I
»Verdammte Scheiße, kannste dem Balg nich mal ordentlich den Arsch abwischen!«
Kyra Berg drückte die Stopptaste ihres Aufnahmegeräts und atmete tief durch. Geduld und Ausdauer waren die Waffen der Journalistin. Aber wenn das so weiterging, konnte sie sich mit diesem Interview den Arsch abwischen.
Der Krabbler an der Schwelle zur Stubenreinheit plärrte los, als seine Mutter aufsprang und ihn vom Teppich pflückte.
Sie blickte Kyra entschuldigend an. »Det is immer det Gleiche hier. Um jeden Scheiß muss ick mir kümmern. Der Olle macht jar nüscht. Zum Kotzen is det.«
Kyra nickte ihr beipflichtend zu. Angesichts des verzierten Babyarschs war sie froh, nicht gefrühstückt zu haben.
Die Mutter verschwand mit ihrer Fracht im Bad. Wassergeplätscher und heftigeres Krabblergebrüll legten sich über das Fluchen.
Kyra stützte den Kopf in die Hände und massierte ihre Schläfen. Die Kopfschmerzen, mit denen sie heute Morgen bereits erwacht war, hatten zugenommen.
Warum hörte das Balg nicht mit seinem Geschrei auf. Es brachte doch nichts. Die Mutter würde es sowieso bis aufs Blut schrubben. Und warum hörte die Frau nicht mit ihrem Fluchen auf? Der Fleischkoloss, der im Feinrippunterhemd in der Küche saß und Bier trank, würde sowieso dort hocken bleiben. Es war alles so sinnlos.
»Nur noch n kleenen Moment. Ick bin gleich wieder da«, rief die Frau aus dem Bad. »Nehmense sich doch so lang noch n Kaffee.«
Kyra warf einen Blick in die volle Tasse, die unberührt vor ihr stand. Jetzt meldete sich der Whisky von letzter Nacht doch noch zu Wort. Sie konnte diesen Kaffee nicht trinken. Keinen Schluck, hier in diesem Zwei-Zimmer-Drecksloch zwischen all der Babyscheiße, dem Bierdunst und den Häkelschonern, die im ganzen Raum verteilt waren, als könnten sie das Elend verhüllen.
Es gab Tage, da bereute Kyra, dass sie nicht mehr fürs Feuilleton schrieb.
Die Frau kam zurück. Sie ließ den Krabbler wie eine Katze fallen, streifte die Hände an ihren pinkfarbenen Leggings ab und ging wieder zum Sofa.
»Also was wolltense jetzt zuletzt wissen?«
Geduld und Ausdauer. Geduld und Ausdauer. Kyra drückte die Aufnahmetaste an ihrem Kassettenrecorder. »Ich hatte Sie gefragt, ob Sie sich erklären können, warum Ihre Mutter damals Ihren Vater umgebracht hat.«
 
Erika Konrad wischte sich über die Stirn. Obwohl sie die Klimaanlage des Wagens voll aufgedreht hatte, war sie in Schweiß gebadet. Das seidene Sommerkleid klebte ihr am Rücken. Wie Schmeißfliegen kreisten ihre Gedanken um den Fleck zwischen ihren Schulterblättern, der ihr Lieblingskleid für immer ruiniert haben würde.
Im Schritttempo ließ sie den Wagen die Einfahrt hinaufrollen. Je näher sie Berlin gekommen war, desto langsamer war sie geworden. Seitdem sie die Autobahn verlassen hatte, war sie nicht mehr schneller als dreißig gefahren. Es kam ihr vor, als ob sich ihr Fuß dagegen sträubte, weiter das Gaspedal zu treten.
Erika Konrad stellte den Motor ab. Mit feuchten Händen hielt sie das Lenkrad umklammert. Natürlich war es nicht ihr Fuß, sondern ihr Herz, das sich dagegen sträubte, heimzukehren. Heimzukehren. Wie höhnisch dieses Wort in ihren Ohren klang. Sie blickte zu der mächtigen Villa, die halb in der Sonne, halb im Schatten der alten Lärchen lag.
Erika Konrad musste sich zwingen auszusteigen. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Sie bückte sich, um einen Stein zu entfernen, der sich in ihre roten Riemchensandalen geschoben hatte. Als sie mit der Nase in die Nähe ihrer Achselhöhlen kam, roch sie den Schweiß. Nur an den kühleren Tropfen, die auf ihren Handrücken fielen, merkte sie, dass sie weinte. Sie hatte in den letzten Jahren zu viel geweint, um Tränen an der Quelle zu spüren.
Der Stein im Schuh war ihr plötzlich egal. Sie wollte nur noch die Hitze hinter sich lassen. Mit raschen Schritten legte sie die letzten Meter zur Eingangstreppe zurück.
Die massive Holztür war lediglich zugezogen, nicht abgeschlossen. Erika Konrad warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor drei. Ihr Mann konnte unmöglich zu Hause sein. Nie kam er vor sechs aus der Zeitung zurück. Es musste die Putzfrau sein.
Im Haus war es kühl und still. Erika Konrad legte ihre Handtasche auf dem kleinen Teakholztischchen neben der Garderobe ab. Sie erschrak, als sie ihr Bild im Spiegel sah. Eine Vogelscheuche steckte in ihrem Lieblingskleid. Sie wagte nicht, die Sonnenbrille abzusetzen.
Hier drinnen kam ihr der eigene Schweißgeruch noch widerlicher vor. Sie musste dringend duschen.
»Ilona!« Ihre Stimme hallte durch das leere Haus. Kein Geräusch deutete auf die Gegenwart eines putzenden Menschen hin. Sie ging zu der geschwungenen Treppe, die ins obere Stockwerk führte, und rief noch einmal. »Ilona! Sind Sie da?«
Dieser Gestank. Dieser grässliche Gestank. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nicht so erbärmlich gestunken. Selbstekel krampfte ihr den Magen zusammen. Sie spürte, wie die Übelkeit in ihrem Hals emporstieg. Erika Konrad schlug die Hand vor den Mund.
Sie brauchte dringend eine Dusche. Brauchte dringend einen Cognac.
Hilflos stolperte sie durch den Flur, an dessen Ende das Wohnzimmer lag.
Wäre sie weniger verwirrt gewesen, hätte sie sich möglicherweise gefragt, wieso der grässliche Gestank, der sie vor sich selbst hertrieb, immer stärker wurde, je näher sie dem Wohnzimmer kam. Und hätte sie sich das gefragt, hätte sie möglicherweise gezögert, die Tür zu öffnen.
 
»Herei-hein.« Kyra versuchte, sich auf dem Bürostuhl umzudrehen, ohne die Beine vom Schreibtisch zu nehmen. Aus dem Kassettenrecorder plärrte es in ungeschnittener Härte: »Sammie, ick warn dir. Beim nächsten Mal fängste eine.«
»Jessas, was ist denn bei dir los?«
Kyra grinste den kleinen Mann mit dem grauen Vollbart und der dunklen Hornbrille, der seinen Kopf vorsichtig zur Tür hereinsteckte, freundlich an. »Tja. Kann eben nich jeder uffe Arbeit Mozart hören.«
Franz Pawlak war der lokale Musikredakteur beim Berliner Morgen. Fast drei Jahre lang hatten sie Tür an Tür im Feuilleton gearbeitet. Kyras selbstgewählten Wechsel ins Mord- und Totschlag-Ressort hatte er noch immer nicht verkraftet.
»Sammile! Biste bescheuert. Nimm die Pfoten weg von meinen Cindy-Crawford-Videos.«
Franz stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Kyra das anschließende Krabblergeschrei per Tastendruck abstellte.
»In welchem Neuköllner Hinterhof hast du das denn eingefangen?«
»Nix Neukölln. Wedding. Ich bitte dich, Franz, das hört man doch. Neukölln klingt ganz anders.«
»Tut mir Leid. Ich bin Österreicher. Mein akustisches Differenzierungsvermögen beschränkt sich auf Josefstadt und Favoriten.«
Kyra griff nach dem Zigarettenpäckchen, das neben dem Kassettenrecorder lag, fischte mit gespitzten Lippen eine Zigarette heraus und steckte sie linkshändig an. Franz beobachtete den Vorgang, als schaue er einer Schlangenfrau im chinesischen Staatszirkus zu.
Sie blies eine lange Rauchschwade in seine Richtung. »Also. Was gibts?«
»Ich wollte fragen, ob du heute Abend zur Elektra-Premiere mitkommst. Staatsoper.«
Kyra verdrehte die Augen. »Du lässt aber auch wirklich keinen Versuch aus, mich auf den Pfad der schönen Künste zurückzuführen, was?«
»Heißt das nein?«
»Das heißt: Ich weiß noch nicht. Nachher muss ich nach Plötzensee raus und die Mutter der reizenden Dame interviewen, deren Stimme du gerade gehört hast. Keine Ahnung, ob ich danach noch Bock auf Elektra hab.«
»Seit wann interessieren dich denn Sozialreportagen?«
Kyra ging zum offenen Fenster und aschte drei Stockwerke runter auf die Straße. Es war ein schöner Zug von der Neuen Hauptstadtzeitung, dass sie auf Fenstersperren verzichtete. Eine Touristengruppe schleppte sich unter einheitsblauen Sonnenhüten in Richtung Brandenburger Tor.
»Wenn am Ende der Ehemann tot ist.«
»Was? Diese Kreischsäge hat ihren Mann umgebracht? Und läuft frei rum?« Franz klang ernsthaft schockiert.
»Nee, nee, bis die so weit ist, dauerts noch ne Weile.« Kyra warf den obligatorischen Blick zu den Baukränen, die über dem Potsdamer Platz in den Himmel ragten. »Ihre Mutter hat ihren Alten umgebracht.« Sie schnipste den Zigarettenstummel in die Tiefe und lächelte Franz an. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich eine Serie über Berliner Mörderinnen mache.«
Franz schnaubte. »Jawohl. Nach zehn Bier.«
Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Du weißt, dass ich die Dinge, die ich nach zehn Bier erzähle, besonders ernst meine.«
 
Erika Konrad erwachte hustend. Sie hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund. Weshalb lag sie auf dem Parkett? Verwirrt blinzelte sie an die Decke und erkannte die gipsernen Putten, die mit ihren Füllhörnern auf sie zielten. Ja, richtig. Sie war zu Hause. Daheim. At home.
Mühsam setzte sie sich auf. Ihr Lieblingskleid war von oben bis unten voll gekotzt. Ausgerechnet ihr Lieblingskleid. Ihr Lieblingskleid aus Seide, das ohnehin so schwer zu pflegen war. Sie konnte sich noch genau erinnern, wie schwierig es damals in diesem Schweizer Restaurant gewesen war, den Rotweinfleck herauszubekommen. Rotweinflecken waren ja immer ein Problem, aber aus Seide gingen sie eben so besonders schwer heraus.
Erika Konrad erhob sich. Mit zitternden Knien ging sie zur Tür.
Vielleicht konnte sie das Kleid noch retten, wenn sie es jetzt gleich einweichte. Seide immer nur in kaltem Wasser einweichen. Empfindliche Stoffe nie heiß behandeln.
An der Schwelle blieb sie stehen. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie sich am Türrahmen abstützen musste. Ein paar Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Warum konnte sie denn jetzt nicht weitergehen? Wenn sie nicht schnell ins Badezimmer kam und ihr Kleid einweichte, war doch alles verloren. Alles verloren. Alles verloren.
Heulend sank sie auf die Knie. Mit beiden Fäusten trommelte sie gegen den Türrahmen. Es durfte nicht sein. Nein. Nein. Nein. Es durfte nicht sein. Sie hatte ihrem Mann doch von Anfang an gesagt, dass eine weiße Wohnzimmereinrichtung nicht sauber zu halten war.
Erika Konrad erstarrte. Kälte kroch zwischen ihren Schulterblättern hinauf. Wohnzimmereinrichtung. Weiße Wohnzimmereinrichtung. Was - Was -
Eine unsichtbare Hand packte sie am Kinn und drehte ihr Gesicht langsam zur Zimmermitte zurück. Nein. Nein. Nein. Erika Konrad schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sie wollte nicht sehen. Sie wollte überhaupt nichts sehen.
Zwei Geisterfinger schoben sich unter ihre Lider und drückten sie unbarmherzig nach oben.
Erika Konrad wimmerte leise. Da lag, was da nicht liegen durfte. Lag immer noch da. Auf dem Couchtisch. Und hatte keinen Kopf mehr.
Sie zog ihre Knie an und umklammerte sie mit beiden Armen. Ihr war kalt. So furchtbar kalt.
Das Blut war bis zur Decke gespritzt. Bis zum Kronleuchter. Vorhänge. Ledergarnitur. Lampenschirme. Bilderrahmen. Kamin. Alles vollgespritzt. Der Seidenteppich, der unter dem gläsernen Couchtisch lag, war ganz rostrot.
Erika Konrad schluckte. Nur gut, dass ihr das nicht passiert war. Und fing an zu kichern. Sie hätte nicht hören mögen, was ihr Mann ihr erzählt hätte, wenn es ihr Blut gewesen wäre, das da überall an seinen teuren weißen Möbeln klebte.
Die Kälte war plötzlich verschwunden. Auch ihr Körper hatte aufgehört zu zittern. Sie war ganz leicht. Ganz leicht und ruhig.
Fast schon beschwingt stand sie auf. Kein Fitzchen Angst mehr. Wovor auch. Er war ja tot.
Einen Meter vor dem Couchtisch blieb sie stehen.
Sonderbar, wie wenig es einen Menschen veränderte, wenn man ihm den Kopf abhackte. Es war ihr Mann. Zweifellos ihr Mann. Man hätte ihm noch viel mehr abhacken können, selbst der bloße Rumpf wäre unverkennbar Robert Konrad geblieben. Der große Robert Konrad. Der Charisma-Riese.
Obwohl er nicht mehr dunkelgrau, sondern so rostrot wie der Rest des Zimmers war, erkannte sie sofort, dass er zum Sterbengehen seinen teuersten Anzug angezogen hatte. Der Anzug, von dem er selbst behauptete, er sähe in ihm wie ein guter Vierziger aus. Das Jackett lag hingeworfen auf der Couch, das Hemd war bis zum Hosenbund hinab aufgeknöpft.
Mit der Fußspitze tippte sie die Flasche an, die samt Sektkübel zu Boden gefallen war. Neunzehnhundertneunziger Dom Pérignon. Sein Lieblingschampagner. Gedankenverloren bückte sie sich nach den zwei Sektgläsern, die etwas weiter entfernt lagen.
Ich hoffe, du hast einen schönen Abend verbracht.
Ihre Stimme hallte fremd in dem toten Raum.
Sie richtete sich auf. Und stieß gegen den Arm, der starr und kalt vom Couchtisch abstand. Die Sektgläser in ihrer Hand zersplitterten. Er sollte sie nicht mehr anfassen. Nie wieder sollte er sie anfassen...
Hasserfüllt schleuderte sie die Glasscherben zu Boden. Ein feiner Blutregen spritzte von ihren zerschnittenen Handflächen.
Du Schwein. Du verdammtes Schwein.
Sie trat nach der Hand, die knapp über dem Seidenteppich in der Luft hing.
Schwein. Schwein. Schwein.
Sie drehte sich um, holte mit ihrer blutenden Hand aus, nie hatte sie ihn geschlagen, natürlich nicht, immer nur er, er, er; er konnte ja machen, was er wollte, mit ihr, mit -
Alles, was ihre Hand traf, war das rohe Chaos, das aus seinem offenen Hemdkragen quoll.
Die letzten Reste Hühnersuppe und Feldsalat, die sie in einer anderen Welt einmal gegessen hatte, klatschten auf seine Brust.
Erika Konrad schlug die Hände vor den Mund und taumelte noch immer würgend rückwärts.
Was hatte sie getan? Oh Gott, was hatte sie getan?
Ihr Mann war tot. Bestialisch dahingeschlachtet. Der Mann, mit dem sie achtundzwanzig Jahre lang verheiratet war. Der Mann, der der Vater ihrer einzigen Tochter war.
Mörder! Mörder!
Sie stürzte los, knickte um, rappelte sich wieder auf und fasste nach dem Telefon. Null - Eins - Sie wischte sich mit ihrer blutigen Hand übers Gesicht. Eins - Null - Nein - Eins - Eins - Ihre Finger zitterten so, dass sie immer wieder neu beginnen musste. Der Hörer fiel ihr aus der Hand.
Sie bückte sich. Und gefror. Da, wo der Hörer lag, war eine Spur. Eine wild zerstampfte Spur, die vom Couchtisch zum Kamin führte. Sie blickte hoch zu den Fotos, die auf dem Kaminsims standen. Die Fotos waren blutverschmiert. Rostrote Fingerabdrücke auf dem Liebsten. Und etwas fehlte. Etwas, das dort immer gehangen hatte. Etwas, das sie selbst dort hingehängt hatte. Ihr wurde schwindelig. Sie sank auf die Knie. Weinend streichelte sie die Spur am Boden. Kleine Füße. So kleine Füße.
 
»Hamse n Handy?«
»Bitte?« Kyra bewegte ihr Ohr noch etwas näher an den Lautsprecher heran, der in die Panzerglasscheibe eingelassen war. In ihrem Rücken brüllten zwei türkische Kids gegen ihren Vater an. Ein freundlicher deutscher Justizvollzugsbeamter versuchte, die mutterlose Familie mit »nix Besuchszeit, nix Besuchszeit« zu verscheuchen.
»Wennse n Handy ham, müssenses hier abgeben. Handy ist drinnen nicht erlaubt«, wiederholte der Pförtner hinter dem Panzerglasschalter.
»Ach so. Ja.« Kyra zog die Augenbrauen zusammen. Die beiden Jungs drehten noch einige Dezibel auf. Wahrscheinlich war die Mutter nur straffällig geworden, um im Knast ihrer Familie zu entkommen.
Kyra lächelte den Pförtner gewinnend an. »Ich brauche aber mein Handy. Ich muss erreichbar sein. Gibt es keine Ausnahmeregelung für Journalisten? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eidesstattlich versichern, dass ich niemanden damit telefonieren lasse.«
»Handy ist drinnen generell nicht erlaubt«, beschied der Pförtner ungerührt.
Kyra ließ das Lächeln langsam aus ihrem Gesicht rutschen. Es war doch immer wieder beruhigend zu erleben, wie sehr man es sich in dieser Stadt sparen konnte, so zu tun, als ob man ein freundlicher Mensch wäre.
»Ick hab mir die Vorschrift nicht ausgedacht«, schob der Pförtner hinterher, »da müssense sich schon beim Justizsenator beschweren.«
Kyra machte den Mund auf und wieder zu. Sie lebte zu lange in Berlin, um nicht zu wissen, dass jedes weitere Wort sinnlos war. Widerwillig holte sie das Handy aus ihrer Tasche und legte es in den Schubkasten, der in den Schalter eingelassen war.
»Wehe, wenn einer jetzt Bellevue in die Luft jagt«, knurrte sie mit geschlossenen Zähnen.
 
Nach und nach erwachte Erika Konrad aus der Benommenheit, in die sie die blutige Fußspur gestürzt hatte. Unsicher schaute sie sich im Zimmer um. Auf einmal verstand sie. Natürlich. Es konnte gar nicht anders sein. Alles andere hätte gar keinen Sinn gehabt.
Angst erfasste sie. Es war ihr Fehler. Alles war ihr Fehler. Sie und niemand sonst war schuld an dem, was hier geschehen war. Sie allein hätte es verhindern können. Warum war sie so schwach gewesen. So schwach und dumm. Sie allein war schuld.
Erika Konrad schluckte die Tränen hinunter, die ihr unablässig übers Gesicht liefen. Noch war nichts endgültig verloren. Noch konnte sie alles wieder gutmachen. Sie musste nur stark sein. Stark und klug.
»Herzig, nich«, sagte die grauhaarige Frau und zeigte auf die Glasvitrine, die bis oben hin mit Plüschtieren voll gestopft war. »Die könnense alle kaufen. n paar von den Mädels hier machen die inne Werkstätten. Vor allen Dingen die rosa Elefanten mit den Schlappohren, die find ich besonders goldig. In meiner Zelle hab ich auch drei von den Kameraden hocken.«
Kyra rückte an ihren Notizen. Wie immer, wenn sie nervös war, rieb sie an dem kleinen sternförmigen Muttermal herum, das links über ihrer Oberlippe saß. »Frau Becker, Sie waren gerade dabei, mir zu erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass Sie Ihren Mann an jenem Abend dann wirklich umgebracht haben.«
»Na ja. Wie gesagt.« Mit einem Achselzucken verabschiedete sich Hermine Becker vom Friedhof der Kuscheltiere. »An dem Morgen, da hat der Stiesel doch glatt vergessen, mir n Wecker zu stellen. Alles konnt ich vertragen, aber nich verschlafen. Das war für mich mein Tod. Hab ich ihn erst mal fertig gemacht, das war klar.«
Kyra nickte, als sie Hermine Beckers zustimmungsheischenden Blick spürte.
»Da is er denn erst mal aufgesprungen, da hat er gebrüllt, was mir nur überhaupt einfiel, ihm is das scheißegal, ob ich auch noch meine Arbeit verliere und, und, und.« Die alte Frau winkte ab. »Ach, Sie können sich gar nich vorstellen, das war die Hölle auf Erden. Aber so gings schon die ganze Woche, und den Tag besonders schlimm. Immer, wo er mich getroffen oder gesehen hat, gings rund, nur Bedrohungen, nur Bedrohungen, nur Bedrohungen, dass er mich umbringt. Da hab ich gesagt, is gut. Ich wusst schon vor Angst nich mehr - ich war inner Verfassung, das kann sich kein Mensch vorstellen.«
In dem himmelblauen Rechteck hinter dem weiß vergitterten Fenster tauchte für wenige Sekunden ein startendes Flugzeug auf. Ein menschenfreundlicher Stadtplaner hatte das Frauengefängnis auf einem Grundstück mit Flughafenblick erbauen lassen. Kyra verfolgte, wie sich der Kopf der alten Frau langsam seitlich neigte. Ein menschenfreundlicher Gefängnisarchitekt hatte die Gitter vor den Fenstern diagonal angebracht.
Es dauerte eine Weile, bis Hermine Becker mit leiser Stimme weitersprach. »Ich weiß ja nich, was meine Tochter Ihnen erzählt hat, aber der Abend, das sag ich Ihnen jetzt, ob Sies mir glauben oder nich, das wars Ende. Das hat mich so fertig gemacht, dass ich nich mehr wusste, was hinten und vorne war. Und vor allen Dingen, er hat sich denn immer mehr reingekippt, hingepackt auf die Couch, das dauerte ne halbe Stunde, denn wieder hoch, zur Toilette, ins Schlafzimmer, alles war aufgerissen, angeguckt hat er mich und geschubst und denn... und denn...«
Die alte Frau schaute Kyra hilflos an. Und plötzlich rollten ihr Tränen übers Gesicht. Tränen, die so fremd wirkten, als hätte ihr eine unsichtbare Maskenbildnerin Glyzerin in die Augen getropft. »Ich weiß es doch nich«, sagte sie und rang die Hände, »ich kann mich doch an nix mehr erinnern. Das is alles wie - wie weggewischt.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Kittelkleid und schnäuzte. Die Tränen waren so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. »Und wissen Sie: Manchmal kommt es mir grad so vor, als ob ich das gar nich gewesen wär, als ob da irgend n andrer die Paketschnur genommen und das für mich gemacht hätte.« Sie lächelte. »Aber ich muss es wohl gewesen sein, es war ja sonst niemand da.«
 
Erika Konrad legte den Wischlappen aus der Hand. Sie hatte jegliches Gespür dafür verloren, wie lange sie schon arbeitete. Die körperliche Anstrengung tat ihr gut. Entschlossen ging sie auf den Couchtisch zu.
Sie hatte sich getäuscht, vorhin, als sie gedacht hatte, der fehlende Kopf hätte ihren Mann nicht verändert. Es hatte ihn verändert. Zum ersten Mal seit Jahren konnte sie ihn anschauen, ohne Furcht zu haben, dass er sie anschaute. Dass er sie mit seinen unbarmherzig gealterten Herrenmensch-Augen anschaute.
Erika Konrad blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, packte ihren Mann an beiden Armen und zog ihn mit einem Ruck vom Couchtisch herunter.
 
»Franz, das ist doch nicht zum Aushalten! Eben noch erzählt mir diese Frau, welche Hölle ihr Leben war, und im nächsten Atemzug erklärt sie mir, wie goldig die Plüschelefanten mit ihren Schlappohren sind!« Kyra fuchtelte aufgeregt mit ihrem Glas herum. Ein Schwung Champagner landete auf dem Ärmel des Herrn, der in premierenblaues Tuch gewandet am nächsten Stehtisch lehnte und seinen Opern-Aperitif zu sich nahm. Das Tut-mir-Leid, das Kyra in seine Richtung fauchte, ließ ihm jegliche Beschwerdelust vergehen.
Franz klopfte sich ein paar Schuppen vom Fischgrätenjackett und lächelte. »Was hast du denn gedacht, welch düstre Heldin du in einem Berliner Knast triffst? Medea? Lucrezia Borgia?«
»Quatsch«, würgte Kyra ihn ungnädig ab. »Nach dem, was sie getan hat, hätte ich einzig und allein erwartet, dass sie ein bisschen weniger banal ist, ein bisschen - gewaltiger.«
Franz nahm seine verdreckte Hornbrille von der Nase und begann, sie mit dem Zipfel seines wie immer schwarzen Hemdes, das wie immer nicht in der Hose steckte, zu polieren. »Vielleicht fängst du ja langsam an zu begreifen, was für eine Schnapsidee dein Crime-Trip ist. Wenn du gewaltige Frauen suchst, komm zurück ins Feuilleton.«
»Ha ha«, brummte Kyra, »sehr witzig. Da treff ich dann so gewaltige Frauen wie dich, oder was.«
Franz setzte seine Brille umständlich wieder auf. Er blinzelte Kyra durch die verschmierten Gläser liebevoll an. »Wenn du mir nicht aus Prinzip widersprechen müsstest, würdest du ja selbst zugeben, dass es spannender ist, in die Oper zu gehen und Elektra zu sehen, als irgendwelche Weddinger Hausfrauen zu interviewen, die ihre Stricknadeln aus Versehen mal in ihren Gatten gesteckt haben.«
»Elektra! Elektra! Hör mir auf mit Elektra!« Kyra knallte ihre Faust auf den Tisch. »Was ist denn Elektra! Sophokles, Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss«, zählte sie auf und ließ bei jedem Namen einen Finger aus der Faust schnellen. »Elektra ist keine gewaltige Frau, Elektra ist eine gewaltige Männerfantasie.«
»Vielleicht gibt es gewaltige Frauen nur als gewaltige Männerfantasien.«
Kyra warf ihm einen wütenden Blick zu und schwieg.
»Mal im Ernst. Ich sehe einfach nicht, was du dir davon versprichst, mit Handy und Beeper quer durch die Stadt zu hecheln und zu gucken, ob du irgendwo in Marzahn eine Fritzi Haarmann findest.«
»Ich will wissen, ob es eine gibt.«
»Ja und dann? Dann stellst du sie bei dir daheim in die Vitrine?«
»Nein.« Kyra blickte finster vor sich hin. »Eine wirklich gewalttätige Frau, eine Frau, die durch und durch skrupellos, böse ist, würde diese Gesellschaft heftiger erschüttern als alle Revolutionen.«
 
Es war kurz nach neun, als Erika Konrad die gelben Gummihandschuhe auszog, den letzten Eimer blutiges Putzwasser ins Klo kippte, die rostroten Lappen in einen Müllsack warf und den Staubsauger in die Kammer zurückstellte. Jeder einzelne Gegenstand, jedes Möbelstück, alle Wände und Böden in der Villa glänzten so blank, als ob noch keines Menschen Hand und Fuß sie je berührt hätten. Der gläserne Couchtisch war bis zur Unsichtbarkeit poliert. Im Kamin fielen die glühenden Überreste des Seidenteppichs in sich zusammen.
Erika Konrad ließ ihren Blick prüfend durch das Wohnzimmer und über ihren Mann hinwegwandern, der zusammengekrümmt in der äußersten Ecke des Raumes lag. Sie zögerte. Noch ein Letztes war zu tun. Vielleicht war es nicht klug, aber sie musste es tun. Sie ging zu dem gläsernen Regal neben dem Fernsehgerät und holte die oberste Reihe Videokassetten heraus. Nur die oberste Reihe, nur die privaten Videos ihres Mannes.
Sie warf den schwarzen Stapel in den Kamin, übergoss ihn mit dem restlichen Benzin aus dem Geräteschuppen, und eine hohe Stichflamme schoss auf. Zufrieden hörte sie, wie der Kunststoff verbrutzelte. Jetzt war sie wirklich fertig. Fertig mit allem.
Weder ihre Finger noch ihre Stimme zitterten, als sie die 110 wählte und sagte: »Hier Konrad, Wildpfad 30. Schicken Sie jemanden vorbei. Ich habe meinen Mann umgebracht.«
Mach keine Türen auf in diesem Haus! Gepresster
Atem, pfui! und Röcheln von Erwürgten, nichts andres gibts in diesen Mauern!
Kyra lehnte sich in ihrem Sessel zurück und ließ die mächtige Stimme der Sopranistin durch sich hindurchrieseln. Sie hatte vollständig vergessen, wie wunderbar Elektra war. Elektra mit dem Beil. Elektra, die in blutigsten Tönen die Ermordung ihrer Mutter beschwor.
Das ganze Haus ist auf. Sie kreißen oder sie morden.
Wenn es an Leichen mangelt, drauf zu schlafen, müssen sie doch morden!
Vielleicht hatte Franz Recht. Vielleicht war es tatsächlich albern, im kümmerlichen Bodensatz der Berliner Realität herumzustochern, wenn es auf der Bühne solche Figuren gab.
Kyra war so weggetaucht, dass sie die leisen Lockrufe ihres Handys erst hörte, als Franz ihr unsanft in die Rippen stieß. Das Klingeln holte sie vom Olymp antiker Blutrunst in die Berliner Niederungen zurück. Ihre Handynummer besaß nur ein einziger Mensch: Freddy Lehmann, der Kleinganove, den sie - und eine Menge anderer Journalisten - dafür bezahlte, dass er rund um die Uhr das Ohr, mit dem er gerade nicht im Gefängnis war, am Polizeifunk hatte.
Kyra zerrte ihre Tasche unter dem Sitz hervor. Berlin oder Mykene? Große Oper oder kleines Verbrechen? Altbekannte Rache oder die Aussicht auf frischen Mord?
Und folg ich dir nicht und schlachte, schlachte, schlachte Opfer um Opfer?
Kyra gab sich einen Ruck. Sie warf Franz ein entschuldigendes Lächeln zu, ignorierte die unterdrückten Flüche des Ehepaars, das neben ihr saß, und schob sich in Richtung Ausgang.
 
»Kacke.« Der Mann mit der Kamera trat wütend gegen den schmiedeeisernen Zaun. »Ich hasse diese Bonzenvillen. Viel zu viel Grundstück drumrum und viel zu viel Bäume. Da brauchste ja n Tele wie n U-Boot, um n anständigen Schuss zu machen.«
»Locker bleiben, Mann.« Sein Textkumpel von derKonkurrenzzeitung, der zeitgleich mit ihm am Tatort eingetroffen war, warf einen skeptischen Blick auf die drei Einsatzwagen, die mit kreisenden Blaulichtern in der Einfahrt standen. »Passiert doch eh wieder nix.« Er holte eine Packung Zigaretten aus der Innentasche seines Wildlederblousons und steckte sich eine an.
Der Fotograf ging in die Hocke. In unbequemem Winkel schob er sein Kameraobjektiv durch die Gitterstäbe. »Mann, wenn das wieder so n Scheißtipp is wies letzte Mal, kauf ich mir den Freddy. Weißte noch, die Sache mit den Vietnamesen, warste doch auch dabei.«
»Klar, Mann.« Der andere Journalist paffte gelassen vor sich hin. »Aber das Ding im Mai, das Ding mit dem Rumänen, ich sag dir, das war noch ne viel größere Wichse. Freddy total aufgeregt, du Dieter, ganz große Sache, ey, Geiselnahme, zwo kleine Kinder GSG-9-Einsatz mit allen Schikanen. Ich natürlich nix wie raus aus m Bett, rin inne Kiste, heiz nach Marzahn, und wie ich dann hinkomm -«, der Mann im grünen Wildlederblouson ließ die Zigarette aus dem Mund fallen und kickte sie durch die Gitterstäbe hindurch, »- da hatte sich dieser Rumänenwichser doch einfach gestellt. Kein einziger Schuss. Nix. Totaler Griff ins Klo.«
»Kacke, Mann«, sagte der Fotograf und drehte an seinem Objektiv.
 
Kyra rannte Unter den Linden entlang. Die verstreuten Sommernachts-Touristen schauten sie an, als erwarteten sie im Gefolge das Mütterchen, dem die Handtasche, die sie unter den Arm geklemmt hielt, eigentlich gehörte.
Kyra war froh, dass sie keine Zeit gehabt hatte, sich opernfein zu machen. Der 500-Meter-Stiletto-Sprint war nie ihre stärkste Disziplin gewesen. Trotzdem verfluchte sie sich dafür, dass sie ihre Giulia nicht auf dem Mittelstreifen vor der Oper, sondern in der Zeitungstiefgarage geparkt hatte. Wahrscheinlich war sie sowieso schon zu spät, weil Freddy sie wieder einmal erst angerufen hatte, nachdem er seine ganzen Boulevard-Spezis durchtelefoniert hatte. Freddy. Eines nicht allzu fernen Tages würde sie ihm das linke Ei abschneiden, stramm anbraten und an seinen Mastino verfüttern.
Keuchend bog Kyra in die Neustädtische Kirchstraße ein. Das Blut hämmerte in ihren Ohren. Natürlich hatte diese ignorante Ratte von einem Informanten keine Ahnung gehabt, wie heiß die Nachricht war, die sie ihr geflüstert hatte. Wenn im Hause Konrad wirklich ein Mord geschehen war, und wenn es sich wirklich um das Haus Konrad im Wildpfad 30 handelte, dann war es sehr gut möglich, dass ihre Zeitung, an deren Haupteingang sie gerade vorbeirannte, morgen einen neuen Chefredakteur brauchte.
 
Ein fernes Blitzlichtgewitter begrüßte Erika Konrad, als sie, flankiert von zwei Beamten in Uniform, über die Schwelle ihrer Villa trat. Die Berliner Zeitungsmeute, die sich hinter dem Grundstückszaun zusammengerottet hatte, begann zu kläffen, dass die Hunde am benachbarten Grunewaldsee verstummten.
»Frau Konrad, haben Sie Ihren Mann ermordet?«
»Gibt es noch weitere Tote?«
»Hey, schau mal her!«
»Haben Sie es allein getan?«
»Hatte Ihr Mann eine Geliebte?«
Erika Konrad blickte lächelnd geradeaus. Stumm ließ sie sich zu dem Streifenwagen führen, der sie von diesem Ort ein für alle Mal wegbringen würde. Ohne den geringsten Widerstand zu leisten, stieg sie in den Wagen.
Sie war stolz. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich stolz auf sich. Und das machte sie glücklich. So glücklich, dass sie keinen Drang verspürte, ihr Gesicht zu verbergen, als der Wagen die Ausfahrt passierte und sich langsam durch die schreiende und blitzende Horde schob, sondern mit dem Lächeln eines hohen Staatsgastes aus dem Fenster sah.
 
Kyra riss das Lenkrad herum. Um ein Haar hätte der Streifenwagen sie gerammt, der aus dem Wildpfad in die Hagenstraße geschossen war und sich blaulichternd in Richtung Innenstadt entfernte.
Sie stieß einen wüsten Fluch aus. Wenn sie sich nicht täuschte, hatte sie an der hinteren Fensterscheibe das bleiche Gesicht der Chefredakteursgattin gesehen.
Als sie um die Kurve bog, trat sie zum zweiten Mal in die Bremsen. Der gesamte untere Teil des Wildpfads war bereits zugeparkt. Vorsichtig manövrierte sie ihre Giulia zwischen zwei Ü-Wagen hindurch. Als kein weiteres Durchkommen mehr möglich war, stellte sie den Motor ab.
Da sie den Alfa von ihrer Mutter geerbt hatte, ihre Mutter konsequente Cabriofahrerin gewesen war und heute eine der wenigen Nächte war, wo man in Berlin tatsächlich mit offenem Verdeck fahren konnte, hörte sie die Pfiffe und das Gegröle ihrer männlichen Kollegen, noch bevor sie ausgestiegen war.
»Hey, Männer, da kommt die Rennmaus!«
»Schon Scheiße, wenn man den BH nich zukriegt und deshalb zu spät am Tatort is.«
»Party’s over, babe.«
Allseitiges Gelächter begleitete Kyra, als sie die Wagentür zuschlug. Obwohl es ihr jedes Mal die Zornesröte ins Gesicht trieb, wenn sie erlebte, wie ihre Kollegen den stimmungsvollsten Tatort in eine Eckkneipe verwandelten, verkniff sie sich alle Kommentare. Sie war noch nicht dahintergekommen, ob die Platzhirsche sie anröhrten, weil sie die Sau vertreiben wollten, die in ihrem Revier wilderte, oder ob es ihre Art war, Brunft zu äußern. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
Kyra ging auf einen vergleichsweise sympathisch wirkenden Kleiderschrank mit Baseballkappe zu und fragte knapp: »Hast du Freddy gesehen?«
»Ich glaub, er war mitm Dieter irgendwo da hinten«, sagte der Kleiderschrank, grinste und zog seine Kappe tiefer ins Gesicht.
Kyra schlug ihren Blazerkragen hoch und stapfte an dem Zaun entlang, der nach wie vor von Fotografen belagert war. Offensichtlich war doch nicht alles vorbei. Wenn die Aasgeier ausharrten, musste wenigstens noch die Leiche im Haus sein.
Sämtliche Fenster der Villa waren hell erleuchtet. Hinter den zugezogenen Seidenstores sah man hier und dort einen Schatten vorbeihuschen. In der Auffahrt waren zwei große Scheinwerfer aufgestellt. Die ganze Szenerie hatte mehr von einem Filmset als von einem echten Tatort. Kyra ließ ihren Blick vom Haus weg durch den Park wandern. An einer großen Lärchengruppe blieb er hängen. Was für schöne alte Bäume. Die waren ihr schon damals, bei der schrecklichen Feier zu Konrads Sechzigstem, aufgefallen. Und noch etwas war mit diesen Bäumen gewesen. Irgendetwas. An das sie sich jetzt nicht erinnerte. Sie schüttelte sich und ging weiter.
Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Konrad ermordet worden war. Alle in der Zeitung waren sich einig gewesen, dass er den Reitertod auf einer Praktikantin sterben würde. Dass nun ausgerechnet seine blasse Gattin dem zuvorgekommen sein sollte? Ob sie ihn in flagranti erwischt hatte? Mit der neuen Blonden aus dem Politikteil?
Lauter spannende Fragen. Aber wenn Kyra nicht für ewige Zeiten die Aufziehpuppe der Kompanie spielen wollte, musste sie sich jetzt erst einmal um eine andere Angelegenheit kümmern.
Sie entdeckte Freddy zwei Straßenlaternen weiter. Obwohl er ihr den Rücken zukehrte, erkannte sie ihn sofort. Sein breites Kreuz lehnte am Laternenmast, sein ausrasierter Schweinenacken glänzte im Licht. Mit beiden Händen redete er auf einen Kerl in dunkelgrünem Wildlederblouson ein, in dem Kyra den Bild- oder BZ-Reporter vermutete.
Unbeachtet schlenderte sie auf die beiden zu. Sie kam gerade rechtzeitig, um Freddy »Ey, Dieter«, sagen zu hören, »die Mädels bei mir sind nur allererste Sahne. Komma vorbei, kannste dich selbst von überzeugen.« Sie sah, wie er seine Zunge in die Backe rammelte und dem Mann im Wildlederblouson kumpelhaft vor die Brust boxte. »Ick mach dir auch n Freundschaftspreis.«
Kyra dachte nicht lange nach. Lange Nachdenken war in solchen Situationen immer verkehrt. Mit fröhlichem »Hi, Freddy« klopfte sie dem Informanten auf die Schulter, wartete, bis er ihr seine Frontseite zugewandt hatte, und ließ ihr rechtes Knie in die Höhe schnellen. Freddy entfuhr ein grober Schmerzenslaut. Mit beiden Händen fasste er sich ans Zentrum seiner Existenz.
»Lass uns nächstes Mal ein bisschen früher telefonieren«, sagte Kyra und trat den geordneten Rückzug an. Sie zwang sich, langsam zu gehen, auch wenn ihr nach Rennen zu Mute war.
Es dauerte einige Sekunden, bis hinter ihr das Gebrüll ausbrach. »Du blöde Fotze, dir brech icks Genick. Dir reiß ick die Titten einzeln raus.«
Die plötzliche Luftbewegung in ihrem Rücken warnte sie, aber zu spät. Freddy Lehmann war bereits mit der geballten Wucht seiner zweihundert Pfunde über sie gekommen. Gemeinsam gingen sie zu Boden.
Kyra vermochte nicht zu sagen, ob es ihre oder die Knochen des Gegners waren, die beim Aufschlag auf das Kopfsteinpflaster so gekracht hatten. Wahrscheinlich meine, wie viele Knochen hat der Mensch, bitte, lieber Gott, lass mich nicht in die Totschlagstatistik kommen, waren ihre letzten Gedanken, bevor sich der gedankenfähige Teil ihres Hirns verabschiedete. Danach spielten Knochen oder Hoffnungen keine Rolle mehr. Danach ging es einzig darum, sich mit Zähnen und Klauen das fremde Fleisch vom Leib zu halten.
Angelockt durch das Geschrei hatte sich die Zeitungshorde um den Kampfplatz herum versammelt. Sogar die Kamerakrieger hatten ihre Zaunposten aufgegeben. Und sei es, dass auch Boulevardreporter nur verkappte Ritter waren, sei es, dass sie einfach verhindern wollten, dass ihr Informant, der gerade erst aus einer sechsmonatigen Knastpause zurückgekehrt war, sich schon wieder hinter Gitter prügelte - sie frönten ihrer Schaulust nur kurz und gingen daran, die Verkeilten zu trennen.
Die gesamte Journaille war so sehr mit dem Zweikampf am Boden beschäftigt, dass keiner merkte, wie hundert Meter weiter die Bahre mit den sterblichen Überresten Robert Konrads aus dem Haus getragen wurde.
 
Rechte, dachte Erika Konrad verächtlich, was lesen die mir meine Rechte vor. Meine Pflichten sollten sie mir vorlesen. Sie legte ihre Hände auf den schwarzen Tisch und versuchte zu lächeln. Die Handschellen, die ihr die nervöse Polizistin bei der Festnahme angelegt hatte, waren ihr im Verhörraum wieder abgenommen worden. Niemand schien sie hier für eine Bedrohung zu halten.
»Nein«, sagte sie, »ich brauche keinen Anwalt. Ich sage Ihnen alles.«
Kriminalhauptkommissar Heinrich Priesske lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und bleckte sein Zahnfleisch. »Na, dann schießen Sie mal los.«
»Womit - was - was wollen Sie hören?« Erika Konrad rief sich zur Ordnung. Das ständige Grinsen des Kommissars verunsicherte sie.
»Erzählen Sie uns doch zum Beispiel mal, wann Sie Ihren Mann umgebracht haben.«
»Letzte Nacht«, sagte sie mit fester Stimme, »Sonntagnacht.«
»Hätten Sie da vielleicht noch ne genauere Uhrzeit?«
Erika Konrad errötete. Ihr Blick floh zu dem zweiten Kommissar, der an der Wand lehnte. Dieser grinste nicht, sondern schaute sie ernst an.
»Es muss nach Mitternacht gewesen sein«, fuhr sie ruhig fort. »Ich habe schon geschlafen, als mein Mann nach Hause kam, und ich bin um halb zwölf ins Bett gegangen.«
»Na, damit können wir doch was anfangen.« Der Hauptkommissar betrachtete den Trauerrand, der unter seinem linken Daumennagel saß. »Und weiter.«
»Ich bin wach geworden, weil ich diese Geräusche aus dem Wohnzimmer gehört habe.«
»Geräusche?« Er studierte den Dreck, den er unter dem Nagel hervorgeholt hatte, und schnipste ihn zur Seite.
Erika Konrad atmete tief durch. Sie fixierte das Mikrofon, das vor ihr auf dem Tisch stand. »Immer, wenn mein Mann nachts besoffen heimkam, ist er ins Wohnzimmer gegangen und hat sich diese Filme angesehen. Und immer hat er den Ton so laut gestellt, dass ich oben im Schlafzimmer davon wach werden musste.«
Der Kommissar legte seine gereinigten Fingerspitzen aneinander und schaute Erika Konrad direkt in die Augen. »Verraten Sie uns auch noch, was für Filme das waren?«
Sie senkte den Blick. Warum konnte nicht dieser andere Kommissar sie verhören. Er wirkte viel sympathischer als sein Vorgesetzter.
»Pornos«, sagte sie kaum hörbar.
»So. Pornos«, wiederholte Heinrich Priesske und dehnte jedes o.
Ein lange geschürter Zorn explodierte in ihr. Ihre Augen flackerten, als sie dem Kommissar ins Gesicht blickte. »Sie verstehen gar nichts, nicht wahr? Sie finden das alles furchtbar komisch, Sie wollen sich gar nicht vorstellen, was es für eine Frau bedeutet, wenn der Mann, dem sie ihr ganzes verdammtes Leben geopfert hat, jeden zweiten Abend besoffen heimkommt und sich dann diese grässlichen Filme anschaut.«
Heinrich Priesske lächelte unbeeindruckt zurück.
»Zwanzig Jahre lang habe ich zugesehen, zwanzig Jahre lang habe ich gekuscht, habe ich mir alles von ihm bieten lassen. Aber irgendwann einmal ist Schluss.« Der Zorn, der Erika Konrad Kraft gegeben hatte, war verpufft. »Irgendwann einmal ist Schluss«, echote sie leiser.
»Und was haben Sie dann gemacht, als Schluss war?«
Es dauerte eine Weile, bis sie weiterreden konnte. »Letzte Nacht - ich habe gehört, wie er im Wohnzimmer rumbrüllte, seine obszönen Kommentare abgab zu dem, was auf dem Bildschirm passierte.« Sie schluckte. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich bin aufgestanden. Auf der Treppe hörte ich, wie er besonders abstoßende Dinge brüllte. Ich hatte zu ihm ins Wohnzimmer gehen und den Fernseher ausmachen wollen, aber ich habe es nicht gekonnt.« Sie griff sich an den Hals. Ihre Finger zitterten. »Da bin ich in den Geräteschuppen gegangen, habe die Axt genommen und bin ins Haus zurück. Er saß immer noch vor dem Fernseher. Ich habe mich von hinten an ihn herangeschlichen und habe ihn erschlagen.« Sie faltete die Hände im Schoß.
Heinrich Priesske erhob sich von seinem Stuhl und begann in dem fensterlosen Raum auf und ab zu gehen. Er warf dem zweiten Kommissar einen langen Blick zu.
»Warum haben sie ihm den Kopf abgehackt?«
Erika Konrad zuckte die Achseln. Sie wollte schlafen. Nur noch schlafen. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte sie müde, »es ist plötzlich über mich gekommen.«
Der Hauptkommissar war mit zehn schnellen Schritten bei ihr und packte sie am Oberarm. »Frau Konrad, warum haben Sie Ihrem Mann den Kopf abgehackt?« Er schüttelte sie wie ein ungezogenes Gör. »Und was haben Sie anschließend mit dem Kopf gemacht?«
Der zweite Kommissar stieß sich von der Wand ab. »Ich bitte Sie, Chef«, sagte er leise.
Der Vorgesetzte schüttelte Erika Konrad noch einmal und ließ sie los. Verwirrt blinzelte sie zwischen ihm und ihrem gequetschten Oberarm hin und her. »Ich - ich habe ihn weggeworfen. « Sie fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen. Das Zimmer begann sich zu drehen. Zu drehen um diese kalten unbarmherzigen Augen, mit denen der Mann sie anstarrte. Diese Augen waren tot. Diese Augen gab es nicht mehr.
Langsam stand sie auf. Der Hauptkommissar hatte keine Mühe, ihre Hand mit den ausgekrallten Fingern vor seinem Gesicht abzufangen.
»Weg«, murmelte sie, während zwei Beamte in Uniform sich auf sie stürzten, ihr Handschellen anlegten und sie abführten, »weg mit diesen Augen!«
003
Der Glöckner von Notre-Dame war schiere Eleganz im Vergleich zu Kyra, die sich die Wendeltreppe im Polizeipräsidium hochschleppte.
Um kurz nach zehn war sie aufgewacht, hatte einige Minuten gebraucht, um sich davon zu überzeugen, dass die einzelnen Schmerzklumpen, die unter ihrer Decke lagen, tatsächlich ihr Körper waren, hatte noch im Bett nach dem Telefon gegriffen und im Polizeipräsidium angerufen. Wo sie die alarmierende Nachricht erhalten hatte, dass in der Mordsache Konrad eine Pressekonferenz für elf Uhr anberaumt worden war.
Als sie den dritten Stock erreichte, sah sie die Meute bereits auf den Gang hinaus stehen. Sie konnte nicht hören, ob die Konferenz schon begonnen hatte. Der lässigen Haltung nach zu urteilen, in der die meisten Kollegen dort standen und miteinander plauderten, hatte sich noch nichts getan.
Sie reckte schützend ihre Ellenbogen und begann, sich durch die Menge hindurchzuschieben. Der Schutz ihrer geprellten Rippen nahm sie so in Anspruch, dass sie erst nach einer Weile merkte, dass etwas anders war als sonst. Keiner der Zeitungsjungs machte sie an. Im Gegenteil. Alle wandten sich von ihr ab und schwiegen.
Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie keine Zeit gehabt, in den Spiegel zu schauen. Entweder sah sie heute Morgen so schlimm aus, dass es selbst den Boulevardhyänen die Sprache verschlug, oder diese besaßen doch noch einen letzten Funken Anstand, der ihnen ihre dämlichen Sprüche verbat.
Ohne größere Rempeleien gelang es ihr, sich in den Raum vorzuarbeiten. Wie vorherzusehen, waren alle Sitzplätze belegt. Kyra überlegte nicht lange und sprach denjenigen an, der in der hintersten Reihe ganz außen saß. »Morgen. Was hältst du davon, einer werdenden Mutter den Platz zu überlassen?«
Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu und schwieg.
»Arschloch.« Kyra drängte sich zur nächsten Reihe vor. »Hey. Heute schon Kavalier gespielt?«
Der Angesprochene blätterte in seinen Notizen, als ob sie nichts gesagt hätte.
»Hallo«, flötete sie, »du kannst mich ruhig anschauen. Das, was ich hab, ist nicht ansteckend.«
»Verpiss dich«, knurrte er, ohne aufzusehen.
Kyra spürte, wie sie rot wurde. Sie hoffte, dass ihr Gesicht noch verbläut genug war, um den peinlichen Farbton untergehen zu lassen. Am Fenster entdeckte sie den Kleiderschrank mit der Baseballkappe, den sie gestern nach Freddy gefragt hatte.
»Morgen.« Kyra schob sich mühsam um ihn herum. Er kam ihr heute noch größer vor als gestern. »Kannst du mir vielleicht verraten, was hier los ist?«
Ohne zu lächeln, schaute er sie an und wieder zum Fenster hinaus. »Die Pressekonferenz muss jeden Augenblick losgehen. Ansonsten hab ich auch noch nix gehört.«
Trotz geprellter Rippen rückte Kyra einen Schritt näher. »Ich will wissen, was mit mir oder besser gesagt: mit euch los ist. Gibts da irgendnen Ehrenkodex, der verbietet, mit zusammengeschlagenen Frauen zu sprechen?«
Der Kleiderschrank nahm seine Baseballkappe ab. »Na ja«, entschloss er sich nach einer Weile zu sagen, »ich mein, was du da gemacht hast, war schon ziemlich hart.« Er fingerte an seiner Kappe herum. »Der Freddy hat geblutet wie ne Sau.«
»Ach nee. Das is ja reizend.« Kyra stemmte einen Arm in die schmerzende Seite. »Und ich seh vielleicht aus, als ob ich gestern Nacht zum Mondscheinpeeling im Kosmetiksalon gewesen wär.«
»Na ja.« Er schaute sie unsicher an. »Ich weiß, der Freddy kann ganz schön zupacken, und klar, Mann, ich - ich an deiner Stelle, so als Frau, ich hätt mich auch mit allen Mitteln gewehrt, aber«, er schob den Unterkiefer nach vorn und nickte zwei Mal sehr ernst, »ich mein, ihm gleich das halbe Ohr abbeißen, das ist schon n bisschen heavy.«
»Was?« Kyra verzog das Gesicht und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Was redest du da? Halbes Ohr abbeißen?«
»Vielleicht wars auch nur n Drittel, aber trotzdem.« Der Kleiderschrank setzte seine Baseballkappe auf und schaute wieder zum Fenster hinaus.
 
»Ahoi«, rief der Penner und schwenkte seine Schnapsflasche, »sucht ihr n Schatz?«
Die anderen Penner, die wie er ihr Sommerlager im Bullenwinkel aufgeschlagen hatten, lachten. »Bisse bekloppt, Mann«, sagte einer und schlug ihm an den Schädel. »Issoch nicher Silbersee.«
Der Froschmann, der neben dem Schlauchboot aufgetaucht war, nahm keinerlei Notiz von den halb nackten Gestalten, die am anderen Ufer lagerten. Er machte den beiden Männern im Boot ein Zeichen und verschwand wieder unter der glitzernden Wasseroberfläche.
Blass und angespannt stand Erika Konrad am Waldrand. Die Polizei hatte den Strand an dieser Seite des Grunewaldsees weiträumig abgesperrt. Ringsum kläfften die vertriebenen Köter, denen der Strand sonst gehörte.
Eine schwere Mittagshitze kündigte sich an. Dennoch fror Erika Konrad, als ob sie mitten im Januar stünde.
»Entschuldigung«, sagte sie zu der uniformierten Beamtin, an deren linkes Handgelenk sie angekettet war, »mir ist kalt. Könnten wir vielleicht ein Stück nach vorn in die Sonne gehen?«
»Ich habe Anweisung, hier mit Ihnen zu warten«, entgegnete die Frau, ohne sie anzuschauen.
Wie lange es wohl noch dauern würde? Die ganze Situation war unwirklich. Erika Konrad neigte den Kopf zur Seite und zog die Schulter hoch, bis sie das Ohr berührte. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn die Sache hier vorbei war. Ihr Kopf neigte sich zur anderen Schulter.
Kriminalhauptkommissar Heinrich Priesske kam auf sie zu. Seine üble Laune wehte ihm voraus wie eine Fahne.
»Frau Konrad«, bellte er sie an, »meine Leute suchen jetzt seit drei Stunden. Meine Geduld ist am Ende. Wenn Sie uns etwas sagen wollen, dann tun Sie es jetzt.«
»Ich habe den Kopf dort ins Wasser geworfen«, wiederholte sie und zeigte auf die Stelle, auf die sie heute schon mindestens zehn Mal gezeigt hatte.
Der Kommissar kickte wütend einen Kiefernzapfen fort, der neben seinem Schuh im Sand lag. »Ich warne Sie. Wenn Sie uns einen Bären aufbinden, kriegen Sie Ärger, dass Sie nicht mehr wissen, wo vorn und hinten ist. Das verspreche ich Ihnen.«
Erika Konrad zuckte die Achseln. Mit der freien Hand fuhr sie sich über die Gänsehaut am Oberarm. »Vielleicht hat ein Hund den Kopf weggeschleppt. Sie sehen doch, wie viele Hunde hier überall sind.«
Heinrich Priesske knurrte etwas Unverständliches. Vom See her machte der Froschmann aufgeregte Zeichen.
Ohr abgebissen. Halbes Ohr abgebissen. Der Gedanke summte in Kyras Kopf wie eine gefangene Wespe. Es konnte nicht sein. Sie konnte sich an nichts erinnern. Bestimmt wollten die Jungs sie nur verarschen.
Sie starrte auf den Bildschirm. Wie zu erwarten, war die Pressekonferenz völlig für die Katz gewesen. Bullen-Schulz, der sturste aller sturen Polizeisprecher, hatte wieder einmal sein Lieblingsspiel, »Ich weiß etwas, was ihr nicht wisst«, gespielt. Immerhin war aus gut bezahlter - und damit hinreichend verlässlicher - anderer grüner Quelle durchgesickert, dass Erika Konrad ihren Mann nicht nur geköpft, sondern anschließend auch noch wie eine Besessene den Tatort geputzt hatte. Wenn Frauen zu sehr morden...
Kyra klemmte sich eine Zigarette in den Mund und legte los. So zügig es mit drei angeknacksten Fingern ging, hackte sie die Gräuelgeschichte um ein betrogenes Eheweib, einen geköpften Zeitungsmogul und eine große Flasche Ajax in den Computer.
Es klopfte.
»Jaha«, brummte Kyra, ohne vom Bildschirm aufzublicken. Sie drehte sich erst um, als hinter ihr eine vertraute Stimme losgrantelte.
»Wenn du das nächste Mal abhaust, kannst du mir wenigstens -« Franz blieb der Rest des Satzes im Halse stecken. »Jessasmarantjosef, was, was ist passiert?«
»Der alten Konrad ist die Sicherung durchgebrannt.«
Franz kam hastig auf sie zu. »Ich will wissen, was dir passiert ist.«
»Das ist jetzt nicht so wichtig. Aber ist es nicht vollkommen unfassbar, dass -«
»Kyra, sag mir auf der Stelle, wer das getan hat.« Er blieb vor ihr stehen, unentschlossen, ob er die Frau mit dem lila-blau-grünen Gesicht, in dem ein halber Schneidezahn fehlte, anfassen durfte oder nicht.
»Willst du großer Bruder spielen und dem Kerl eins auf die Nase hauen?« Kyra musterte den ein Meter siebzig kurzen Mann und grinste. »Würd ich dir von abraten.«
»Welches Schwein war das?« Franz senkte seinen Schädel, als wolle er ihn dem unbekannten Schwein auf der Stelle in den Bauch rammen.
»Hör mal zu.« Kyra tippte ihm mit ihrem bandagierten Fingerpaket vor die Brust. »Man hat nicht jeden Tag die ebenso hehre wie heikle Aufgabe, einen Artikel darüber zu schreiben, wie der eigene Chefredakteur von seiner Gattin geköpft wurde. Wieso gehst du nicht an deinen Schreibtisch zurück, rezensierst brav deine Elektra zu Ende und holst mich in einer Stunde zum Mittagessen ab. Dann können wir über alles reden.«
»Kyra, ich -«
Sie hatte ihm längst wieder den Rücken zugedreht. »In einer Stunde.«
 
Das Ding vom Grunde des Sees war geborgen. Schlammtriefend lag es auf der Plane, die zwei Polizeibeamte am Ufer ausgebreitet hatten.
Erika Konrad blinzelte gegen die steile Mittagssonne. Sie musste verrückt geworden sein. Umstandslos geradeheraus himmelschreiend verrückt. Sie konnte das Ding zwar nicht sehen, aber sie hatte die Rufe der Polizisten gehört. Sie hatten den Kopf gefunden. Sie hatten den Kopf im Grunewaldsee gefunden.
Die Baumkronen über ihr begannen sich zu drehen. Schneller. Und immer schneller. Erika Konrad musste lachen. Feuerkreis, dreh dich. Feuerkreis, dreh dich. Sie tanzte und lachte, wie sie als kleines Mädchen getanzt und gelacht hatte. Sie trug keine Handschellen mehr. Sie war nicht mehr an die stinkende, schwitzende Polizistin gekettet. Sie war frei. Niemand konnte ihr mehr etwas anhaben. Auch nicht das Fallbeil, das jetzt herabsauste, die Sonne auslöschte und einen Sternenhimmel explodieren ließ.
Erika Konrad schrie auf und sank in Ohnmacht.
Die Beamtin warf einen Blick zu den Kollegen und Vorgesetzten, die sich unten am Seeufer versammelt hatten. Keiner hatte etwas gesehen. Sie hängte den Schlagstock an den Gürtel zurück und ging in die Knie, um die Frau zu untersuchen, die noch immer mit ihrem schlaffen rechten Handgelenk an sie gefesselt war.
Schweigend standen die Polizisten um die Plane herum.
»Scheiße«, sagte Heinrich Priesske und sprach damit aus, was alle dachten. »Scheiße.« Auch wenn der Kopf, der vor ihnen lag, so zerfressen und aufgeschwemmt war, dass sich keine genaueren Züge mehr erkennen ließen, war eines klar: Es war der Kopf einer Frau.
 
Kyra stach ihre Gabel in den Pfifferling, der sich unter einem welken Salatblatt versteckt hatte. Gestern Nacht hatte sie die Finger auf dem Mullbett schick gefunden, jetzt begann sie die ewige Linkshänderei zu nerven. »Franz, wie du siehst, bin ich aber noch am Leben. Und wenn du mir noch einmal sagst, dass ich den Crime-Scheiß lassen und ins Feuilleton zurückkommen soll, steh ich auf und gehe.«
»Gut. Ich sage keinen Ton mehr.« Franz griff in den Brotkorb. Beleidigt biss er in einen Baguettering. »Wenn es neuerdings zu deinem Lebensglück dazugehört, dich von irgendwelchen Arschlöchern verprügeln zu lassen -«
»Schluss!« Kyra schrie, dass sich die Leute in der Nachbarschaft umdrehten. Es war so ein schöner, sonniger Tag. Alle saßen draußen, an den Tischen, die das Café Morgenstern auf den Promenadenstreifen in der Mitte des Linden-Boulevards gestellt hatte.
Kyra schob ihre schwarze Sonnenbrille auf die Nasenspitze. »Franz. Es rührt mich ja, dass mein zerdetschtes Auge dich mehr beschäftigt als die Tatsache, dass unser Chefredakteur einen Kopf kürzer gemacht wurde. Aber trotzdem würde ich mich lieber über Letzteres unterhalten.«
»Bitte.« Achselzuckend säbelte Franz ein neues Stück von seinem Tafelspitz.
Kyra schob ihren Teller weg und steckte sich eine Zigarette an. »Kannst du dir wirklich - ich meine wirklich - vorstellen, wie die alte Konrad die Axt schwingt und dem Alten die Rübe abhackt?«
»Was weiß ich, wozu Frauen im Stande sind.«
Kyra schaute dem blauen Dunst nach, den sie in Richtung Autoabgase schickte. Träge glitzernd floss der Hauptstadtverkehr rechts und links an ihnen vorbei.
»Erika Konrad in der Rolle der Klytämnestra - so eine groteske Fehlbesetzung würde sich ja nicht mal die Staatsoper leisten«, sagte sie.
»Du hast doch gestern erst gesehen, was für Strickliesel zu Mörderinnen werden.«
»Ja. Ich meine, nein. Die alte Becker hat in der tiefsten Scheiße gelebt. Dass die völlig ausrasten kann, leuchtet mir ein. Aber doch nicht diese gelangweilte höhere Gattin in ihrer Zwei-Millionen-Villa.«
»Weißt du, was du machen würdest, wenn dich einer dreißig Jahre lang bescheißt?« Obwohl auch Franz seine Sonnenbrille aufhatte, konnte Kyra seinen Blick spüren.
»Ich würde mich nicht dreißig Jahre lang bescheißen lassen.« Sie schnippte ihre Zigarette in den Kies. »Was ist eigentlich dran an den Gerüchten, dass der Alte zuletzt was mit unserem politischen Blond hatte?«
»Ihre Vorstellung bei der Konferenz heute Morgen war ziemlich überzeugend.«
Kyra blies ein Lachen durch die Nase. »Ich vermute mal, ihre Vorstellung auf der Couch muss noch viel überzeugender gewesen sein. Ich sehe nicht, warum der Alte sie sonst eingestellt haben könnte.«
Franz blickte von seinem letzten Rest Tafelspitz auf. »Reicht es dir nicht, dich zu prügeln? Musst du auch noch stutenbissig werden?«
»Du wirst mir jetzt nicht erklären, dass Fräulein Jenny Mayer eine begnadete Journalistin ist.«
»Sie ist nicht so schlecht, wie du behauptest.«
»Franz, du enttäuschst mich. Ich dachte, wenigstens bei dir würden sich lange blonde Beine nicht aufs Gehirn schlagen.«
Franz beendete sein Mittagessen, indem er seine Serviette einmal kurz über den Mund zog, zusammenknüllte und auf den Teller warf. Er lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
»Was ist eigentlich mit Konrad und dir gewesen?«
»Wie bitte?« Kyra verschluckte sich an ihrem Weißwein.
»Erzähl mir nicht, dass der Alte nicht hinter dir her gewesen ist.«
»So ein Blödsinn.« Hustenanfall.
»Und was war dann das bei seinem Sechzigsten? Als ihr Arm in Arm im Park verschwunden seid.«
»Ich bin niemals Arm in Arm mit Konrad irgendwohin verschwunden«, bellte Kyra und fasste sich an die Kehle.
Franz lächelte. Ein tristes Löwenlächeln. »Ach. Und du bist auch niemals zerzaust und barfuß von irgendwoher zurückgekommen.«
 
»Scheiße.« Kriminalhauptkommissar Heinrich Priesske rollte den Sektionsbericht, den ihm seine Sekretärin vor wenigen Minuten gebracht hatte, zusammen und prügelte damit auf seinen Schreibtisch ein. »Scheiße, Scheiße! Törner«, brüllte er durch die offene Tür in den Nachbarraum.
»Bringen Sie mir sofort die Konrad her«, kommandierte er, sobald sich die Nasenspitze seines Untergebenen zeigte. »Dollitzer hat eben seinen Bericht rübergeschickt. Es ist, wie ich gesagt habe. Diese Frau hat uns von vorn bis hinten verarscht. Jetzt werden die Samthandschuhe ausgezogen.«
Törner schaute seinen Vorgesetzten unbehaglich an. »Ich fürchte, das geht nicht.«
»Warum?« Das Wort zischte durch den Raum wie eine Granate.
»Der Arzt meint, dass Frau Konrad einen mittelschweren Nervenzusammenbruch erlitten hat.«
»Das ist mir scheißegal.« Der Kriminalhauptkommissar knallte beide Handflächen auf den Tisch. »Der soll sie ruhig spritzen oder sonst was mit ihr anstellen. Wenn er sie nicht in der nächsten Stunde wieder flott gemacht hat, kriege ich einen dreifachen Nervenzusammenbruch. Sagen Sie das diesem verdammten Weißkittel.«
 
»Alles zur Zufriedenheit?« Geduldig hatte der hübsche Kellner an der Fußgängerampel ausgeharrt, bis ihr grünes Licht ihm erlaubte, den Verkehrsstrom, der den Bürgersteig vorm Morgenstern und die Mittelinsel trennte, zu durchqueren.
»Jawohl«, sagte Kyra überschwänglich. »Alles bestens.«
»Bloß habts ihr hier keine Ahnung, wie man einen anständigen Kren zum Tafelspitz macht«, brummte Franz.
»Hatte der Herr etwas zu beanstanden?«, erkundigte sich der Kellner besorgt.
Kyra antwortete, bevor Franz den Mund ein zweites Mal öffnen konnte. »Vergessen Sies einfach. Der Herr hat immer was zu beanstanden.«
Der hübsche Kellner lächelte zurück und begann, sich die schmutzigen Teller auf den Arm zu laden. Seine lange weiße Schürze leuchtete in der Sonne. »Wünschen die Herrschaften vielleicht noch einen Kaffee oder einen Grappa oder -«
»Espresso und Grappa«, bestätigte Kyra. Sie warf Franz einen fragenden Blick zu. Er nickte beleidigt. »Also dann: zweimal das Ganze.«
»Sehr wohl.« In elegantem Bogen entfernte sich der Kellner vom Tisch.
Franz stieß wütend die Luft aus. »Jessas, wo haben die diesen geleckten Schnösel her. Wünschen die Herrschaften einen Kaffee«, äffte er ihn nach. »Warum kann man in Berlin keine echten Kellner bekommen, sondern immer nur dieses Studententheater.«
Kyra schaute versonnen zur Fußgängerampel, wo der Kellner stand und wartete. »Aber er ist doch so schön.«
Franz beugte sich über den Tisch. »Ich sags dir. Dieser Strizzi da letzte Nacht hat dein Hirn erwischt.«
Kyra lachte leise. Sie konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie sich das Leben ohne den österreichischen Brummbären angefühlt hatte. Schade, dass sie keinen Artikel über ihn schreiben konnte. Die richtige Überschrift hätte sie schon gehabt: Der Minnegrantler.
Der Kellner kam zurück. Schwungvoll verteilte er die Kaffeetassen und Grappagläser auf dem Tisch. Kyra bedankte sich mit einem doppelten Augenaufschlag.
»Entschuldigen Sie«, sagte er plötzlich und klang gar nicht mehr wie lange weiße Schürze, »dürfte ich Sie einen Moment stören? Es ist mir wirklich unangenehm, aber ich habe da ein Problem, und vielleicht können Sie mir weiterhelfen?«
Kyra steckte sich eine Zigarette an. Genüsslich blies sie den Rauch in seine Richtung. »Vielleicht.«
Trotz seines dunkel gepflegten Teints sah man den Kellner erröten. »Sie arbeiten doch beim Berliner Morgen. Und ich - also ich studiere Germanistik, und letzten Monat, da habe ich Herrn Konrad bei einer Veranstaltung im Literaturhaus kennen gelernt, und da hat er mir versprochen, dass ich ein Praktikum bei Ihnen im Feuilleton machen könnte.« Er wurde noch eine Nuance röter. »Und ich weiß jetzt eben nicht, jetzt, wo er - wo er - ob er das mit dem Praktikum schon in die Wege geleitet hat.«
Kyra war nicht sicher, ob Lächeln-durch-abgesplitterte-Schneidezähne-hindurch auch im Handbuch der Verführerin stand, aber irgendwie fühlte es sich gut an.
»Ich werd mich mal umhören«, versprach sie und berührte den Reißzahn mit ihrer Zungenspitze.
»Das würden Sie wirklich für mich tun? Das wäre ja riesig nett.«
»Tja. So bin ich eben.«
»Oh, danke. Vielen Dank. Ich darf Sie dann also demnächst noch mal auf die Sache ansprechen?«
»Dürfen Sie.«
»Mensch, das ist jetzt wirklich eine Riesenerleichterung für mich. Danke. Danke.«
Eine Sekunde lang glaubte Kyra, er würde sich bücken und sie auf den Mund küssen, aber dann schulterte er doch nur sein Tablett und verschwand in Richtung Fußgängerampel.
»So ein netter Junge«, sagte sie.
»Kyra.« Franz krächzte vor Panik. »Du wirst diesem Hupfer doch nicht im Ernst ein Praktikum verschaffen wollen.«
Jetzt erst bemerkte sie den verschmauchten Zigarettenstummel, der immer noch zwischen ihren Fingern steckte, und ließ ihn fallen.
»Wie sagt ihr in Wien? Was a Mann schöner is als a Aff is a Luxus?« Sie blinzelte Franz an. »Aber findest du nicht auch, dass Luxus etwas Wunderbares ist?«
Zurückgelehnt, die Sonne im Gesicht, verfolgte Kyra, wie sich der Kellner mit weichem Hüftschwung durch den Verkehr schlängelte. Sie stellte sich vor, wie sie ihm nachging, von hinten Schürze, Hose, Hemd vom makellosen Körper riss, ihn auf eine heiße Motorhaube legte und vögelte, bis der Lack Blasen schlug.
»Franz.«
Der kleine Mann hockte da und schabte mit seinem Löffel grimmige Muster in den Kaffeesatz.
»Franz. Sag mal, traust du mir eigentlich zu, dass ich einem Kerl das Ohr abbeiße?«
Er blickte mürrisch auf. »Wie sollte ich nicht.«
»Nein. Im Ernst. Glaubst du wirklich, ich könnte jemandem ein Ohr abbeißen?«
»Was ist los. Hast du gewettet?« Kyras unsicherer Ton stimmte ihn versöhnlicher.
»Bitte, Franz, ich, ich - die Jungs heute Morgen, die haben gemeint, ich hätte Freddy gestern das halbe Ohr weggebissen.« Die Wespe summte wieder in ihrem Kopf.
»Na und. Dieses Schwein hätte verdient, dass du ihm den Schwanz gleich mitabgebissen hättest.«
»Franz.« Kyra nahm die Sonnenbrille ab. Ihre Augen brannten. »Das ist kein Scherz.«
»Jessas, Kyra.« Er fasste sich in den dünner werdenden Haarschopf. »Es freut mich ja, dass du plötzlich menschliche Regungen zeigst. Aber lass sie an jemandem aus, der menschliche Regungen auch verdient.«
Kyra sah durch ihn hindurch. »Es geht doch gar nicht um Freddy«, sagte sie leise. »Was mich beunruhigt, ist - ich kann mich an absolut nichts erinnern. Nichts. Völliges Schwarz.«
 
»Chef. Ich glaube, wir haben sie.« Kommissar Törner stürmte aufgeregt ins Büro. »Hier.« Er legte seinem Vorgesetzten einen zweiseitigen Computerausdruck vor. »Wie Sie vermutet haben.«
Heinrich Priesske überflog die Zeilen.
»Passt alles bestens«, kommentierte Törner die stumme Lektüre seines Vorgesetzten. »Kriminelles Umfeld. Mit sechzehn abgehauen. Hausbesetzerszene. Zwei Mal verhaftet. Und hier.« Er zeigte auf eine Stelle in der Mitte des Textes. »Goldenes Motiv.«
Heinrich Priesske warf das Papier auf den Tisch. »Gute Arbeit, Törner«, stellte er sachlich fest. »Sind die Kollegen schon informiert? Die sollen sich die Kleine mal vornehmen.«
»Ich wollte auf Ihre Zustimmung warten«, gab Törner ebenso sachlich zurück.
Der Hauptkommissar knüllte das Papier des Schokoriegels, den er gerade gegessen hatte, zusammen. Er öffnete die Faust und ließ die Kugel fallen. »Sie können die Kollegen losschicken.«
 
Eine zweite Serie Flaschen donnerte in den Glascontainer. Kyra stöhnte, tastete nach dem Kissen, das in der anderen Hälfte ihres Bettes lag, und zog es über den Kopf. Der Wut nach zu urteilen, mit der die Flaschen geworfen wurden, war es das Balg aus dem Seitenflügel. Wahrscheinlich hatte Mami den Kleinen wieder einmal in den Hof geschickt, weil sie nicht wollte, dass er mitansah, wie Papi sie auf dem Küchentisch fickte. Kyra war noch nicht dahintergekommen, ob das Balg die Flaschen deshalb so donnerte, weil es auch nicht mitanhören wollte, wie Papi Mami fickte, oder weil es wütend war, dass es nicht zugucken durfte.
Seufzend schob Kyra das Kopfkissen beiseite. Vom Zahnarzt, der ihrem Schneidezahn eine provisorische Krone aufgesetzt hatte, war sie direkt nach Hause gefahren und ins Bett gekrochen. Der ungewohnte Nachmittagsschlaf war ihr nicht bekommen. Sie fühlte sich noch geräderter als zuvor.
Kyra schloss die Augen und versuchte, das Bild des Kellners wieder erstehen zu lassen. Sie hatte von ihm geträumt. Etwas banal Unerotisches. Aber unglaublich schön war er gewesen. Merkwürdig, dass sie einen so schönen Menschen getroffen hatte. Normalerweise traf sie nur hässliche Menschen.
Es klingelte an der Tür. Zeugen Jehovas, Nachbar ohne Salz oder Feierabendvergewaltiger, ging Kyra die verschiedenen Möglichkeiten durch. Keine erschien ihr attraktiv genug, um aufzustehen. Es klingelte noch einmal. Heftiger. Vielleicht war es Freddy, der mit einem roten Rosenstrauß gekommen war, um sich bei ihr zu entschuldigen. Oder mit seinem Ohr, um ihr damit endgültig das Maul zu stopfen.
Ächzend rollte sich Kyra aus dem Bett, griff nach dem Kimono, der an der Türklinke hing, und schlurfte in den Flur.
»Ja«, fragte sie durch die Tür hindurch.
»Ich bins.«
Es dauerte eine Weile, bis Kyra die massiven Schlösser geöffnet hatte. Sie schloss immer alle drei Schlösser ab. Nicht, weil sie Furcht vor Einbrechern hatte, sondern weil es ihr das gute Gefühl gab, in einer gefährlichen Stadt zu leben.
»Störe ich?« Etwas verlegen stand Franz auf dem Teppichstück, das als Fußabstreifer diente.
Kyra gähnte. Sie schüttelte sich, dass ihre braunen Haare flogen.
»Habe ich dich geweckt?« Franz warf einen Blick auf Kyras nackte Beine, der nicht nur besorgt war. »Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht.«
»Erzähl mir nix. Du hast nichts mehr gehofft, als mich aus dem Bett zu holen. - Komm schon rein.« Sie wickelte den kurzen Kimono etwas ausschnittsärmer und ging in die Küche. »Willst du was trinken? Whisky ist alle.«
Franz folgte ihr bis an die Küchenschwelle. »Was trinkst du?«
»Bislang gar nix. Das ist nämlich das eigentlich Gesunde am Schlafen. Dass man in der Zeit nix trinkt.« Sie riss ihren Mund nochmals zu einem gewaltigen Gähnen auf und verschwand hinter der Kühlschranktür.
Die Bierdose kam zu plötzlich und zu steil angeflogen, als dass Franz eine ernsthafte Chance gehabt hätte, sie zu fangen.
»Jessas, verzeih, ich bin so ungeschickt, ich -« Umständlich kroch er der geplatzten Dose hinterher, die unter dem Küchentisch sprühte wie ein leckes Rohr.
Kyra winkte ab. »Vergiss es. Kannst du noch draus trinken, oder willst du eine neue?«
»Geht eh schon, geht eh schon«, sagte Franz hastig und klopfte sich den Staub von der Hose.
»Komm«, Kyra stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Lass uns ins Schlafzimmer gehen. Wenn du sowieso nur zum Spannen hergekommen bist, kann ich mich auch wieder hinlegen.«
Sie fegte den Kleiderberg von dem roten Samtstuhl, der in der Ecke des Schlafzimmers stand, und stellte ihn neben das Bett. Mit einem behaglichen Seufzer ließ sie sich auf die Matratze sinken und streckte sich aus. Sie zog die Decke bis unter die Nase.
»Und was jetzt? Erzählst du mir eine Gutenachtgeschichte?«
Franz lächelte sie zögernd an. »Ich - ich wollte mich entschuldigen. Für heute Mittag. Dass ich nicht begriffen habe, dass dir die Sache mit dem Ohr ernst war.«
Kyra runzelte die Stirn und griff nach der Zigarettenschachtel, die auf der Bettkante lag. »Ach was. Wenn ich mit mir am Tisch gesessen hätte, hätt ich auch nicht gemerkt, dass es ernst war.«
»Nein. Du musst das nicht herunterspielen. Es war dumm von mir. Dumm und unsensibel.«
»Franz, ich bitte dich. Wenn du unsensibel bist, was bin ich dann? Godzilla?« Sie blies eine lange Rauchschwade aus.
»Du - du bist die wunderbarste Frau, die ich jemals getroffen habe.«
Die Zigarette fiel auf das Kopfkissen. Kyra schoss in die Höhe. »Franz. Um Himmels willen. Versprich, dass du mich nie wieder so erschreckst.«
»Kyra.« Ein Blick aus tiefbraunen Augen. »Diesmal ist es mir ernst.«
»Und was soll aus diesem Ernst werden, wenns fertig ist?«
»Jessas, Kyra, sei doch nicht so stur. Als ich dich da heute in deinem Büro hab sitzen sehen, mit dem zermatschten Auge und den blauen Flecken und dem rausgeschlagenen Zahn, da - da - ich musste dir einfach mal sagen, was ich für dich empfinde.«
»Na, das hast du ja jetzt erfolgreich getan.« Wütend rubbelte Kyra an dem kleinen Brandfleck auf ihrem Kopfkissen. »Sonst noch was?«
»Du kannst mir nicht verbieten, dass ich mir Sorgen um dich mache.« Franz rutschte vom Stuhl auf die Bettkante hinüber. Seine Hand tändelte um ihren Hals herum und verfing sich in ihrem Nacken. »Es ist gefährlich, was du da tust.«
Kyra erstarrte. In Zeitlupe nahm sie die Zigarette von den Lippen. »Franz«, sagte sie. »Ich glaube, was du gerade tust, ist viel gefährlicher.«
 
»Ihr Mann war nicht betrunken. Ihr Mann wurde nicht Sonntag, sondern Samstagnacht ermordet. Ihrem Mann wurde der Kopf nicht mit einem Beil abgehackt.«
Erika Konrads Augen waren zwei dunkle Löcher. Bei jedem Wort, das Heinrich Priesske ihr entgegenbrüllte, zuckte sie zusammen. Sein Gesicht kam so nahe, dass sie seinen Atem riechen konnte. Schokolade. Der Kommissar hatte Schokolade gegessen.
»Ihrem Mann wurde der Kopf mit einem Messer abgetrennt.«
Sie schrie. Und hielt sich die Ohren zu.
Priesske packte sie. »Hören Sie endlich auf mit dem Theater.« Er schüttelte sie. »Frau Konrad. Sie wissen ganz genau, wer Ihren Mann umgebracht hat.« Zornig ließ er sie los.
»Nein! Nein!« Erika Konrad zog das Wasser in der Nase hoch. Eifrig verrieb sie den Rotz, der ihr über die Oberlippe gelaufen war. Ihre Augen hatten zu flirren begonnen wie zwei Bildschirme nach Sendeschluss. »Herr Kommissar. Sie müssen mir glauben. Ich war es. Es ist einzig und allein meine Schuld.« Sie warf sich zu Boden und umklammerte seine Beine. »Meine Schuld. Meine Schuld. Meine Schuld.«
Mit einem leichten Tritt befreite sich Heinrich Priesske von ihrem Griff. Er ging zu Kommissar Törner, der soeben den Verhörraum betreten hatte. Die beiden Männer wechselten einige unverständliche Worte. Erika Konrad schluchzte in den Bodenbelag aus Linoleum hinein.
Die Verachtung war in Siegerlächeln übergegangen, als Heinrich Priesske erneut auf sie zukam. Sein Zahnfleisch glänzte im Neonlicht. »Frau Konrad«, sagte er freundlich. »Frau Konrad. Wollen Sie uns nicht ein wenig von Ihrer Tochter erzählen?«
 
Ihre Füße tappten über den nackten Steinboden. Als sie vor einem halben Jahr in das alte Kutscherhaus eingezogen war, hatte sie als Erstes sämtliche Holzdielen herausreißen und Marmorfliesen verlegen lassen. Alles außer Marmor machte sie krank.
Obwohl das Thermometer noch immer zweiunddreißig Grad anzeigte, war der Boden kühl. Dem Stein waren die Temperaturen, die draußen herrschten, egal. So egal, wie sie ihr selber waren. Kein Schweißtropfen befleckte das weiße Chiffonkleid, das ihren Körper von den schmalen Schultern bis zu den Knöcheln umfloss.
Sie ging an den Kühlschrank und öffnete die Tür. Blaues Licht ergoss sich über ihre Füße. Sie lachte. Immer, wenn sie im Dunkeln eine Kühlschranktür öffnete, musste sie lachen. Es erinnerte sie an den letzten Griechenlandurlaub mit Vater. An das hässliche Hotelzimmer in Delphi, in dem sie zehn Tage gewohnt hatten. Die Neonlampe an der Decke war grässlich gewesen, und deshalb hatten sie, wenn sie von ihren Tagesausflügen spät zurückgekehrt waren, das Zimmer stets im Dunkeln betreten. Und dann hatten sie im blauen Licht des offenen Kühlschranks gesessen, Frappé getrunken und Homer rezitiert. ANDRA MOI ENNEPE, MUSA, POLYTROPON, HOS MALA POLLA -
Sie lachte und holte eine Dose Eistee aus dem mittleren Kühlschrankfach. Die restlichen Dosen verschob sie so, dass wieder eine gleichmäßige Ordnung entstand. Unordnung konnte sie nicht ertragen. Mit Dose und Strohhalm setzte sie sich auf den Küchentisch und ließ die Beine baumeln.
Am letzten Abend, bevor sie sich in die schmalen Hotelbetten schlafen gelegt hatten, hatte Vater sie an den Schultern gefasst und gesagt: »Kind. All diese Idiotenväter, die stolz darauf sind, mit ihren Söhnen am Lagerfeuer zu sitzen. Ich bin so glücklich. Dass ich eine solche Tochter habe.«
Ihr Blick verlor sich in dem blauen Kühlschranklicht. Sie setzte den Strohhalm ab. PALLAD’ ATHENAIEN KYDREN THEON ARCHOM’ AEIDEIN -
 
Sie schloss die Augen. Ein Lächeln schlüpfte in ihr Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich von selbst.
Pallas Athene, die ruhmvolle Göttin, will ich besingen,
Eulenäugig, vieles beratend, spröde im Herzen,
Züchtige Jungfrau, Städtebeschirmerin, mutig zur Abwehr
Ist sie, Tritogeneia, die Zeus, der Berater, erzeugte
Selbst aus seinem erhabenen Haupt, zum Kampfe gewaffnet
Golden und ganz voll Glanz.
Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. Sie war glücklich. So rund und eben und glücklich wie ein Ei.
Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Mayonnaisetuben in der Kühlschranktür. Kraft. Kraft war gut. Kraft würde sie in dieser Nacht brauchen.
Sie schraubte eine der Tuben auf, drückte sich einen Strang direkt in den Mund, schraubte die Tube zu, strich das Ende glatt und klappte den Falz um. Einmal. Zweimal. Immer Ordnung halten.
Sie leckte sich über die Lippen. Mayonnaise war gut, wenn man aufgeregt war. Dennoch würde sie dem Sog, der vom offenen Kühlschrank ausging, nicht mehr lange widerstehen können.
Ohne es zu merken, quetschte ihre Hand die Dose zusammen. Ein Schwall Eistee schwappte über ihr weißes Kleid. Sie sprang auf und schleuderte die Dose in die Spüle. Mit blitzenden Augen starrte sie auf den Fleck, der sich in das zarte Chiffongewebe gesogen hatte. Sie musste das Kleid wechseln. Unmöglich konnte sie das, was sie vorhatte, in einem befleckten Kleid tun!
Sie rannte ins obere Stockwerk und riss die Tür zu der ehemaligen Abstellkammer, die ihr Kleiderschrank war, auf. Der Steinkauz, der auf einem Balken gedöst hatte, flatterte in die Höhe. Srrt, srrt, fauchte ihr der erschreckte Vogel entgegen.
»Alex, verschwinde«, sagte sie, »du hast hier drinnen sowieso nichts zu suchen.« Hastig schritt sie die zwei Reihen makellos weißer Kleider und Anzüge ab, die in der Kammer hingen. Sie schlüpfte aus dem befleckten Kleid, warf es in die Ecke und zerrte ein neues vom Bügel. Mit heftigem Flügelschlag rauschte der Steinkauz an ihr vorbei und verschwand in dem dunklen Dachgewölbe. Schneller noch, als sie die Treppen hinaufgeeilt war, rannte sie in die Küche zurück.
Kurz vor dem Kühlschrank fiel sie in einen gemesseneren Schritt. In ihrem Kopf begann es zu surren. Ja. Ja. Ja.
Ich dürste nach deiner Schönheit! Ich hungre nach deinem Leib; nicht Wein noch Apfel können mein Verlangen stillen. Was soll ich jetzt tun?
Es war Zeit. Sie konnte nicht länger warten. Vor dem Kühlschrank kniete sie nieder.
Nicht die Fluten noch die großen Wasser können dies brünstige Begehren löschen. Ich war eine Göttin, und du verachtetest mich, eine Jungfrau, und du nahmst mir meine Keuschheit. Ich war rein und züchtig, und du hast Feuer in meine Adern gegossen.
Langsam streckten sich ihre Hände nach der großen weißen Plastiktüte auf dem untersten Rost. Behutsam zog sie den runden Gegenstand an sich und streifte die Hülle von ihm ab. Sie lachte, als zwei Augen über den Tütenrand linsten.
»Hallo«, sagte sie leise. Sie packte den Kopf am dünnen Haarschopf und zog die restliche Tüte mit einem Ruck weg. Ihr Lachen plätscherte in hellen Kindersopran hinüber:
Oh Haupt! Sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier.
Jetzt aber höchst schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir.
Sie küsste die Stirn, dann nahm sie den Kopf und ging zu den fünf weißen Eimern, die am Ende der Küche standen. Glas. Metall. Papier. Kunststoff. Restmüll. Sie trat auf das Pedal des vierten Eimers, knüllte die Plastiktüte zusammen und warf sie hinein. Sorgfältig ließ sie den Deckel zurückklappen.
 
Erika Konrad erhob sich von ihrem stinkenden Zellenbett. Eine magere Frau, deren Kleid die Knochen sinnlos teuer umflatterte, stand in der Tür und winkte sie zu sich. Es war das Versagen, gekommen, sie endgültig zu holen. Erika Konrad verzog den Mund. Sie hätte es ahnen können. Das Versagen war eine Frau.
Sie drehte der Erscheinung den Rücken zu und hängte sich mit ganzer Kraft an das Bettlaken, das sie vor wenigen Minuten am Fenstergitter festgeknotet hatte. Mühsam richtete sie sich wieder auf. Das Laken hielt, doch das Fenster war niedrig. In Büchern hatte sie viel gelesen über Menschen, die versucht hatten, sich an niedrigen Fensterkreuzen zu erhängen. Wie unendlich qualvoll diese Art des Sterbenwollens war. Sie stellte sich an die Wand und zwang ihre zitternden Beine, sie noch einen letzten Moment zu tragen. Mit der Würde einer Königin legte sie die beiden freien Zipfel des Lakens um ihren Hals und verknotete sie unter ihrem Kinn.
Sie blickte starr auf die grüne Stahltür. Die Erscheinung hatte zu wabern begonnen wie ein Flaschengeist.
»Isabelle«, sagte Erika Konrad, und ihre Stimme war schon tot, »vergib mir. Ich kann dir nicht mehr helfen.«
Sie gab ihren zitternden Beinen nach, und alles, was sie jemals in Büchern gelesen hatte, zerstob zu Hohn und Spott. Der harte Knoten traf ihren Kehlkopf wie eine Faust. Sie wollte würgen, husten, doch ihre Kehle war so zugeschnürt, dass nicht einmal mehr ein Schluchzen hindurchpasste. Zwei Minuten, dachte sie, zwei Minuten.
Tränen schossen in ihre Augen. Ihre Hände krampften sich in das Lieblingskleid, das sie seit zwei Tagen und einer Nacht trug. Sie hatte Angst, ihre Hände würden sie verraten, sie betete, ihre Hände mögen abfallen, bevor sie an den Knoten griffen, um ihn zu lockern. Ihre Lunge begann zu brennen. Ihr Herz loderte auf. Das Blut in ihrem Hals drückte, als wolle es herausplatzen. Ihre Hände zuckten. Alle Reste an Lebendigkeit, die ihr in dreiundfünfzig Jahren Leben geblieben waren, versammelten sich unter dem Knoten und brüllten.
Die grüne Stahltür verschwand hinter dem Tränenschleier, der sich immer dichter über ihre Augen zog. Mit aller Kraft, die sie jemals besessen hatte, buhlte Erika Konrad um den Tod. Sie ließ ihre Beine sinnlos nach vorn gestreckt, die Schenkel leicht geöffnet, die Arme kraftlos zuckend. Sie war schön. Sie war nicht jung, aber sie war noch schön. Komm, lieber Tod, und mache, flehte eine Stimme, von der sie selbst nicht mehr wusste, woher sie kam.
Und in der Sekunde, in der sie endlich das Bewusstsein verlor, durchzuckte Erika Konrad ein fantastischer Stolz. Sie hatte gesiegt. Sie war keine Versagerin. Einmal war sie stark geblieben bis zum Schluss.
 
»Wen suchen Sie?« Die Frau war jung, höchstens fünfundzwanzig. Ihr blasses Gesicht verschwand hinter einem Wust grüner Rastalocken.
»Frau Isabelle Konrad.« Der kleinere der beiden Uniformbeamten hatte seinen Fuß in die Tür gestellt.
Das Mädchen zupfte an dem Silberknopf in seinem linken Nasenflügel. »Konrad? Konrad kenn ich nich.«
»Sie ist aber unter der Adresse hier gemeldet.«
»Hm.« Sie kratzte sich mit ihrem nackten Fuß an der Wade. »Ach so. Isi meinen Sie. Ja, die hat mal ne Zeit hier gewohnt. Ist aber schon lange her. Keine Ahnung, wo die sich jetzt rumtreibt.«
»Sie haben keinen Anhaltspunkt über den Verbleib von Frau Konrad?«
Das Mädchen wickelte sich zwei grüne Strähnen um den Finger und lächelte den größeren der beiden Beamten an. »Was wollen Sie denn von der?«
»Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«
»Ach so. Verstehe. Muss ja was Wichtiges sein.« Sie zuckte mit den spitzen Schultern, die aus ihrem weißen Feinripp-Herrenunterhemd herausstachen. »Nee. Also tut mir echt Leid, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann. Aber, wenn Isi hier mal wieder vorbeischaut, sag ich ihr auf jeden Fall Bescheid.« Sie schaute vom Gesicht des kleineren Beamten zu seinem Fuß und wieder zurück. »Könnte ich dann zumachen?« Sie lächelte entschuldigend. »Ich hab da nämlich was auf dem Herd stehen.«
 
Das Bett war frisch bezogen. Die beiden Dreifüße rechts und links vom Kopfende blakten zufrieden. Auf einem Giebelbalken hoch unter dem Dach hockte der Steinkauz und blickte hinab. Die Flammen tanzten in seinen schwefelgelben Augen.
Leise summend saß sie auf den weißen Laken, die Hände nach hinten abgestützt, und wiegte den Kopf zwischen ihren Knien. Sie ließ ihm Zeit. Alle Zeit, die ein kluger Kopf brauchte, um eine Frau gründlich zu studieren, von vorn nach hinten und wieder zurück.
Kühl und fest lagen seine Ohren an den Innenseiten ihrer Schenkel. Er war schöner, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Mit dem Bart und der beginnenden Glatze sah er fast klassisch aus. Vielleicht hätte der Bart noch ein bisschen länger sein können. Aber seine Temperatur war ideal. Die drei Tage im Kühlschrank waren ihm gut bekommen. Jetzt war er so kalt und weiß, wie er es als Kopf schon immer hätte sein sollen.
Sie beugte sich nach vorn und küsste ihn auf die Stirn. »Du bist doch auch froh, dass wir so lange gewartet haben«, flüsterte sie ganz nah an seinem Gesicht.
Er roch nur wenig. Und das nicht einmal unangenehm. Nach Fisch und Honig.
Sie öffnete die Schenkel und ließ ihn in die Laken plumpsen. Andächtig fuhr sie über den schwachen rostroten Abdruck, den sein angeschnittener Hals auf das Leinen gestempelt hatte. Viel Blut besaß er nicht mehr. Mit roten Fingern malte sie Linien auf den weißen Stoff zwischen ihren Brüsten. Heute wusste sie, dass andere Kinder Fingerfarben gehabt hatten. Sie hatte nie mit Fingerfarben malen dürfen. Immer nur Buntstifte. Ihre Hand tänzelte bettauswärts. »Messer, Gabel, Scher und Licht...«
In Reih und Glied funkelten die chirurgischen Instrumente, die sie beim Fachversand bestellt hatte.
Sie schloss die Augen. Der Druck in ihrem Schädel war gewaltig gestiegen. Die Bilder mussten raus. Schädel sprengen oder raus. Viele Monate waren vergangen, seitdem sich die winzigen Gerstenkörner in ihrem Kopf eingenistet hatten. Viele Monate, in denen sie gewachsen und gewachsen waren, bis sie jeden anderen Gedanken verdrängt hatten.
Ihre Finger zitterten, als sie den Kopf wieder zwischen ihre Schenkel klemmte, das erste Skalpell vom Tisch nahm, es oberhalb des rechten Ohrs ansetzte und in frontalem Bogen zum anderen Ohr hinüberzog. Mühelos drang die Klinge durch die Haut. Es war wie bei den Kalbs- und Schweinsköpfen, mit denen sie geübt hatte. Und doch war es ganz anders. Viel schöner. Ihre Finger beruhigten sich. Mit einem zweiten Messer begann sie die Kopfhaut vom Schädelknochen zu lösen.
»Zeit zum Ausziehen«, sagte sie, als ihr die Haut ausreichend gelockert erschien, und wie man einer Puppe ein zu enges Kleid über den Kopf zerrt, zog sie ihm das Fleischhemd über die Ohren.
Es war sonderbar. Sie hätte schwören können, dass ihr jemand zwischen die Beine gefasst und sie gezupft hatte. Sie lauschte in sich hinein. Das Zupfen war weg, aber ein komisches Gefühl war geblieben. Wie wenn die Nase lief. Sie fasste sich unter das Kleid. Zwischen ihren Beinen rotzte es. Nachdenklich verrieb sie den Schleim. Eine normale Erkältung war es jedenfalls nicht, normale Erkältungen kannte sie, und die fühlten sich anders an. Es musste ein Unterleibskatarrh sein. Sie hatte noch nie einen gehabt, aber sie hatte schon davon gehört. Tatsächlich war alles zwischen ihren Beinen geschwollen. Dumm, dass sie ausgerechnet jetzt krank wurde. Aber egal.
Sie seufzte und legte ihre Wange an das blanke Schädeldach.
»Begreifst du jetzt, warum wir warten mussten«, flüsterte sie, »um ein Haar hättest du alles verdorben.« Sie strich über die blutige Maske, unter der seine Gesichtszüge verschwunden waren.
Als er sie letzten Samstag angefasst und sie ihm gesagt hatte, er müsse noch viel mehr als sein Jackett ausziehen, um ihr nahe kommen zu können, hatte er gelacht und sein Hemd aufgeknöpft.
Sie küsste den nackten Knochen. Der Druck in ihrem Kopf war verschwunden. Sie verspürte eine Nähe, wie sie sie noch nie in der Gegenwart eines anderen Körpers verspürt hatte. Sie fühlte sich leicht und schwebend wie ein Luftballon. Der Unterschied zwischen »im Kopf« und »draußen« war aufgehoben. So wie sie die Innenseite seiner Stirnhaut zur Außenhülle gemacht hatte, würden alle ihre Bilder Wirklichkeit werden. Sie war eine Göttin. Und Göttinnen fantasierten nicht, Göttinnen arbeiteten in Fleisch und Blut.
Ein neuerlicher Anfall ihres Unterleibskatarrhs warf sie auf die Laken zurück. Sie wusste nicht, war es derselbe Dämon, der zwischen ihren Beinen zupfte, oder war es ein anderer, jedenfalls hörte sie klar und deutlich sagen:
Spalte den Schädel und schlürfe das Hirn!
Sie vergaß das Zwischenbeingezupfe und setzte sich kerzengerade. Schädelspalten ja. Hirnschlürfen nein. Sie musste sich in Acht nehmen. Schon viele hatten göttlich begonnen und als Hirnschlürfer geendet. Nicht nur ihr Held Tydeus, der sich damals bei der Schlacht vor Theben fast die Unsterblichkeit erkämpft hatte und dann verreckt war, weil er Menalippos ins Hirn gebissen hatte. Auch Ugolino hatte es erwischt. Erst großer Graf von Pisa und dann seinen eigenen Kindern die Hirnschalen leergefressen.
Sie griff nach der Knochensäge. Der Kopf war ihrem Schutz unterstellt, sie war verantwortlich, dass seinem Hirn nichts zustieß. Also Vorsicht, Vorsicht. Zielsicher setzte sie die Säge zum Tonsurschnitt an. Bloß nicht zu tief gesägt. Hinterhauptsbein, Scheitelbein, Stirnbein und auf der linken Seite lateinisch zurück. Os frontale, Os parietale, und als sich der Kreis hinten beim Os occipitale geschlossen hatte, wechselte sie zu Hammer und Meißel.
Du Sisera. Ich Jaël.
Mit federnden Schlägen trieb sie den rostfreien Stahl in seine Schuppennaht hinein.
Gepriesen sei sie unter den Frauen! Sie griff mit ihrer Hand den Pflock und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer und zerschlug Siseras Haupt und zermalmte und durchbohrte seine Schläfe.
Atemlos hielt sie inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Was redete sie da? Nicht zerschlagen und zermalmen und durchbohren. Schützen, bewahren, lieben. Nichts als Zärtlichkeit war sie in dieser Nacht.
Sie legte den Hammer aus der Hand, um sich zu beruhigen.
Stirne blutet sanft und dunkel,
Sonnenblume welkt am Zaun,
Schwermut blaut im Schoß der Fraun;
Gottes Wort im Sterngefunkel!
Es ging ihr wieder besser. Noch ein paar sanfte Schläge, dann hatte sie es geschafft, sein Schädeldach gab endlich nach. Es knackte spröde, und was sie sah, raubte ihr den Atem.
Es war das Schönste, das sie auf der ganzen Welt jemals gesehen hatte.
Sie stöhnte. Wieder hatte ihr der Dämon zwischen die Beine gegriffen, und diesmal hatte er nicht einfach nur gezupft, sondern war tief in ihren Unterleib hineingekrochen und zog heftig. Sie fasste sich zwischen die Beine. Nun gut, wenn der Dämon Tauziehen spielen wollte, dann spielte sie eben mit.
Ihre Augen wurden feucht, als sie mit der freien Hand das Hirn berührte. Es war so schön, so wunderschön, wie es dort in seiner Schale lag, von Spinnwebenhaut und weicher Hirnhaut - »pia mater!« - liebevoll bedeckt.
Gehirne: kleine, runde; matt und weiß.
Sonne, rosenschössig, und die Haine blau durchrauscht.
Vor Glück kullerten ihr ein paar Tränen übers Gesicht. Sie war im Märchen. Sie war das Mädchen mit den Zaubernüssen. Sie war das Mädchen, dem die Götter die vierte Nuss, die Nuss aus ihrem heiligen Garten selbst, geschenkt hatten.
Der Dämon knurrte böse, als sie ihn dort unten sich selbst überließ, aber sie brauchte jetzt beide Hände. Vorsichtig griff sie zwischen Hirn und Knochen in die Schädelbasis hinein, ruckelte ein wenig an Nervensträngen und Blutgefäßen und hob das Hirn heraus. Zitternd schmiegte es sich an ihre Handflächen.
Sehen Sie, in diesen meinen Händen hielt ich sie, hundert oder auch tausend Stück; manche waren weich, manche waren hart, alle sehr zerfließlich; Männer, Weiber, mürbe und voll Blut.
Sie ließ sich samt Hirn auf den Rücken fallen, hielt es mit gestreckten Armen in die Höhe, wie man eine kleine Katze in die Höhe hält, warf es in die Luft, klatschte in die Hände, lachte und fing es wieder auf. Nie, nie, nie würde sie es an die Wand werfen wie diese dumme Königstochter. Sie drückte es an sich. Hirn an Hirn. Endlich konnten sie sich lieben. Befreit von allem, was sie getrennt hatte. Sie hatte schon immer so eine Ahnung gehabt, aber jetzt erst fühlte sie es sicher: Sie war Hirn. Reines Hirn. Von Kopf bis Fuß.
Der Dämon war in ihrem Unterleib auf ein unbekanntes Glockenarsenal gestoßen und läutete Sturm. Der leere Kopf krachte auf den Steinboden.
Sie presste eine Hand zwischen ihre Beine. Ihr ganzer Körper vibrierte von dem Geläut. Konnte man an Unterleibskatarrhen sterben? Ganz fest drückte sie das Hirn an sich. Ungewollt glitt ihre Hand in den Spalt hinein, der die linke von der rechten Hälfte trennte. Sie erstarrte.
»Fissura longitudinalis«, beschwor sie sich, »Fis-su-... lon-gi-tu-...«, während ihre Finger in Schleim und Blut versanken. Und obwohl es in ihrem Kopf immer schneller wirbelte, war es dort gleichzeitig ganz still und schwarz geworden.
Die Hand voll Hirn hatte sie in Höhen getragen, in denen der menschliche Geist nichts mehr zu suchen hatte.