erwarten.
Ohne Frage: Auch ich habe mir mein Leben etwas anders vorgestellt. Aber nicht alle Wilderer sind wie ich. Einigen geht es besser, anderen schlechter. Einige bringen es noch nicht mal so weit wie ich. Viele Wilderer ertragen die damit verbundene Einsamkeit nicht und nehmen sich schließlich das Leben. Auch wenn es keine offiziellen Statistiken darüber gibt, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Glückswilderers bei vierzig Jahren. Bleiben mir also noch sieben, um erstmals die Erwartungen zu übertreffen.
Vielleicht hat meine Mutter deshalb nie Glück gewildert. Weil sie die Konsequenzen kannte. Die Risiken, die dieser Weg mit sich bringt. Obschon es am Ende auch nicht gerade dazu geführt hat, dass es für sie rote Rosen geregnet hätte. Wenn man von denen absieht, die jetzt auf ihrem Grab wachsen.
Das ist einer der Gründe, warum ich das gestohlene Glück verkaufe, statt es selbst zu nutzen. Aus Respekt gegenüber meiner Mutter. Würde ich ihre Ideale wirklich hochhalten, dürfte ich meine Gabe gar nicht erst einsetzen. Aber ich kann nicht verleugnen, was ich bin. Es liegt mir im Blut.
Doch wenn ich ganz ehrlich bin, verkaufe ich das von mir gestohlene Glück vor allem deshalb, weil es ziemlichen Ärger geben kann, wenn man versucht, es für sich selbst zu verwenden. Abgesehen vom Suchtfaktor zieht man eine Menge Aufmerksamkeit auf sich, wenn man im Lotto gewinnt, berühmt wird und die Medien landauf, landab von einem berichten. Man muss Interviews geben und dem Finanzamt sein Einkommen offenlegen. Das wäre das Letzte, was ich gebrauchen kann: dass die Steuerfahndung oder irgendwelche Reporter im Interesse der Öffentlichkeit vor meiner Tür stehen. Glücksdiebe, die keine Schwierigkeiten bekommen wollen, halten sich lieber bedeckt. Dummerweise schützen einen auch die besten Vorkehrungen nicht zuverlässig vor den möglichen Folgen.
Jede Entscheidung birgt Gefahren. Einige haben leichte, andere weitaus schwerere Auswirkungen. Wie die Dinge liegen, fallen die meisten meiner Entscheidungen in die »Weitaus-schwerer«-Kategorie. Dem muss man sich stellen, wenn man so geboren wird wie ich. Auch wenn ich die Spannung des Wilderns um nichts in der Welt missen möchte, bin ich mir der Risiken durchaus bewusst. Und obwohl es ja nicht gerade ehrenhaft ist, anderen das Glück zu stehlen, tut man doch, was nötig ist, um die eigenen Taten zu rechtfertigen.
Das Problem beim Glückswildern ist: Früher oder später holt einen das Karma ein. Schließlich kann man anderen nicht ständig etwas fortnehmen, ohne einen Preis dafür zu zahlen.
Während Tuesday also weiter telefoniert und ihr Getränk serviert wird – irgendwas Kaltes, Klares in einem hohen Glas –, fällt mein Blick auf einen großen, glatzköpfigen Weißen, der Zeitung liest und sie von seinem zwei Plätze entfernten Tisch aus betrachtet. Sein Kopf ist rasiert, er trägt eine Sonnenbrille und ist vom kurzärmligen Hemd bis zu den Jeans ganz in Schwarz gekleidet. Wer auch immer der Kerl ist: Er beobachtet Tuesday mindestens genauso interessiert wie ich.
Zehn Minuten lang lasse ich Tuesday und Glatze hinter meiner Deckung aus Pflanzen, Palmen und Touristen nicht aus den Augen. Was auch immer Tuesday zu besprechen haben mag, das Gespräch endet ziemlich abrupt. Energisch schiebt sie den Stuhl zurück, nimmt einen letzten Schluck, steht auf, lässt ihr Glas halbvoll zurück und kommt genau auf mein Versteck zu.
Noch ehe ich mich hinter meine Pflanzen ducken oder hinter einer vierköpfigen Familie aus den Niederlanden verstecken kann, ist Tuesday schon vorbei und auf dem Weg in Richtung Stockton-Street-Tunnel. Offenbar hat sie mich nicht bemerkt. Ich beobachte sie aus dem Augenwinkel und lasse sie den halben Weg zu Starbucks hinter sich bringen, ehe ich ihr folge, wobei ich stets auf der gegenüberliegenden Seite der Straße bleibe. Erst als ich fast auf Höhe des Grand Hyatt bin, fällt mir Glatze auf, der Tuesday gleichermaßen folgt – nur eben auf ihrer Straßenseite.
Was die Frage aufwirft, ob ich der einzige Privatdetektiv bin, der sich für Tuesday Knight interessiert.
Sie überquert die Sutter Street. Vor dem Parkhaus hält sie an, dreht sich um und späht über die Straße. Ich verschmelze spontan mit einer Gruppe chinesischer Touristen – was gar nicht so leicht ist, wenn man sie alle überragt und nicht mal mit viel Wohlwollen als Asiate durchgeht. Als ich wieder hochschaue, winkt Tuesday sich gerade in der Nähe der Bushaltestelle ein Taxi heran und steigt ein.
Ich ziehe ihre Visitenkarte aus der Tasche, finde darauf aber nur ihren Namen und die Nummer eines Festnetzanschlusses. Keine Adresse. Per Internetsuche könnte ich herausbekommen, wo sie wohnt, doch dann wüsste ich noch immer nicht, wohin sie will. Oder was sie vorhat, wenn sie dort ankommt.
Ich starre dem Taxi hinterher, das durch den Stockton-Street-Tunnel in Richtung Chinatown fährt, denn sehe ich Glatze, der die Straßenseite wechselt und hinter der Ecke des Hyatt verschwindet. Schnell stecke ich Tuesdays Karte ein und folge Glatze die Sutter runter zur Powell Street, wo er abbiegt und schließlich das Sir-Francis-Drake-Hotel betritt. Ich passiere den Eingang, vorbei an zwei Portiers, die wie die königliche Leibgarde kostümiert sind, ununterbrochen miteinander quatschen und Türen öffnen. Dann mache ich kehrt und postiere mich auf der anderen Straßenseite.
Glatze taucht nicht wieder auf. Kurz überlege ich, ob ich hier draußen auf ihn warten oder ihm einfach ins Innere folgen soll. Doch bis zum Glücksübergabetermin um zehn bleibt mir nur noch eine knappe halbe Stunde, und ich kann nicht riskieren, das Geschäft platzen zu lassen. Also nehme ich mir ein Taxi und weise den Fahrer an, mich zu meinem miesen Mini-Apartment an der Marina, dem Jachthafen, zu bringen.
»Ich wusste gar nicht, dass es an der Marina überhaupt miese Apartments gibt«, sagt er.
»Ich hatte Glück«, erwidere ich. »Hab das letzte bekommen.«
»Wie lautet denn die Adresse?«
Ich lebe in einer Einzimmerwohnung im dritten Stock eines vierstöckigen Gebäudes an der Lombard Street, direkt neben einer Reinigung und gegenüber von einem Stundenmotel. Das Haus als heruntergekommen zu bezeichnen wäre noch geschmeichelt, und die Wohnung ist nicht gerade meine Traumwohnung. Aber manchmal muss man eben nehmen, was man kriegen kann. Beziehungsweise die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat.
Ich sage mir immer wieder, dass es nur vorübergehend ist. Dass ich eines Tages in einem Penthouse leben werde oder zumindest in einem gepflegten Komplex mit ruhigen Nachbarn, doppelt verglasten Fenstern und einem Hausflur ohne Uringeruch. Aber bis es so weit ist, muss ich mich weiterhin mit den Konsequenzen meines Hochmuts herumschlagen.
Als ich aus dem Taxi aussteige, sitzt vor meinem Haus ein Obdachloser neben einer fast leeren Spendenschale und einer schwarzen Katze.
Früher brachte man schwarze Katzen mit Hexen in Verbindung und sah in ihnen daher ein Zeichen für alles Böse der Unterwelt. Bis heute denken viele, dass es ihnen Pech bringt, wenn eine schwarze Katze ihren Weg kreuzt. Die Wahrheit ist: Glück oder Pech werden nicht »erschaffen«. Sie existieren einfach. Und trotzdem laufen die Leute herum und glauben, dass sie die Dinge beeinflussen könnten.
Selbst Wilderer können das Glück nicht manipulieren. Wir sind eher eine Art Verbindungsstück oder Makler, bringen Glück vom Eigentümer zum Käufer. Allerdings reagieren wir nicht nur und ziehen unseren Vorteil aus der jeweiligen Situation: Oft schaffen wir auch die Umstände, die andere dazu bringen, sich an uns zu wenden.
Die Börsencrashs in den Jahren 1929 und 1987 sind nicht einfach so passiert – ebenso wenig das Platzen der Dotcom-Blase, der Enron-Skandal oder die Immobilienkrise. Natürlich haben wir diese Katastrophen nicht inszeniert, aber wir haben dabei geholfen, sie auszulösen. Wenn man genügend Leuten das Glück stiehlt und es an Dritte verkauft, tritt so etwas früher oder später fast unweigerlich ein.
Großvater hat mir sogar von historischen Berühmtheiten erzählt, für deren Niedergang oder Tod Glückswilderer verantwortlich waren.
Marie Antoinette. Richard II.
Abraham Lincoln. Al Capone.
Um nur ein paar zu nennen.
Und wer kann mit Fug und Recht behaupten, dass es nicht schon Glückswilderer vor zweitausend Jahren in Jerusalem gegeben hat? Vielleicht musste Jesus nur für unsere Sünden sterben, weil er die falsche Hand geschüttelt hat.
Ich laufe nach oben, durch die Flure mit der abblätternden Farbe und den fleckigen Teppichen, vorbei an der Tür des Nachbarn, dessen laute Musik den Boden vibrieren lässt. In meinem Apartment öffne ich den Kühlschrank, in dem mich Eier, Speck, Saft, Brot, Gewürze und mehr als ein halbes Dutzend Saftflaschen erwarten: fünfmal Limonade und dreimal Super-Protein, alle etwas mehr als halbvoll. Meine Vanille-Protein-Monster-Flaschen stehen abgewaschen und leer in einem Regal und warten auf Ware.
Seit drei Jahren schon.
Glück wird zwar nicht schlecht, wenn man es nicht gleich einnimmt, und es hat auch kein Haltbarkeitsdatum, aber es hält sich besser, wenn es im Kühlschrank oder an einem kühlen, trockenen Ort gelagert wird.
In den Super-Protein-Flaschen bewahre ich das Mittlere Glück auf, das in etwa die Konsistenz von Milch mit zwei Prozent Fettanteil hat, während ich die Limonadenflaschen für das Kleine Zeug reserviere, weil es praktischerweise auch wie Limonade aussieht. Es gibt nicht viel Bedarf an Kleinem Glück, aber man kann es meist an Junkies verschachern, die für den nächsten Rausch auch höhere Beträge bezahlen.
Die leeren Protein-Monster-Flaschen im Schrank sind für das Große Glück gedacht – wenn ich denn mal welches in die Finger bekommen würde.
Nicht alle Wilderer benutzen leere Saftflaschen zur Lagerung ihrer Ware, aber sie sind weniger teuer als Sportflaschen, und durch die Etiketten kann ich die Glücks-Güteklassen leichter auseinanderhalten. Und außerdem kann man darin das Glück viel leichter übergeben. Man lässt nach der Geldübergabe bloß eine Saftflasche auf dem Tisch stehen, der Käufer nimmt sie mit, und niemandem fällt irgendwas auf.
Glück kann man direkt injizieren – dann setzt die Wirkung viel schneller ein. Man kann es aber auch mit einigen anderen Getränken kombinieren und sich so einen Glückscocktail zusammenstellen. Oder man verwendet es statt der Milch beim Backen von Glücks-Brownies. Die meisten trinken es allerdings pur. Wenn die Leute wüssten, woher das Glück eigentlich kommt, würden sie es vermutlich auf eine andere Weise zu sich nehmen.
Die Redewendung »sein Glück machen« trifft es ziemlich genau. Im wahrsten Sinne: Nachdem man das gestohlene Glück zu sich genommen hat, muss man es nämlich körperlich vollständig verarbeiten – bevor man das nächste Mal pinkeln geht. Ansonsten landet es schlicht in der Kloschüssel, an einem Busch oder läuft einem das Bein runter. Allerdings verschüttet man auf diese Art nicht alles: Der menschliche Körper besteht zu siebzig Prozent aus Wasser, und einige Spuren von Glück bleiben deshalb immer zurück. Und wer mit Glück geboren wurde, der verliert es niemals durch Schwitzen, Urinieren oder sonstige Ausscheidungsvorgänge. Es bleibt im System, bis ein Wilderer wie ich vorbeikommt.
Wer hingegen nicht mit Glück geboren wurde, muss sich mit einem Schatten des Glückes anderer Leute zufriedengeben.
Während das eigentliche Glückswildern nicht viel aufwendiger ist, als sich eine Erkältung einzufangen, ist die Umwandlung von Glück in ein Verbrauchsgut etwas komplizierter. Konkret bedeutet das: Damit meine Kunden das gestohlene Glück auch verwenden können, muss ich es aus meiner Blase extrahieren und verarbeiten. Dazu benutze ich einen Katheter und verbinde ihn mit mehreren Schläuchen, die wiederum an eine tragbare Zentrifuge angeschlossen sind. Dort wird das Glück dann vom Urin getrennt und über einen der Schläuche in einen Plastikbehälter geleitet.
Es ist ein bisschen so, als ob man bei der Blutspende nur Thrombozyten abgibt – allerdings bekommt man danach weder einen Keks noch einen Stempel im Blutspender-Ausweis.
Zugegebenermaßen ist das nicht unbedingt die angenehmste und hygienischste Methode, Glück zu extrahieren. Aber man verliert dabei nicht so viel Glück wie bei anderen, weniger effizienten Methoden. Bis weit in die sechziger Jahre hinein sammelten Wilderer ihren Urin in Glasflaschen, die mit einem Gummipfropfen und einem kleinen Kondensatorrohr darin ausgestattet waren. Dann erhitzten sie den Inhalt der Glasflasche mit einem Bunsenbrenner, ließen Urin und Wasser verdampfen, und das Glückssubstrat blieb zurück. Problematisch daran war, dass immer ein Teil des Glücks durch das Verdampfen verlorenging. Von den Nebeneffekten der hohen Hitzeeinwirkung auf das Glück ganz zu schweigen. Verbranntes Glück hat keinen guten Marktwert. Und es schmeckt fürchterlich.
Dann kann man auch gleich den Urin pur trinken.
Ich schnappe mir eine Super-Protein-Flasche, die nahezu bis zur Hälfte mit einer weißlichen Flüssigkeit gefüllt ist, die rein optisch stark an den Originalinhalt erinnert, und stecke die Flasche in meinen Lederrucksack. An der Tür halte ich noch einmal inne und hole noch eine Limonadenflasche mit Kleinem Glück, die ich auf dem Weg nach draußen dem Obdachlosen gebe.
Die Geste ist zwar nicht gänzlich selbstlos, kommt aber dennoch von Herzen.
»Was ist das denn?«, sagt der Obdachlose ohne eine Spur von Dankbarkeit.
»Ein bisschen Glück.«
»Glück?« Er hält die Flasche hoch und dreht sie hin und her. »Die ist ja nicht mal voll.«
Manche Menschen wissen einfach nicht, wie man Dankbarkeit zeigt.
»Hier.« Ich werfe ihm einen Fünf-Dollar-Schein hin. »Tu einen Schuss Tequila rein. Dann schmeckt es wie eine Margarita.«
Damit mache ich mich auf den Weg und gehe die Lombard Street entlang zum Starbucks an der Ecke Union und Laguna. Zeit für meine Zehn-Uhr-Lieferung.