V
Da war dieser Nagel im Boden gewesen. Irgendwo im Boden musste da ein Nagel gewesen sein.
Kyra starrte nach vorn. So viel Asphalt. Und so viele Streifen auf dem Asphalt. Was für eine Verschwendung.
Ihre Hände am Lenkrad zitterten. Nein: Ihre Hände zitterten nicht. Das Lenkrad zitterte. Und dabei war es doch ein Sportwagen. War es normal, dass bei einem Sportwagen das Lenkrad zitterte? Vielleicht war mit dem Wagen etwas nicht in Ordnung.
Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos blendeten sie. Licht konnte sie heute Nacht nicht mehr gut ertragen.
Wenn nur dieser Nagel im Boden nicht gewesen wäre. Am liebsten wäre sie aufgestanden. Aber das ging ja nicht. Am Steuer. Vielleicht war der Nagel rostig gewesen. Vielleicht hatte sich die Wunde entzündet.
Ohne zu blinken, zog sie den Wagen auf die Standspur hinüber und bremste scharf. Die Autos hinter ihr hupten. Die Giulia schleuderte ein bisschen. Sicher war mit dem Wagen etwas nicht in Ordnung. Es war doch nicht normal, dass ein Wagen beim Bremsen schleuderte.
Endlich stand sie. Autos schossen an ihr vorbei. Sie musste aussteigen. Und nachsehen, ob sich die Wunde entzündet hatte. Sie öffnete die Tür. Und spürte einen harten Luftstoß. Schon wieder ein Auto. Was wollten die ganzen Autos nachts auf der Avus? Sie humpelte auf die Beifahrerseite in den Windschatten. Sie zog die Hosen herunter und versuchte, ihren Arsch zu inspizieren. Es ging nicht. Verzweifelt fasste sie sich an die Stelle, wo sie den Schmerz vermutete. Wenn es geblutet hatte, war es jetzt getrocknet. Aber sie musste doch sehen, was dort war. Sie zog die Hosen wieder hoch, knöpfte sie nicht zu, hielt sie nur mit der Linken fest und humpelte zur Fahrerseite zurück. Mit der freien Hand brach sie den Außenspiegel ab. Gut, dass er schon so lange locker war.
Blut. Ihr ganzer Arsch war blutverschmiert. Sie spuckte auf die Finger und rieb an der Stelle, wo die Wunde sein musste. Sie konnte nichts erkennen. Nur unverletzte Haut. Aber das konnte nicht sein, da musste eine Wunde sein, denn da war doch dieser Nagel im Boden gewesen. Und der Nagel war rostig gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gegen Tetanus geimpft worden war. Sie spuckte noch einmal und rieb heftiger.
Hinter ihr bremste ein Auto. Laute Musik. Lauter als die vorbeirauschenden Autos. Jetzt war es wenigstens hell, vielleicht konnte sie im Scheinwerferlicht etwas erkennen.
»Hey, Puppe, haste n Problem?«
Da, ungefähr eine Handbreit links von dort, wo der Spalt aufhörte, da war etwas.
»Ey, Rudi, ick glob, die braucht wen, der ihr beim Pissen hilft!«
Gelächter. Mehrere.
Sie schaute auf. Sie konnte die Männer nicht richtig erkennen, das grelle Scheinwerferlicht blendete sie, und die Haare hingen ihr ins Gesicht.
»Ich habe eine Blutvergiftung«, sagte sie leise.
»Was is los, Puppe, haste was gesagt?«
»Können Sie einen Arzt rufen, ich habe eine Blutvergiftung.«
»Ey, Mensch, mit der Alten stimmt was nicht, guckt euch die doch mal an. Die is ja total voll Blut.«
»Ob die nen Unfall gehabt hat?«
»Quatsch, Mann, die Karre von der is doch total in Ordnung. Die tickt nich richtig.«
»Hey, Jungs, ick glob, ick weeß, was mit der los is. Die hat ihre Tage.«
Gelächter. Der Motor jaulte auf. Kyra hörte nichts mehr. Der Wagen fuhr an ihr vorbei. Zwei Männer hingen aus den geöffneten Fenstern und winkten.
Sie hatte eine Blutvergiftung. Sie würde sterben. Ein paar Tränen rollten ihr übers Gesicht. Sie hatte eine Blutvergiftung und würde sterben.
Sie kletterte über die Leitplanke und ging ein paar Schritte in den Wald. Gehen. Gehen. Jetzt einfach nur gehen. Aber das brachte nichts. Sie musste zum Wagen zurück. Im Wagen war es auf jeden Fall besser als hier im Wald.
Es roch nach Pilzen. Wenn sie jetzt starb, konnte sie nie wieder Pilze sammeln. Sie stolperte über einen Ast. Sie hatte noch gar nie Pilze gesammelt.
Der Wind der vorbeirasenden Autos klatschte ihr die Haare ins Gesicht. Sie schlug die Tür zu und legte den Kopf aufs Lenkrad. Wenn sie wenigstens ihr Handy dabeigehabt hätte. Dann hätte sie jetzt jemanden anrufen können. Jemanden anrufen können.
Sie fuhr hoch, als ob sie jemand berührt hätte. Ja, da war jemand gewesen. Jemand. Ihr lieber Jemand, der ihr helfen wollte. Sie wischte sich die Haare aus dem verklebten Gesicht und lächelte. Sei kein Kindskopf, Kyra, alles ist gut. Du startest jetzt den Motor, kehrst um und fährst zurück in die Stadt. Und da ist dann jemand, der sich um deine Blutvergiftung kümmert.
Alles war gut. Sie lächelte, als sie den Schlüssel in der Zündung herumdrehte. Sie lächelte, als die Giulia anfuhr. Sie lächelte, als sie das Lenkrad ganz nach links herumkurbelte. Sie lächelte, als ihr die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos ins Gesicht strahlten.
 
Sie war tot. Begraben. Hatte den Mund voll Erde. In der Ferne grollte Donner. Die Hölle.
Sie spuckte aus. Und tastete um sich. Feuchte Erde und feuchtes Laub blieben zwischen ihren Fingern hängen. Warum hatte man sie ohne Sarg bestattet? Warum hatte man sie einfach so unter die Erde gelegt? Sie schlug die Augen auf. Schöne Hölle. Schöne Hölle, die ein dunkelgrünes Blätterdach hatte.
Drei Bäume hinter sich entdeckte sie die Giulia. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr Auto hatte versucht, den Baum hinaufzufahren. Aus der zusammengedrückten Kühlerhaube qualmte es. Wie schön. Wie schön, dass man die Giulia gemeinsam mit ihr beerdigt hatte.
Es donnerte. Ein greller Schmerz zuckte durch ihre Brust. Sie fasste sich ans Herz. Wum-wum-wum-wumwum-wum, hörte sie es in ihren Ohren marschieren.
Sie setzte sich auf. Verwirrt schaute sie um sich. Nicht tot. Sie war nicht tot. Davongekommen. In hohem Bogen aus dem offenen Fahrzeug geflogen.
Es donnerte wieder. Das Gewitter kam näher.
Mühsam richtete sie sich auf. Sie konnte stehen. Gut. Alles tat weh. Sie versuchte, einige Schritte auf dem weichen Waldboden zu machen. Es ging. Sie blieb stehen und atmete tief durch. Tot wäre einfacher gewesen. Tot hätte sie nichts mehr tun müssen.
 
Es goss, als wolle Berlin ersaufen. Der Taxifahrer beugte sich weit vor, um durch die überschwemmte Scheibe hindurch die Hausnummern zu erkennen.
»Ist es das hier? - Ja, das muss es sein«, bestätigte er sich selbst, als Kyra nichts antwortete. Er stoppte den Wagen. »Dreiundzwanzig achtzig bekomm ich dann.«
Misstrauisch verfolgte er im Rückspiegel, wie die blut-überströmte Frau in den Taschen ihrer Lederjacke wühlte.
Sie reichte ihm einen Zehn- und einen Zwanzigmarkschein nach vorn und öffnete die Tür. Sie stöhnte, als sie das erste Bein nach draußen setzte.
Der Fahrer drehte sich um. »Warten Sie, wollen Sie nicht -«
»Vergessen Sies.«
Sie knallte die Wagentür zu und holte Luft. Der Regen tat gut. Ohne Regen wäre sie in Ohnmacht gefallen. Sie blieb einige Sekunden stehen, hörte das Taxi davonfahren. Die Schmerzen in ihrem Oberkörper waren so grotesk geworden, dass sie beinahe gelacht hätte. Wie viele Rippen sie gebrochen hatte? Alle? Sie wischte sich die Haare, die ihr wie Seetang ins Gesicht hingen, aus der Stirn.
Hier war es. Hier war es also, wo sie wohnte. Die Herzlose.
Kyra wankte zu dem Gartentor und hielt sich an den massiven Eisenstäben fest. Sie musste sich bücken, um die Namen auf den schwach beleuchteten Klingelschildern entziffern zu können. »Kretzschmann« las sie, »Hubert und Elfriede Kretzschmann«. Und darunter: »Schröder. Schröder, Gartenhaus«.
Die Schmerzen wurden schlimmer. Sie musste einen Moment die Augen schließen und sich an einen der Steinpfeiler, die das Tor säumten, lehnen. Ihre Zähne klapperten wild. Sie holte Luft und schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Erst dachte sie, sie würde zusammenklappen, aber dann ging es besser. Sie stieß sich von dem Pfeiler ab und betrachtete den Zaun. Nicht allzu hoch. Und keine Warnung vor dem Hund. Sie lachte. Wie sollte die Herzlose auch in einem Haus mit Hund wohnen. Die beiden venezianischen Gipslöwen rechts und links auf den Pfeilern, das war die Art von Tier, die so eine liebte.
Kyra biss die Zähne zusammen, fasste die Enden der Eisenstäbe kurz über der obersten Querstange und zog sich hoch. Ihre untrainierten Muskeln zitterten.
Komm, komm, komm. Zum Verrecken war vorhin Zeit.
Irgendwie schaffte sie es, sich über den Zaun zu hieven. Hart landete sie auf der anderen Seite im Kies.
Im Haupthaus war alles dunkel. Ob alles ruhig geblieben war, konnte sie nicht hören, ihr eigenes Blut dröhnte zu laut. Mühsam raffte sie sich auf. Sicher waren die Leute, die vorne im Haus lebten, alt und schwerhörig. In dieser Gegend lebten nur die Reichen, Alten und Schwerhörigen.
Sie hinkte den Kiesweg entlang, der seitlich an der Villa vorbeiführte. Es wurde noch finsterer, als sie hinter das Haus kam. Der große Gründerzeitkasten verdeckte das Licht der Straßenlaternen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die endgültige Dunkelheit gewöhnt hatten.
Dort. Nicht gut zu erkennen, am anderen Ende des Parks. Dort war es. Das Gartenhaus. Auch hier alles dunkel.
Kyra drückte die Klingel und schlug gleichzeitig gegen die Tür. Niemand antwortete. Nirgends wurde Licht angemacht. Sie ging hinter das Haus. Es war klein. Zweistöckig. Die richtige Mischung aus Puppenhaus und Hexenhaus.
Irgendwie schafften es ihre Zähne, gleichzeitig zu klappern und zu knirschen.
Wo steckst du, du Bastard, ich weiß, dass du da drinnen bist.
Sie ging wieder zurück zum Eingang, schneller, der Regen hatte weiter zugenommen, doch das interessierte sie nicht, es konnte nicht sein, dass die da drinnen nicht da war, wo sollte sie sein, wenn nicht da drinnen, es war das richtige Haus, das spürte sie, spürte sie ganz deutlich -
Sie wusste nicht, wie der Stock in ihre Hand gekommen war. Die Fensterscheibe zu ihrer Rechten zersplitterte. Sie erstarrte. Kein Lebenszeichen im Haus. Sie lachte auf. Wie konnte sie von der Herzlosen auch ein Lebenszeichen erwarten.
Sie entfernte so viel von der Fensterscheibe, dass sie zum Griff hindurchfassen konnte, ohne sich die Pulsadern aufzuschneiden. Der Griff ließ sich mühelos drehen.
Der dunkle Raum, in den sie kletterte, musste die Küche sein. Auf sonderbare Weise war es hier drinnen heller als draußen. Und kälter. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, weil sie endlich im Trockenen stand. Für einige Sekunden überließ sie sich dem Zittern, das aus ihrem Brustkorb kam. Plötzlich begriff sie, warum es hier drinnen so hell war. Alles war weiß. Der Steinfußboden, die Wände, die Küchenschränke, sogar die Spüle schien nicht aus Metall, sondern aus weißem Keramik oder Email zu sein. Die Herzlose lebte in einer Schneewittchenhütte.
Komm her, du Bastard! Ich weiß, dass du hier bist.
Sie stützte sich auf den weißen Küchentisch und versuchte, ruhig zu atmen. Irgendwo glaubte sie, ein leises Rascheln zu hören. Winzige Füßchen, die über den Steinfußboden rannten. Die sieben Zwerge, die loseilten, um ihre Geliebte, die im Glassarg schlief, zu warnen.
Kyra schälte sich aus der nassen Lederjacke und ließ sie zu Boden fallen. Der Anblick des dunklen Haufens auf dem makellosen weißen Boden verschaffte ihr Genugtuung.
Die Küchentür stand offen. Bei jedem Schritt, den sie machte, quietschten ihre Füße in den durchweichten Schuhen. Sie kam in einen kleinen Flur. Rechts führte eine enge Treppe nach oben, links war die Eingangstür, geradeaus gab es eine zweite Tür, die verschlossen war. Auch hier: alles weiß. Ihr Herz schlug schneller. Langsam drückte sie die Klinke zu dem Raum.
Es war ein Wohnzimmer. Genau genommen war es ein Raum, der einmal ein Wohnzimmer gewesen war. Jetzt war er ein Lager, in dem alte Polstermöbel wild aufeinandergehäuft waren. Kyra begriff. Die Herzlose hatte das Gartenhaus möbliert gemietet. Und hatte alle unweißen Möbel in einen Raum geschafft.
Kyra zuckte zusammen. Irgendwo hinter ihr, über ihr hatte es ein Geräusch gegeben.
Sie schloss die Tür zum Möbellager. In diesem Raum würde sie nichts und niemanden finden. Dieser Raum gehörte nicht zum Reich der Herzlosen.
Wieder hörte sie das Geräusch. Es musste aus dem oberen Stockwerk kommen. Noch immer hatte sie kein Licht gemacht. Im Dunkeln stieg sie die schmalen Stufen hinauf. Trotz des Weiß war es jetzt so finster geworden, dass sie die eigene Hand nicht sehen konnte, mit der sie sich am Geländer hochtastete. Jede Stufe ächzte anders. Es wunderte sie, dass die Herzlose nichts dagegen unternommen hatte. Ihre Ohren schienen weniger reizempfindlich als ihre Augen zu sein.
Kyra spürte einen Luftzug. Sie blieb stehen. Langsam begannen ihre Augen wieder zu sehen, sie näherte sich dem Ende der Treppe. Oben war ein kleines quadratisches Fenster. Vor dem sich ein Schatten abzeichnete. Eine Blumenvase? Nein. Es wäre eine sehr merkwürdige Form gewesen. Außerdem hatte sie das absurde Gefühl, dass dieser Schatten sie anstarrte. Jede ihrer hilflosen Bewegungen beobachtete. Da war jemand.
Sie blieb stehen. Ihr Puls raste. Der Schatten spürte ihre Angst, krächzte böse, kek-kek-kek, sprang auf, sprang ihr ins Gesicht, sie schlug um sich, traf nur die Luft, die das Ding aufgewühlt hatte, es krächzte, sie schrie und schrie gleich noch einmal, als sie ihren eigenen Schrei hörte.
Was war das?
Obwohl sie es nicht mehr sehen konnte, spürte sie, dass es jetzt am Fuße der Treppe saß und sie weiter anstarrte. Sie hörte ein Fauchen, wie sie es noch nie gehört hatte. Und dann wieder dieses kek-kek-kek. Ein Vogel. Es musste ein Vogel sein. Die Herzlose lebte mit einer gottverdammten Eule zusammen.
Ihre Nerven lagen blank wie im Anatomieatlas. »Du elender Bastard, wo steckst du?«
Ihre Stimme klang erbärmlich. Die Eule keckerte weiter.
Wut trieb sie die restlichen Treppenstufen hinauf. Ohne zu zögern, stieß sie die Tür auf.
Das Zimmer war leer. Das heißt: Sie sah nichts außer einem flachen weißen Quader. Es musste ein Bett sein. Ihre Wut nahm zu.
»Komm her! Komm endlich her!«
Ihre Stimme schnappte über.
Sie erschrak. Dort drüben hatte sich ein Schatten bewegt. Da. Wieder. Sie ging näher heran. Und erblickte sich selbst. Im Spiegel der Herzlosen. Ihr Gesicht fast so bleich wie die restliche Zelle. Ihr schauderte.
Der Raum war karg möbliert. Außer dem Bett gab es zwei Leuchter, den Spiegel und darunter eine Kommode. Die Kommode hatte hinten, wo sie an die Wand stieß, ein erhöhtes Bord. Auf dem Bord lag ein Streifen weißer Satin. Und auf dem Satin standen vier Einmachgläser. Etwas schwamm in den Gläsern. Etwas Helles. Rundes. Das eine weich gewundene Struktur hatte.
Kyra ging noch näher heran. Alle vier Gläser hatten Etiketten. Sie konnte immer noch nicht erkennen, was darin eingelegt war. Sie griff in ihre Hosentasche. Beim dritten Versuch flammte das nasse Feuerzeug endlich auf. Sie hielt es dicht an das Glas, das ganz rechts stand.
»Franz«, las sie in feiner Schreibschrift. Franz.
 
Es waren einmal vier Männer, die hießen Robert, Kurt, Gustav und Franz und hatten ihre Köpfe verloren.
Es war einmal ein Mädchen, das hieß Nike und sammelte Hirne in Einmachgläsern.
Es war einmal eine Frau, die hieß Kyra und stand im Schlafzimmer des Mädchens und zitterte.
 
Sie schrie. Sie stolperte rückwärts. Sie stieß gegen das Bett, fiel nach hinten, auf die Laken, auf denen die Herzlose getrieben hatte, was immer sie getrieben hatte, wälzte sich hin und her, brüllte, trat die beiden Leuchter um, der Krach tat gut, sie sprang auf, rannte zur Tür hinaus, sie musste etwas finden, das noch mehr Krach machte, sie kam in ein anderes Zimmer, dort stand ein Schreibtisch, ordentlich wie am ersten Tag, sie packte ihn und warf ihn um, Lärm, Lärm, mehr Lärm, es war nicht genug, sie ging zu den Regalen, rüttelte und schüttelte, bis ein Bücherregen auf sie niederging, dicke Schwarten, dünne Hefte, Ordner, alles stürzt, aber immer noch nicht genug Vernichtung, dort eine Tür, sie springt hin, Kleider, Legionen weißer Kleider auf weißen Bügeln, sie zerrt und reißt, trampelt durch das streng paarweise stehende Schuhregiment, bis auch dort nichts mehr in Ordnung ist, die Bettwäsche liegt linealvermessen in den Schüben, raus damit, Schluss damit, Verwüstung, Verwüstung!
Schwer atmend lehnte sich Kyra gegen die Wand. Sie fühlte sich besser jetzt. Konnte wieder klar denken.
Der Vogel war ausgeflogen, nach der letzten Tat davongeflattert. Aber wohin? Eine wie die Herzlose hatte keine Freunde, die sie versteckten. Eine wie die Herzlose hatte niemanden auf der Welt. Niemanden außer -
Kyra ließ ihren Blick über das Chaos kreisen. Bis sie den sorgfältig beschrifteten Ordner gefunden hatte.
 
»Bringen Sie mich in den Odenwald.«
Der Taxifahrer schaute sie argwöhnisch an. »Sind Sie besoffen?«
»Hier, sehen Sie, ich habe tausend Mark in bar. Wenn Ihnen das nicht reicht, nehmen Sie meinen Personalausweis als Sicherheit.«
»Mit Junkies will ich nix zu tun haben.«
Der Taxifahrer kurbelte sein Fenster hoch und gab Gas.
»Du verdammter Wichser!« Mit gerecktem Mittelfinger rannte Kyra ihm einige Meter hinterher. Ihr Brustkorb begann wieder zu schmerzen. Die Schmerzen waren erst wieder da, seitdem sie das Geisterhaus verlassen hatte. Nein, das stimmte nicht. Sie waren auch dort die ganze Zeit da gewesen, nur hatte sie sie nicht gespürt.
Kyra stopfte die tausend Mark, die sie am Bankautomaten gezogen hatte, in ihre Hosentasche und humpelte an den Rinnstein zurück.
Es regnete nicht mehr so stark wie vorhin. Aber nass war sie ohnehin. Sie hatte ihre Lederjacke in der Küche der Herzlosen liegen lassen.
In der Kurve tauchte das nächste Taxi auf.
Sie sprang auf die Straße und wedelte mit der Deutschlandkarte, die sie an der Tankstelle gekauft hatte. Das Taxi bremste scharf. Kyra riss die Beifahrertür auf.
»Ich muss nach Amorbach«, sagte sie.
»Amobach«, fragte der indische Fahrer mit dem Turban so freundlich wie ratlos. »Miss gehen nicht gut?«
»Doch, doch.« Kyra öffnete die hintere Tür und ließ sich auf den Rücksitz fallen. »Keine Angst, ich kotze Ihnen nicht die Sitze voll. Fahren Sie mich nur nach Amorbach. Ich sag Ihnen, wos langgeht.«
 
»Miss? Miss?«
Kyra schreckte aus dem wirren Halbschlaf, in den sie kurz hinter Berlin gesunken war, hoch.
»Ja?«
Sie hatte von ihren gebrochenen Rippen geträumt. Die Knochen hatten die Brust durchstoßen und ins Freie geragt. Es hatte nicht wehgetan.
»Noch weit?« Der Fahrer äugte besorgt in den Rückspiegel.
Sie schaute hinaus. Nacht. Wald. »Wo sind wir?«
»Autobahn 9«, sagte er. »Sie gesagt, ich soll fahren Autobahn 9.«
»Ja, aber ja«, murmelte sie beschwichtigend, »Sie haben alles richtig gemacht.«
Sie wedelte mit den zehn nassen Scheinen, sodass er sie im Spiegel sehen konnte.
»Das gehört alles Ihnen. Fahren Sie nur weiter.«
Die Nacht wurde blau, dann rot, dann gelb, dann kamen sie in den Odenwald. Kyra rieb sich die Augen und schaute aus dem Fenster: Erlenbach, Klingenberg, Kleinheubach. Was für schöne Ortsnamen. Einen Moment überließ sie sich der glücklichen Fantasie, sie wäre fünf, der Mann da vorne mit dem Turban ihr Vater, und sie wären die ganze Nacht nur durchgefahren, damit sie am frühen Morgen ihr Ferienziel erreichten. Papi, Papi, hast du die Sandförmchen eingepackt?
Kyra strich den durchweichten, wieder getrockneten und zerknitterten Meldezettel glatt, den sie im Haus der Herzlosen gefunden hatte. Während der ganzen Fahrt hatte sie ihn in ihrer Faust gehalten. Die Schrift auf dem dünnen, gelben Durchschlagpapier war kaum zu erkennen. »Höhenstraße« entzifferte sie. Höhenstraße 5.
Als sie endlich den Ortseingang von Amorbach erreichten, kurbelte sie ihr Fenster herunter. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie die frische Morgenluft hätte genießen können. Sie fragte eine Passantin mit Kinderwagen nach der Adresse. Die Passantin schaute argwöhnisch zwischen ihr, dem Mann mit dem Turban und dem Taxi mit dem Berliner Kennzeichen hin und her, bevor sie den Weg erklärte. Wahrscheinlich glaubte sie, dass der Mann Kyra entführt hatte.
Statt eines Dankeschöns nickte Kyra nur stumm mit dem Kopf. Wahrscheinlich glaubte die Frau jetzt noch mehr, dass sie gekidnappt war, und würde die Polizei informieren.
Das Taxameter war schon vor einer ganzen Weile bei DM 999,90 hängen geblieben. Kyra dirigierte den Fahrer um die letzten kostenlosen Ecken. Auch er schien einen Zustand der Erschöpfung erreicht zu haben, der Sprechen nicht mehr zuließ. Er blickte Kyra aus seinen geröteten, vor Müdigkeit tränenden Augen an, als sie ihm auf die Schulter klopfte und sagte, er solle anhalten.
Wortlos reichte sie ihm die zehn Hundert-Mark-Scheine. Er nahm das Geld, sie warf die Deutschlandkarte auf den Beifahrersitz und stieg aus.
 
Kyra war enttäuscht. Sie wusste nicht, wie sie sich den ersten Wohnsitz der Herzlosen vorgestellt hatte, aber so gewiss nicht. Es war ein Haus, wie Kinder es malen, wenn man ihnen »Haus!« sagt. Ein schmuckloser, zweigeschossiger Quader mit vier Fenstern nach vorn und einem roten Giebeldach darüber. Blassgelb. Eingang rechts an der Seite. Drumherum bescheidenes Grün. Kein Quadratzentimeter mehr als nötig. Kein grüßender Gartenzwerg. Alles belanglos. Banal.
Das niedrige Gartentor ließ sich von innen öffnen. »Schröder« stand in Messing eingraviert neben der Klingel. Kyra drehte den Knauf und ging über den gepflasterten Weg zum Eingang. Fünf Stufen zur Tür hinauf. Sie donnerte mit der Faust gegen das Holz. Klingeln schien ihr die verkehrte Einleitung zu sein. Sie donnerte einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Fünfmal. Sechsmal. Sie trommelte mit beiden Fäusten.
Nach einer mittleren Ewigkeit wurden hinter der Tür Geräusche laut.
»Wer ist da?«, fragte eine dünne Stimme. Ob männlich oder weiblich, war unmöglich auszumachen. Alt in jedem Fall.
»Machen Sie auf, ich weiß, dass dieser kranke Bastard bei Ihnen ist.« Kyra wunderte sich, woher ihre Stimmbänder das Schreien nahmen.
Auf der anderen Seite der Tür gab es eine längere Pause.
»Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei.«
Kyra lachte. »Polizei ist gut. Polizei ist eine großartige Idee. Fragen Sie mal Nike, was die davon hält.«
Pause zwei.
»Verschwinden Sie. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Zur Abwechslung begann Kyra wieder, mit beiden Fäusten gegen die Tür zu trommeln. In den Küchenvorhängen des Nachbarhauses gab es eine sanfte Bewegung.
»Lassen Sie mich jetzt rein, oder ich mache so lange Krach, bis die Polizei wirklich kommt«, rief Kyra. »Die Bullen in Berlin warten nur darauf, Nike hochzunehmen.«
Die massive Holztür öffnete sich einen Spalt.
»Was wollen Sie?«, fragte die Stimme, die Kyra jetzt als männliche Greisenstimme identifizieren konnte.
Scheiße. Was zum Henker sollte sie mit dem Großvater anfangen. Aber egal. Sie musste da rein. Und wenn es der elende Urgroßonkel war.
»Öffnen Sie die Tür. Ich weiß, dass Nike da drinnen ist.«
»Nike ist nicht hier. Nike ist in Berlin.«
»Irrtum.«
»Gehen Sie weg.«
»Lassen Sie mich rein.«
»Ich sagte Ihnen doch bereits, Nike ist nicht hier.«
Mit restlicher Kraft warf sich Kyra gegen die Tür. Irgendetwas krachte, noch mehr Rippen oder bloß Holz? Kyra schrie, der alte Mann hinter der Tür schrie, die Tür flog auf, Kyra flog in den Raum, flog über ein Hindernis und landete auf dem Boden.
Der Großvater, den sie samt Tür hinweggefegt hatte, lag ebenfalls am Boden. Neben ihm ein umgekippter Rollstuhl, dessen Räder sich sinnlos in der Luft drehten. Der weißhaarige Mann musste mindestens achtzig sein.
Es tat Kyra Leid, einen unschuldigen Greis aus seinem Rollstuhl geworfen zu haben, aber sie hatte jetzt keine Zeit für Pfadfindergeplänkel. Das Einzige, was sie hier finden und erledigen wollte, war dieser kranke Bastard.
»Komm her«, brüllte sie ins Haus hinein. »Ich weiß, dass du hier bist.«
Der Greis am Boden wimmerte. »Hilfe, Sie sind ja wahnsinnig, so helfen Sie mir doch.«
Kyra drehte sich zu ihm zurück. Er war nicht nur über achtzig. Er hockte nicht nur im Rollstuhl. Wie sie jetzt sah, war er auch noch blind. Zwei trübe Augen starrten an ihr vorbei. Die schwarze Brille hing ihm quer übers Gesicht.
»Ist Nike Ihre Enkeltochter? Sagen Sie mir, wo sie ist, dann helfe ich Ihnen.«
»Ich habe keine Enkeltochter.« Seine Stimme wurde fester.
»Was weiß ich, dann ist dieser verdammte Bastard halt Ihre Urgroßnichte.«
»Wagen Sie es nicht, in diesen Worten von Nike zu sprechen.« Er bebte am ganzen Körper. »Reden Sie nie wieder in diesen Worten von meiner Tochter.«
 
Kyra starrte den Greis mit offenem Mund an. Dann begann sie zu lachen, dass die Rippen in ihrem Brustkorb krachten.
»Hören Sie auf!« Der Methusalem herrschte sie an, als ob er schon vor zweitausend Jahren lachende Frauen angeherrscht hätte.
Sie beruhigte sich wieder. »Ich bin nicht hergekommen, um mich verarschen zu lassen.«
»Hören Sie auf, so zu reden, ich dulde in meinem Haus keine solche Sprache.« Er rückte die Blindenbrille auf seiner Nase zurecht.
»Ah. Dann waren Sie das, der Ihrer Tochter dieses gewählte Sprechen beigebracht hat.«
»Jawohl. Ich habe Nike erzogen.« Stolz lag in seiner Stimme. »Nike ist mein Werk. Alles, was sie ist, verdankt sie mir.«
»Da kann ich nur gratulieren.«
In einem Kraftakt war es dem Alten gelungen, sich aufzusetzen. Schnaufend lehnte er mit dem Rücken am Rollstuhl. Die schwarzen Gläser richteten sich auf Kyra. »Verlassen Sie mein Haus.«
»Das werde ich nicht.«
»Gehen Sie. Aus Ihnen spricht dieselbe Dummheit und Brutalität, die überall auf dieser Welt herrscht. Die Ignoranz, vor der ich Nike immer bewahrt habe.«
Kyra musste schon wieder lachen. »Ich bin brutal? Soll ich Ihnen mal erzählen, was Ihre edle Tochter die letzten Wochen in Berlin so alles getrieben hat?«
»Schweigen Sie still. Leute wie Sie werden niemals begreifen.«
»Was begreifen?«
»Dass Nike etwas ganz und gar Besonderes ist. Etwas absolut Kostbares.« Sein Atem hatte sich beruhigt. »Helfen Sie mir in den Stuhl. Dann werde ich Ihnen erzählen.«
Kyra dachte eine Sekunde nach. Die Vorstellung, diesen despotischen Greis anzufassen, ekelte sie, aber die Neugier war stärker. Sie stand auf, ging zu dem Rollstuhl, stellte ihn auf die Räder, trat hinter den Alten, bückte sich, schob ihre Arme unter seinen Achseln hindurch und hievte ihn hoch. Beinahe hätte sie ihn fallen lassen, so stark wurden die Schmerzen in ihrer Brust. Sie biss die Zähne aufeinander und machte weiter. Als sie ihn endlich abgesetzt hatte, schleppte sie sich selbst zu einem der Sessel, die in dem Wohnraum standen. Der Schweiß lief ihr über die Stirn. Gut, dass der Alte sie nicht sehen konnte.
»Jetzt erzählen Sie.«
Er fingerte nach der karierten Wolldecke, die halb um seine Knöchel gewickelt war, halb zu seinen Füßen lag.
Kyra würde nicht noch einmal aufstehen.
Er ließ die Decke sein und setzte sich gerade. Wieder suchten die schwarzen Gläser ihre Richtung.
»Ich war Lehrer«, begann er. »Vierzig Jahre lang habe ich Latein und Griechisch unterrichtet. Habe ich Tausende von Schülern studieren können. Bis ich begriff, warum aus ihnen keine echten Menschen werden konnten, sondern nur solch armselige Geschöpfe, wie sie unseren ganzen Planeten überbevölkern.« Er richtete sich noch gerader auf. »Ich habe Nike gezeugt und erzogen, um zu beweisen, dass es ihn geben kann, den perfekten Menschen.«
»Ach so?« Kyra blinzelte. »Wir reden hier über den perfekten Menschen?«
»Jawohl. Das tun wir«, sagte er triumphal. »Nike ist der ideale Mensch. Gebildet. Rational. Von keiner Leidenschaft, von keinem Trieb verwirrt. Stets nach dem Höchsten strebend. Unerbittlich gegen sich selbst. Frei -«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
Er ignorierte Kyras Einwurf. »Nur aus Selbstperfektion kann Freiheit entstehen«, dozierte er weiter. »Der freie Mensch ist der, der erkennt, wie erbärmlich sein kreatürliches Menschsein ist. Und der sich nicht in die Erbärmlichkeit fügt, wie alle es tun, um sich dann auch noch Humanist zu schimpfen. Der wahre Humanist ist der, der sein Leben lang darum kämpft, den Menschen in sich zu überwinden.«
Kyra grinste. »Dann ist Nike allerdings eine der größten Humanistinnen, die jemals frei herumgelaufen sind.«
»Alles auf dieser Welt ist Erziehung. Von der ersten Sekunde an. Das ist es, was keiner mehr begreifen will.« Kämpferisch schüttelte er die greise Faust. »Ich habe es an meinen Schülern studieren können. Wenn sie zu mir in die Klasse kamen, waren die meisten von ihnen schon ganz und gar verdorben. Allen voran die Jungen. Diese einfältigen Eltern, die sie haben groß werden lassen in dem Glauben, es sei an sich schon ein Wert, ein Junge zu sein.« Er lachte auf. »Wie soll man solch ein eitles Geschöpf noch dazu bringen, dass es erkennt, dass es seinen Wert erst schaffen muss.« Er stach in die Luft. Und fiel in einen sachlichen Tonfall zurück. »Einige wenige gab es natürlich immer, die verständigere Eltern hatten, um die war es besser bestellt. Ihnen habe ich mich gewidmet. Mit ihnen habe ich schöne Erfolge erzielt.« Die Erinnerung ließ ihn lächeln. »Aber dann, dann kamen diese Jungen in die Jahre, in denen die Natur erwachte. Die Natur, die in jedem Mann erwacht. Und da musste ich einsehen, von Jahr zu Jahr mehr, was ich schon am eigenen Leib nur allzu schmerzlich erfahren hatte: Ein Mann wird sich der Natur niemals ganz entreißen lassen. Die Natur ist zu mächtig in ihm.«
Kyra konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
Die buschigen Augenbrauen, die sich über der schwarzen Brille wölbten, zuckten. »Ich war verzweifelt. Die ganze Menschheit wollte ich in den Orkus schicken. Aber dann kam mir ein Gedanke.«
Verwundert beobachtete Kyra, wie das faltige Gesicht aufblühte.
»Die Mädchen, die ich in der Schule unterrichtete, machten in jenen Jahren viel geringere Veränderungen durch. Die Natur wirkte viel schwächer in ihnen. Mit ihnen hatte ich mich nie beschäftigt, da sie im Allgemeinen ohne geistigen Ehrgeiz zu mir kamen. Aber zum Geistigen konnte man sie erziehen, wenn man rechtzeitig damit begann. Das gab mir die Hoffnung: Vielleicht konnte es doch noch ein Geschöpf geben, das den Gipfel der Vollkommenheit jemals erreichen würde: die perfekt erzogene Frau.«
Er machte eine große Pause, um das Gesagte wirken zu lassen.
»Ich habe gewartet, bis ich in den Ruhestand versetzt wurde, damit ich dem Werk meine ganze Aufmerksamkeit widmen konnte.«
Kyra runzelte die Stirn. Ohne dass sie es gemerkt hatte, war sie an die vorderste Sesselkante gerückt. »Und in welchem Labor haben Sie sich Ihr Werk züchten lassen?«
»Labor.« Er schnaufte abfällig. »Ich habe Anzeigen aufgegeben. Viele Frauen haben sich bei mir gemeldet, die bereit waren, das Gefäß zu sein, in dem meine Tochter heranwachsen würde. Natürlich habe ich ihnen viel Geld angeboten. Und dennoch war es schwierig, die Richtige zu finden. Wie Sie ja bereits wissen, halte ich nichts von der Natur und von all diesem Gerede über Gene, aber gerade deshalb war es wichtig, eine Frau zu finden, die nicht schon von Natur verdorben war.«
»Sie haben eine Frau dafür bezahlt, sich von Ihnen schwängern zu lassen?«
Er wischte ihre Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. »Selbstverständlich kam nur eine Frau in Betracht, bei der ich sicher sein konnte, dass sie später keine Schwierigkeiten machen und Anspruch auf mein Kind erheben würde. Schließlich fand ich ein einfaches Mädchen aus Griechenland. Farblos. Unverdorben. Unverbildet. Das ideale Gefäß. Ich ließ sie hierher bringen.« Er räusperte sich. »Die erste Schwangerschaft war ein Junge. Ich habe sie ins Krankenhaus geschickt. Doch schon beim zweiten Versuch ist es geglückt. Nike entstand.« Er lehnte sich ein wenig zurück. Und faltete die knotigen Hände im Schoß.
»Unmittelbar nach der Geburt wurde Nike an eine Amme übergeben. Das griechische Mädchen bekam sein Geld und kehrte in sein Dorf zurück. Die ersten Monate waren die schwierigsten. Es war nicht leicht, überhaupt eine Amme zu finden, die ich mit Nikes Pflege betrauen konnte. Und dann musste ich jeden Monat eine neue suchen. Keine durfte länger als vier Wochen in Nikes Nähe bleiben. Jede engere Bindung an eine dieser Frauen hätte Nike für immer verdorben.« Er redete sich in neue Begeisterung hinein. »Als Nike drei wurde, konnte ich mein eigentliches Werk beginnen. Nike war reif für die geistige Erziehung. Mit Griechisch haben wir angefangen, Griechisch ist die Grundlage von allem. Als Nike fünf war, sprach sie diese Sprache fließend, mit sieben konnte sie Homer lesen. Dann folgte Latein, Seneca, Horaz, Vergil. Mit acht kannte sie sich aus in der gesamten antiken Kunst, Literatur und Geschichte.«
»Und warum hat sie dann kein Abitur gemacht?« Die Merkwürdigkeit, über die sie in den Bewerbungsunterlagen gestolpert war, fiel Kyra plötzlich wieder ein.
Der welke Mund krümmte sich vor Verachtung. »Selbstverständlich habe ich Nike nie auf eine Schule geschickt. Ich war lange genug im Lehramt tätig, um zu wissen, was für Anstalten des Verderbens unsere modernen Schulen sind. Ich habe beim Ministerium einen Sonderantrag gestellt. Und sie haben mir die Berechtigung, Nike selbst zu erziehen, erteilt.« Seine Züge wurden wieder sanfter. »Wir sind gereist, viel gereist. Monatelang durch ganz Griechenland, Italien, wir haben ein halbes Jahr in Sizilien gelebt, wir waren in Kleinasien -«
»Ich glaube, das nennt man heute Türkei.«
Er ruckte ärgerlich mit dem Kopf. »Von Monat zu Monat konnte ich verfolgen, wie Nike sich weiterentwickelte, wie sie immer perfekter wurde.«
»Und was haben Sie mit ihr angestellt, als sie in diese bestimmten Jahre kam? In denen die Natur erwacht?«
Er legte den Kopf in den Nacken. Wahrscheinlich hatte er die Augen geschlossen. Aber das konnte Kyra hinter den schwarzen Gläsern nicht sehen.
»Es war die Phase in meinem Experiment, die ich am meisten gefürchtet hatte. Würde ich sie verlieren, oder würde es mir gelingen, sie der Natur zu entreißen?« Die Gläser hefteten sich wieder auf Kyra. »Ich verfolgte ihre körperliche Entwicklung genau. Von Anfang an hatte ich Nike einer strengen Leibeserziehung unterworfen. Da ich begriffen hatte, dass man den Körper niemals unterschätzen darf. Er kann diese schwierige Zeit nur meistern, wenn er vom ersten Augenblick an gelernt hat, sich dem Geist zu unterwerfen.«
Kyra war aufgestanden. Der Raum begann sich zu drehen. Sie konnte nicht sagen, ob es die Schmerzen oder das Gehörte waren, was den Schwindel verursachte. Mit beiden Händen fasste sie sich an die Schläfen.
»Eins verstehe ich nicht. Warum haben Sie Nike nach Berlin gehen lassen, wenn Ihre Vater-Tochter-Zweisamkeit so perfekt war.«
»Nike musste fort von mir. Sie war alt genug, der Welt zu begegnen. Ich habe sie zum Studieren nach Berlin geschickt. Nicht, weil sie dort noch etwas lernen könnte. Aber sie musste sich an der Welt beweisen. Mein Experiment konnte nur erfolgreich sein, wenn es mir gelungen war, sie so stark zu machen, dass die Welt sie mir nicht mehr verderben konnte. - Und die Welt musste sehen, was für eine einzigartige Frau ich geschaffen habe«, fügte er stolz hinzu.
Kyra nickte. Sie ging langsam im Zimmer auf und ab. »Ja. Ja. Ich glaube, das hat die Welt gesehen. Wenn auch ein bisschen anders, als Sie sich das vorgestellt haben.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Die schwarzen Gläser schnellten dorthin, wo sie ihren letzten Satz gesprochen hatte.
»Ich fürchte, Ihr Erziehungsprogramm hatte ein paar unerwünschte Nebenwirkungen.«
Die Gläser folgten ihr. »Die Erziehung, die ich Nike habe angedeihen lassen, war perfekt«, schnarrte der Greis. »Sie war das zwingende Resultat von vierzig Jahren Studien und Erfahrung. Ich habe alles bedacht. Es war die beste Erziehung, die ein menschliches Wesen jemals genossen hat.«
Kyra blieb stehen. »Männern die Köpfe abschlagen und Hirne in Einmachgläsern sammeln - war das auch Teil dieser besten Erziehung?«
»Was reden Sie da!« Sein Kopf begann zu zittern.
»Lesen Sie keine Zeitung?« Zu spät fiel Kyra ein, dass diese Frage sinnlos war. »Hören Sie keine Nachrichten?«
»Selbstverständlich nicht. Hier gibt es kein Radio. Keinen Fernseher. Der Schmutz der Welt dringt in dieses Haus nicht ein.« Er zitterte heftiger.
»Dann haben Sie also wirklich keine Ahnung davon, dass in den letzten Wochen in Berlin vier Männer geköpft wurden? Und dass sich die Hirne dieser Männer im Schlafzimmer Ihrer einzigartigen Tochter befinden?«
»Halten Sie den Mund. Versündigen Sie sich nicht an Nike.«
Kyra packte ihn am Revers seiner grauen Strickjacke. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Ich weiß nicht, wo Sie diesen Bastard versteckt haben, aber ich schlage vor, dass Sie ihn auf der Stelle herrufen. Vielleicht kann Nike Ihnen ja selbst erklären, warum sie Hirne in Einmachgläsern sammelt.«
»Lassen Sie mich los.« Er wand sich unter ihrem Griff. »Sie sind abartig.«
Kyra schüttelte ihn. »Ich? Ich bin abartig?«
»Nike ist gut. Nike ist rein. Ich habe alles richtig gemacht. Meine Erziehung war perfekt.« Er schnappte nach Luft.
»Ihre Erziehung war ein Scheißdreck«, brüllte Kyra gegen sein Röcheln an. »Ihr Experiment ist schief gegangen. Gründlich. Was Sie sich da herangezüchtet haben, ist keine niedliche kleine Göttin auf Menschenbeinen. Das ist Frankensteins Tochter.«
»Sie sind krank. Sie sind krank.« Was er sagte, war kaum noch zu verstehen, so heftig sog er zwischen jeder Silbe die Luft ein. »Verschwinden Sie. Lassen Sie uns in Frieden.«
»Wo ist sie?«
»Gehen Sie weg«, keuchte er. »Gehen Sie weg. Sie werden es bereuen, wenn Sie nicht gehen.« Sein magerer Leib bog sich von den Fußspitzen bis zum Hals. Er stürzte aus dem Rollstuhl. Er fasste sich ans Herz. Die schwarze Brille rutschte von seiner Nase.
»Wo steckt Ihre verdammte Tochter!«
»Ein großes Unglück wird über Sie kommen. Gehen Sie. Gehen Sie. Ich sehe es voraus.«
 
Kyra schlug die Augen auf. Ihr Schädel klingelte. Als ob der Milchmann da wäre. Oder der Weihnachtsmann. Der Weihnachtsmann, der ihr seine Rute über den Kopf gehauen hatte. Sie ließ die Lider herunterfallen.
War sie zu Hause? Nein. So viel hatte sie gesehen. Der Raum war weiß. Sie hatte Fenster mit weißen Vorhängen gesehen. Einen weißen Schrank. Und einen weißen Schreibtisch. Das Bett, in dem sie lag, war furchtbar schmal. Sie kicherte. Ich seh etwas, was du nicht siehst. Vielleicht war sie auf einem Kindergeburtstag.
Von irgendwoher hörte sie ein schleifendes Geräusch.
Sie öffnete nochmals die Augen. Kurz. Der Blick durch die weißen Vorhänge sagte ihr nichts. Irgendeine Häuserwand. Komm schon, gib mir noch nen Tipp.
Rechts von ihr war eine Wand. An der Wand hing ein Bild. Auf dem Bild waren zwei Tempel zu sehen. Griechische Tempel -
»Warum haben Sie meinen Vater getötet?«
Kyra stieß einen Schrei aus. Sie warf den Kopf herum. In die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Auf einem Stuhl vor einer Spiegelkommode saß sie. Die Herzlose. Mit dem Rücken zu ihr. Im ersten Moment hätte Kyra sie fast nicht wiedererkannt. Ihre Haare waren kupferrot. Nackenlang.
»Du - du«, stammelte Kyra, »wieso hast du dir die Haare gefärbt?«
Die andere schwieg. Nichts außer dem schabenden Geräusch.
Kyra wollte sich aufsetzen. Erst jetzt merkte sie, dass sie ans Bett gefesselt war. Mit Händen und Füßen. Wütend zerrte sie an den Ketten.
»Was soll das? Mach mich sofort los.«
Die andere schwieg. Nur das Geräusch.
»Bist du taub? Du sollst mich losmachen, du kranker Bastard.«
»Warum haben Sie das getan?« Die Stimme der anderen war ruhig. Furchtbar ruhig.
Plötzlich erkannte Kyra das Geräusch. Das Geräusch, das sie viel früher hätte erkennen müssen. Es ist ein Schnitter, heißt der Tod. Klinge auf Wetzstahl. Das einzige Lied, das ihr die Mutter vorgesungen hatte. In ihren Ohren begann es zu sausen.
»Was tust du da?«
»Es war ein großes Unrecht, das Sie begangen haben.«
»Ich habe gar nichts begangen. Mach mich los.«
»Sie haben meinen Vater getötet.«
»Ich habe deinen Vater nicht getötet.«
»Er ist tot. Durch Ihre Schuld.«
Kyra schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Aus. Aus. Aus. »Nike. Es tut mir Leid, dass dein Vater tot ist. Aber ich kann nichts dafür. Er war sehr alt. Er hätte viel früher sterben können.«
»Er ist jetzt gestorben. Es ist Ihre Schuld.«
»Nike. Er war wahnsinnig. Sei froh, dass er tot ist.«
»Sprechen Sie nicht so von meinem Vater.« Zum ersten Mal wurde die Stimme böse.
»Es ist krank, was er mit dir gemacht hat.«
Langsam drehte sich Nike auf ihrem Stuhl um. Sie war schön mit dem kupferroten Pagenschnitt. Mit dem transparenten weißen Chiffonkleid. Mit dem langen Messer in ihrem Schoß. »Haben Sie mir nicht von Ihrer Mutter erzählt? Ich dachte, Sie würden mehr verstehen.« Es klang enttäuscht.
Kyra begann zu zittern. »Meine Mutter war vollkommen anders. Meine Mutter hat mich nicht zu einem so kaputten Geschöpf gemacht, das - das -« Sie verstummte. In ihrem Kopf tauchten Bilder auf. Bilder von Franz. An alles konnte sie sich erinnern. An alles.
»Warum hast du es getan?«, fragte sie heiser.
»Was?« Die andere wetzte das Messer.
»Den Männern die Köpfe abgehackt. Ihre Hirne gesammelt.«
»Ich habe ihnen geholfen. Sie waren nicht glücklich. Sie hatten alle gute Hirne. Aber sie waren nicht kalt genug. Sie waren verfleischt. Ich musste sie von ihrem Fleisch befreien, damit ihre Hirne leben konnten.«
Kyra rang sich ein kurzes Lachen ab. »In Einmachgläsern?«
Nike fuhr herum. Ihre Augen funkelten zornig.
»Ich war bei dir zu Hause. Ich habe alles gesehen«, sagte Kyra. Es gelang ihr, ruhig zu bleiben. »Sind es nur diese vier? Oder gibt es noch mehr?«
Nike schaute sie an, als ob sie die Frage nicht verstanden hätte.
»War Robert Konrad der Erste, den du umgebracht hast?«
Die Kleine lächelte. Wie durch einen Schleier hindurch. »Ich habe Robert Konrad nicht umgebracht. Ich habe nichts getan, was er nicht auch gewollt hatte. Wir haben über die Liebe gesprochen. Über die Antike. Und wie schön es sein muss, wenn die Antike und die Liebe zusammenkommen.« Sie verstummte.
»Ich verstehe nicht ganz«, hakte Kyra nach. Solange die Herzlose redete, hörte sie auf, das Messer zu wetzen.
»Robert Konrad wollte, dass wir Antike spielen.«
»Antike spielen?«
»Ja. Aber er hat nicht verstanden, worum es dabei wirklich geht. Er dachte nur an die schmutzigen Dinge.«
»Du meinst, er hat versucht, dich zu vögeln? Mit Homer auf dem Schoß?«
Nike ruckte ärgerlich mit den Schultern. »Warum reden Sie so? Ich weiß nicht, was Sie mit diesen Wörtern meinen.« Sie zog die Klinge wieder über den Wetzstahl.
Knorpelmesser, schoss es Kyra plötzlich durch den Kopf, die Kleine verwendete ein Knorpelmesser, wie es ihre Mutter beim Leichenaufschneiden verwendet hatte.
Ihr Atem ging schneller. »Hast du ihn umgebracht, weil du nicht wolltest, dass er dir an die Wäsche geht?«
»Er wollte Dinge tun, die nicht gut sind. Ich weiß nicht, was das für Dinge sind, ich weiß nur, dass sie nicht gut sind.« Die Kleine prüfte mit dem Daumen, ob die Klinge bereits scharf genug war. »Es liegt an der Wärme. Schon die Griechen haben gewusst, dass ein Zuviel an Wärme den ganzen Körper in Unordnung bringt. Die Wärme kommt aus dem Herzen, die Kälte aus dem Gehirn. Wenn ein Gehirn zu warm ist, kann es den Körper nicht mehr regieren. Das Gehirn muss kalt sein. Kalt und empfindungslos. Das kälteste Organ, damit es die Hitze des restlichen Körpers bezwingen kann.«
Kyra hatte die Augen wieder geschlossen. In ihrem Kopf war nichts als Schwarz. Und das Schwarz drehte sich. »Warum Franz?«
Es gab eine Pause. »Er war wie die anderen. Am Anfang habe ich geglaubt, er wäre nicht so. Aber dann ist es gewesen wie immer.«
»Nein, verdammt, er war nicht wie die andren.« Kyra riss die Augen auf. Zu spät erinnerte sie sich daran, dass sie gefesselt war. Die Schellen schnitten ihr in die Handgelenke. »Er war der Beste, der mir jemals begegnet ist.«
Die Kleine stand auf. Sie betrachtete sich im Spiegel. »Sie wollten doch auch nicht, dass er Sie anfasst.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es.« Sie lächelte. Traurig. »Aber wir haben jetzt keine Zeit mehr.«
Mit einer einzigen Bewegung streifte sie sich die kupferroten Haare vom Kopf. Was darunter zum Vorschein kam, war nur noch weiß und glatt und rund.
Sie sah Kyra im Spiegel an. »Gucken Sie nicht so entsetzt.« Sie streichelte sich über den kahlen Schädel. »In Wahrheit ist es sehr praktisch, keine Haare zu haben. Man kann Perücken tragen.«
»Du - du - du hattest die ganze Zeit -«
»Sie meinen, ob ich noch nie Haare hatte? Doch. Von drei bis dreizehn hatte ich Haare. Sehr viele Haare. Blonde Haare.«
»Aber wieso...
»Aber wieso, aber wieso«, äffte sie Kyra nach. »Effluvium.« Sie lachte. »So hat es angefangen. Alopecia areata totalis. Können Sie Latein? - Ihr Griechisch ist übrigens grauenvoll.« Sie fasste sich an die Augenlider. »Dann sind mir die Wimpern ausgegangen -«, sie riss sich die geschwungenen Wimpern herunter, »- und dann die Brauen. Bis an meinem ganzen Kopf kein einziges Haar mehr war.« Sie lachte. »Und dann -, sie fasste das weiße Chiffonkleid am Saum und hob es hoch, »- Alopecia areata universalis.« Stolz ließ sie es wieder fallen. »Verlust der gesamten Körperbehaarung.«
Kyra blinzelte. Hatte sie eben dasselbe gesehen, was Franz gesehen hatte, im letzten Augenblick, bevor er gestorben war? Hatte er sterben müssen, weil er der Göttin unters Kleid geschaut hatte?
»Kann man denn nichts gegen diese Krankheit machen?« Zeit. Zeit. Zeit gewinnen.
»Sie verstehen wirklich gar nichts. Das ist keine Krankheit. Das ist eine göttliche Auszeichnung. Genau wie Epilepsie. Die Griechen haben Fallsüchtige als Heilige verehrt. Nur heute sind alle so dumm und sperren sie als Kranke in irgendwelche Häuser ein.«
»Nike. Ich habe nie gesagt, dass du krank bist. Du sollst nicht eingesperrt werden.«
Kyra holte tief Luft. Sie schloss für einen Moment die Augen. Ein letzter Versuch. Eine letzte Chance.
Sie sprach ganz leise. »Ich bewundere dich, Nike. Du bist die Frau, die ich immer gesucht habe. Ich - ich - liebe dich.«
»Was reden Sie da.« Die andere fuhr herum. »Niemand liebt mich. Nur mein Vater hat mich geliebt.«
Kyra sah, wie die Kleine vor dem Spiegel herumhantierte. An ihren Augen. Als ob sie sich Kontaktlinsen einsetzen würde. Damit ich dich besser sehen kann... Kyra warf ihren Kopf auf der Matratze hin und her. »Ich war die ganze Zeit eifersüchtig auf Franz, weil du mit ihm ins Konzert gegangen bist.«
»Ich werde Ihnen zuerst die Kehle durchschneiden. Wenn die Götter es wollen, spüren Sie den Rest nicht mehr.«
»Nike, wir sind viel ähnlicher, als du denkst. Ich verstehe, was du getan hast. Ich verstehe alles.«
»Ich werde Ihre Halsweichteile rundherum einschneiden. Und dann die Knorpelmasse zwischen zwei Wirbeln durchtrennen.«
»Nike, erinnerst du dich noch, wie du nach unserem Besuch in der Rechtsmedizin gesagt hast, ich würde Leichen mögen? Du hattest Recht.«
Panisch verfolgte Kyra aus den Augenwinkeln, wie die andere auf sie zukam. Weiß. Kahl. Mit schwefelgelben Augen. Und dem Messer.
»Nike, tu es nicht«, schrie sie, »wir sind uns doch so ähnlich.« Und zuckte, als sie das Messer an ihrem Hals spürte. »Tu es nicht! Tu es nicht!«
Mit gelbem Blick schaute die andere durch sie hindurch.
»Pallas Athene, die ruhmvolle Göttin, will ich besingen -«
»Nike. Du machst einen furchtbaren Fehler, du -« Kyra brüllte auf. Der erste Schnitt. Luft. Luft. Noch konnte sie atmen. Blut lief an ihrem Hals entlang in den Nacken.
»Eulenäugig, vieles beratend, spröde im Herzen -«
»Du machst dich unglücklich, wenn du mich umbringst.«
»Züchtige Jungfrau, Städtebeschirmerin, mutig zur Abwehr -«
»Du hast nur Männer getötet. Männer, die du retten wolltest. Deren Hirne du retten wolltest. Noch bist du unschuldig. Wenn du mich tötest, verlierst du die Reinheit -«
Der zweite Schnitt. Er wäre tödlich gewesen, hätte das Messer nicht in letzter Sekunde gezögert.
»Der Vater muss gerächt werden.«
»Nein. Der Vater muss gerettet werden.« Das Messer blieb ruhig. Weitermachen. Nicht aufgeben. »Glaub mir. Du kannst deinen Vater retten. Geh zu ihm und rette ihn. Er will nicht, dass du dich seinetwegen befleckst. Du bist seine Tochter. Geh hinunter und rette ihn.«
»Der Vater ist tot.«
»Wenn du ihn rettest, wird er dich retten. Er wartet auf dich. Geh hinunter. Rette ihn. Und du wirst für immer befreit sein.«
Der dritte Schnitt ging tiefer. Kyra schloss die Augen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm zu sterben. Jetzt. Hier. Von dieser Hand. Tonlos bewegte sie die Lippen. »ANDRA MOI ENNEPE, MUSA, POLYTRONPON, HOS MALA POLLA -«
Wenn sie noch gekonnt hätte, hätte sie gelacht. Odyssee. Odyssee. Die furchtbaren Griechen. Jahrelang damit gequält. Wie es plötzlich wieder hochkam.
 
»Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes -«
 
War es ihr Körper, der so zu beben begann? Es wurde still. Sie hörte eine leise ratlose Stimme:
»Vater? Vater? Bist du das?«
Schritte tappten vom Bett weg ins Zimmer hinein.
»Vater? Bist du das? - Vater, wenn du es bist, sprich zu mir.«
Noch einmal die Lippen bewegen. Noch einmal die alten Bildungstrümmer hervorkramen. »ANDRA MOI ENNEPE, MU-SA, POLYTRONPON, HOS MALA POLLA...«
»PLANCHTHE, EPEI TROIES HIERON PTOLIETHRON EPERSE«, kam es andächtig aus der Mitte des Raumes zurück. Kyra hörte, wie die Schritte weitertappten.
»Ja, Vater. So haben wir stets gemeinsam gesprochen. Wie schön das immer war. - Wie? - Du willst, dass ich? - Bitte, Vater, nein, zwing mich nicht, das zu tun.«
Sie schluchzte leise.
»Nein. Nein. Bitte zwing mich nicht, das zu tun. - Ich kann es nicht. Ich will es nicht tun.«
Schluchzen. Schluchzen. Stille.
»Gut - Vater - wenn du es befiehlst - ich werde es tun - alles, was du befiehlst.«
 
Und Nike Schröder ging hinab und trennte das greise Haupt ihres Vaters vom Rumpf und öffnete den Schädel und weinte, als sie die Höhle wiedersah, der sie vor neunzehn Jahren entsprungen war.