I
»Verdammte Scheiße, kannste dem Balg nich mal
ordentlich den Arsch abwischen!«
Kyra Berg drückte die Stopptaste ihres
Aufnahmegeräts und atmete tief durch. Geduld und Ausdauer waren die
Waffen der Journalistin. Aber wenn das so weiterging, konnte sie
sich mit diesem Interview den Arsch abwischen.
Der Krabbler an der Schwelle zur Stubenreinheit
plärrte los, als seine Mutter aufsprang und ihn vom Teppich
pflückte.
Sie blickte Kyra entschuldigend an. »Det is immer
det Gleiche hier. Um jeden Scheiß muss ick mir kümmern. Der Olle
macht jar nüscht. Zum Kotzen is det.«
Kyra nickte ihr beipflichtend zu. Angesichts des
verzierten Babyarschs war sie froh, nicht gefrühstückt zu
haben.
Die Mutter verschwand mit ihrer Fracht im Bad.
Wassergeplätscher und heftigeres Krabblergebrüll legten sich über
das Fluchen.
Kyra stützte den Kopf in die Hände und massierte
ihre Schläfen. Die Kopfschmerzen, mit denen sie heute Morgen
bereits erwacht war, hatten zugenommen.
Warum hörte das Balg nicht mit seinem Geschrei auf.
Es brachte doch nichts. Die Mutter würde es sowieso bis aufs Blut
schrubben. Und warum hörte die Frau nicht mit ihrem Fluchen auf?
Der Fleischkoloss, der im Feinrippunterhemd in der Küche saß und
Bier trank, würde sowieso dort hocken bleiben. Es war alles so
sinnlos.
»Nur noch n kleenen Moment. Ick bin gleich wieder
da«, rief die Frau aus dem Bad. »Nehmense sich doch so lang noch n
Kaffee.«
Kyra warf einen Blick in die volle Tasse, die
unberührt vor ihr stand. Jetzt meldete sich der Whisky von letzter
Nacht doch noch zu Wort. Sie konnte diesen Kaffee nicht trinken.
Keinen Schluck, hier in diesem Zwei-Zimmer-Drecksloch zwischen all
der Babyscheiße, dem Bierdunst und den Häkelschonern, die im ganzen
Raum verteilt waren, als könnten sie das Elend verhüllen.
Es gab Tage, da bereute Kyra, dass sie nicht mehr
fürs Feuilleton schrieb.
Die Frau kam zurück. Sie ließ den Krabbler wie eine
Katze fallen, streifte die Hände an ihren pinkfarbenen Leggings ab
und ging wieder zum Sofa.
»Also was wolltense jetzt zuletzt wissen?«
Geduld und Ausdauer. Geduld und Ausdauer. Kyra
drückte die Aufnahmetaste an ihrem Kassettenrecorder. »Ich hatte
Sie gefragt, ob Sie sich erklären können, warum Ihre Mutter damals
Ihren Vater umgebracht hat.«
Erika Konrad wischte sich über die Stirn. Obwohl
sie die Klimaanlage des Wagens voll aufgedreht hatte, war sie in
Schweiß gebadet. Das seidene Sommerkleid klebte ihr am Rücken. Wie
Schmeißfliegen kreisten ihre Gedanken um den Fleck zwischen ihren
Schulterblättern, der ihr Lieblingskleid für immer ruiniert haben
würde.
Im Schritttempo ließ sie den Wagen die Einfahrt
hinaufrollen. Je näher sie Berlin gekommen war, desto langsamer war
sie geworden. Seitdem sie die Autobahn verlassen hatte, war sie
nicht mehr schneller als dreißig gefahren. Es kam ihr vor, als ob
sich ihr Fuß dagegen sträubte, weiter das Gaspedal zu treten.
Erika Konrad stellte den Motor ab. Mit feuchten
Händen hielt sie das Lenkrad umklammert. Natürlich war es nicht ihr
Fuß, sondern ihr Herz, das sich dagegen sträubte, heimzukehren.
Heimzukehren. Wie höhnisch dieses Wort in ihren Ohren klang.
Sie blickte zu der mächtigen Villa, die
halb in der Sonne, halb im Schatten der alten Lärchen lag.
Erika Konrad musste sich zwingen auszusteigen. Der
Kies knirschte unter ihren Füßen. Sie bückte sich, um einen Stein
zu entfernen, der sich in ihre roten Riemchensandalen geschoben
hatte. Als sie mit der Nase in die Nähe ihrer Achselhöhlen kam,
roch sie den Schweiß. Nur an den kühleren Tropfen, die auf ihren
Handrücken fielen, merkte sie, dass sie weinte. Sie hatte in den
letzten Jahren zu viel geweint, um Tränen an der Quelle zu
spüren.
Der Stein im Schuh war ihr plötzlich egal. Sie
wollte nur noch die Hitze hinter sich lassen. Mit raschen Schritten
legte sie die letzten Meter zur Eingangstreppe zurück.
Die massive Holztür war lediglich zugezogen, nicht
abgeschlossen. Erika Konrad warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Kurz vor drei. Ihr Mann konnte unmöglich zu Hause sein. Nie kam er
vor sechs aus der Zeitung zurück. Es musste die Putzfrau
sein.
Im Haus war es kühl und still. Erika Konrad legte
ihre Handtasche auf dem kleinen Teakholztischchen neben der
Garderobe ab. Sie erschrak, als sie ihr Bild im Spiegel sah. Eine
Vogelscheuche steckte in ihrem Lieblingskleid. Sie wagte nicht, die
Sonnenbrille abzusetzen.
Hier drinnen kam ihr der eigene Schweißgeruch noch
widerlicher vor. Sie musste dringend duschen.
»Ilona!« Ihre Stimme hallte durch das leere Haus.
Kein Geräusch deutete auf die Gegenwart eines putzenden Menschen
hin. Sie ging zu der geschwungenen Treppe, die ins obere Stockwerk
führte, und rief noch einmal. »Ilona! Sind Sie da?«
Dieser Gestank. Dieser grässliche Gestank. In ihrem
ganzen Leben hatte sie noch nicht so erbärmlich gestunken.
Selbstekel krampfte ihr den Magen zusammen. Sie spürte, wie die
Übelkeit in ihrem Hals emporstieg. Erika Konrad schlug die Hand vor
den Mund.
Sie brauchte dringend eine Dusche. Brauchte
dringend einen Cognac.
Hilflos stolperte sie durch den Flur, an dessen
Ende das Wohnzimmer lag.
Wäre sie weniger verwirrt gewesen, hätte sie sich
möglicherweise gefragt, wieso der grässliche Gestank, der sie vor
sich selbst hertrieb, immer stärker wurde, je näher sie dem
Wohnzimmer kam. Und hätte sie sich das gefragt, hätte sie
möglicherweise gezögert, die Tür zu öffnen.
»Herei-hein.« Kyra versuchte, sich auf dem
Bürostuhl umzudrehen, ohne die Beine vom Schreibtisch zu nehmen.
Aus dem Kassettenrecorder plärrte es in ungeschnittener Härte:
»Sammie, ick warn dir. Beim nächsten Mal fängste
eine.«
»Jessas, was ist denn bei dir los?«
Kyra grinste den kleinen Mann mit dem grauen
Vollbart und der dunklen Hornbrille, der seinen Kopf vorsichtig zur
Tür hereinsteckte, freundlich an. »Tja. Kann eben nich jeder uffe
Arbeit Mozart hören.«
Franz Pawlak war der lokale Musikredakteur beim
Berliner Morgen. Fast drei Jahre lang hatten sie Tür an Tür
im Feuilleton gearbeitet. Kyras selbstgewählten Wechsel ins Mord-
und Totschlag-Ressort hatte er noch immer nicht verkraftet.
»Sammile! Biste bescheuert. Nimm die Pfoten weg
von meinen Cindy-Crawford-Videos.«
Franz stieß einen erleichterten Seufzer aus, als
Kyra das anschließende Krabblergeschrei per Tastendruck
abstellte.
»In welchem Neuköllner Hinterhof hast du das denn
eingefangen?«
»Nix Neukölln. Wedding. Ich bitte dich, Franz, das
hört man doch. Neukölln klingt ganz anders.«
»Tut mir Leid. Ich bin Österreicher. Mein
akustisches Differenzierungsvermögen beschränkt sich auf Josefstadt
und Favoriten.«
Kyra griff nach dem Zigarettenpäckchen, das neben
dem Kassettenrecorder lag, fischte mit gespitzten Lippen eine
Zigarette heraus und steckte sie linkshändig an. Franz beobachtete
den Vorgang, als schaue er einer Schlangenfrau im chinesischen
Staatszirkus zu.
Sie blies eine lange Rauchschwade in seine
Richtung. »Also. Was gibts?«
»Ich wollte fragen, ob du heute Abend zur
Elektra-Premiere mitkommst. Staatsoper.«
Kyra verdrehte die Augen. »Du lässt aber auch
wirklich keinen Versuch aus, mich auf den Pfad der schönen Künste
zurückzuführen, was?«
»Heißt das nein?«
»Das heißt: Ich weiß noch nicht. Nachher muss ich
nach Plötzensee raus und die Mutter der reizenden Dame interviewen,
deren Stimme du gerade gehört hast. Keine Ahnung, ob ich danach
noch Bock auf Elektra hab.«
»Seit wann interessieren dich denn
Sozialreportagen?«
Kyra ging zum offenen Fenster und aschte drei
Stockwerke runter auf die Straße. Es war ein schöner Zug von der
Neuen Hauptstadtzeitung, dass sie auf Fenstersperren
verzichtete. Eine Touristengruppe schleppte sich unter
einheitsblauen Sonnenhüten in Richtung Brandenburger Tor.
»Wenn am Ende der Ehemann tot ist.«
»Was? Diese Kreischsäge hat ihren Mann umgebracht?
Und läuft frei rum?« Franz klang ernsthaft schockiert.
»Nee, nee, bis die so weit ist, dauerts noch ne
Weile.« Kyra warf den obligatorischen Blick zu den Baukränen, die
über dem Potsdamer Platz in den Himmel ragten. »Ihre Mutter
hat ihren Alten umgebracht.« Sie schnipste den
Zigarettenstummel in die Tiefe und lächelte Franz an. »Ich hab dir
doch erzählt, dass ich eine Serie über Berliner Mörderinnen
mache.«
Franz schnaubte. »Jawohl. Nach zehn Bier.«
Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Du
weißt,
dass ich die Dinge, die ich nach zehn Bier erzähle, besonders
ernst meine.«
Erika Konrad erwachte hustend. Sie hatte einen
ekelhaften Geschmack im Mund. Weshalb lag sie auf dem
Parkett? Verwirrt blinzelte sie an die Decke und erkannte die
gipsernen Putten, die mit ihren Füllhörnern auf sie zielten. Ja,
richtig. Sie war zu Hause. Daheim. At home.
Mühsam setzte sie sich auf. Ihr Lieblingskleid war
von oben bis unten voll gekotzt. Ausgerechnet ihr Lieblingskleid.
Ihr Lieblingskleid aus Seide, das ohnehin so schwer zu pflegen war.
Sie konnte sich noch genau erinnern, wie schwierig es damals in
diesem Schweizer Restaurant gewesen war, den Rotweinfleck
herauszubekommen. Rotweinflecken waren ja immer ein Problem, aber
aus Seide gingen sie eben so besonders schwer heraus.
Erika Konrad erhob sich. Mit zitternden Knien ging
sie zur Tür.
Vielleicht konnte sie das Kleid noch retten, wenn
sie es jetzt gleich einweichte. Seide immer nur in kaltem Wasser
einweichen. Empfindliche Stoffe nie heiß behandeln.
An der Schwelle blieb sie stehen. Ihre Knie
zitterten so stark, dass sie sich am Türrahmen abstützen musste.
Ein paar Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Warum konnte sie denn jetzt nicht
weitergehen? Wenn sie nicht schnell ins Badezimmer kam und ihr
Kleid einweichte, war doch alles verloren. Alles verloren. Alles
verloren.
Heulend sank sie auf die Knie. Mit beiden Fäusten
trommelte sie gegen den Türrahmen. Es durfte nicht sein. Nein.
Nein. Nein. Es durfte nicht sein. Sie hatte ihrem Mann doch von
Anfang an gesagt, dass eine weiße Wohnzimmereinrichtung nicht
sauber zu halten war.
Erika Konrad erstarrte. Kälte kroch zwischen ihren
Schulterblättern hinauf. Wohnzimmereinrichtung. Weiße
Wohnzimmereinrichtung. Was - Was -
Eine unsichtbare Hand packte sie am Kinn und drehte
ihr Gesicht langsam zur Zimmermitte zurück. Nein. Nein. Nein.
Erika Konrad schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander.
Sie wollte nicht sehen. Sie wollte überhaupt nichts
sehen.
Zwei Geisterfinger schoben sich unter ihre Lider
und drückten sie unbarmherzig nach oben.
Erika Konrad wimmerte leise. Da lag, was da
nicht liegen durfte. Lag immer noch da. Auf dem Couchtisch. Und
hatte keinen Kopf mehr.
Sie zog ihre Knie an und umklammerte sie mit beiden
Armen. Ihr war kalt. So furchtbar kalt.
Das Blut war bis zur Decke gespritzt. Bis zum
Kronleuchter. Vorhänge. Ledergarnitur. Lampenschirme. Bilderrahmen.
Kamin. Alles vollgespritzt. Der Seidenteppich, der unter dem
gläsernen Couchtisch lag, war ganz rostrot.
Erika Konrad schluckte. Nur gut, dass ihr das
nicht passiert war. Und fing an zu kichern. Sie hätte nicht
hören mögen, was ihr Mann ihr erzählt hätte, wenn es ihr Blut
gewesen wäre, das da überall an seinen teuren weißen Möbeln
klebte.
Die Kälte war plötzlich verschwunden. Auch ihr
Körper hatte aufgehört zu zittern. Sie war ganz leicht. Ganz leicht
und ruhig.
Fast schon beschwingt stand sie auf. Kein Fitzchen
Angst mehr. Wovor auch. Er war ja tot.
Einen Meter vor dem Couchtisch blieb sie
stehen.
Sonderbar, wie wenig es einen Menschen veränderte,
wenn man ihm den Kopf abhackte. Es war ihr Mann. Zweifellos ihr
Mann. Man hätte ihm noch viel mehr abhacken können, selbst der
bloße Rumpf wäre unverkennbar Robert Konrad geblieben. Der große
Robert Konrad. Der Charisma-Riese.
Obwohl er nicht mehr dunkelgrau, sondern so rostrot
wie der Rest des Zimmers war, erkannte sie sofort, dass er
zum Sterbengehen seinen teuersten Anzug angezogen hatte. Der
Anzug, von dem er selbst behauptete, er sähe in ihm wie ein
guter Vierziger aus. Das Jackett lag hingeworfen auf der
Couch, das Hemd war bis zum Hosenbund hinab aufgeknöpft.
Mit der Fußspitze tippte sie die Flasche an, die
samt Sektkübel zu Boden gefallen war. Neunzehnhundertneunziger
Dom Pérignon. Sein Lieblingschampagner. Gedankenverloren
bückte sie sich nach den zwei Sektgläsern, die etwas weiter
entfernt lagen.
Ich hoffe, du hast einen schönen Abend
verbracht.
Ihre Stimme hallte fremd in dem toten Raum.
Sie richtete sich auf. Und stieß gegen den Arm, der
starr und kalt vom Couchtisch abstand. Die Sektgläser in ihrer Hand
zersplitterten. Er sollte sie nicht mehr anfassen. Nie wieder
sollte er sie anfassen...
Hasserfüllt schleuderte sie die Glasscherben zu
Boden. Ein feiner Blutregen spritzte von ihren zerschnittenen
Handflächen.
Du Schwein. Du verdammtes Schwein.
Sie trat nach der Hand, die knapp über dem
Seidenteppich in der Luft hing.
Schwein. Schwein. Schwein.
Sie drehte sich um, holte mit ihrer blutenden Hand
aus, nie hatte sie ihn geschlagen, natürlich nicht, immer nur er,
er, er; er konnte ja machen, was er wollte, mit ihr, mit -
Alles, was ihre Hand traf, war das rohe Chaos, das
aus seinem offenen Hemdkragen quoll.
Die letzten Reste Hühnersuppe und Feldsalat, die
sie in einer anderen Welt einmal gegessen hatte, klatschten auf
seine Brust.
Erika Konrad schlug die Hände vor den Mund und
taumelte noch immer würgend rückwärts.
Was hatte sie getan? Oh Gott, was hatte sie
getan?
Ihr Mann war tot. Bestialisch dahingeschlachtet.
Der
Mann, mit dem sie achtundzwanzig Jahre lang verheiratet war. Der
Mann, der der Vater ihrer einzigen Tochter war.
Mörder! Mörder!
Sie stürzte los, knickte um, rappelte sich wieder
auf und fasste nach dem Telefon. Null - Eins - Sie wischte
sich mit ihrer blutigen Hand übers Gesicht. Eins - Null - Nein -
Eins - Eins - Ihre Finger zitterten so, dass sie immer wieder
neu beginnen musste. Der Hörer fiel ihr aus der Hand.
Sie bückte sich. Und gefror. Da, wo der Hörer lag,
war eine Spur. Eine wild zerstampfte Spur, die vom Couchtisch zum
Kamin führte. Sie blickte hoch zu den Fotos, die auf dem Kaminsims
standen. Die Fotos waren blutverschmiert. Rostrote Fingerabdrücke
auf dem Liebsten. Und etwas fehlte. Etwas, das dort immer gehangen
hatte. Etwas, das sie selbst dort hingehängt hatte. Ihr wurde
schwindelig. Sie sank auf die Knie. Weinend streichelte sie die
Spur am Boden. Kleine Füße. So kleine Füße.
»Hamse n Handy?«
»Bitte?« Kyra bewegte ihr Ohr noch etwas näher an
den Lautsprecher heran, der in die Panzerglasscheibe eingelassen
war. In ihrem Rücken brüllten zwei türkische Kids gegen ihren Vater
an. Ein freundlicher deutscher Justizvollzugsbeamter versuchte, die
mutterlose Familie mit »nix Besuchszeit, nix Besuchszeit« zu
verscheuchen.
»Wennse n Handy ham, müssenses hier abgeben. Handy
ist drinnen nicht erlaubt«, wiederholte der Pförtner hinter dem
Panzerglasschalter.
»Ach so. Ja.« Kyra zog die Augenbrauen zusammen.
Die beiden Jungs drehten noch einige Dezibel auf. Wahrscheinlich
war die Mutter nur straffällig geworden, um im Knast ihrer Familie
zu entkommen.
Kyra lächelte den Pförtner gewinnend an. »Ich
brauche aber mein Handy. Ich muss erreichbar sein. Gibt es keine
Ausnahmeregelung für Journalisten? Wenn Sie wollen,
kann ich Ihnen eidesstattlich versichern, dass ich niemanden damit
telefonieren lasse.«
»Handy ist drinnen generell nicht erlaubt«,
beschied der Pförtner ungerührt.
Kyra ließ das Lächeln langsam aus ihrem Gesicht
rutschen. Es war doch immer wieder beruhigend zu erleben, wie sehr
man es sich in dieser Stadt sparen konnte, so zu tun, als ob man
ein freundlicher Mensch wäre.
»Ick hab mir die Vorschrift nicht ausgedacht«,
schob der Pförtner hinterher, »da müssense sich schon beim
Justizsenator beschweren.«
Kyra machte den Mund auf und wieder zu. Sie lebte
zu lange in Berlin, um nicht zu wissen, dass jedes weitere Wort
sinnlos war. Widerwillig holte sie das Handy aus ihrer Tasche und
legte es in den Schubkasten, der in den Schalter eingelassen
war.
»Wehe, wenn einer jetzt Bellevue in die Luft
jagt«, knurrte sie mit geschlossenen Zähnen.
Nach und nach erwachte Erika Konrad aus der
Benommenheit, in die sie die blutige Fußspur gestürzt hatte.
Unsicher schaute sie sich im Zimmer um. Auf einmal verstand sie.
Natürlich. Es konnte gar nicht anders sein. Alles andere hätte gar
keinen Sinn gehabt.
Angst erfasste sie. Es war ihr Fehler. Alles war
ihr Fehler. Sie und niemand sonst war schuld an dem, was hier
geschehen war. Sie allein hätte es verhindern können. Warum war sie
so schwach gewesen. So schwach und dumm. Sie allein war
schuld.
Erika Konrad schluckte die Tränen hinunter, die ihr
unablässig übers Gesicht liefen. Noch war nichts endgültig
verloren. Noch konnte sie alles wieder gutmachen. Sie musste nur
stark sein. Stark und klug.
»Herzig, nich«, sagte die grauhaarige Frau und
zeigte auf die Glasvitrine, die bis oben hin mit Plüschtieren voll
gestopft war. »Die könnense alle kaufen. n paar von den Mädels hier
machen die inne Werkstätten. Vor allen Dingen die rosa Elefanten
mit den Schlappohren, die find ich besonders goldig. In meiner
Zelle hab ich auch drei von den Kameraden hocken.«
Kyra rückte an ihren Notizen. Wie immer, wenn sie
nervös war, rieb sie an dem kleinen sternförmigen Muttermal herum,
das links über ihrer Oberlippe saß. »Frau Becker, Sie waren gerade
dabei, mir zu erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass Sie Ihren
Mann an jenem Abend dann wirklich umgebracht haben.«
»Na ja. Wie gesagt.« Mit einem Achselzucken
verabschiedete sich Hermine Becker vom Friedhof der Kuscheltiere.
»An dem Morgen, da hat der Stiesel doch glatt vergessen, mir n
Wecker zu stellen. Alles konnt ich vertragen, aber nich
verschlafen. Das war für mich mein Tod. Hab ich ihn erst mal fertig
gemacht, das war klar.«
Kyra nickte, als sie Hermine Beckers
zustimmungsheischenden Blick spürte.
»Da is er denn erst mal aufgesprungen, da hat er
gebrüllt, was mir nur überhaupt einfiel, ihm is das scheißegal, ob
ich auch noch meine Arbeit verliere und, und, und.« Die alte Frau
winkte ab. »Ach, Sie können sich gar nich vorstellen, das war die
Hölle auf Erden. Aber so gings schon die ganze Woche, und den Tag
besonders schlimm. Immer, wo er mich getroffen oder gesehen hat,
gings rund, nur Bedrohungen, nur Bedrohungen, nur Bedrohungen, dass
er mich umbringt. Da hab ich gesagt, is gut. Ich wusst schon vor
Angst nich mehr - ich war inner Verfassung, das kann sich kein
Mensch vorstellen.«
In dem himmelblauen Rechteck hinter dem weiß
vergitterten Fenster tauchte für wenige Sekunden ein startendes
Flugzeug auf. Ein menschenfreundlicher Stadtplaner hatte
das Frauengefängnis auf einem Grundstück mit Flughafenblick
erbauen lassen. Kyra verfolgte, wie sich der Kopf der alten Frau
langsam seitlich neigte. Ein menschenfreundlicher
Gefängnisarchitekt hatte die Gitter vor den Fenstern diagonal
angebracht.
Es dauerte eine Weile, bis Hermine Becker mit
leiser Stimme weitersprach. »Ich weiß ja nich, was meine Tochter
Ihnen erzählt hat, aber der Abend, das sag ich Ihnen jetzt, ob Sies
mir glauben oder nich, das wars Ende. Das hat mich so fertig
gemacht, dass ich nich mehr wusste, was hinten und vorne war. Und
vor allen Dingen, er hat sich denn immer mehr reingekippt,
hingepackt auf die Couch, das dauerte ne halbe Stunde, denn wieder
hoch, zur Toilette, ins Schlafzimmer, alles war aufgerissen,
angeguckt hat er mich und geschubst und denn... und denn...«
Die alte Frau schaute Kyra hilflos an. Und
plötzlich rollten ihr Tränen übers Gesicht. Tränen, die so fremd
wirkten, als hätte ihr eine unsichtbare Maskenbildnerin Glyzerin in
die Augen getropft. »Ich weiß es doch nich«, sagte sie und rang die
Hände, »ich kann mich doch an nix mehr erinnern. Das is alles wie -
wie weggewischt.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Kittelkleid und
schnäuzte. Die Tränen waren so plötzlich verschwunden, wie sie
gekommen waren. »Und wissen Sie: Manchmal kommt es mir grad so vor,
als ob ich das gar nich gewesen wär, als ob da irgend n andrer die
Paketschnur genommen und das für mich gemacht hätte.« Sie lächelte.
»Aber ich muss es wohl gewesen sein, es war ja sonst niemand
da.«
Erika Konrad legte den Wischlappen aus der Hand.
Sie hatte jegliches Gespür dafür verloren, wie lange sie schon
arbeitete. Die körperliche Anstrengung tat ihr gut. Entschlossen
ging sie auf den Couchtisch zu.
Sie hatte sich getäuscht, vorhin, als sie gedacht
hatte, der fehlende Kopf hätte ihren Mann nicht verändert. Es hatte
ihn verändert. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie ihn
anschauen, ohne Furcht zu haben, dass er sie anschaute. Dass er sie
mit seinen unbarmherzig gealterten Herrenmensch-Augen
anschaute.
Erika Konrad blies sich eine Strähne aus dem
Gesicht, packte ihren Mann an beiden Armen und zog ihn mit einem
Ruck vom Couchtisch herunter.
»Franz, das ist doch nicht zum Aushalten! Eben
noch erzählt mir diese Frau, welche Hölle ihr Leben war, und im
nächsten Atemzug erklärt sie mir, wie goldig die Plüschelefanten
mit ihren Schlappohren sind!« Kyra fuchtelte aufgeregt mit ihrem
Glas herum. Ein Schwung Champagner landete auf dem Ärmel des Herrn,
der in premierenblaues Tuch gewandet am nächsten Stehtisch lehnte
und seinen Opern-Aperitif zu sich nahm. Das Tut-mir-Leid,
das Kyra in seine Richtung fauchte, ließ ihm jegliche
Beschwerdelust vergehen.
Franz klopfte sich ein paar Schuppen vom
Fischgrätenjackett und lächelte. »Was hast du denn gedacht, welch
düstre Heldin du in einem Berliner Knast triffst? Medea? Lucrezia
Borgia?«
»Quatsch«, würgte Kyra ihn ungnädig ab. »Nach dem,
was sie getan hat, hätte ich einzig und allein erwartet, dass sie
ein bisschen weniger banal ist, ein bisschen - gewaltiger.«
Franz nahm seine verdreckte Hornbrille von der Nase
und begann, sie mit dem Zipfel seines wie immer schwarzen Hemdes,
das wie immer nicht in der Hose steckte, zu polieren. »Vielleicht
fängst du ja langsam an zu begreifen, was für eine Schnapsidee dein
Crime-Trip ist. Wenn du gewaltige Frauen suchst, komm zurück ins
Feuilleton.«
»Ha ha«, brummte Kyra, »sehr witzig. Da treff ich
dann so gewaltige Frauen wie dich, oder was.«
Franz setzte seine Brille umständlich wieder auf.
Er blinzelte
Kyra durch die verschmierten Gläser liebevoll an. »Wenn du mir
nicht aus Prinzip widersprechen müsstest, würdest du ja selbst
zugeben, dass es spannender ist, in die Oper zu gehen und
Elektra zu sehen, als irgendwelche Weddinger Hausfrauen zu
interviewen, die ihre Stricknadeln aus Versehen mal in ihren Gatten
gesteckt haben.«
»Elektra! Elektra! Hör mir auf mit
Elektra!« Kyra knallte ihre Faust auf den Tisch. »Was ist
denn Elektra! Sophokles, Hugo von Hofmannsthal, Richard
Strauss«, zählte sie auf und ließ bei jedem Namen einen Finger aus
der Faust schnellen. »Elektra ist keine gewaltige Frau, Elektra ist
eine gewaltige Männerfantasie.«
»Vielleicht gibt es gewaltige Frauen nur als
gewaltige Männerfantasien.«
Kyra warf ihm einen wütenden Blick zu und
schwieg.
»Mal im Ernst. Ich sehe einfach nicht, was du dir
davon versprichst, mit Handy und Beeper quer durch die Stadt zu
hecheln und zu gucken, ob du irgendwo in Marzahn eine Fritzi
Haarmann findest.«
»Ich will wissen, ob es eine gibt.«
»Ja und dann? Dann stellst du sie bei dir daheim in
die Vitrine?«
»Nein.« Kyra blickte finster vor sich hin. »Eine
wirklich gewalttätige Frau, eine Frau, die durch und durch
skrupellos, böse ist, würde diese Gesellschaft heftiger
erschüttern als alle Revolutionen.«
Es war kurz nach neun, als Erika Konrad die gelben
Gummihandschuhe auszog, den letzten Eimer blutiges Putzwasser ins
Klo kippte, die rostroten Lappen in einen Müllsack warf und den
Staubsauger in die Kammer zurückstellte. Jeder einzelne Gegenstand,
jedes Möbelstück, alle Wände und Böden in der Villa glänzten so
blank, als ob noch keines Menschen Hand und Fuß sie je berührt
hätten. Der gläserne Couchtisch war bis zur Unsichtbarkeit poliert.
Im Kamin
fielen die glühenden Überreste des Seidenteppichs in sich
zusammen.
Erika Konrad ließ ihren Blick prüfend durch das
Wohnzimmer und über ihren Mann hinwegwandern, der zusammengekrümmt
in der äußersten Ecke des Raumes lag. Sie zögerte. Noch ein Letztes
war zu tun. Vielleicht war es nicht klug, aber sie musste es tun.
Sie ging zu dem gläsernen Regal neben dem Fernsehgerät und holte
die oberste Reihe Videokassetten heraus. Nur die oberste Reihe, nur
die privaten Videos ihres Mannes.
Sie warf den schwarzen Stapel in den Kamin,
übergoss ihn mit dem restlichen Benzin aus dem Geräteschuppen, und
eine hohe Stichflamme schoss auf. Zufrieden hörte sie, wie der
Kunststoff verbrutzelte. Jetzt war sie wirklich fertig. Fertig mit
allem.
Weder ihre Finger noch ihre Stimme zitterten, als
sie die 110 wählte und sagte: »Hier Konrad, Wildpfad 30. Schicken
Sie jemanden vorbei. Ich habe meinen Mann umgebracht.«
Mach keine Türen auf in diesem Haus!
Gepresster
Atem, pfui! und Röcheln von Erwürgten, nichts
andres gibts in diesen Mauern!
Kyra lehnte sich in ihrem Sessel zurück und ließ
die mächtige Stimme der Sopranistin durch sich hindurchrieseln. Sie
hatte vollständig vergessen, wie wunderbar Elektra war.
Elektra mit dem Beil. Elektra, die in blutigsten Tönen die
Ermordung ihrer Mutter beschwor.
Das ganze Haus ist auf. Sie kreißen oder sie
morden.
Wenn es an Leichen mangelt, drauf zu schlafen,
müssen sie doch morden!
Vielleicht hatte Franz Recht. Vielleicht war es
tatsächlich albern, im kümmerlichen Bodensatz der Berliner Realität
herumzustochern, wenn es auf der Bühne solche Figuren gab.
Kyra war so weggetaucht, dass sie die leisen
Lockrufe ihres Handys erst hörte, als Franz ihr unsanft in die
Rippen stieß. Das Klingeln holte sie vom Olymp antiker Blutrunst in
die Berliner Niederungen zurück. Ihre Handynummer besaß nur ein
einziger Mensch: Freddy Lehmann, der Kleinganove, den sie - und
eine Menge anderer Journalisten - dafür bezahlte, dass er rund um
die Uhr das Ohr, mit dem er gerade nicht im Gefängnis war, am
Polizeifunk hatte.
Kyra zerrte ihre Tasche unter dem Sitz hervor.
Berlin oder Mykene? Große Oper oder kleines Verbrechen? Altbekannte
Rache oder die Aussicht auf frischen Mord?
Und folg ich dir nicht und schlachte,
schlachte, schlachte Opfer um Opfer?
Kyra gab sich einen Ruck. Sie warf Franz ein
entschuldigendes Lächeln zu, ignorierte die unterdrückten Flüche
des Ehepaars, das neben ihr saß, und schob sich in Richtung
Ausgang.
»Kacke.« Der Mann mit der Kamera trat wütend gegen
den schmiedeeisernen Zaun. »Ich hasse diese Bonzenvillen. Viel zu
viel Grundstück drumrum und viel zu viel Bäume. Da brauchste ja n
Tele wie n U-Boot, um n anständigen Schuss zu machen.«
»Locker bleiben, Mann.« Sein Textkumpel von
derKonkurrenzzeitung, der zeitgleich mit ihm am Tatort eingetroffen
war, warf einen skeptischen Blick auf die drei Einsatzwagen, die
mit kreisenden Blaulichtern in der Einfahrt standen. »Passiert doch
eh wieder nix.« Er holte eine Packung Zigaretten aus der
Innentasche seines Wildlederblousons und steckte sich eine
an.
Der Fotograf ging in die Hocke. In unbequemem
Winkel schob er sein Kameraobjektiv durch die Gitterstäbe. »Mann,
wenn das wieder so n Scheißtipp is wies letzte Mal, kauf ich mir
den Freddy. Weißte noch, die Sache mit den Vietnamesen, warste doch
auch dabei.«
»Klar, Mann.« Der andere Journalist paffte gelassen
vor sich hin. »Aber das Ding im Mai, das Ding mit dem Rumänen, ich
sag dir, das war noch ne viel größere Wichse. Freddy total
aufgeregt, du Dieter, ganz große Sache, ey, Geiselnahme, zwo
kleine Kinder GSG-9-Einsatz mit allen Schikanen. Ich natürlich
nix wie raus aus m Bett, rin inne Kiste, heiz nach Marzahn, und wie
ich dann hinkomm -«, der Mann im grünen Wildlederblouson ließ die
Zigarette aus dem Mund fallen und kickte sie durch die Gitterstäbe
hindurch, »- da hatte sich dieser Rumänenwichser doch einfach
gestellt. Kein einziger Schuss. Nix. Totaler Griff ins Klo.«
»Kacke, Mann«, sagte der Fotograf und drehte an
seinem Objektiv.
Kyra rannte Unter den Linden entlang. Die
verstreuten Sommernachts-Touristen schauten sie an, als erwarteten
sie im Gefolge das Mütterchen, dem die Handtasche, die sie unter
den Arm geklemmt hielt, eigentlich gehörte.
Kyra war froh, dass sie keine Zeit gehabt hatte,
sich opernfein zu machen. Der 500-Meter-Stiletto-Sprint war nie
ihre stärkste Disziplin gewesen. Trotzdem verfluchte sie sich
dafür, dass sie ihre Giulia nicht auf dem Mittelstreifen vor der
Oper, sondern in der Zeitungstiefgarage geparkt hatte.
Wahrscheinlich war sie sowieso schon zu spät, weil Freddy sie
wieder einmal erst angerufen hatte, nachdem er seine ganzen
Boulevard-Spezis durchtelefoniert hatte. Freddy. Eines nicht allzu
fernen Tages würde sie ihm das linke Ei abschneiden, stramm
anbraten und an seinen Mastino verfüttern.
Keuchend bog Kyra in die Neustädtische Kirchstraße
ein. Das Blut hämmerte in ihren Ohren. Natürlich hatte diese
ignorante Ratte von einem Informanten keine Ahnung gehabt,
wie heiß die Nachricht war, die sie ihr geflüstert hatte.
Wenn im Hause Konrad wirklich ein Mord geschehen war, und wenn es
sich wirklich um das Haus Konrad im Wildpfad 30 handelte, dann war
es sehr gut möglich, dass ihre Zeitung, an deren Haupteingang sie
gerade vorbeirannte, morgen einen neuen Chefredakteur
brauchte.
Ein fernes Blitzlichtgewitter begrüßte Erika
Konrad, als sie, flankiert von zwei Beamten in Uniform, über die
Schwelle ihrer Villa trat. Die Berliner Zeitungsmeute, die sich
hinter dem Grundstückszaun zusammengerottet hatte, begann zu
kläffen, dass die Hunde am benachbarten Grunewaldsee
verstummten.
»Frau Konrad, haben Sie Ihren Mann ermordet?«
»Gibt es noch weitere Tote?«
»Hey, schau mal her!«
»Haben Sie es allein getan?«
»Hatte Ihr Mann eine Geliebte?«
Erika Konrad blickte lächelnd geradeaus. Stumm ließ
sie sich zu dem Streifenwagen führen, der sie von diesem Ort ein
für alle Mal wegbringen würde. Ohne den geringsten Widerstand zu
leisten, stieg sie in den Wagen.
Sie war stolz. Zum ersten Mal in ihrem Leben war
sie wirklich stolz auf sich. Und das machte sie glücklich. So
glücklich, dass sie keinen Drang verspürte, ihr Gesicht zu
verbergen, als der Wagen die Ausfahrt passierte und sich langsam
durch die schreiende und blitzende Horde schob, sondern mit dem
Lächeln eines hohen Staatsgastes aus dem Fenster sah.
Kyra riss das Lenkrad herum. Um ein Haar hätte der
Streifenwagen sie gerammt, der aus dem Wildpfad in die Hagenstraße
geschossen war und sich blaulichternd in Richtung Innenstadt
entfernte.
Sie stieß einen wüsten Fluch aus. Wenn sie sich
nicht täuschte, hatte sie an der hinteren Fensterscheibe das
bleiche Gesicht der Chefredakteursgattin gesehen.
Als sie um die Kurve bog, trat sie zum zweiten Mal
in die Bremsen. Der gesamte untere Teil des Wildpfads war bereits
zugeparkt. Vorsichtig manövrierte sie ihre Giulia zwischen zwei
Ü-Wagen hindurch. Als kein weiteres Durchkommen mehr möglich war,
stellte sie den Motor ab.
Da sie den Alfa von ihrer Mutter geerbt hatte, ihre
Mutter konsequente Cabriofahrerin gewesen war und heute eine der
wenigen Nächte war, wo man in Berlin tatsächlich mit offenem
Verdeck fahren konnte, hörte sie die Pfiffe und das Gegröle ihrer
männlichen Kollegen, noch bevor sie ausgestiegen war.
»Hey, Männer, da kommt die Rennmaus!«
»Schon Scheiße, wenn man den BH nich zukriegt und
deshalb zu spät am Tatort is.«
»Party’s over, babe.«
Allseitiges Gelächter begleitete Kyra, als sie die
Wagentür zuschlug. Obwohl es ihr jedes Mal die Zornesröte ins
Gesicht trieb, wenn sie erlebte, wie ihre Kollegen den
stimmungsvollsten Tatort in eine Eckkneipe verwandelten, verkniff
sie sich alle Kommentare. Sie war noch nicht dahintergekommen, ob
die Platzhirsche sie anröhrten, weil sie die Sau vertreiben
wollten, die in ihrem Revier wilderte, oder ob es ihre Art war,
Brunft zu äußern. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus
beidem.
Kyra ging auf einen vergleichsweise sympathisch
wirkenden Kleiderschrank mit Baseballkappe zu und fragte knapp:
»Hast du Freddy gesehen?«
»Ich glaub, er war mitm Dieter irgendwo da hinten«,
sagte der Kleiderschrank, grinste und zog seine Kappe tiefer ins
Gesicht.
Kyra schlug ihren Blazerkragen hoch und stapfte an
dem Zaun entlang, der nach wie vor von Fotografen belagert war.
Offensichtlich war doch nicht alles vorbei. Wenn die Aasgeier
ausharrten, musste wenigstens noch die Leiche im Haus sein.
Sämtliche Fenster der Villa waren hell erleuchtet.
Hinter den zugezogenen Seidenstores sah man hier und dort einen
Schatten vorbeihuschen. In der Auffahrt waren zwei große
Scheinwerfer aufgestellt. Die ganze Szenerie hatte mehr von einem
Filmset als von einem echten Tatort. Kyra ließ ihren Blick vom Haus
weg durch den Park wandern. An einer großen Lärchengruppe blieb er
hängen. Was für schöne alte Bäume. Die waren ihr schon damals, bei
der schrecklichen Feier zu Konrads Sechzigstem, aufgefallen. Und
noch etwas war mit diesen Bäumen gewesen. Irgendetwas. An das sie
sich jetzt nicht erinnerte. Sie schüttelte sich und ging
weiter.
Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Konrad ermordet
worden war. Alle in der Zeitung waren sich einig gewesen, dass er
den Reitertod auf einer Praktikantin sterben würde. Dass nun
ausgerechnet seine blasse Gattin dem zuvorgekommen sein sollte? Ob
sie ihn in flagranti erwischt hatte? Mit der neuen Blonden aus dem
Politikteil?
Lauter spannende Fragen. Aber wenn Kyra nicht für
ewige Zeiten die Aufziehpuppe der Kompanie spielen wollte, musste
sie sich jetzt erst einmal um eine andere Angelegenheit
kümmern.
Sie entdeckte Freddy zwei Straßenlaternen weiter.
Obwohl er ihr den Rücken zukehrte, erkannte sie ihn sofort. Sein
breites Kreuz lehnte am Laternenmast, sein ausrasierter
Schweinenacken glänzte im Licht. Mit beiden Händen redete er auf
einen Kerl in dunkelgrünem Wildlederblouson ein, in dem Kyra den
Bild- oder BZ-Reporter vermutete.
Unbeachtet schlenderte sie auf die beiden zu. Sie
kam gerade rechtzeitig, um Freddy »Ey, Dieter«, sagen zu hören,
»die Mädels bei mir sind nur allererste Sahne. Komma vorbei,
kannste dich selbst von überzeugen.« Sie sah, wie er seine Zunge in
die Backe rammelte und dem Mann im Wildlederblouson kumpelhaft vor
die Brust boxte. »Ick mach dir auch n Freundschaftspreis.«
Kyra dachte nicht lange nach. Lange Nachdenken war
in solchen Situationen immer verkehrt. Mit fröhlichem »Hi, Freddy«
klopfte sie dem Informanten auf die Schulter, wartete, bis er ihr
seine Frontseite zugewandt hatte, und ließ ihr rechtes Knie in die
Höhe schnellen. Freddy entfuhr ein grober Schmerzenslaut. Mit
beiden Händen fasste er sich ans Zentrum seiner Existenz.
»Lass uns nächstes Mal ein bisschen früher
telefonieren«, sagte Kyra und trat den geordneten Rückzug an. Sie
zwang sich, langsam zu gehen, auch wenn ihr nach Rennen zu Mute
war.
Es dauerte einige Sekunden, bis hinter ihr das
Gebrüll ausbrach. »Du blöde Fotze, dir brech icks Genick. Dir reiß
ick die Titten einzeln raus.«
Die plötzliche Luftbewegung in ihrem Rücken warnte
sie, aber zu spät. Freddy Lehmann war bereits mit der geballten
Wucht seiner zweihundert Pfunde über sie gekommen. Gemeinsam gingen
sie zu Boden.
Kyra vermochte nicht zu sagen, ob es ihre oder die
Knochen des Gegners waren, die beim Aufschlag auf das
Kopfsteinpflaster so gekracht hatten. Wahrscheinlich meine, wie
viele Knochen hat der Mensch, bitte, lieber Gott, lass mich nicht
in die Totschlagstatistik kommen, waren ihre letzten Gedanken,
bevor sich der gedankenfähige Teil ihres Hirns verabschiedete.
Danach spielten Knochen oder Hoffnungen keine Rolle mehr. Danach
ging es einzig darum, sich mit Zähnen und Klauen das fremde Fleisch
vom Leib zu halten.
Angelockt durch das Geschrei hatte sich die
Zeitungshorde um den Kampfplatz herum versammelt. Sogar die
Kamerakrieger
hatten ihre Zaunposten aufgegeben. Und sei es, dass auch
Boulevardreporter nur verkappte Ritter waren, sei es, dass sie
einfach verhindern wollten, dass ihr Informant, der gerade erst aus
einer sechsmonatigen Knastpause zurückgekehrt war, sich schon
wieder hinter Gitter prügelte - sie frönten ihrer Schaulust nur
kurz und gingen daran, die Verkeilten zu trennen.
Die gesamte Journaille war so sehr mit dem
Zweikampf am Boden beschäftigt, dass keiner merkte, wie hundert
Meter weiter die Bahre mit den sterblichen Überresten Robert
Konrads aus dem Haus getragen wurde.
Rechte, dachte Erika Konrad verächtlich, was lesen
die mir meine Rechte vor. Meine Pflichten sollten sie mir vorlesen.
Sie legte ihre Hände auf den schwarzen Tisch und versuchte zu
lächeln. Die Handschellen, die ihr die nervöse Polizistin bei der
Festnahme angelegt hatte, waren ihr im Verhörraum wieder abgenommen
worden. Niemand schien sie hier für eine Bedrohung zu halten.
»Nein«, sagte sie, »ich brauche keinen Anwalt. Ich
sage Ihnen alles.«
Kriminalhauptkommissar Heinrich Priesske lehnte
sich auf seinem Stuhl zurück und bleckte sein Zahnfleisch. »Na,
dann schießen Sie mal los.«
»Womit - was - was wollen Sie hören?« Erika Konrad
rief sich zur Ordnung. Das ständige Grinsen des Kommissars
verunsicherte sie.
»Erzählen Sie uns doch zum Beispiel mal, wann Sie
Ihren Mann umgebracht haben.«
»Letzte Nacht«, sagte sie mit fester Stimme,
»Sonntagnacht.«
»Hätten Sie da vielleicht noch ne genauere
Uhrzeit?«
Erika Konrad errötete. Ihr Blick floh zu dem
zweiten Kommissar, der an der Wand lehnte. Dieser grinste nicht,
sondern schaute sie ernst an.
»Es muss nach Mitternacht gewesen sein«, fuhr sie
ruhig fort. »Ich habe schon geschlafen, als mein Mann nach Hause
kam, und ich bin um halb zwölf ins Bett gegangen.«
»Na, damit können wir doch was anfangen.« Der
Hauptkommissar betrachtete den Trauerrand, der unter seinem linken
Daumennagel saß. »Und weiter.«
»Ich bin wach geworden, weil ich diese Geräusche
aus dem Wohnzimmer gehört habe.«
»Geräusche?« Er studierte den Dreck, den er unter
dem Nagel hervorgeholt hatte, und schnipste ihn zur Seite.
Erika Konrad atmete tief durch. Sie fixierte das
Mikrofon, das vor ihr auf dem Tisch stand. »Immer, wenn mein Mann
nachts besoffen heimkam, ist er ins Wohnzimmer gegangen und hat
sich diese Filme angesehen. Und immer hat er den Ton so laut
gestellt, dass ich oben im Schlafzimmer davon wach werden
musste.«
Der Kommissar legte seine gereinigten Fingerspitzen
aneinander und schaute Erika Konrad direkt in die Augen. »Verraten
Sie uns auch noch, was für Filme das waren?«
Sie senkte den Blick. Warum konnte nicht dieser
andere Kommissar sie verhören. Er wirkte viel sympathischer als
sein Vorgesetzter.
»Pornos«, sagte sie kaum hörbar.
»So. Pornos«, wiederholte Heinrich Priesske und
dehnte jedes o.
Ein lange geschürter Zorn explodierte in ihr. Ihre
Augen flackerten, als sie dem Kommissar ins Gesicht blickte. »Sie
verstehen gar nichts, nicht wahr? Sie finden das alles furchtbar
komisch, Sie wollen sich gar nicht vorstellen, was es für eine Frau
bedeutet, wenn der Mann, dem sie ihr ganzes verdammtes Leben
geopfert hat, jeden zweiten Abend besoffen heimkommt und sich dann
diese grässlichen Filme anschaut.«
Heinrich Priesske lächelte unbeeindruckt
zurück.
»Zwanzig Jahre lang habe ich zugesehen, zwanzig
Jahre
lang habe ich gekuscht, habe ich mir alles von ihm bieten lassen.
Aber irgendwann einmal ist Schluss.« Der Zorn, der Erika Konrad
Kraft gegeben hatte, war verpufft. »Irgendwann einmal ist Schluss«,
echote sie leiser.
»Und was haben Sie dann gemacht, als Schluss
war?«
Es dauerte eine Weile, bis sie weiterreden konnte.
»Letzte Nacht - ich habe gehört, wie er im Wohnzimmer rumbrüllte,
seine obszönen Kommentare abgab zu dem, was auf dem Bildschirm
passierte.« Sie schluckte. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich
bin aufgestanden. Auf der Treppe hörte ich, wie er besonders
abstoßende Dinge brüllte. Ich hatte zu ihm ins Wohnzimmer gehen und
den Fernseher ausmachen wollen, aber ich habe es nicht gekonnt.«
Sie griff sich an den Hals. Ihre Finger zitterten. »Da bin ich in
den Geräteschuppen gegangen, habe die Axt genommen und bin ins Haus
zurück. Er saß immer noch vor dem Fernseher. Ich habe mich von
hinten an ihn herangeschlichen und habe ihn erschlagen.« Sie
faltete die Hände im Schoß.
Heinrich Priesske erhob sich von seinem Stuhl und
begann in dem fensterlosen Raum auf und ab zu gehen. Er warf dem
zweiten Kommissar einen langen Blick zu.
»Warum haben sie ihm den Kopf abgehackt?«
Erika Konrad zuckte die Achseln. Sie wollte
schlafen. Nur noch schlafen. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie
müde, »es ist plötzlich über mich gekommen.«
Der Hauptkommissar war mit zehn schnellen Schritten
bei ihr und packte sie am Oberarm. »Frau Konrad, warum haben Sie
Ihrem Mann den Kopf abgehackt?« Er schüttelte sie wie ein
ungezogenes Gör. »Und was haben Sie anschließend mit dem Kopf
gemacht?«
Der zweite Kommissar stieß sich von der Wand ab.
»Ich bitte Sie, Chef«, sagte er leise.
Der Vorgesetzte schüttelte Erika Konrad noch einmal
und ließ sie los. Verwirrt blinzelte sie zwischen ihm und ihrem
gequetschten Oberarm hin und her. »Ich - ich habe ihn weggeworfen.
« Sie fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. Das Zimmer
begann sich zu drehen. Zu drehen um diese kalten unbarmherzigen
Augen, mit denen der Mann sie anstarrte. Diese Augen waren tot.
Diese Augen gab es nicht mehr.
Langsam stand sie auf. Der Hauptkommissar hatte
keine Mühe, ihre Hand mit den ausgekrallten Fingern vor seinem
Gesicht abzufangen.
»Weg«, murmelte sie, während zwei Beamte in Uniform
sich auf sie stürzten, ihr Handschellen anlegten und sie abführten,
»weg mit diesen Augen!«
Der Glöckner von Notre-Dame war schiere Eleganz im
Vergleich zu Kyra, die sich die Wendeltreppe im Polizeipräsidium
hochschleppte.
Um kurz nach zehn war sie aufgewacht, hatte einige
Minuten gebraucht, um sich davon zu überzeugen, dass die einzelnen
Schmerzklumpen, die unter ihrer Decke lagen, tatsächlich ihr Körper
waren, hatte noch im Bett nach dem Telefon gegriffen und im
Polizeipräsidium angerufen. Wo sie die alarmierende Nachricht
erhalten hatte, dass in der Mordsache Konrad eine Pressekonferenz
für elf Uhr anberaumt worden war.
Als sie den dritten Stock erreichte, sah sie die
Meute bereits auf den Gang hinaus stehen. Sie konnte nicht hören,
ob die Konferenz schon begonnen hatte. Der lässigen Haltung nach zu
urteilen, in der die meisten Kollegen dort standen und miteinander
plauderten, hatte sich noch nichts getan.
Sie reckte schützend ihre Ellenbogen und begann,
sich durch die Menge hindurchzuschieben. Der Schutz ihrer
geprellten Rippen nahm sie so in Anspruch, dass sie erst nach einer
Weile merkte, dass etwas anders war als sonst. Keiner
der Zeitungsjungs machte sie an. Im Gegenteil. Alle wandten sich
von ihr ab und schwiegen.
Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie keine
Zeit gehabt, in den Spiegel zu schauen. Entweder sah sie heute
Morgen so schlimm aus, dass es selbst den Boulevardhyänen die
Sprache verschlug, oder diese besaßen doch noch einen letzten
Funken Anstand, der ihnen ihre dämlichen Sprüche verbat.
Ohne größere Rempeleien gelang es ihr, sich in den
Raum vorzuarbeiten. Wie vorherzusehen, waren alle Sitzplätze
belegt. Kyra überlegte nicht lange und sprach denjenigen an, der in
der hintersten Reihe ganz außen saß. »Morgen. Was hältst du davon,
einer werdenden Mutter den Platz zu überlassen?«
Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu und
schwieg.
»Arschloch.« Kyra drängte sich zur nächsten Reihe
vor. »Hey. Heute schon Kavalier gespielt?«
Der Angesprochene blätterte in seinen Notizen, als
ob sie nichts gesagt hätte.
»Hallo«, flötete sie, »du kannst mich ruhig
anschauen. Das, was ich hab, ist nicht ansteckend.«
»Verpiss dich«, knurrte er, ohne aufzusehen.
Kyra spürte, wie sie rot wurde. Sie hoffte, dass
ihr Gesicht noch verbläut genug war, um den peinlichen Farbton
untergehen zu lassen. Am Fenster entdeckte sie den Kleiderschrank
mit der Baseballkappe, den sie gestern nach Freddy gefragt
hatte.
»Morgen.« Kyra schob sich mühsam um ihn herum. Er
kam ihr heute noch größer vor als gestern. »Kannst du mir
vielleicht verraten, was hier los ist?«
Ohne zu lächeln, schaute er sie an und wieder zum
Fenster hinaus. »Die Pressekonferenz muss jeden Augenblick
losgehen. Ansonsten hab ich auch noch nix gehört.«
Trotz geprellter Rippen rückte Kyra einen Schritt
näher. »Ich will wissen, was mit mir oder besser gesagt: mit
euch
los ist. Gibts da irgendnen Ehrenkodex, der verbietet, mit
zusammengeschlagenen Frauen zu sprechen?«
Der Kleiderschrank nahm seine Baseballkappe ab. »Na
ja«, entschloss er sich nach einer Weile zu sagen, »ich mein, was
du da gemacht hast, war schon ziemlich hart.« Er fingerte an seiner
Kappe herum. »Der Freddy hat geblutet wie ne Sau.«
»Ach nee. Das is ja reizend.« Kyra stemmte einen
Arm in die schmerzende Seite. »Und ich seh vielleicht aus, als ob
ich gestern Nacht zum Mondscheinpeeling im Kosmetiksalon gewesen
wär.«
»Na ja.« Er schaute sie unsicher an. »Ich weiß, der
Freddy kann ganz schön zupacken, und klar, Mann, ich - ich an
deiner Stelle, so als Frau, ich hätt mich auch mit allen Mitteln
gewehrt, aber«, er schob den Unterkiefer nach vorn und nickte zwei
Mal sehr ernst, »ich mein, ihm gleich das halbe Ohr abbeißen, das
ist schon n bisschen heavy.«
»Was?« Kyra verzog das Gesicht und schüttelte
gleichzeitig den Kopf. »Was redest du da? Halbes Ohr
abbeißen?«
»Vielleicht wars auch nur n Drittel, aber
trotzdem.« Der Kleiderschrank setzte seine Baseballkappe auf und
schaute wieder zum Fenster hinaus.
»Ahoi«, rief der Penner und schwenkte seine
Schnapsflasche, »sucht ihr n Schatz?«
Die anderen Penner, die wie er ihr Sommerlager im
Bullenwinkel aufgeschlagen hatten, lachten. »Bisse bekloppt, Mann«,
sagte einer und schlug ihm an den Schädel. »Issoch nicher
Silbersee.«
Der Froschmann, der neben dem Schlauchboot
aufgetaucht war, nahm keinerlei Notiz von den halb nackten
Gestalten, die am anderen Ufer lagerten. Er machte den beiden
Männern im Boot ein Zeichen und verschwand wieder unter der
glitzernden Wasseroberfläche.
Blass und angespannt stand Erika Konrad am
Waldrand.
Die Polizei hatte den Strand an dieser Seite des Grunewaldsees
weiträumig abgesperrt. Ringsum kläfften die vertriebenen Köter,
denen der Strand sonst gehörte.
Eine schwere Mittagshitze kündigte sich an. Dennoch
fror Erika Konrad, als ob sie mitten im Januar stünde.
»Entschuldigung«, sagte sie zu der uniformierten
Beamtin, an deren linkes Handgelenk sie angekettet war, »mir ist
kalt. Könnten wir vielleicht ein Stück nach vorn in die Sonne
gehen?«
»Ich habe Anweisung, hier mit Ihnen zu warten«,
entgegnete die Frau, ohne sie anzuschauen.
Wie lange es wohl noch dauern würde? Die ganze
Situation war unwirklich. Erika Konrad neigte den Kopf zur Seite
und zog die Schulter hoch, bis sie das Ohr berührte. Sie wusste
nicht, was sie tun würde, wenn die Sache hier vorbei war. Ihr Kopf
neigte sich zur anderen Schulter.
Kriminalhauptkommissar Heinrich Priesske kam auf
sie zu. Seine üble Laune wehte ihm voraus wie eine Fahne.
»Frau Konrad«, bellte er sie an, »meine Leute
suchen jetzt seit drei Stunden. Meine Geduld ist am Ende. Wenn Sie
uns etwas sagen wollen, dann tun Sie es jetzt.«
»Ich habe den Kopf dort ins Wasser geworfen«,
wiederholte sie und zeigte auf die Stelle, auf die sie heute schon
mindestens zehn Mal gezeigt hatte.
Der Kommissar kickte wütend einen Kiefernzapfen
fort, der neben seinem Schuh im Sand lag. »Ich warne Sie. Wenn Sie
uns einen Bären aufbinden, kriegen Sie Ärger, dass Sie nicht mehr
wissen, wo vorn und hinten ist. Das verspreche ich Ihnen.«
Erika Konrad zuckte die Achseln. Mit der freien
Hand fuhr sie sich über die Gänsehaut am Oberarm. »Vielleicht hat
ein Hund den Kopf weggeschleppt. Sie sehen doch, wie viele Hunde
hier überall sind.«
Heinrich Priesske knurrte etwas Unverständliches.
Vom See her machte der Froschmann aufgeregte Zeichen.
Ohr abgebissen. Halbes Ohr abgebissen. Der
Gedanke summte in Kyras Kopf wie eine gefangene Wespe. Es konnte
nicht sein. Sie konnte sich an nichts erinnern. Bestimmt wollten
die Jungs sie nur verarschen.
Sie starrte auf den Bildschirm. Wie zu erwarten,
war die Pressekonferenz völlig für die Katz gewesen. Bullen-Schulz,
der sturste aller sturen Polizeisprecher, hatte wieder einmal sein
Lieblingsspiel, »Ich weiß etwas, was ihr nicht wisst«,
gespielt. Immerhin war aus gut bezahlter - und damit hinreichend
verlässlicher - anderer grüner Quelle durchgesickert, dass Erika
Konrad ihren Mann nicht nur geköpft, sondern anschließend auch noch
wie eine Besessene den Tatort geputzt hatte. Wenn Frauen zu sehr
morden...
Kyra klemmte sich eine Zigarette in den Mund und
legte los. So zügig es mit drei angeknacksten Fingern ging, hackte
sie die Gräuelgeschichte um ein betrogenes Eheweib, einen geköpften
Zeitungsmogul und eine große Flasche Ajax in den Computer.
Es klopfte.
»Jaha«, brummte Kyra, ohne vom Bildschirm
aufzublicken. Sie drehte sich erst um, als hinter ihr eine
vertraute Stimme losgrantelte.
»Wenn du das nächste Mal abhaust, kannst du mir
wenigstens -« Franz blieb der Rest des Satzes im Halse stecken.
»Jessasmarantjosef, was, was ist passiert?«
»Der alten Konrad ist die Sicherung
durchgebrannt.«
Franz kam hastig auf sie zu. »Ich will wissen, was
dir passiert ist.«
»Das ist jetzt nicht so wichtig. Aber ist es nicht
vollkommen unfassbar, dass -«
»Kyra, sag mir auf der Stelle, wer das getan hat.«
Er blieb vor ihr stehen, unentschlossen, ob er die Frau mit dem
lila-blau-grünen Gesicht, in dem ein halber Schneidezahn fehlte,
anfassen durfte oder nicht.
»Willst du großer Bruder spielen und dem Kerl eins
auf
die Nase hauen?« Kyra musterte den ein Meter siebzig kurzen Mann
und grinste. »Würd ich dir von abraten.«
»Welches Schwein war das?« Franz senkte seinen
Schädel, als wolle er ihn dem unbekannten Schwein auf der Stelle in
den Bauch rammen.
»Hör mal zu.« Kyra tippte ihm mit ihrem
bandagierten Fingerpaket vor die Brust. »Man hat nicht jeden Tag
die ebenso hehre wie heikle Aufgabe, einen Artikel darüber zu
schreiben, wie der eigene Chefredakteur von seiner Gattin geköpft
wurde. Wieso gehst du nicht an deinen Schreibtisch zurück,
rezensierst brav deine Elektra zu Ende und holst mich in
einer Stunde zum Mittagessen ab. Dann können wir über alles
reden.«
»Kyra, ich -«
Sie hatte ihm längst wieder den Rücken zugedreht.
»In einer Stunde.«
Das Ding vom Grunde des Sees war geborgen.
Schlammtriefend lag es auf der Plane, die zwei Polizeibeamte am
Ufer ausgebreitet hatten.
Erika Konrad blinzelte gegen die steile
Mittagssonne. Sie musste verrückt geworden sein. Umstandslos
geradeheraus himmelschreiend verrückt. Sie konnte das Ding zwar
nicht sehen, aber sie hatte die Rufe der Polizisten gehört. Sie
hatten den Kopf gefunden. Sie hatten den Kopf im Grunewaldsee
gefunden.
Die Baumkronen über ihr begannen sich zu drehen.
Schneller. Und immer schneller. Erika Konrad musste lachen.
Feuerkreis, dreh dich. Feuerkreis, dreh dich. Sie tanzte und
lachte, wie sie als kleines Mädchen getanzt und gelacht hatte. Sie
trug keine Handschellen mehr. Sie war nicht mehr an die stinkende,
schwitzende Polizistin gekettet. Sie war frei. Niemand konnte ihr
mehr etwas anhaben. Auch nicht das Fallbeil, das jetzt herabsauste,
die Sonne auslöschte und einen Sternenhimmel explodieren
ließ.
Erika Konrad schrie auf und sank in Ohnmacht.
Die Beamtin warf einen Blick zu den Kollegen und
Vorgesetzten, die sich unten am Seeufer versammelt hatten. Keiner
hatte etwas gesehen. Sie hängte den Schlagstock an den Gürtel
zurück und ging in die Knie, um die Frau zu untersuchen, die noch
immer mit ihrem schlaffen rechten Handgelenk an sie gefesselt
war.
Schweigend standen die Polizisten um die Plane
herum.
»Scheiße«, sagte Heinrich Priesske und sprach damit
aus, was alle dachten. »Scheiße.« Auch wenn der Kopf, der vor ihnen
lag, so zerfressen und aufgeschwemmt war, dass sich keine genaueren
Züge mehr erkennen ließen, war eines klar: Es war der Kopf einer
Frau.
Kyra stach ihre Gabel in den Pfifferling, der sich
unter einem welken Salatblatt versteckt hatte. Gestern Nacht hatte
sie die Finger auf dem Mullbett schick gefunden, jetzt begann sie
die ewige Linkshänderei zu nerven. »Franz, wie du siehst, bin ich
aber noch am Leben. Und wenn du mir noch einmal sagst, dass ich den
Crime-Scheiß lassen und ins Feuilleton zurückkommen soll,
steh ich auf und gehe.«
»Gut. Ich sage keinen Ton mehr.« Franz griff in den
Brotkorb. Beleidigt biss er in einen Baguettering. »Wenn es
neuerdings zu deinem Lebensglück dazugehört, dich von irgendwelchen
Arschlöchern verprügeln zu lassen -«
»Schluss!« Kyra schrie, dass sich die Leute in der
Nachbarschaft umdrehten. Es war so ein schöner, sonniger Tag. Alle
saßen draußen, an den Tischen, die das Café Morgenstern auf
den Promenadenstreifen in der Mitte des Linden-Boulevards gestellt
hatte.
Kyra schob ihre schwarze Sonnenbrille auf die
Nasenspitze. »Franz. Es rührt mich ja, dass mein zerdetschtes Auge
dich mehr beschäftigt als die Tatsache, dass unser Chefredakteur
einen Kopf kürzer gemacht wurde. Aber trotzdem würde ich mich
lieber über Letzteres unterhalten.«
»Bitte.« Achselzuckend säbelte Franz ein neues
Stück von seinem Tafelspitz.
Kyra schob ihren Teller weg und steckte sich eine
Zigarette an. »Kannst du dir wirklich - ich meine wirklich -
vorstellen, wie die alte Konrad die Axt schwingt und dem Alten die
Rübe abhackt?«
»Was weiß ich, wozu Frauen im Stande sind.«
Kyra schaute dem blauen Dunst nach, den sie in
Richtung Autoabgase schickte. Träge glitzernd floss der
Hauptstadtverkehr rechts und links an ihnen vorbei.
»Erika Konrad in der Rolle der Klytämnestra - so
eine groteske Fehlbesetzung würde sich ja nicht mal die Staatsoper
leisten«, sagte sie.
»Du hast doch gestern erst gesehen, was für
Strickliesel zu Mörderinnen werden.«
»Ja. Ich meine, nein. Die alte Becker hat in der
tiefsten Scheiße gelebt. Dass die völlig ausrasten kann, leuchtet
mir ein. Aber doch nicht diese gelangweilte höhere Gattin in ihrer
Zwei-Millionen-Villa.«
»Weißt du, was du machen würdest, wenn dich einer
dreißig Jahre lang bescheißt?« Obwohl auch Franz seine Sonnenbrille
aufhatte, konnte Kyra seinen Blick spüren.
»Ich würde mich nicht dreißig Jahre lang bescheißen
lassen.« Sie schnippte ihre Zigarette in den Kies. »Was ist
eigentlich dran an den Gerüchten, dass der Alte zuletzt was mit
unserem politischen Blond hatte?«
»Ihre Vorstellung bei der Konferenz heute Morgen
war ziemlich überzeugend.«
Kyra blies ein Lachen durch die Nase. »Ich vermute
mal, ihre Vorstellung auf der Couch muss noch viel überzeugender
gewesen sein. Ich sehe nicht, warum der Alte sie sonst eingestellt
haben könnte.«
Franz blickte von seinem letzten Rest Tafelspitz
auf. »Reicht es dir nicht, dich zu prügeln? Musst du auch noch
stutenbissig werden?«
»Du wirst mir jetzt nicht erklären, dass Fräulein
Jenny Mayer eine begnadete Journalistin ist.«
»Sie ist nicht so schlecht, wie du
behauptest.«
»Franz, du enttäuschst mich. Ich dachte, wenigstens
bei dir würden sich lange blonde Beine nicht aufs Gehirn
schlagen.«
Franz beendete sein Mittagessen, indem er seine
Serviette einmal kurz über den Mund zog, zusammenknüllte und auf
den Teller warf. Er lehnte sich zurück und faltete die Hände über
dem Bauch.
»Was ist eigentlich mit Konrad und dir
gewesen?«
»Wie bitte?« Kyra verschluckte sich an ihrem
Weißwein.
»Erzähl mir nicht, dass der Alte nicht hinter dir
her gewesen ist.«
»So ein Blödsinn.« Hustenanfall.
»Und was war dann das bei seinem Sechzigsten? Als
ihr Arm in Arm im Park verschwunden seid.«
»Ich bin niemals Arm in Arm mit Konrad
irgendwohin verschwunden«, bellte Kyra und fasste sich an die
Kehle.
Franz lächelte. Ein tristes Löwenlächeln. »Ach. Und
du bist auch niemals zerzaust und barfuß von irgendwoher
zurückgekommen.«
»Scheiße.« Kriminalhauptkommissar Heinrich
Priesske rollte den Sektionsbericht, den ihm seine Sekretärin vor
wenigen Minuten gebracht hatte, zusammen und prügelte damit auf
seinen Schreibtisch ein. »Scheiße, Scheiße! Törner«, brüllte er
durch die offene Tür in den Nachbarraum.
»Bringen Sie mir sofort die Konrad her«,
kommandierte er, sobald sich die Nasenspitze seines Untergebenen
zeigte. »Dollitzer hat eben seinen Bericht rübergeschickt. Es ist,
wie ich gesagt habe. Diese Frau hat uns von vorn bis hinten
verarscht. Jetzt werden die Samthandschuhe ausgezogen.«
Törner schaute seinen Vorgesetzten unbehaglich an.
»Ich fürchte, das geht nicht.«
»Warum?« Das Wort zischte durch den Raum wie eine
Granate.
»Der Arzt meint, dass Frau Konrad einen
mittelschweren Nervenzusammenbruch erlitten hat.«
»Das ist mir scheißegal.« Der
Kriminalhauptkommissar knallte beide Handflächen auf den Tisch.
»Der soll sie ruhig spritzen oder sonst was mit ihr anstellen. Wenn
er sie nicht in der nächsten Stunde wieder flott gemacht hat,
kriege ich einen dreifachen Nervenzusammenbruch. Sagen Sie das
diesem verdammten Weißkittel.«
»Alles zur Zufriedenheit?« Geduldig hatte der
hübsche Kellner an der Fußgängerampel ausgeharrt, bis ihr grünes
Licht ihm erlaubte, den Verkehrsstrom, der den Bürgersteig vorm
Morgenstern und die Mittelinsel trennte, zu
durchqueren.
»Jawohl«, sagte Kyra überschwänglich. »Alles
bestens.«
»Bloß habts ihr hier keine Ahnung, wie man einen
anständigen Kren zum Tafelspitz macht«, brummte Franz.
»Hatte der Herr etwas zu beanstanden?«, erkundigte
sich der Kellner besorgt.
Kyra antwortete, bevor Franz den Mund ein zweites
Mal öffnen konnte. »Vergessen Sies einfach. Der Herr hat immer was
zu beanstanden.«
Der hübsche Kellner lächelte zurück und begann,
sich die schmutzigen Teller auf den Arm zu laden. Seine lange weiße
Schürze leuchtete in der Sonne. »Wünschen die Herrschaften
vielleicht noch einen Kaffee oder einen Grappa oder -«
»Espresso und Grappa«, bestätigte Kyra. Sie warf
Franz einen fragenden Blick zu. Er nickte beleidigt. »Also dann:
zweimal das Ganze.«
»Sehr wohl.« In elegantem Bogen entfernte sich der
Kellner vom Tisch.
Franz stieß wütend die Luft aus. »Jessas, wo haben
die
diesen geleckten Schnösel her. Wünschen die Herrschaften einen
Kaffee«, äffte er ihn nach. »Warum kann man in Berlin keine
echten Kellner bekommen, sondern immer nur dieses
Studententheater.«
Kyra schaute versonnen zur Fußgängerampel, wo der
Kellner stand und wartete. »Aber er ist doch so schön.«
Franz beugte sich über den Tisch. »Ich sags dir.
Dieser Strizzi da letzte Nacht hat dein Hirn erwischt.«
Kyra lachte leise. Sie konnte sich schon gar nicht
mehr daran erinnern, wie sich das Leben ohne den österreichischen
Brummbären angefühlt hatte. Schade, dass sie keinen Artikel über
ihn schreiben konnte. Die richtige Überschrift hätte sie schon
gehabt: Der Minnegrantler.
Der Kellner kam zurück. Schwungvoll verteilte er
die Kaffeetassen und Grappagläser auf dem Tisch. Kyra bedankte sich
mit einem doppelten Augenaufschlag.
»Entschuldigen Sie«, sagte er plötzlich und klang
gar nicht mehr wie lange weiße Schürze, »dürfte ich Sie einen
Moment stören? Es ist mir wirklich unangenehm, aber ich habe da ein
Problem, und vielleicht können Sie mir weiterhelfen?«
Kyra steckte sich eine Zigarette an. Genüsslich
blies sie den Rauch in seine Richtung. »Vielleicht.«
Trotz seines dunkel gepflegten Teints sah man den
Kellner erröten. »Sie arbeiten doch beim Berliner Morgen.
Und ich - also ich studiere Germanistik, und letzten Monat, da habe
ich Herrn Konrad bei einer Veranstaltung im Literaturhaus kennen
gelernt, und da hat er mir versprochen, dass ich ein Praktikum bei
Ihnen im Feuilleton machen könnte.« Er wurde noch eine Nuance
röter. »Und ich weiß jetzt eben nicht, jetzt, wo er - wo er - ob er
das mit dem Praktikum schon in die Wege geleitet hat.«
Kyra war nicht sicher, ob
Lächeln-durch-abgesplitterte-Schneidezähne-hindurch auch im
Handbuch der Verführerin stand, aber irgendwie fühlte es sich gut
an.
»Ich werd mich mal umhören«, versprach sie und
berührte den Reißzahn mit ihrer Zungenspitze.
»Das würden Sie wirklich für mich tun? Das wäre ja
riesig nett.«
»Tja. So bin ich eben.«
»Oh, danke. Vielen Dank. Ich darf Sie dann also
demnächst noch mal auf die Sache ansprechen?«
»Dürfen Sie.«
»Mensch, das ist jetzt wirklich eine
Riesenerleichterung für mich. Danke. Danke.«
Eine Sekunde lang glaubte Kyra, er würde sich
bücken und sie auf den Mund küssen, aber dann schulterte er doch
nur sein Tablett und verschwand in Richtung Fußgängerampel.
»So ein netter Junge«, sagte sie.
»Kyra.« Franz krächzte vor Panik. »Du wirst diesem
Hupfer doch nicht im Ernst ein Praktikum verschaffen wollen.«
Jetzt erst bemerkte sie den verschmauchten
Zigarettenstummel, der immer noch zwischen ihren Fingern steckte,
und ließ ihn fallen.
»Wie sagt ihr in Wien? Was a Mann schöner is als
a Aff is a Luxus?« Sie blinzelte Franz an. »Aber findest du
nicht auch, dass Luxus etwas Wunderbares ist?«
Zurückgelehnt, die Sonne im Gesicht, verfolgte
Kyra, wie sich der Kellner mit weichem Hüftschwung durch den
Verkehr schlängelte. Sie stellte sich vor, wie sie ihm nachging,
von hinten Schürze, Hose, Hemd vom makellosen Körper riss, ihn auf
eine heiße Motorhaube legte und vögelte, bis der Lack Blasen
schlug.
»Franz.«
Der kleine Mann hockte da und schabte mit seinem
Löffel grimmige Muster in den Kaffeesatz.
»Franz. Sag mal, traust du mir eigentlich zu, dass
ich einem Kerl das Ohr abbeiße?«
Er blickte mürrisch auf. »Wie sollte ich
nicht.«
»Nein. Im Ernst. Glaubst du wirklich, ich könnte
jemandem ein Ohr abbeißen?«
»Was ist los. Hast du gewettet?« Kyras unsicherer
Ton stimmte ihn versöhnlicher.
»Bitte, Franz, ich, ich - die Jungs heute Morgen,
die haben gemeint, ich hätte Freddy gestern das halbe Ohr
weggebissen.« Die Wespe summte wieder in ihrem Kopf.
»Na und. Dieses Schwein hätte verdient, dass du ihm
den Schwanz gleich mitabgebissen hättest.«
»Franz.« Kyra nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Augen
brannten. »Das ist kein Scherz.«
»Jessas, Kyra.« Er fasste sich in den dünner
werdenden Haarschopf. »Es freut mich ja, dass du plötzlich
menschliche Regungen zeigst. Aber lass sie an jemandem aus, der
menschliche Regungen auch verdient.«
Kyra sah durch ihn hindurch. »Es geht doch gar
nicht um Freddy«, sagte sie leise. »Was mich beunruhigt, ist - ich
kann mich an absolut nichts erinnern. Nichts. Völliges
Schwarz.«
»Chef. Ich glaube, wir haben sie.« Kommissar
Törner stürmte aufgeregt ins Büro. »Hier.« Er legte seinem
Vorgesetzten einen zweiseitigen Computerausdruck vor. »Wie Sie
vermutet haben.«
Heinrich Priesske überflog die Zeilen.
»Passt alles bestens«, kommentierte Törner die
stumme Lektüre seines Vorgesetzten. »Kriminelles Umfeld. Mit
sechzehn abgehauen. Hausbesetzerszene. Zwei Mal verhaftet. Und
hier.« Er zeigte auf eine Stelle in der Mitte des Textes. »Goldenes
Motiv.«
Heinrich Priesske warf das Papier auf den Tisch.
»Gute Arbeit, Törner«, stellte er sachlich fest. »Sind die Kollegen
schon informiert? Die sollen sich die Kleine mal vornehmen.«
»Ich wollte auf Ihre Zustimmung warten«, gab Törner
ebenso sachlich zurück.
Der Hauptkommissar knüllte das Papier des
Schokoriegels, den er gerade gegessen hatte, zusammen. Er öffnete
die Faust und ließ die Kugel fallen. »Sie können die Kollegen
losschicken.«
Eine zweite Serie Flaschen donnerte in den
Glascontainer. Kyra stöhnte, tastete nach dem Kissen, das in der
anderen Hälfte ihres Bettes lag, und zog es über den Kopf. Der Wut
nach zu urteilen, mit der die Flaschen geworfen wurden, war es das
Balg aus dem Seitenflügel. Wahrscheinlich hatte Mami den Kleinen
wieder einmal in den Hof geschickt, weil sie nicht wollte, dass er
mitansah, wie Papi sie auf dem Küchentisch fickte. Kyra war noch
nicht dahintergekommen, ob das Balg die Flaschen deshalb so
donnerte, weil es auch nicht mitanhören wollte, wie Papi Mami
fickte, oder weil es wütend war, dass es nicht zugucken
durfte.
Seufzend schob Kyra das Kopfkissen beiseite. Vom
Zahnarzt, der ihrem Schneidezahn eine provisorische Krone
aufgesetzt hatte, war sie direkt nach Hause gefahren und ins Bett
gekrochen. Der ungewohnte Nachmittagsschlaf war ihr nicht bekommen.
Sie fühlte sich noch geräderter als zuvor.
Kyra schloss die Augen und versuchte, das Bild des
Kellners wieder erstehen zu lassen. Sie hatte von ihm geträumt.
Etwas banal Unerotisches. Aber unglaublich schön war er gewesen.
Merkwürdig, dass sie einen so schönen Menschen getroffen hatte.
Normalerweise traf sie nur hässliche Menschen.
Es klingelte an der Tür. Zeugen Jehovas, Nachbar
ohne Salz oder Feierabendvergewaltiger, ging Kyra die verschiedenen
Möglichkeiten durch. Keine erschien ihr attraktiv genug, um
aufzustehen. Es klingelte noch einmal. Heftiger. Vielleicht war es
Freddy, der mit einem roten Rosenstrauß gekommen war, um sich bei
ihr zu entschuldigen. Oder mit seinem Ohr, um ihr damit endgültig
das Maul zu stopfen.
Ächzend rollte sich Kyra aus dem Bett, griff nach
dem Kimono, der an der Türklinke hing, und schlurfte in den
Flur.
»Ja«, fragte sie durch die Tür hindurch.
»Ich bins.«
Es dauerte eine Weile, bis Kyra die massiven
Schlösser geöffnet hatte. Sie schloss immer alle drei Schlösser ab.
Nicht, weil sie Furcht vor Einbrechern hatte, sondern weil es ihr
das gute Gefühl gab, in einer gefährlichen Stadt zu leben.
»Störe ich?« Etwas verlegen stand Franz auf dem
Teppichstück, das als Fußabstreifer diente.
Kyra gähnte. Sie schüttelte sich, dass ihre braunen
Haare flogen.
»Habe ich dich geweckt?« Franz warf einen Blick auf
Kyras nackte Beine, der nicht nur besorgt war. »Das tut mir Leid.
Das wollte ich nicht.«
»Erzähl mir nix. Du hast nichts mehr gehofft, als
mich aus dem Bett zu holen. - Komm schon rein.« Sie wickelte den
kurzen Kimono etwas ausschnittsärmer und ging in die Küche. »Willst
du was trinken? Whisky ist alle.«
Franz folgte ihr bis an die Küchenschwelle. »Was
trinkst du?«
»Bislang gar nix. Das ist nämlich das eigentlich
Gesunde am Schlafen. Dass man in der Zeit nix trinkt.« Sie riss
ihren Mund nochmals zu einem gewaltigen Gähnen auf und verschwand
hinter der Kühlschranktür.
Die Bierdose kam zu plötzlich und zu steil
angeflogen, als dass Franz eine ernsthafte Chance gehabt hätte, sie
zu fangen.
»Jessas, verzeih, ich bin so ungeschickt, ich -«
Umständlich kroch er der geplatzten Dose hinterher, die unter dem
Küchentisch sprühte wie ein leckes Rohr.
Kyra winkte ab. »Vergiss es. Kannst du noch draus
trinken, oder willst du eine neue?«
»Geht eh schon, geht eh schon«, sagte Franz hastig
und klopfte sich den Staub von der Hose.
»Komm«, Kyra stieß ihm mit dem Ellenbogen in die
Rippen. »Lass uns ins Schlafzimmer gehen. Wenn du sowieso nur zum
Spannen hergekommen bist, kann ich mich auch wieder
hinlegen.«
Sie fegte den Kleiderberg von dem roten Samtstuhl,
der in der Ecke des Schlafzimmers stand, und stellte ihn neben das
Bett. Mit einem behaglichen Seufzer ließ sie sich auf die Matratze
sinken und streckte sich aus. Sie zog die Decke bis unter die
Nase.
»Und was jetzt? Erzählst du mir eine
Gutenachtgeschichte?«
Franz lächelte sie zögernd an. »Ich - ich wollte
mich entschuldigen. Für heute Mittag. Dass ich nicht begriffen
habe, dass dir die Sache mit dem Ohr ernst war.«
Kyra runzelte die Stirn und griff nach der
Zigarettenschachtel, die auf der Bettkante lag. »Ach was. Wenn ich
mit mir am Tisch gesessen hätte, hätt ich auch nicht gemerkt, dass
es ernst war.«
»Nein. Du musst das nicht herunterspielen. Es war
dumm von mir. Dumm und unsensibel.«
»Franz, ich bitte dich. Wenn du unsensibel bist,
was bin ich dann? Godzilla?« Sie blies eine lange Rauchschwade
aus.
»Du - du bist die wunderbarste Frau, die ich jemals
getroffen habe.«
Die Zigarette fiel auf das Kopfkissen. Kyra schoss
in die Höhe. »Franz. Um Himmels willen. Versprich, dass du mich nie
wieder so erschreckst.«
»Kyra.« Ein Blick aus tiefbraunen Augen. »Diesmal
ist es mir ernst.«
»Und was soll aus diesem Ernst werden, wenns fertig
ist?«
»Jessas, Kyra, sei doch nicht so stur. Als ich dich
da heute in deinem Büro hab sitzen sehen, mit dem zermatschten Auge
und den blauen Flecken und dem rausgeschlagenen
Zahn, da - da - ich musste dir einfach mal sagen, was ich für dich
empfinde.«
»Na, das hast du ja jetzt erfolgreich getan.«
Wütend rubbelte Kyra an dem kleinen Brandfleck auf ihrem
Kopfkissen. »Sonst noch was?«
»Du kannst mir nicht verbieten, dass ich mir Sorgen
um dich mache.« Franz rutschte vom Stuhl auf die Bettkante hinüber.
Seine Hand tändelte um ihren Hals herum und verfing sich in ihrem
Nacken. »Es ist gefährlich, was du da tust.«
Kyra erstarrte. In Zeitlupe nahm sie die Zigarette
von den Lippen. »Franz«, sagte sie. »Ich glaube, was du gerade
tust, ist viel gefährlicher.«
»Ihr Mann war nicht betrunken. Ihr Mann wurde
nicht Sonntag, sondern Samstagnacht ermordet. Ihrem Mann wurde der
Kopf nicht mit einem Beil abgehackt.«
Erika Konrads Augen waren zwei dunkle Löcher. Bei
jedem Wort, das Heinrich Priesske ihr entgegenbrüllte, zuckte sie
zusammen. Sein Gesicht kam so nahe, dass sie seinen Atem riechen
konnte. Schokolade. Der Kommissar hatte Schokolade
gegessen.
»Ihrem Mann wurde der Kopf mit einem Messer
abgetrennt.«
Sie schrie. Und hielt sich die Ohren zu.
Priesske packte sie. »Hören Sie endlich auf mit dem
Theater.« Er schüttelte sie. »Frau Konrad. Sie wissen ganz genau,
wer Ihren Mann umgebracht hat.« Zornig ließ er sie los.
»Nein! Nein!« Erika Konrad zog das Wasser in der
Nase hoch. Eifrig verrieb sie den Rotz, der ihr über die Oberlippe
gelaufen war. Ihre Augen hatten zu flirren begonnen wie zwei
Bildschirme nach Sendeschluss. »Herr Kommissar. Sie müssen mir
glauben. Ich war es. Es ist einzig und allein meine Schuld.« Sie
warf sich zu Boden und umklammerte seine Beine. »Meine Schuld.
Meine Schuld. Meine Schuld.«
Mit einem leichten Tritt befreite sich Heinrich
Priesske von ihrem Griff. Er ging zu Kommissar Törner, der soeben
den Verhörraum betreten hatte. Die beiden Männer wechselten einige
unverständliche Worte. Erika Konrad schluchzte in den Bodenbelag
aus Linoleum hinein.
Die Verachtung war in Siegerlächeln übergegangen,
als Heinrich Priesske erneut auf sie zukam. Sein Zahnfleisch
glänzte im Neonlicht. »Frau Konrad«, sagte er freundlich. »Frau
Konrad. Wollen Sie uns nicht ein wenig von Ihrer Tochter
erzählen?«
Ihre Füße tappten über den nackten Steinboden.
Als sie vor einem halben Jahr in das alte Kutscherhaus eingezogen
war, hatte sie als Erstes sämtliche Holzdielen herausreißen und
Marmorfliesen verlegen lassen. Alles außer Marmor machte sie
krank.
Obwohl das Thermometer noch immer zweiunddreißig
Grad anzeigte, war der Boden kühl. Dem Stein waren die
Temperaturen, die draußen herrschten, egal. So egal, wie sie ihr
selber waren. Kein Schweißtropfen befleckte das weiße Chiffonkleid,
das ihren Körper von den schmalen Schultern bis zu den Knöcheln
umfloss.
Sie ging an den Kühlschrank und öffnete die Tür.
Blaues Licht ergoss sich über ihre Füße. Sie lachte. Immer, wenn
sie im Dunkeln eine Kühlschranktür öffnete, musste sie lachen. Es
erinnerte sie an den letzten Griechenlandurlaub mit Vater. An das
hässliche Hotelzimmer in Delphi, in dem sie zehn Tage gewohnt
hatten. Die Neonlampe an der Decke war grässlich gewesen, und
deshalb hatten sie, wenn sie von ihren Tagesausflügen spät
zurückgekehrt waren, das Zimmer stets im Dunkeln betreten. Und dann
hatten sie im blauen Licht des offenen Kühlschranks gesessen,
Frappé getrunken und Homer rezitiert. ANDRA MOI ENNEPE, MUSA,
POLYTROPON, HOS MALA POLLA -
Sie lachte und holte eine Dose Eistee aus dem
mittleren
Kühlschrankfach. Die restlichen Dosen verschob sie so, dass wieder
eine gleichmäßige Ordnung entstand. Unordnung konnte sie nicht
ertragen. Mit Dose und Strohhalm setzte sie sich auf den
Küchentisch und ließ die Beine baumeln.
Am letzten Abend, bevor sie sich in die schmalen
Hotelbetten schlafen gelegt hatten, hatte Vater sie an den
Schultern gefasst und gesagt: »Kind. All diese Idiotenväter, die
stolz darauf sind, mit ihren Söhnen am Lagerfeuer zu sitzen. Ich
bin so glücklich. Dass ich eine solche Tochter habe.«
Ihr Blick verlor sich in dem blauen
Kühlschranklicht. Sie setzte den Strohhalm ab. PALLAD’
ATHENAIEN KYDREN THEON ARCHOM’ AEIDEIN -
Sie schloss die Augen. Ein Lächeln schlüpfte in
ihr Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich von selbst.
Pallas Athene, die ruhmvolle Göttin, will ich
besingen,
Eulenäugig, vieles beratend, spröde im
Herzen,
Züchtige Jungfrau, Städtebeschirmerin, mutig
zur Abwehr
Ist sie, Tritogeneia, die Zeus, der Berater,
erzeugte
Selbst aus seinem erhabenen Haupt, zum Kampfe
gewaffnet
Golden und ganz voll Glanz.
Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß
einen lang gezogenen Seufzer aus. Sie war glücklich. So rund und
eben und glücklich wie ein Ei.
Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick
auf die Mayonnaisetuben in der Kühlschranktür. Kraft. Kraft war
gut. Kraft würde sie in dieser Nacht brauchen.
Sie schraubte eine der Tuben auf, drückte sich
einen Strang direkt in den Mund, schraubte die Tube zu, strich das
Ende glatt und klappte den Falz um. Einmal. Zweimal. Immer Ordnung
halten.
Sie leckte sich über die Lippen. Mayonnaise war
gut, wenn
man aufgeregt war. Dennoch würde sie dem Sog, der vom offenen
Kühlschrank ausging, nicht mehr lange widerstehen können.
Ohne es zu merken, quetschte ihre Hand die Dose
zusammen. Ein Schwall Eistee schwappte über ihr weißes Kleid. Sie
sprang auf und schleuderte die Dose in die Spüle. Mit blitzenden
Augen starrte sie auf den Fleck, der sich in das zarte
Chiffongewebe gesogen hatte. Sie musste das Kleid wechseln.
Unmöglich konnte sie das, was sie vorhatte, in einem befleckten
Kleid tun!
Sie rannte ins obere Stockwerk und riss die Tür
zu der ehemaligen Abstellkammer, die ihr Kleiderschrank war, auf.
Der Steinkauz, der auf einem Balken gedöst hatte, flatterte in die
Höhe. Srrt, srrt, fauchte ihr der erschreckte Vogel
entgegen.
»Alex, verschwinde«, sagte sie, »du hast hier
drinnen sowieso nichts zu suchen.« Hastig schritt sie die zwei
Reihen makellos weißer Kleider und Anzüge ab, die in der Kammer
hingen. Sie schlüpfte aus dem befleckten Kleid, warf es in die Ecke
und zerrte ein neues vom Bügel. Mit heftigem Flügelschlag rauschte
der Steinkauz an ihr vorbei und verschwand in dem dunklen
Dachgewölbe. Schneller noch, als sie die Treppen hinaufgeeilt war,
rannte sie in die Küche zurück.
Kurz vor dem Kühlschrank fiel sie in einen
gemesseneren Schritt. In ihrem Kopf begann es zu surren. Ja. Ja.
Ja.
Ich dürste nach deiner Schönheit! Ich hungre
nach deinem Leib; nicht Wein noch Apfel können mein Verlangen
stillen. Was soll ich jetzt tun?
Es war Zeit. Sie konnte nicht länger warten.
Vor dem Kühlschrank kniete sie nieder.
Nicht die Fluten noch die großen Wasser können
dies brünstige Begehren löschen. Ich war eine Göttin, und
du verachtetest mich, eine Jungfrau, und du nahmst mir meine
Keuschheit. Ich war rein und züchtig, und du hast Feuer in meine
Adern gegossen.
Langsam streckten sich ihre Hände nach der
großen weißen Plastiktüte auf dem untersten Rost. Behutsam zog sie
den runden Gegenstand an sich und streifte die Hülle von ihm ab.
Sie lachte, als zwei Augen über den Tütenrand linsten.
»Hallo«, sagte sie leise. Sie packte den Kopf am
dünnen Haarschopf und zog die restliche Tüte mit einem Ruck weg.
Ihr Lachen plätscherte in hellen Kindersopran hinüber:
Oh Haupt! Sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier.
Jetzt aber höchst schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir.
Mit höchster Ehr und Zier.
Jetzt aber höchst schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir.
Sie küsste die Stirn, dann nahm sie den Kopf
und ging zu den fünf weißen Eimern, die am Ende der Küche standen.
Glas. Metall. Papier. Kunststoff. Restmüll. Sie trat auf das Pedal
des vierten Eimers, knüllte die Plastiktüte zusammen und warf sie
hinein. Sorgfältig ließ sie den Deckel zurückklappen.
Erika Konrad erhob sich von ihrem stinkenden
Zellenbett. Eine magere Frau, deren Kleid die Knochen sinnlos teuer
umflatterte, stand in der Tür und winkte sie zu sich. Es war das
Versagen, gekommen, sie endgültig zu holen. Erika Konrad verzog den
Mund. Sie hätte es ahnen können. Das Versagen war eine Frau.
Sie drehte der Erscheinung den Rücken zu und hängte
sich mit ganzer Kraft an das Bettlaken, das sie vor wenigen Minuten
am Fenstergitter festgeknotet hatte. Mühsam richtete sie sich
wieder auf. Das Laken hielt, doch das Fenster war niedrig. In
Büchern hatte sie viel gelesen über Menschen, die versucht hatten,
sich an niedrigen Fensterkreuzen
zu erhängen. Wie unendlich qualvoll diese Art des Sterbenwollens
war. Sie stellte sich an die Wand und zwang ihre zitternden Beine,
sie noch einen letzten Moment zu tragen. Mit der Würde einer
Königin legte sie die beiden freien Zipfel des Lakens um ihren Hals
und verknotete sie unter ihrem Kinn.
Sie blickte starr auf die grüne Stahltür. Die
Erscheinung hatte zu wabern begonnen wie ein Flaschengeist.
»Isabelle«, sagte Erika Konrad, und ihre Stimme war
schon tot, »vergib mir. Ich kann dir nicht mehr helfen.«
Sie gab ihren zitternden Beinen nach, und alles,
was sie jemals in Büchern gelesen hatte, zerstob zu Hohn und Spott.
Der harte Knoten traf ihren Kehlkopf wie eine Faust. Sie wollte
würgen, husten, doch ihre Kehle war so zugeschnürt, dass nicht
einmal mehr ein Schluchzen hindurchpasste. Zwei Minuten,
dachte sie, zwei Minuten.
Tränen schossen in ihre Augen. Ihre Hände krampften
sich in das Lieblingskleid, das sie seit zwei Tagen und einer Nacht
trug. Sie hatte Angst, ihre Hände würden sie verraten, sie betete,
ihre Hände mögen abfallen, bevor sie an den Knoten griffen, um ihn
zu lockern. Ihre Lunge begann zu brennen. Ihr Herz loderte auf. Das
Blut in ihrem Hals drückte, als wolle es herausplatzen. Ihre Hände
zuckten. Alle Reste an Lebendigkeit, die ihr in dreiundfünfzig
Jahren Leben geblieben waren, versammelten sich unter dem Knoten
und brüllten.
Die grüne Stahltür verschwand hinter dem
Tränenschleier, der sich immer dichter über ihre Augen zog. Mit
aller Kraft, die sie jemals besessen hatte, buhlte Erika Konrad um
den Tod. Sie ließ ihre Beine sinnlos nach vorn gestreckt, die
Schenkel leicht geöffnet, die Arme kraftlos zuckend. Sie war schön.
Sie war nicht jung, aber sie war noch schön. Komm, lieber Tod,
und mache, flehte eine Stimme, von der sie selbst nicht mehr
wusste, woher sie kam.
Und in der Sekunde, in der sie endlich das
Bewusstsein
verlor, durchzuckte Erika Konrad ein fantastischer Stolz. Sie
hatte gesiegt. Sie war keine Versagerin. Einmal war sie stark
geblieben bis zum Schluss.
»Wen suchen Sie?« Die Frau war jung, höchstens
fünfundzwanzig. Ihr blasses Gesicht verschwand hinter einem Wust
grüner Rastalocken.
»Frau Isabelle Konrad.« Der kleinere der beiden
Uniformbeamten hatte seinen Fuß in die Tür gestellt.
Das Mädchen zupfte an dem Silberknopf in seinem
linken Nasenflügel. »Konrad? Konrad kenn ich nich.«
»Sie ist aber unter der Adresse hier
gemeldet.«
»Hm.« Sie kratzte sich mit ihrem nackten Fuß an der
Wade. »Ach so. Isi meinen Sie. Ja, die hat mal ne Zeit hier
gewohnt. Ist aber schon lange her. Keine Ahnung, wo die sich jetzt
rumtreibt.«
»Sie haben keinen Anhaltspunkt über den Verbleib
von Frau Konrad?«
Das Mädchen wickelte sich zwei grüne Strähnen um
den Finger und lächelte den größeren der beiden Beamten an. »Was
wollen Sie denn von der?«
»Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft
geben.«
»Ach so. Verstehe. Muss ja was Wichtiges sein.« Sie
zuckte mit den spitzen Schultern, die aus ihrem weißen
Feinripp-Herrenunterhemd herausstachen. »Nee. Also tut mir echt
Leid, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann. Aber, wenn Isi
hier mal wieder vorbeischaut, sag ich ihr auf jeden Fall Bescheid.«
Sie schaute vom Gesicht des kleineren Beamten zu seinem Fuß und
wieder zurück. »Könnte ich dann zumachen?« Sie lächelte
entschuldigend. »Ich hab da nämlich was auf dem Herd stehen.«
Das Bett war frisch bezogen. Die beiden
Dreifüße rechts und links vom Kopfende blakten zufrieden. Auf einem
Giebelbalken hoch unter dem Dach hockte der Steinkauz und blickte
hinab. Die Flammen tanzten in seinen schwefelgelben
Augen.
Leise summend saß sie auf den weißen Laken, die
Hände nach hinten abgestützt, und wiegte den Kopf zwischen ihren
Knien. Sie ließ ihm Zeit. Alle Zeit, die ein kluger Kopf brauchte,
um eine Frau gründlich zu studieren, von vorn nach hinten und
wieder zurück.
Kühl und fest lagen seine Ohren an den
Innenseiten ihrer Schenkel. Er war schöner, als sie ihn in
Erinnerung gehabt hatte. Mit dem Bart und der beginnenden Glatze
sah er fast klassisch aus. Vielleicht hätte der Bart noch ein
bisschen länger sein können. Aber seine Temperatur war ideal. Die
drei Tage im Kühlschrank waren ihm gut bekommen. Jetzt war er so
kalt und weiß, wie er es als Kopf schon immer hätte sein
sollen.
Sie beugte sich nach vorn und küsste ihn auf die
Stirn. »Du bist doch auch froh, dass wir so lange gewartet haben«,
flüsterte sie ganz nah an seinem Gesicht.
Er roch nur wenig. Und das nicht einmal
unangenehm. Nach Fisch und Honig.
Sie öffnete die Schenkel und ließ ihn in die
Laken plumpsen. Andächtig fuhr sie über den schwachen rostroten
Abdruck, den sein angeschnittener Hals auf das Leinen gestempelt
hatte. Viel Blut besaß er nicht mehr. Mit roten Fingern malte sie
Linien auf den weißen Stoff zwischen ihren Brüsten. Heute wusste
sie, dass andere Kinder Fingerfarben gehabt hatten. Sie hatte nie
mit Fingerfarben malen dürfen. Immer nur Buntstifte. Ihre Hand
tänzelte bettauswärts. »Messer, Gabel, Scher und
Licht...«
In Reih und Glied funkelten die chirurgischen
Instrumente, die sie beim Fachversand bestellt hatte.
Sie schloss die Augen. Der Druck in ihrem
Schädel war gewaltig gestiegen. Die Bilder mussten raus. Schädel
sprengen oder raus. Viele Monate waren vergangen, seitdem sich die
winzigen Gerstenkörner in ihrem Kopf eingenistet hatten.
Viele Monate, in denen sie gewachsen und gewachsen waren, bis sie
jeden anderen Gedanken verdrängt hatten.
Ihre Finger zitterten, als sie den Kopf wieder
zwischen ihre Schenkel klemmte, das erste Skalpell vom Tisch nahm,
es oberhalb des rechten Ohrs ansetzte und in frontalem Bogen zum
anderen Ohr hinüberzog. Mühelos drang die Klinge durch die Haut. Es
war wie bei den Kalbs- und Schweinsköpfen, mit denen sie geübt
hatte. Und doch war es ganz anders. Viel schöner. Ihre Finger
beruhigten sich. Mit einem zweiten Messer begann sie die Kopfhaut
vom Schädelknochen zu lösen.
»Zeit zum Ausziehen«, sagte sie, als ihr die
Haut ausreichend gelockert erschien, und wie man einer Puppe ein zu
enges Kleid über den Kopf zerrt, zog sie ihm das Fleischhemd über
die Ohren.
Es war sonderbar. Sie hätte schwören können,
dass ihr jemand zwischen die Beine gefasst und sie gezupft hatte.
Sie lauschte in sich hinein. Das Zupfen war weg, aber ein komisches
Gefühl war geblieben. Wie wenn die Nase lief. Sie fasste sich unter
das Kleid. Zwischen ihren Beinen rotzte es. Nachdenklich verrieb
sie den Schleim. Eine normale Erkältung war es jedenfalls nicht,
normale Erkältungen kannte sie, und die fühlten sich anders an. Es
musste ein Unterleibskatarrh sein. Sie hatte noch nie einen gehabt,
aber sie hatte schon davon gehört. Tatsächlich war alles zwischen
ihren Beinen geschwollen. Dumm, dass sie ausgerechnet jetzt krank
wurde. Aber egal.
Sie seufzte und legte ihre Wange an das blanke
Schädeldach.
»Begreifst du jetzt, warum wir warten mussten«,
flüsterte sie, »um ein Haar hättest du alles verdorben.« Sie strich
über die blutige Maske, unter der seine Gesichtszüge verschwunden
waren.
Als er sie letzten Samstag angefasst und sie ihm
gesagt hatte, er müsse noch viel mehr als sein Jackett ausziehen,
um ihr
nahe kommen zu können, hatte er gelacht und sein Hemd
aufgeknöpft.
Sie küsste den nackten Knochen. Der Druck in
ihrem Kopf war verschwunden. Sie verspürte eine Nähe, wie sie sie
noch nie in der Gegenwart eines anderen Körpers verspürt hatte. Sie
fühlte sich leicht und schwebend wie ein Luftballon. Der
Unterschied zwischen »im Kopf« und »draußen« war aufgehoben. So wie
sie die Innenseite seiner Stirnhaut zur Außenhülle gemacht hatte,
würden alle ihre Bilder Wirklichkeit werden. Sie war eine Göttin.
Und Göttinnen fantasierten nicht, Göttinnen arbeiteten in Fleisch
und Blut.
Ein neuerlicher Anfall ihres Unterleibskatarrhs
warf sie auf die Laken zurück. Sie wusste nicht, war es derselbe
Dämon, der zwischen ihren Beinen zupfte, oder war es ein anderer,
jedenfalls hörte sie klar und deutlich sagen:
Spalte den Schädel und schlürfe das
Hirn!
Sie vergaß das Zwischenbeingezupfe und setzte
sich kerzengerade. Schädelspalten ja. Hirnschlürfen nein. Sie
musste sich in Acht nehmen. Schon viele hatten göttlich begonnen
und als Hirnschlürfer geendet. Nicht nur ihr Held Tydeus, der sich
damals bei der Schlacht vor Theben fast die Unsterblichkeit
erkämpft hatte und dann verreckt war, weil er Menalippos ins Hirn
gebissen hatte. Auch Ugolino hatte es erwischt. Erst großer Graf
von Pisa und dann seinen eigenen Kindern die Hirnschalen
leergefressen.
Sie griff nach der Knochensäge. Der Kopf war
ihrem Schutz unterstellt, sie war verantwortlich, dass seinem Hirn
nichts zustieß. Also Vorsicht, Vorsicht. Zielsicher setzte sie die
Säge zum Tonsurschnitt an. Bloß nicht zu tief gesägt.
Hinterhauptsbein, Scheitelbein, Stirnbein und auf der linken Seite
lateinisch zurück. Os frontale, Os parietale, und als sich der
Kreis hinten beim Os occipitale geschlossen hatte, wechselte sie zu
Hammer und Meißel.
Du Sisera. Ich Jaël.
Mit federnden Schlägen trieb sie den rostfreien
Stahl in seine Schuppennaht hinein.
Gepriesen sei sie unter den Frauen! Sie griff
mit ihrer Hand den Pflock und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer
und zerschlug Siseras Haupt und zermalmte und durchbohrte seine
Schläfe.
Atemlos hielt sie inne und wischte sich den
Schweiß von der Stirn. Was redete sie da? Nicht zerschlagen und
zermalmen und durchbohren. Schützen, bewahren, lieben. Nichts als
Zärtlichkeit war sie in dieser Nacht.
Sie legte den Hammer aus der Hand, um sich zu
beruhigen.
Stirne blutet sanft und dunkel,
Sonnenblume welkt am Zaun,
Schwermut blaut im Schoß der Fraun;
Gottes Wort im Sterngefunkel!
Sonnenblume welkt am Zaun,
Schwermut blaut im Schoß der Fraun;
Gottes Wort im Sterngefunkel!
Es ging ihr wieder besser. Noch ein paar sanfte
Schläge, dann hatte sie es geschafft, sein Schädeldach gab endlich
nach. Es knackte spröde, und was sie sah, raubte ihr den
Atem.
Es war das Schönste, das sie auf der ganzen Welt
jemals gesehen hatte.
Sie stöhnte. Wieder hatte ihr der Dämon zwischen
die Beine gegriffen, und diesmal hatte er nicht einfach nur
gezupft, sondern war tief in ihren Unterleib hineingekrochen und
zog heftig. Sie fasste sich zwischen die Beine. Nun gut, wenn der
Dämon Tauziehen spielen wollte, dann spielte sie eben
mit.
Ihre Augen wurden feucht, als sie mit der freien
Hand das Hirn berührte. Es war so schön, so wunderschön, wie es
dort in seiner Schale lag, von Spinnwebenhaut und weicher Hirnhaut
- »pia mater!« - liebevoll bedeckt.
Gehirne: kleine, runde; matt und
weiß.
Sonne, rosenschössig, und die Haine blau
durchrauscht.
Vor Glück kullerten ihr ein paar Tränen übers
Gesicht. Sie war im Märchen. Sie war das Mädchen mit den
Zaubernüssen. Sie war das Mädchen, dem die Götter die vierte Nuss,
die Nuss aus ihrem heiligen Garten selbst, geschenkt
hatten.
Der Dämon knurrte böse, als sie ihn dort unten
sich selbst überließ, aber sie brauchte jetzt beide Hände.
Vorsichtig griff sie zwischen Hirn und Knochen in die Schädelbasis
hinein, ruckelte ein wenig an Nervensträngen und Blutgefäßen und
hob das Hirn heraus. Zitternd schmiegte es sich an ihre
Handflächen.
Sehen Sie, in diesen meinen Händen hielt ich
sie, hundert oder auch tausend Stück; manche waren weich, manche
waren hart, alle sehr zerfließlich; Männer, Weiber, mürbe und voll
Blut.
Sie ließ sich samt Hirn auf den Rücken fallen,
hielt es mit gestreckten Armen in die Höhe, wie man eine kleine
Katze in die Höhe hält, warf es in die Luft, klatschte in die
Hände, lachte und fing es wieder auf. Nie, nie, nie würde sie es an
die Wand werfen wie diese dumme Königstochter. Sie drückte es an
sich. Hirn an Hirn. Endlich konnten sie sich lieben. Befreit von
allem, was sie getrennt hatte. Sie hatte schon immer so eine Ahnung
gehabt, aber jetzt erst fühlte sie es sicher: Sie war Hirn. Reines
Hirn. Von Kopf bis Fuß.
Der Dämon war in ihrem Unterleib auf ein
unbekanntes Glockenarsenal gestoßen und läutete Sturm. Der leere
Kopf krachte auf den Steinboden.
Sie presste eine Hand zwischen ihre Beine. Ihr
ganzer Körper vibrierte von dem Geläut. Konnte man an
Unterleibskatarrhen sterben? Ganz fest drückte sie das Hirn an
sich. Ungewollt
glitt ihre Hand in den Spalt hinein, der die linke von der rechten
Hälfte trennte. Sie erstarrte.
»Fissura longitudinalis«, beschwor sie sich,
»Fis-su-... lon-gi-tu-...«, während ihre Finger in Schleim und Blut
versanken. Und obwohl es in ihrem Kopf immer schneller wirbelte,
war es dort gleichzeitig ganz still und schwarz geworden.
Die Hand voll Hirn hatte sie in Höhen getragen,
in denen der menschliche Geist nichts mehr zu suchen
hatte.