Kapitel 35
Was macht er hier?«, frage ich, nachdem wir wieder aus dem Raum getreten sind und die Tür geschlossen haben.
»Ich glaube, die Antwort ist recht offensichtlich«, erwidert Tommy.
»Ich meine, wie ist er hergekommen? Woher wissen Sie von ihm?«
»Sagen wir einfach, dass ein sogenanntes Weichei sehr hilfsbereit beim Nachvollziehen Ihrer Erlebnisse war.«
Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass Alex mich bei Tommy verraten könnte. Und dann muss ich plötzlich an meinen Besuch bei Mandy denken und hoffe, dass sie nicht in einem der anderen Räume auf dieser Etage ist.
»Es war zu freundlich von seiner Mutter und seinem Vater, essen zu gehen und ihn ohne Babysitter zu Hause zu lassen«, meint Tommy. »Die Eltern von heute sind so verantwortungsbewusst.«
Ich will gar nicht wissen, wie diese Kerle Jimmy aus dem Haus gelockt haben. Man würde denken, dass die Nachbarn etwas bemerkt haben müssten, aber die Menschen achten nicht auf so etwas. Insbesondere nicht, wenn der Entführer sich ein Übermaß an Glück zugelegt hat.
»Noch weitere Überraschungen?«, frage ich.
»Ich glaube nicht, dass das wirklich eine Überraschung ist. Sie haben ganz offensichtlich schon darüber nachgedacht, sein Glück zu wildern. Jetzt haben Sie die Chance, es auch zu tun.«
Ich hatte mich noch nicht entschieden, was mit Jimmy geschehen soll, aber eins steht fest: Wenn ich mich dazu entschlossen hätte, sein Glück zu stehlen, hätte ich nicht gewollt, dass es unter diesen Umständen passiert. So ist es einfach nicht sonderlich fair und erst recht keine sportliche Herausforderung.
»Heißt das, dass ich die Belohnung bekomme?«, will ich wissen.
Tommy lacht. Ein tiefes, herzliches Lachen, bei dem er den Kopf in den Nacken wirft. Kurz fühle ich mich wie der Junge in der Highschool, dem die Schulhofschläger immer wieder seine Sportsachen klauen.
Als Tommy aufhört zu lachen, was ganz abrupt und wie mit dem Messer abgeschnitten geschieht, mustert er mich vollkommen ernst und erklärt: »Ihre Belohnung, Mr. Monday, ist, dass Sie noch am Leben sind.«
Klar. Und ich frage mich, wie viel Zeit mir noch bleibt, mein Kopfgeld auszugeben.
»Mir gefällt das so besser«, sagt Tommy. »So kriege ich, was ich will, und muss keine fünfhunderttausend Dollar zahlen.«
»Was ist, wenn ich ablehne?«
»Dann beauftrage ich jemand anderen damit. Ob Sie das machen, der da oder die da – mir ist das gleich.«
»So einfach ist das?«, sage ich. »Sie lassen mich gehen? Ich kann abhauen, und damit ist die Sache erledigt?«
»Nicht ganz.«
Er setzt sich auf eines der Sofas und zieht von irgendwo aus dem Innern seiner Hausjacke eine Pistole. Er zielt nicht auf mich, sondern legt die Waffe bloß in den Schoß, um seinen Punkt zu unterstreichen. Derweil lauert sein Schläger in der Nähe, während der andere wahrscheinlich vor der Vordertür Wache hält.
Tommy muss mir seine Absichten nicht näher erläutern, damit ich merke, dass ich kaum eine Wahl habe. Ich hoffe nur, dass ich es lange genug hinauszögern kann. Vielleicht fällt mir ja doch noch ein Ausweg ein.
»Ich habe meine Extraktionsausrüstung nicht hier«, sage ich. »Die ist in meinem Apartment.«
»Wir haben die nötige Ausrüstung. Ich lasse sie in Ihr Zimmer liefern.«
»Ich brauche einen Cappuccino und einen Apfelkrapfen, um das Glück zu verarbeiten.«
»Unten an der Ecke gibt es einen Starbucks«, entgegnet Tommy. »Allerdings werden Sie mit einer Zimtschnecke leben müssen.«
Ich könnte auf Apfelkrapfen bestehen, aber das würde mir nicht viel Zeit verschaffen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass Tommy nicht gerade in der Stimmung für Zugeständnisse ist.
»Noch mehr Ausreden?«, fragt er. »Oder sind Sie nun bereit, Ihre Rechnung zu bezahlen?«
Angestrengt überlege ich, suche nach etwas, um ihn aufzuhalten. Irgendwas. Aber in meinem Ausreden-Vorratsraum herrscht eine Leere wie in dem Magen eines Bulimikers.
»Was passiert mit Jimmy, nachdem ich sein Glück gewildert habe?«
»Lassen Sie das nicht Ihre Sorge sein. Was kümmert es Sie überhaupt, was mit ihm passiert? Er ist doch nur ein weiteres Opfer.«
»Ich bin einfach neugierig.«
Tommy schaut mich an und lächelt. »Ob Sie sein Glück stehlen oder jemand anders das tut: Mit ihm passiert anschließend das Gleiche.«
Zu wissen, dass sich Tommy bereits alles zurechtgelegt hat, gibt mir das Gefühl, zwei Schritte hinterherzuhinken. Während ich noch immer über meinen nächsten Schachzug nachdenke, hat er schon einen Notfallplan.
»Also, wie soll es laufen, Mr. Monday?«, fragt Tommy und hebt die Waffe. »Stehlen Sie sein Glück, und machen Sie mit Ihrem Leben weiter? Oder spielen Sie den hin- und hergerissenen Helden, und wir machen mit Ihrem Tod weiter?«
Ultimaten waren noch nie mein Ding.
»Es sollte ein Grande Cappuccino sein«, sage ich. »Und wenn Sie Donuts oder irgendwas mit Rosinen oder Früchten finden, wäre das toll.«
»Eine gute Entscheidung.« Tommy steht auf, steckt die Waffe wieder ein und reicht seinem Schläger den Schlüssel zu Jimmys Zimmer. »Ich lasse Ihnen den Kaffee und das Gebäck hochschicken. Sobald Sie Ihren Imbiss verspeist haben, haben Sie fünf Minuten, um mir das Glück zu besorgen. Noch Fragen?«
»Ja. Sind Sie Veganer?«
Tommy lacht nur und geht zur Tür.
Vielleicht kann ich es ja trotzdem irgendwie vermeiden, Jimmys Glück zu stehlen. Und einen Weg finden, um Tommy mit dem Pech zu infizieren. Oder die Polizei wissen zu lassen, dass Tommy ein entführtes Kind als Geisel hält. Oder ich reise einfach in der Zeit zurück und beginne diesen ganzen fürchterlichen Tag noch einmal von vorn.
»Und übrigens«, fügt Tommy hinzu, als er bereits im Türrahmen steht, »falls Sie auf die Idee kommen sollten, sich was Schlaues einfallen zu lassen: Ich habe Ihre Schwester in einem der anderen Zimmer auf dieser Etage eingesperrt.«
Dann schließt sich die Tür, und er ist fort. Zurück bleiben der Schläger mit der Gurke im Hintern und ein Wilderer, der nach seiner Selbstachtung sucht.