IV
»Herr Pawlak?«
»Ja?« Franz tippte den Satz, an dem er gerade saß,
zu Ende und drehte sich samt Schreibtischstuhl herum. In seiner
offenen Zimmertür stand eine junge Frau mit langen blonden Haaren.
Erfreuliche Erscheinung. So kurz nach dem Frühstück.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte er
höflich.
Die Erscheinung lächelte. »Entschuldigen Sie, dass
ich störe, ich bin die neue Praktikantin im Feuilleton. Herr
Wössner hat mich zu Ihnen geschickt. Er sagt, er braucht den Handke
zurück, den Sie gestern mitgenommen haben.«
»So. Wössner braucht den Handke zurück«,
wiederholte Franz. Es fiel ihm schwer, sich vom Anblick der
neuesten Feuilleton-Fee loszureißen. Man konnte gegen die
Personalpolitik beim Morgen einwenden, was man wollte: In
der optischen Auswahl seiner Praktikantinnen ging er selten
fehl.
Franz betrachtete das Chaos, das seinen
Schreibtisch überzog. »Handke, Handke«, murmelte er, »wo ist der
Handke?« Er hob einen Blätterstapel an, misstrauisch, als vermute
er darunter nicht das neuste Werk des österreichischen Dichters,
sondern einen Giftkäfer. »Will Wössner diese Peinlichkeit nun doch
selbst rezensieren?«
»Das weiß ich nicht. Er hat mir nur gesagt, dass er
das Buch zurückbraucht.«
»Ja. Natürlich.« Franz lüftete einige weitere
Zeitschriftenstapel. »Ah, da ist er ja.« Er drehte das Buch ein
paar Mal unschlüssig in seinen Händen. Auf einmal hatte er es nicht
mehr so eilig, die Schwarte loszuwerden.
»Sie machen also ein Praktikum im Feuilleton«,
sagte er. »Schön. Wie lange bleiben Sie bei uns?«
Die junge Frau errötete sanft. »Drei Monate, denke
ich.« Sollte es jemals ein Strawberryblond gegeben haben,
war es dieses hier.
»Na, da haben Sie ja noch einiges vor sich.« Franz
nahm die Brille von der Nase, polierte sie kurz mit seinem
Hemdzipfel und setzte sie wieder auf. »Haben Sie schon einen ersten
Eindruck?«
»Ich weiß nicht.« Die Fee zuckte leicht mit den
Achseln. »Ich glaube, es gefällt mir.«
»Studieren Sie?«
Sie nickte. »Philosophie. Germanistik.
Geschichte.«
»Hier in Berlin?«
»Mmh.« Sie machte einige Schritte auf ihn zu und
streckte die Hand aus. »Ich glaube, ich sollte Sie jetzt wieder in
Ruhe arbeiten lassen. Geben Sie mir das Buch?«
»Ja. Ja. Selbstverständlich.« Franz schoss von
seinem Stuhl auf. Er hielt ihr den Handke hin, ohne loszulassen.
»Passen Sie auf, dass Wössner Sie nicht zu seinem Privathiwi macht.
Er hat eine Neigung dazu. Wenn es nötig wird, erinnern Sie ihn
daran, dass Sie nicht hier sind, um Bücher durchs Haus zu tragen,
sondern um etwas über Journalismus zu lernen. Und wenn Sie
moralische Unterstützung brauchen -« Er ließ den Satz unvollendet.
Und den Handke endlich los.
»Das werde ich bestimmt tun. Danke.« Sie lächelte
abermals ihr Feenlächeln, drückte das Buch an sich und schwebte zum
Zimmer hinaus.
»Wer bin ich?«
Ein Jemand mit schweißigen Händen hielt Kyra die
Augen zu. »Was soll der Quatsch.« Ärgerlich versuchte sie sich
loszumachen. Sie hasste es, beim Arbeiten unterbrochen zu
werden.
»Also nen bisschen freundlicheren Empfang hätt ich
mir ja schon vorgestellt.«
Die Schweißhände wanderten tiefer, strichen über
Wangen, Hals, Schlüsselbein - legten einen kurzen Tittenstop ein -
und rutschten weiter. Am äußersten Blickfeldrand entdeckte Kyra
vertrautes Grün. Isabelle Konrad beugte sich über sie und drückte
ihr einen langen Kuss auf den Mund.
Kyra klappte der Kiefer herunter. »Wie - wie kommst
du denn hierher?«
Die Grüne kicherte zufrieden. »Dreimal darfste
raten. Die Bullen mussten mich laufen lassen.« Sie knuffte Kyra in
den Nacken, kam nach vorn und hockte sich breitbeinig auf den
Schreibtisch. Mitten in Kyras Papierkram. »Hatte ich da mal n guten
Instinkt? Mann, stell dir vor, in was für ner Scheiße ich gehockt
hätte, wenn ich nicht die ganze Nacht bei dir gewesen wär. Dann
hätten diese Wichser mir die beiden Typen da im Museum auch noch
anhängen wollen.«
Kyra wischte sich langsam über den Mund. »Das Foto,
wo du die Eule umhast, das hat nicht gereicht, dich für zwanzig
Jahre hinter Gitter zu bringen?«
»Ach was. Ist zwar n blöder Schnösel, mein Anwalt,
aber echt cool. Das hättste erleben sollen, wie der die Bullen zur
Sau gemacht hat, von wegen Kein ausreichender Tatverdacht
und Gesamtschau der Indizien und so - die waren kurz davor,
nen Rolls zu mieten, um mich heimzufahren.«
»Das ist ja schön für dich. Könntest du vielleicht
trotzdem von meinen Notizen runtergehen?« Kyra zog an einem der
Zettel, die links unter Isabelles Arsch hervorschauten.
Die Kleine blieb hocken wie eine Perserkatze. Sie
schaute Kyra aufmerksam an. »Sag mal, irr ich mich da? Oder kann es
sein, dass du dich nicht so richtig freust, mich wieder zu
sehen?«
»Isabelle, es tut mir Leid, ich hab jetzt keine
Zeit.«
»Du bist doch nicht etwa eingeschnappt?« Die Grüne
warf Kyra einen langen Blick zu, lüpfte ihre linke Arschbacke und
gab den Zettel frei. »Okay, ich hätte dir sagen können, dass diese
dumme Eule mir gehört. Aber wozu, Mann? Du hättest eh nur das
Falsche gedacht.« Sie schlug auf den Tisch. »Ich hab nicht den
geringsten Schimmer, wie das Teil in die Wohnung von diesem toten
Bibliotheksheini gekommen ist, ehrlich. Ich wusste gar nicht, dass
es überhaupt noch existiert. Mein Vater hat mir das Ding auf
irgendsonem Scheiß-Griechenland-Trip gekauft, ich habs damals
getragen, damit ich ihm nen Gefallen tu, und dann hab ichs
irgendwohin weggepackt. Seit hundert Jahren nicht mehr gesehen.«
Sie zupfte an ihrem Nasenring. »Ich hab ne Idee. Was hältste davon:
Meine bescheuerte Mutter hat dieses Kitschteil zu den Fotos aufm
Kaminsims drapiert. Und die Tussi, die meinen Alten umgebracht hat,
hats mitgenommen, selbst getragen und dann bei dem Bibliotheksfuzzi
verloren.« Isabelle strahlte Kyra begeistert an. »Bin ich ne tolle
Detektivin?«
»Du bist ne tolle Lügnerin.«
»Meine Mutter hat wirklich so nen Scheiß mit meinen
alten Sachen gemacht«, protestierte die Grüne. »So Tochteraltäre.
Überall in der Wohnung. Die hat sogar n paar von meinen
Babyklamotten unter Glas gerahmt und sich ins Schlafzimmer
gehängt.«
»Warst du scharf auf deine Mutter?«
»Wie meinstn das jetzt?«
»Ob du deine Mutter gefickt hast.«
Isabelle Konrad riss die Augen auf und prustete
los. »Mann, du hast vielleicht Ideen. Erst willste mir einreden,
dass mein Vater mich gevögelt hat, und jetzt soll ichs mit meiner
Mutter getrieben haben?« Sie schüttelte den Kopf, dass die grünen
Rastas flogen. »Wir waren zwar ne kaputte Family, aber so fertig nu
auch wieder nicht.« Ihr Lachen ging in Schluckauf über. »Ich und
meine Alte - hick -, das
ist echt das Beste, was ich seit - hick - Jahren gehört hab
hick.« Sie rutschte näher an Kyra heran. »Kannste mir mal
helfen, diesen Scheiß loszuwerden? Ich halt mir die Ohren zu, und
du musst mir die Nase zuhalten.« Sie grinste. »Hick. -
Bitte, Mami.«
Mit gestrecktem Arm fasste Kyra nach der beringten
Nase und drückte zu. Kräftig. Die Grüne stopfte sich zwei Finger in
die Ohren und presste die Lippen aufeinander. Sie schnitt heftige
Grimassen.
Kyra schaute zum Fenster hinaus. Sie musste sich in
Acht nehmen, dass sie nicht noch fester zudrückte. Drei tote alte
Männer, ein toter Nachtwächter und ein kleines grünes Gör. Das
Ganze à la grecque. Es machte keinen Sinn.
Ein komisches Gefühl auf ihrem rechten Oberschenkel
holte sie zurück. Die Grüne hatte ihre schwarzen Bastlatschen
abgestreift und robbte mit nackten Zehen ihren Schenkel
hinauf.
Kyra ließ sie augenblicklich los. »Hör auf
damit.«
»Hey, hey, hey.« Die Grüne hob beide Hände.
»Spielen wir jetzt wieder Miss Rühr-mich-nicht-an?« Sie
grinste. »Aber die Nummer kauf ich dir nicht mehr ab.« Sie beugte
sich so weit nach vorn, dass Kyra ihren Atem im Gesicht spürte.
»Mann, ich hab selten eine so abgehen erlebt wie dich.«
Kyra stieß sich vom Schreibtisch weg und stand auf.
»Isabelle, was hast du in dieser Nacht gemacht?«
Die Grüne blinzelte verwirrt. »Wie: gemacht?
Das musst du doch am besten wissen, was ich gemacht
hab.«
»Nein. Das weiß ich nicht.« Kyra verschränkte die
Arme vor der Brust. »Ich kann mich nur erinnern, dass du bei mir
vor der Tür gehockt hast und die Bullen dich am nächsten Morgen aus
meinem Bett gezogen haben. Dazwischen kann alles passiert
sein.«
»Sag mal, ist das jetzt n Spiel, oder hast du n
Problem?«
»Jawohl. Ich habe ein Problem. Der Ersatzschlüssel,
der neben meiner Wohnungstür hing, ist weg.«
»Was hatn das mit unsrem Sex zu tun?«
»Isabelle, bist du in dieser Nacht noch mal
abgehauen?« Kyra ging drohend auf die Grüne zu.
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich -«
»Doch, genau das glaub ich.«
»Du hastse ja nicht mehr alle!« Isabelles
Augenbrauen schossen zusammen. »Und überhaupt«, sie funkelte Kyra
an, »wenn du dich an so gar nix mehr erinnern kannst wer sagt denn,
dass du in dieser Nacht nicht noch mal los bist und den Alten
umgelegt hast.«
»Darf ich mich dazusetzen?«
Die blonde Feuilleton-Fee blickte von ihrem Buch
auf. »Sicher dürfen Sie das.«
Es schien sie nicht weiter zu irritieren, dass
Franz sich ausgerechnet an ihren Tisch setzen wollte, obwohl
mindestens zwanzig andere Tische frei waren. Die Mittagszeit in der
Kantine war vorüber. Er stellte sein Tablett ab und nahm schräg
gegenüber Platz. Hühnersuppe. Kassler. Sauerkraut. Kartoffelbrei.
Menü II. Die Himbeer-Quarkspeise war aus gewesen.
»Haben Sie schon gegessen?«, fragte er mit Blick
auf ihre leere Tischhälfte. Einzig ein Glas Milch stand vor
ihr.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich esse tagsüber
nie.«
»Ist gerade Ramadan?«
Sie lächelte höflich. »Ich nutze die Mittagspause
lieber zum Arbeiten.«
Franz nickte beeindruckt. »Klingt nach einer
effektiven Diät. Sollte ich vielleicht auch mal ausprobieren.« Er
schlürfte den ersten Löffel Hühnerbrühe.
Ihr Blick senkte sich ins Buch zurück. Zwischen
hängenden Suppennudeln und Karottenstückchen versuchte Franz zu
entziffern, welche Lektüre die Kleine dermaßen fesselte. Es war ein
altes Buch, in Leinen gebunden, ohne Schutzumschlag. Die
Titelprägung war so verblasst, dass er unmöglich
etwas entziffern konnte. Vielleicht war es Zeit für eine neue
Brille. Oder noch besser: Kontaktlinsen. Neulich hatte ihm ein
Kollege erzählt, dass Brillen jetzt auch bei Männern jenseits der
Fünfzig nicht mehr in wären.
»Ich arbeite übrigens in der Musikredaktion.«
Die Kleine blickte wieder auf. »Ja? Das ist
interessant.«
»Was studieren Sie noch mal? Germanistik? Da werden
Sie ja wahrscheinlich keine Zeit in der Musikredaktion verbringen
wollen?«
»Och, das würde ich so sicher nicht sagen. Ich
kenne mich zwar nicht gut aus mit Musik. Aber ich könnte es
interessant finden.«
»Haben Sie mit Wössner mal über die genauere
Planung Ihres Praktikums gesprochen?«
Sie legte das Buch zur Seite. »Er meinte, dass ich
vielleicht schon nächste Woche eine erste Rezension schreiben
darf.«
»Das ist ja schön.« Franz unterbrach sein
Suppengelöffel für einen Moment. »Was hat Sie eigentlich auf die
Idee gebracht, hier ein Praktikum zu machen? Wollen Sie wirklich
Journalistin werden?«
Sie legte den Kopf schief. Ihre hellen Augen
wanderten zum hinteren Ende der Kantine. »Ich weiß noch nicht. Mein
Vater hat gemeint, ein Praktikum im Feuilleton wäre das, was ich
jetzt tun sollte.«
»Ihr Vater.«
»Ja. Mein Vater.«
Franz nahm sich den Kartoffelbrei vor. »Da müssen
Sie ja ein sehr gutes Verhältnis zu Ihrem Vater haben.«
»Das habe ich.«
»Ist er Journalist?«
»Nein. Oh nein.« Die weißblonde Fee lachte, als
habe Franz einen guten Scherz gemacht. »Haben Sie eine
Tochter?«
Nun lachte Franz. »Um Himmels willen, schauen Sie
mich an. Sehe ich wie ein Vater aus?«
Sie betrachtete ihn durch ihre langen, gebogenen
Wimpern hindurch. »Nein. Eigentlich nicht. Aber genau genommen weiß
ich auch nicht, wie ein Vater aussieht.«
»Väter tragen ordentlich gebügelte Hemden. Väter
gehen mit ihren Familien sonntags auf die Pferderennbahn. Väter
haben nette kleine Ehefrauen, die abends mit dem Essen auf sie
warten. Väter tragen Krawatten -« Franz brach ab, als er ihren
skeptischen Blick sah. »Ihr Vater ist offensichtlich nicht
so?«
»Nein.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein.
Mein Vater würde so etwas niemals tun.«
»Und was tut er stattdessen?«
»Er arbeitet.« Ihr Blick wanderte wieder in die
Ferne. »Er arbeitet an einem großen Werk.«
»Törner. Lassen Sie mich endlich in Ruhe mit
diesem Unsinn.« Priesske sprach zu seinem Untergebenen, als hätte
er einen beschränkten Schüler vor sich. »Es gibt keine
Serienkillerinnen.«
Der Kommissar blieb bockig. Er klopfte auf das
schwarze Buch, das geöffnet vor ihm lag. »Und was ist mit dieser
Irren in Amerika, die sechs Männer am Straßenrand aufgegabelt hat,
mit ihnen in den Wald gefahren ist und sie erschossen hat?«
»Sie meinen diese lesbische Highway-Nutte? Das ist
Amerika.«
»Und die Linzer Witwe, die fünf Ehemänner ermordet
hat? Das ist nicht Amerika.«
»Nein, das ist Österreich, Törner. Aber wie Sie
selbst gesagt haben: Diese Frau hat nur Männer umgebracht, mit
denen sie verheiratet war. Um an deren Geld ranzukommen.« Priesske
lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hob die Hand. »Es gibt vier
Motive, die Frauen zu Serienmörderinnen werden lassen«, dozierte
er, »und das sind: Habsucht, Rache, verfehltes Mitleid und dieses -
wie nennen
das die Psychofritzen gleich wieder - Münchhausen-Syndrom.« Bei
jedem der Begriffe schnellte ein Finger aus seiner geschlossenen
Faust. »Dass es irgendeine Frau gibt, die von allen drei Morden
finanziell profitiert, können wir mit Sicherheit ausschließen.«
Ringfinger weg. »Dass eine Frau die drei Männer aus Mitleid
umgebracht hat, ist abwegig. Die Mordart passt nicht dazu. Außerdem
sind diese Mitleidsengel fast immer Krankenschwestern, die ihre
leidenden Patienten ins Jenseits spritzen.« Der Mittelfinger
knickte ein. »Dieser neumodische Münchhausen-Kram kommt auch nicht
in Frage. Das sind ausschließlich Mütter, die ihre Kinder
umbringen, um sich dann von ihrer Umwelt als die großen vom Unglück
Verfolgten bedauern zu lassen.« Der Zeigefinger verschwand in der
Faust. Priesske schaute seinen einsamen Daumen an. »Bleibt nur noch
Rache als Motiv.« Er zeigte damit auf Törner. »Und gut, bis vor
drei Tagen hätte ich Ihnen noch Recht geben können, dass hier eine
auf Rachefeldzug ist. Aber Sie haben das Opfer auf dem Altar doch
selbst gesehen. Mit goldenen Hand- und Fußschellen gefesselt. Und
denken Sie an das, was im Sektionsbericht stand: Aller
Wahrscheinlichkeit nach Katheter im Schwanz, mit Benzin gefüllt und
angezündet - Törner, ich sage Ihnen: Das ist keine weibliche Rache
mehr. Das ist irgendein völlig krankes Sex-Ding, mit dem wir es
hier zu tun haben.« Der Daumen zuckte. »Und solche kranken
Sex-Dinger machen Frauen nicht. Es gibt keine Triebtäterinnen.
Steht das in Ihrem schlauen Buch nicht drin?«
Törner trommelte unwillig auf seinem
Täterprofil-Leitfaden herum. »Dann haben wir es meinetwegen mit
einem männlichen Serienmörder zu tun, trotzdem sollten wir -«
»Törner, es reicht.« Heinrich Priesske stand
unwillig auf. »Diesen Unsinn können Sie mit den Psychoheinis vom
BKA weiterdiskutieren. Nach Feierabend. Jetzt ziehen Sie wieder die
guten alten Ermittlergamaschen an und klappern
die Szene nach demjenigen ab, der diese goldenen Handschellen
hergestellt hat.« Er nahm seinen Mantel vom Haken. Kurz vor der Tür
drehte er sich noch einmal um. »Törner, ich begreife wirklich
nicht, wie Sie einen Polizisten ernst nehmen können, der uns
weismachen will, dass wir nach einem Mann suchen, der in seiner
Jugend jede Nacht ins Bett gepisst hat, zum Frühstück nur hart
gekochte Eier mit Nutella frisst und einen rosa Käfer fährt.«
»Hier steckst du! Ich hab dich überall gesucht.«
Kyra ließ sich auf dem Kantinentisch nieder. »Seit wann isst du
denn in diesem Küchen-KZ zu Mittag?« Sie fischte eine
Sauerkrautsträhne von Franz’ Teller, legte den Kopf in den Nacken,
ließ das Sauerkraut in den Mund fallen und schüttelte sich. »Kennst
du dich mit griechischen Opferriten aus?«
»Griechische Opferriten?« Franz blickte von seinem
Kasslerrest auf.
»Jawohl, Opferriten. Ich glaub, ich hab die alles
erklärende Idee. Das im Pergamon-Museum war nicht einfach ein Mord.
Es war ein Opfermord.« Kyra schlug Franz ihre Rechte auf die
Schulter. »Das dritte Opfer war ein Opfer«, sagte sie
triumphierend. »Ist das nicht ne großartige Überschrift? Ich brauch
jetzt nur noch ein paar Details, die beweisen, dass ich Recht
hab.«
Wenn Franz beeindruckt war, ließ er es sich
zumindest nicht anmerken. Er schaute an Kyra vorbei über den Tisch.
»Kyra, darf ich vorstellen, das ist unsere neue Praktikantin im
Feuilleton, Frau - Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wie Sie
heißen.«
»Schröder. Nike Schröder.« Blondes
Feenlächeln.
Kyra machte eine kleine Verrenkung, um das Mädchen
zu betrachten. Durchsichtig. Viel zu durchsichtig, um sich in
diesem Betrieb zu behaupten. »Nike Schröder? Steiler Name.« Sie
wandte sich wieder Franz zu. »Also, was ist nun mit deiner
abendländischen Bildungspotenz? Ich muss alles über griechische
Opferriten wissen. Und zwar sofort.«
Franz strich sich über den kleinen Kugelbauch und
rückte ein Stück von der Tischkante weg. »Liebe Kyra. Ich bin
Musikredakteur. Kein Gräzist. Und auch kein
Religionswissenschaftler. Und überhaupt: Du bist doch diejenige,
die früher mal Griechisch gelernt hat.«
Kyra ließ eine zweite Sauerkrautsträhne baumeln.
»Viel zu lange her. Außerdem weißt du doch selbst, dass man die
spannenden Dinge in der Schule nie beigebracht bekommt.«
»Reden Sie von diesem schrecklichen Mord im
Pergamon-Museum?«
Kyra drehte sich unwillig um. »Ja.«
»Wie kommen Sie darauf, dass es ein Opfer gewesen
ist?«
Kyra entdeckte jetzt erst, dass sich das Mädel die
Augenbrauen ausgerupft und durch zwei zarte Pinselstriche ersetzt
hatte. Gott. Und sie hatte geglaubt, diese Mode hätte sich
endgültig erledigt. »Ganz einfach. Weil sich jemand die Mühe
gemacht hat, den Bildhauer nicht einfach daheim in seinem Atelier
abzuschlachten, sondern auf einem griechischen Altar
umzubringen.«
Das Mädchen lächelte etwas verwirrt. »Ach so. Ja,
das leuchtet ein.« Sie klappte das Buch zu, das die ganze Zeit
offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Ich glaube, ich sollte dann
wohl besser -«
Mit einer raschen Bewegung fasste Kyra nach dem
Leinenband. »Na so was. Das ist ja ein Zufall. Was machen Sie denn
mit der Ilias?« Sie schaute das Mädchen an.
»Herr Wössner hat mich gebeten, für ihn etwas
nachzusehen.«
»Verstehe.« Kyra nickte nachdenklich. »Was wollte
Wössner denn aus der Ilias wissen?«
»Er hat ein Zitat gesucht.«
»Und was für eins?«
»Eine bestimmte Stelle, wo Achilles den Tod des
Patroklos beweint. Sie soll in einer der Kampfszenen sein.«
»Und? Haben Sie es gefunden?«
Das blonde Kind seufzte. »Nein. Noch nicht. Wie ich
gesehen habe, besteht ja fast die ganze Ilias aus
Kampfszenen. Das wird nicht so leicht sein, die richtige Stelle zu
finden.« Sie lächelte Kyra freundlich an. »Stimmt das, was Herr
Pawlak eben gesagt hat? Dass Sie sich mit Griechisch auskennen?
Vielleicht können Sie mir ja einen Hinweis geben, wo ich eine
solche Stelle am ehesten finden könnte?«
Kyra drehte sich stirnrunzelnd zu Franz. »Was will
der alte Wichser plötzlich mit der Ilias?«
»Bitte, Kyra«, schaltete sich Franz brummend ein.
»Ich glaube, das war keine Antwort, die Frau Schröder
weiterhilft.«
»Nein. Im Ernst. Ich meine, das ist doch wirklich
mehr als komisch. Erst fehlt die Ilias bei diesem toten
Bibliothekar im Bücherregal, und jetzt interessiert sich Wössner
plötzlich für die alte Schwarte.«
»Er sucht die Stelle für einen
Botho-Strauß-Artikel«, erklärte es von der anderen Seite des
Tischs. »Um nachzuweisen, dass der nur von Homer abgeschrieben
hat.«
»Ah. Ach so.« Kyra nickte wenig überzeugt. »Na ja.
Macht nichts. Vielleicht fällt Ihnen ja später noch etwas ein.«
Nike Schröder stand auf. »Ich muss jetzt wieder hoch.« Ein Lächeln
für Franz. Ein Lächeln für Kyra. »Es war schön, Sie kennen gelernt
zu haben. Auf Wiedersehen.‹
»Auf Wiedersehen. Bis bald.« Franz wäre
aufgesprungen, um die Kleine ordentlich zu verabschieden, hätte
Kyra ihn nicht zwischen Tisch und Stuhl eingeklemmt.
»Merkwürdig. Hochmerkwürdig«, murmelte sie.
»Verdammt noch mal, Kyra! Musst du dich eigentlich
immer danebenbenehmen!«
»Wie bitte? Was ist los?« Sie konnte sich nicht
erinnern, dass Franz sie jemals angebellt hatte. Angegrantelt - ja,
Millionen Mal. Aber nie angebellt.
»Du könntest langsam wieder anfangen, normal zu
werden.
Seitdem du hinter diesen Morden her bist, benimmst du dich nur
noch unmöglich.«
Kyra begann zu grinsen. Nicht besonders herzlich.
»Meine Güte, das kleine Blonde hat ja mächtig bei dir
eingeschlagen.«
»Dieses Mädel hat damit gar nix zu tun.« Franz gab
dem Kasslerteller einen wütenden Stoß. »Nur, du führst dich wie
eine Depperte auf. Ich dachte, dass sie dich eingesperrt haben, hat
dir gelangt. Was willst du denn noch? Das nächste Mal hol ich dich
nicht mehr aus dem Knast.«
»Ich war nicht im Knast. Ich war für
erkennungsdienstliche Maßnahmen vorübergehend auf dem Präsidium
festgehalten.«
Doppeltes Schweigen.
»Ich glaubs nicht. Ich glaubs einfach nicht.« Kyra
klatschte mit beiden Händen auf den Tisch. »Willst du jetzt auch
damit anfangen wie diese ganzen anderen Arschlöcher hier, jedem
Stück Frischfleisch, das in die Redaktion schneit, unter den Rock
zu fassen?«
»Hast du gesehen, dass ich ihr unter den Rock
gefasst hätte?«
Kyra stieß ein schlecht gelauntes Lachen aus. »Habt
ihr euch schon verabredet? Für die Oper? Und das Bierchen danach?«
In gespielter Enttäuschung schlug sie die Hände vor den Mund. »Oh.
Aber wahrscheinlich trinkt die Kleine gar kein Bier.«
»Bitte, Kyra, mach dich nicht lächerlich.«
»Pädophilie ist der Gipfel der
Lächerlichkeit.«
»Ach ja? Und was war das mit dir und der kleinen
Konrad?«
Kyra konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde.
»Erstens ist das was völlig anderes. Und zweitens war da gar
nichts.«
»Schon klar«, brummte Franz. »Wenn du mich jetzt,
bitte, entschuldigen würdest.« Er griff nach dem Tablett und
begann, die leeren und halb leeren Teller draufzuknallen.
»Nö. Nie gesehen, die Dinger. Aber ziemlich geil. Von der Stange
sind die nicht.« Der spirrige Mann mit dem Damastwämschen auf
blanker Haut wog den Klarsichtbeutel, in dem die goldenen Hand- und
Fußschellen lagen, ehrfürchtig in seiner Hand. »Haben Sie das mal
prüfen lassen? Sind wahrscheinlich nur vergoldet. Aber trotzdem.
Ziemlich geil.« Er lächelte hinter seinen runden Brillengläsern.
»Ich bin ja mehr so im Filigranbereich, aber trotzdem: Wär froh,
wenn einer mal so was in Auftrag geben würde. - Vielleicht nicht
grad in dem speziellen Fall, aber so allgemein.« Er reichte den
Beutel über den Tresen hinweg an Törner zurück. »Nö. Kann ich Ihnen
wohl nicht weiterhelfen. Tut mir Leid. - Ihr zwei kommt klar«,
flötete er in Richtung der beiden Girlies, die sich gegenseitig
Schamlippengehänge vor die Minis hielten.
»Klar, wie immer, Toto.«
Törner ließ den Beutel in seiner Tasche
verschwinden. »Haben Sie eine Ahnung, welcher Ihrer Kollegen solche
Schellen anfertigt?«
Der Goldschmied kratzte sich an der roten Rose, die
ins Zentrum seiner Hochglanzglatze tätowiert war. »Also, im
Fesselbereich ist der Icki spezialisiert auf Sonderanfertigungen.
Den würd ich mal zuerst fragen. Wenn Sie ein Momentchen warten, hab
ich auch irgendwo seine Adresse.« Er tauchte hinter seiner
Ladentheke ab und wühlte in Schubladen.
Törner hörte die beiden Mädchen in seinem Rücken
kichern.
Der Goldschmied tauchte mit einem ausgefledderten
Lederadressbuch in der Hand wieder auf. »Icki, Icki«, murmelte er
und blätterte durch die angenagten Seiten. »Friedrich Schenker, da
haben wir ja den Schlingel.« Er kritzelte Straßennamen und
Hausnummer auf einen Zettel. »Telefonnummer schreib ich Ihnen auch
mal dazu, der Icki macht das nämlich nur mit Anmeldung.«
»Danke.« Törner nahm den Zettel entgegen, den der
Goldschmied ihm hinhielt.
»Sagen Sie dem Icki ganz liebe Grüße von Toto, dann
klappts schneller mit dem Termin. Uniformierten helfen wir doch
immer gern. Auch wenn sie die Uniform daheim gelassen haben.«
Lachend griff er in den vergoldeten Totenschädel mit dem
Klappdeckel, der neben der Kasse stand, fischte eine Visitenkarte
heraus und drückte sie Törner in die Hand. »Wenn Ihre Gattin
vielleicht mal nen kleinen Intimschmuck wünscht. Oder Sie selbst.«
Er zwinkerte. »Bis Ende August haben wir das Eichelpiercing noch im
Sonderangebot.«
So sprach er und warf, und das Geschoss lenkte
Athene
Auf die Nase neben dem Auge, und es durchbohrte die
weißen Zähne.
Und ihm schnitt ab die Wurzel der Zunge das unaufreibbare
Erz,
Und die Spitze fuhr ihm heraus am untersten Kinn.
Auf die Nase neben dem Auge, und es durchbohrte die
weißen Zähne.
Und ihm schnitt ab die Wurzel der Zunge das unaufreibbare
Erz,
Und die Spitze fuhr ihm heraus am untersten Kinn.
Kyra ließ das Buch sinken. Ilias. Immer
wieder schön. Besser als Nightmare on Elmstreet.
Ihr Blick schweifte durch den voll besetzten
Lesesaal der Staatsbibliothek. Hinter irgendeinem dieser Schalter
musste der alte Homberg gearbeitet haben. Von den
Bibliothekarinnen, die sie an der zentralen Buchausgabe gefragt
hatte, konnte sich keine mehr persönlich an den alten Mann
erinnern. Vielleicht sollte sie es nachher noch mal in den anderen
Lesesälen probieren. Kyra unterdrückte ein Gähnen. Der Sessel, in
den sie sich gesetzt hatte, war bequem, gefährlich bequem.
- Doch der schlug ihm mit dem Schwert in den
Hals,
Und weit weg warf er das Haupt mitsamt dem Helm,
und das Rückenmark
Spritzte aus den Wirbelknochen, und der lag am Boden
hingestreckt.
Und weit weg warf er das Haupt mitsamt dem Helm,
und das Rückenmark
Spritzte aus den Wirbelknochen, und der lag am Boden
hingestreckt.
Mit leisem Lächeln klappte Kyra die Ilias zu
und zwang sich, wieder in die wissenschaftliche Abhandlung zu
blicken, die geöffnet auf dem niedrigen Tischchen lag.
Die Religion der Griechen freilich erschien und
erscheint in klassizistischer Perspektive als licht und
leidlos-heiter. Doch wer dem das Skandalon des Kreuzes als das ganz
andere entgegenhalten möchte, übersieht die Tiefendimension, die
der von Homer und der Bildkunst suggerierten Schwerelosigkeit der
Götter zugehört.
Kyra zupfte nervös an ihrem Muttermal. Warum konnte
dieser Mann nicht einfach schreiben, dass das ganze Christentum
eine scheißblutige Religion war und dass die Griechen unter der
Maske ihrer erhabenen Einfalt und stillen Größe auch nur ein Volk
von Blutsudlern gewesen waren?
Vom Hergang eines »normalen« griechischen
Opfers für die olympischen Götter können wir uns, vor allem dank
der Schilderungen durch Homer und die Tragödie, ein recht
vollständiges Bild machen.
Na endlich. Kyra stieß einen Seufzer aus und zwang
sich, ihre Rezeptoren von Durchzug auf Achtung
umzustellen.
»Könntest du das hier vielleicht mitkopieren?« Der
hübsche Ex-Kellner lächelte und hielt Nike Schröder ein Buch
hin.
Die Kleine blinzelte erstaunt. »Hatte Herr Wössner
nicht gesagt, dass du dieses Buch kopieren sollst?«
Andy ließ sich in die linke Hüfte fallen. »Ja.
Schon. Aber ich muss doch gleich los. Ich soll doch einen Artikel
über die Baracke schreiben.«
»Ach so?« Nike drückte die Kopiertaste. »Was
spielen sie denn da heute Abend?«
Srrrt - srrrt, machte die Lichtschiene.
»Shoppen und Ficken.«
»Kenne ich nicht.« Nike nahm das Buch von der
Glasplatte, blätterte um, strich es im Knick sorgfältig glatt und
legte es wieder hin. Sie passte die beiden weißen Papierstreifen,
die Kopierränder verhindern sollten, neu an.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
Srrrt. Srrrt. Lichtschiene.
»Bitte. Du würdest mir einen Riesengefallen tun.
Dieser Artikel ist total wichtig für mich.«
»Aber Herr Wössner hat doch gesagt, dass du dieses
Buch kopieren sollst.« Srrrt. Srrrt.
»Hey, das ist echt unkollegial.«
»Und hey, was Sie da machen, ist ziemlich dreist«,
brummte es von hinten. Die beiden Praktikanten blickten sich
gleichzeitig um.
»Ach, Herr Pawlak.« Zwei Gesichter erröteten.
Andy klemmte das Buch unter den Arm. Er räusperte
sich. »Ich geh dann mal wieder hoch. Ich hab noch was zu
erledigen.«
»Ja. Das glaube ich auch.« Franz wartete, bis der
Schönling außer Hörweite war. »Diese Frau hat sie wirklich nicht
mehr alle beieinander«, sagte er leise.
Srrrt. Srrrt.
»Welche Frau?«, erkundigte sich die Kopierfee
neugierig.
»Kyra. Sie haben sie heute Mittag ja kennen
gelernt. Früher war sie vollkommen in Ordnung, aber seit einiger
Zeit treibt sie nichts als Unfug. Wie mit diesem gschleckten Hupfer
da.«
»Sie mögen Andreas nicht?«
Srrrt. Srrrt.
»Ich halte nichts von Studenten, die Kellner,
Dressman und Journalist gleichzeitig spielen wollen.«
Nike kicherte. »Ich glaube, ich kann ihn auch nicht
besonders gut leiden.«
»Endlich mal eine Frau, die noch alle Sinne
beieinander hat.«
Die Kleine nahm das Kompliment gelassen entgegen.
Mit leichtem Fingerdruck schickte sie eine weitere Kopie auf den
Weg. »Kennen Sie Kyra gut?«
»Na ja. Wie das halt so ist unter alten Kollegen.
Früher, bevor sie angefangen hat zu spinnen, haben wir zusammen im
Feuilleton gearbeitet.«
»So? Das ist ja interessant. Und in welcher
Redaktion arbeitet sie jetzt?«
»Verbrechensressort. Blut- und Tränenseite,
wie wir hier sagen.«
»Blut- und Tränenseite - das ist schön.«
Wieder wanderte die Lichtschiene. »Und jetzt sitzt sie an einem
Artikel über den Mord im Pergamon-Museum?«
»Was weiß ich. Irgendwie glaubt sie, sie müsste
Mörder fangen.«
»Das ist sicher aufregend. Erzählt sie Ihnen viel
von ihrer Arbeit?«
Franz winkte ungnädig ab. »Alles Spinnereien. Sie
hätte im Feuilleton bleiben sollen.«
Srrrt. Srrrt.
Die Kleine hatte ausnehmend schöne Schulterblätter.
Engelsflügel. Franz trat vom einen Fuß auf den anderen. »Sagen Sie,
müssen Sie noch lange an diesem dummen Kopierer hier herumstehen?
Ich gehe nachher in die Philharmonie. Im Kammermusiksaal ist ein
Konzert mit Boulez. Er dirigiert Strawinsky und Messiaen. - Und -
und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, mich zu
begleiten?«
Ein verwickelter Weg führt hin zum Zentrum des
Heiligen. Baden und das Anlegen reiner Kleider, Schmückung und
Bekränzung gehören zur Vorbereitung, oft
auch sexuelle Abstinenz. Zu Beginn bildet sich eine wenn auch noch
so kleine Prozession: im gemeinsamen Rhythmus singend entfernen
sich die Teilnehmer des Festes von der Alltäglichkeit. Mitgeführt
wird das Opfertier, seinerseits geschmückt und gleichsam
verwandelt, mit Binden umwunden, die Hörner vergoldet. Man erhofft
in der Regel, dass das Tier gutwillig, ja, freiwillig dem Zug
folgt; gerne erzählen Legenden, wie Tiere von sich aus zum Opfer
sich anboten; denn es ist der Wille eines Höheren, der hier
geschieht. Ziel ist der alte Opferstein, der längst errichtete
Altar, den es mit Blut zu netzen gilt. Meist lodert auf ihm bereits
das Feuer. Oft wird ein Räuchergefäß mitgeführt, die Atmosphäre mit
dem Duft des Außerordentlichen zu schwängern; dazu die Musik, meist
die des Flötenbläsers. Eine Jungfrau geht an der Spitze, die »den
Korb trägt«, die Unberührte das verdeckte Behältnis; auch ein
Wasserkrug darf nicht fehlen.
Es war heiß im Taxi. Erbarmungslos heiß. Franz
spürte, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterlief. Das Hemd, das
er in Wien beim Adlmüller gekauft hatte, war bereits durchnässt. Er
fasste sich in den viel zu engen Kragen. Warum nur hatte er
ausgerechnet heute das neue Hemd angezogen? Er flehte zum Himmel,
seine Begleiterin, die allein auf der Rückbank saß, möge nichts
merken. Ohne hinzusehen wusste er, dass sie mit schweißlosem
Lächeln dort hinten sitzen würde, das enge Leinenkleid so glatt und
trocken, als habe sie es eben erst aus der Reinigung geholt. Wenn
er schnupperte, glaubte er, einen frischen, reinen Duft riechen zu
können. Kein Parfüm, er kannte sich aus mit Parfüms, sondern
irgendeinen Duft, den er in seinem Leben nie gerochen hatte. Er
wagte nicht, sich umzudrehen oder einen Blick in den Rückspiegel
des Taxis zu werfen. Vielleicht sollte er ohnmächtig werden.
Am heiligen Ort angekommen, wird zunächst ein
Kreis markiert, Opferkorb und Wassergefäß werden rings um die
Versammelten berumgetragen und grenzen so den Bereich des Heiligen
aus dem Profanen aus. Erste gemeinsame Handlung ist das Waschen der
Hände, als »Anfang« dessen, was nun geschieht. Auch das Tier wird
mit Wasser besprengt; »schüttle dich«, ruft Trygaios bei
Aristophanes. Man redet sich ein, die Bewegung des Tieres bedeutet
ein »freiwilliges Nicken«, ein Ja zur Opferhandlung. Der Stier wird
noch einmal getränkt - so beugt er sein Haupt.
»Sollen wir dann reingehen?«
Es hatte das erste Mal geklingelt. Hektisch zerrte
Franz die beiden Tickets aus seiner Jacketttasche hervor. »Oder
möchten Sie noch ein Mineralwasser trinken?«
»Nein. Nein danke.« Mit einem Lächeln stellte Nike
Schröder ihr halb ausgetrunkenes Wasserglas auf den Pausentisch
zurück. »Das ist sehr interessant, was Sie mir da gerade über die
serielle Technik in der Komposition erzählt haben. Und Messiaen hat
diese Technik erfunden?«
»Nein. Das stimmt nicht ganz. Messiaen hat nur
weiter radikalisiert, was Schönberg mit der Zwölftonmusik bereits
angelegt hat.« Franz war glücklich. Seit Jahren hatte er keine
aufmerksamere Zuhörerin mehr gehabt. »In der Zwölftontechnik
beschränkt sich das Reihenprinzip allerdings noch auf die Töne
beziehungsweise die Tonqualität, die anderen Parameter wie
Lautstärke, Tondauer und so weiter sind noch frei. Die Festlegung
aller Parameter ist das, was dann in der seriellen Musik geschieht.
Jeder Ton mit allen seinen Eigenschaften muss sich aus dem anfangs
gewählten rationalen Ordnungsprinzip notwendig ergeben.«
»Das ist interessant. Wirklich interessant.« Nike
Schröder nickte ernsthaft. »Ich weiß so furchtbar wenig über Musik.
Musik hat meinen Vater nie interessiert. Was für ein
Glück, dass ich meinen ersten Konzertbesuch gleich mit jemandem
machen darf, der so viel weiß.«
Franz wünschte, der Rest Orangensaft, den er
hinunterstürzte, würde auch das Rot wegspülen, das er deutlich über
sein Gesicht kriechen spürte.
Gemeinsames, gleichzeitiges Werfen von allen
Seiten ist ein aggressiver Gestus, gleichsam Eröffnung eines
Kampfes, auch wenn die denkbar harmlosesten Wurfgegenstände gewählt
sind. Unter den Körnern im Korb aber war das Messer verborgen, das
jetzt aufgedeckt ist. Mit ihm tritt der, dem die Führungsrolle
zufällt im nun beginnenden Drama, der HIEREUS, auf das Opfertier
zu, das Messer noch versteckend, damit das Opfer es nicht erblickt.
Ein rascher Schnitt: ein paar Stirnhaare sind dem Tier
abgeschnitten worden. Noch ist kein Blut vergossen, nicht einmal
ein Schmerz zugefügt, und doch ist die Unberührbarkeit und
Unversehrtheit des Opfertieres aufgehoben, in nicht mehr
umkehrbarer Weise. Jetzt folgt der tödliche Schlag. Die anwesenden
Frauen schreien auf, schrill und laut: ob Schreck, ob Triumph, ob
beides zugleich, der griechische Brauch des Opferschreis markiert
den emotionellen Höhepunkt des Vorgangs, indem er das Todesröcheln
übertönt.
Der Applaus brandete noch von allen Seiten, als
Franz und Nike den Saal bereits verließen.
Die Wangen des Mädchens waren gerötet. »Das war
wirklich ein wunderbares Konzert. Danke, dass Sie mich mitgenommen
haben.«
Auch Franz leuchtete. »Es freut mich, dass es Ihnen
gefallen hat.«
»Und Sie müssen jetzt gleich die Rezension
schreiben? Ich stelle mir das furchtbar schwer vor, über Musik zu
schreiben.«
»Routine.« Er zuckte die Achseln. »Ob es
tatsächlich was über die Musik sagt, was man da zusammenschreibt,
steht natürlich auf einem anderen Blatt.«
Sie gingen durchs große Foyer, Garderobe hatten sie
keine abgegeben, und er hielt ihr die Glastüren zum Vorplatz auf.
Die Taxis warteten bereits in langer gelber Schlange.
»Wollen Sie -«, er räusperte sich, »- wollen Sie
vielleicht noch eine Kleinigkeit trinken gehen?« Er lächelte, als
er ihren fragenden Blick sah. »Keine Angst. Der Artikel muss erst
morgen Mittag in den Satz. Heute Nacht schreib ich eh nix
mehr.«
»Das Bœuf à la bourguignonne ist
fantastisch. Das haben Sie doch nicht etwa selbst gekocht?« Jenny
Mayer zog mit gefletschten Zähnen den Bissen von der Gabel und warf
Doktor Olaf Wössner den zum Hintergrundtango passenden Blick
zu.
»Nein. Nein. Selbstverständlich nicht. Ich - ich
habe liefern lassen.« Wössner hüstelte und hob sein Rotweinglas.
»Liebe Frau Mayer, wollen wir - ich meine: Sie wissen ja, wie viel
Wert ich auf formale Korrektheit lege, aber wollen wir uns nicht
wieder duzen.«
Das politische Blond warf den Kopf in den Nacken
und lachte. »Lieber Olaf, ich kann dir gar nicht sagen, wie gern.
Um ehrlich zu sein: Es ist mir die ganze Zeit schwer gefallen, bei
dem ›Sie‹ zu bleiben.« Sie griff nach ihrem Wein, und die beiden
Gläser stießen mit dezentem »Göng« zusammen.
Es entstand eine Pause, in der sich nur Herr
Piazzolla und sein Bandoneon weiter unterhielten.
»Bist - bist du mit deinem Moskau-Berlin-Artikel
fertig geworden?« Olaf Wössner schaute das Fleisch auf seinem
Teller an, ohne davon zu essen.
»Ich muss noch einmal mit dem Botschafter reden«,
kaute Jenny Mayer gut gelaunt, »aber dann sollte ich alles haben.«
»Sehr gut. Sehr gut.«
Jenny Mayer legte Messer und Gabel aus der Hand und
beugte sich über den schmalen Wohnzimmertisch. Sie war kurz davor,
ihre Hand auf Olaf Wössners Hand zu legen. »Jetzt sag doch endlich,
was los ist. Seit Tagen höre ich von dir, dass du mit mir über
etwas Wichtiges sprechen musst, und dann druckst du immer nur
herum. Ich finde, jetzt wo du mich zu dir nach Hause eingeladen
hast, ist doch wirklich der richtige Zeitpunkt, um mir zu sagen,
was los ist. Also. Spucks aus.«
Doktor Olaf Wössner faltete nervös an seiner
Serviette herum.
»Geht es um die personalen Veränderungen im
politischen Teil, die du letzten Montag angedeutet hast?«, fragte
sie. Großer Bandoneon-Auftakt. »Um die neue Stelle in
Moskau?«
Olaf Wössner legte die Serviette weg und schaute
der Kollegin Mayer zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen.
»Ich - ich habe in Konrads Videorecorder eine Kassette
gefunden.«
»Du hast was -« Dem politischen Blond blieb der
Mund offen. Trotz warmem Kerzenlicht und aufwendigem Makeup sah sie
plötzlich bleich aus.
»Ich bin -«, Wössner lächelte unbehaglich, »- ich
habe die Kassette nicht an die Polizei weitergegeben.«
Jenny Mayer rückte vom Tisch weg. Ihre Hände
zitterten.
»Darf ich dir noch etwas Margaux
nachschenken?« Wössner hob die Weinflasche und schaute Jenny an.
Sein Lächeln wurde sicherer.
»Du Schwein.«
»Ich verstehe nicht, worüber du dich aufregst. Ich
habe dir doch gesagt, dass ich nicht zur Polizei gegangen
bin.«
Jenny Mayer atmete heftig. Ihr Blick war kälter
geworden als das Essen auf dem Tisch. »Was willst du dafür?«
»Aber liebe Jenny, habe ich denn gesagt, dass ich
etwas dafür will? Du weißt doch, wie sehr ich dich schätze.«
Wössners Lächeln war zu einem echten Grinsen angeschwollen. »Als
Frau.«
»Seit heute ist das Pergamon-Museum wieder für die
Öffentlichkeit zugänglich. Aber ist es noch dasselbe Museum? Werden
die zahllosen Schulklassen anders über den Marmor schlurfen als
zuvor? Wird der Pergamon-Altar wieder das, was er vor mehr als
zweitausend Jahren schon einmal war? Ein Ort von Kult?«
Kyra hörte ein schwaches Geräusch an der Tür. Sie
drehte sich um.
»Guten Tag«, sagte Nike Schröder. Zart wie weiße
Schokolade.
»Hi.« Kyra schaute auf den Bildschirm zurück.
Beschissener Anfang. Sie löschte die ersten sechs Zeilen. Am
liebsten hätte sie das Ganze gelöscht. »Wars schön gestern im
Konzert?«
»Oh, Herr Pawlak hat Ihnen bereits erzählt, dass
wir in der Philharmonie waren?«
»Hätten Sie es lieber geheim gehalten?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Es war sehr
interessant. Herr Pawlak hat mir viel über Messiaen und die
serielle Musik erzählt.«
»Das glaub ich«, lachte Kyra sauer. »Bei serieller
Musik läuft Franz immer zu Hochform auf.« Ohne sich umzudrehen,
spürte Kyra, wie die Kleine näher kam und kurz hinter ihr stehen
blieb. Ein Engel geht durch den Raum. »Ach. Haben Sie doch
noch mal in der ›Ilias‹ nachgesehen, ob Sie meine Stelle finden
können?«
»Wie?« Irgendetwas grieselte Kyra den Rücken
hinunter. Sie fasste nach dem Buch, das aufgeschlagen neben dem
Computer lag. »Nein. Ich brauche das für meinen eigenen
Artikel.«
»Da sind aber viele Anstreichungen drin.«
»Haben Ihnen die Lehrer verboten, Anstreichungen in
Büchern zu machen?«
»Ooh.« Die Kleine machte ein bewunderndes Geräusch.
»Das links, das ist ja Griechisch.«
»Was dagegen?«
»Ach, bitte. Können Sie mir etwas auf Griechisch
vorlesen? Bitte, bitte.«
Kyra zog das Buch an sich. »Ich hab schon seit über
zehn Jahren kein Griechisch mehr gelesen.«
»Ach, versuchen Sie es doch. Bitte, bitte.«
»Wissen Sie, was Sie sind? Eine Nervensäge.
- EK DE HOI HPAR OLISTHEN, ATAR MELAN HAIMA KAT’
AUTU KOLPON ENEPLESEN«, las sie. Stockend.
Nike Schröder klatschte begeistert. »Und was
bedeutet das?«
Kyra schwenkte ihren Blick auf die rechte
Buchseite.
»Doch der stieß ihn mit dem Schwert in die
Leber,
Und heraus glitt ihm die Leber, und das schwarze Blut
erfüllte
Von ihr den Bausch des Gewands, und dem umhüllte
Dunkel die Augen,
Und das Leben verging ihm.«
Und heraus glitt ihm die Leber, und das schwarze Blut
erfüllte
Von ihr den Bausch des Gewands, und dem umhüllte
Dunkel die Augen,
Und das Leben verging ihm.«
»Puh.« Die Kleine kratzte sich an der Nase. »Und
so etwas brauchen Sie für Ihren Artikel?«
»Antike und die feine Kunst des Splatterns. - Hey,
gar nicht so schlecht als Überschrift.«
Die Kleine kratzte sich noch nachdenklicher an der
Nase. Bevor sie dazu kam, weitere Fragen zu stellen, klingelte das
Telefon.
»Berg.« Gewohnheitsmäßig klemmte sich Kyra den
Hörer
zwischen Ohr und Schulter. »Herr Professor Dollitzer, das ist
nett, dass Sie mich so schnell zurückgerufen haben.« Sie strahlte.
»Es geht um Folgendes. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es jetzt
ziemlich genau ein Jahr her, dass die rechtsmedizinischen Institute
der Freien Universität und der Humboldt Universität zusammengelegt
wurden? - Ja. Und ich würde gern einen Bericht für die Berlinseite
machen, wie die Zusammenarbeit nach einem Jahr läuft. - Damit wären
Sie einverstanden? - Gleich heute Nachmittag? Großartig. - Um drei?
Gut. Am besten komme ich ins Institut raus. - Ja, hab ich. - Gut.
Dann bis drei. Und nochmals herzlichen Dank.«
Kyra schmetterte den Hörer auf die Gabel zurück.
»Yeah«, röhrte sie zwei Oktaven unterhalb ihrer sonstigen
Stimmlage.
»Sie wollen einen Artikel über Rechtsmedizin
schreiben?«
Kyras Schulterblätter machten einen harten Sprung.
Das kleine Blonde hinter sich hatte sie vollkommen vergessen.
»Quatsch. Ich will sehen, ob ich irgendwas über den
Bildhauer und die zwei andren Geköpften rauskriege. Wollen Sie
mitkommen?«, fragte sie, ohne nachzudenken.
Nike Schröder lächelte. Ein wenig erstaunt. »Ja,
gern. Sicher, gern. Ich muss aber vorher Herrn Wössner fragen, ob
er mir freigibt.«
»Vergessen Sies wieder.« Kyra begann hektisch in
ihrem Schreibtischchaos herumzuwühlen. »Rechtsmedizin ist nicht das
Richtige für Sie.«
»Doch. Doch. Rechtsmedizin hat mich schon immer
interessiert.«
»Nein, es ist wirklich zu hart für Sie. Bleiben Sie
lieber im Feuilleton.«
»Ich will aber.« Die Kleine stampfte mit dem Fuß
auf.
»Also gut«, sagte Kyra, bevor die Blonde zu heulen
anfing. Sie hatte plötzlich so ein Singen in der Magengegend.
Und sie war sicher, dass es nicht von der Aussicht auf den
Sektionsbesuch kam. »Aber Sie halten die Klappe, wenn wir da sind.
Keine dummen Fragen. Und wehe, Sie verkotzen mir meine
Recherche.«
Ein gefährlich grünes Etwas war aus einem der
Seitengänge aufgetaucht, schnurstracks auf Franz zugelaufen und
breitbeinig vor ihm stehen geblieben.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Isabelle Konrad
finster.
»So?« Etwas Intelligenteres fiel Franz nicht
ein.
»Ich warn dich. Hör auf, bei Kyra gegen mich zu
hetzen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, wovon
Sie reden.«
»Na klar verstehste. Diese Scheißidee, dass ich was
mit dem Mord im Museum zu tun hab, auf die hast du doch Kyra erst
gebracht.«
Franz schaute sie verdutzt an.
»Mann. Du hast verloren. Du bist abgeschrieben.
Kapiers endlich. Kyra steht nicht auf kleine Dicke mit
Vollbart.«
Franz holte Luft. Und überlegte es sich anders.
»Auf kleine dürre Gören mit grünen Haaren scheint sie aber auch
nicht zu stehen«, sagte er trocken.
»Mann, pass bloß auf.«
»Worauf?«
Isabelle Konrad ließ die Frage unbeantwortet und
legte eine misstrauische Pause ein. »Hat Kyra was zu dir
gesagt?«
»Was gesagt?«
»Dass sie nicht auf mich steht.«
»Nun ja. Sie hat Andeutungen gemacht über jene
Nacht.«
»Red nicht so nen gequirlten Scheiß. Was hat sie
erzählt?« Die Grüne kam noch einen Schritt näher.
Franz schnupperte. Sie roch nach alter Lederjacke.
Was ungefähr auf nassen Hund hinauslief. Er grinste. »Sie hat mir
gesagt, dass sie Sie nicht kränken möchte. Aber dass die Nacht mit
Ihnen grauenvoll war.«
»Das hättste wohl gern, Franz Pawlak. Du lügst.«
Die Grüne zischte böse. »Kyra kann dir das gar nicht erzählt haben.
Weil sie sich an nix mehr erinnert.«
»Hat sie Ihnen das gesagt?« Franz schüttelte
lächelnd den Kopf. »Die Frau kann bisweilen höflicher sein, als man
denkt.«
»Und was soll so Scheiße gewesen sein an der Nacht
mit mir?«, erkundigte sich die Konrad-Tochter misstrauisch.
»Sie werden verstehen, dass ich Ihnen das jetzt
nicht im Detail wiedergeben möchte. Das wäre Kyra gegenüber nicht
sehr fair.«
»Nicht sehr fair. Scheiße, Mann.« Sie trat gegen
eine der metallenen Papierkorb-Aschenbecher-Säulen, die überall auf
den Gängen standen. »Hat die Alte n Problem damit, dass sie auf
Frauen steht?«
Franz überlegte.
»Nein.« Er lächelte. »Die Alte hat ein Problem
damit, dass sie auf gar niemanden steht.«
»Sie würden also nicht sagen, dass sich das
Arbeitsklima seit der Zusammenlegung Ihrer beiden Institute negativ
verändert hat?«
»Nein. In keinster Weise. Wir hatten
freundschaftliche Verhältnisse von Anfang an.«
Kyra warf einen kurzen Blick auf den
Kassettenrecorder, um zu sehen, wie viel Platz noch auf dem Band
war. Nike saß neben ihr und hielt dem weißbärtigen Professor das
Mikrofon hin. Der alte Mann und das Mädchen lächelten sich herzlich
an.
Kyra blätterte eine neue Seite ihres Ringblocks
auf. »Können Sie mir etwas über die spektakulärsten Fälle erzählen,
mit denen Sie in letzter Zeit zu tun hatten?«
Der Professor dachte einen Moment nach. »Letzten
Monat, da hatten wir einen sehr außergewöhnlichen Fall. Zwei
Arbeiter hatten in einer Böschung an einem S-Bahn-Damm
ein Skelett gefunden. Die ersten Untersuchungen ergaben, dass die
Leiche dort mindestens zwei Jahre gelegen haben musste.
Normalerweise ist es bei so langen Liegezeiten schwer, den Toten
noch zu identifizieren. Aber in diesem Fall hatten wir ein
unwahrscheinliches Glück. Im Gebiss des Skelettes fehlten zwei
Schneidezähne. Und zwar von Geburt an. Im Oberkiefer waren an
dieser Stelle überhaupt keine Zahnwurzeln vorgesehen. Eine äußerst
seltene Missbildung. Der Vergleich mit den Unterlagen bei der
Polizei ergab, dass es sich um einen jungen Mann handelte, den
seine Eltern tatsächlich vor ziemlich exakt zwei Jahren als
vermisst gemeldet hatten.«
»Was für Identifizierungsmöglichkeiten haben Sie,
wenn Sie nicht so glücklich sind, dass es eine auffällige
Besonderheit gibt, oder wenn das Gebiss völlig fehlt?«, fragte Kyra
weiter.
»Sie meinen, wenn wir ein unvollständig erhaltenes
Skelett finden? Dann sieht die Sache schwieriger aus, aber Gott sei
Dank gibt es immer noch individuelle Skelettmerkmale, wie zum
Beispiel Hinweise auf alte Frakturen und chirurgische
Behandlungsmaßnahmen. Wenn wir Glück haben, finden wir
Osteosynthesematerial wie Platten oder Schrauben, es können -« »Ich
meine nicht nur bei Skelettfunden«, unterbrach Kyra den Redefluss
des Rechtsmediziners. »Welche Methoden zur Identifizierung haben
Sie, wenn sie mit einer - nun ja: ›normalen‹ Leiche ohne Kopf
konfrontiert sind.« Sie spürte, wie die Kleine neben ihr
aufmerkte.
»Ja, dann ist es natürlich einfacher. In diesem
Fall nehmen wir zunächst einmal die Fingerabdrücke und machen eine
Leichendaktyloskopie. Dann hoffen wir, dass äußerliche
Individualmerkmale wie Narben, Hautveränderungen oder auffällige
Tätowierungen vorhanden sind. Körperlänge und Konstitutionstyp
können auch erste Hinweise geben. Bei der Leichenöffnung suchen wir
dann nach wesentlichen
Organerkrankungen, nach Besonderheiten wie zum Beispiel
Einnierigkeit, nach früheren Behandlungsspuren, wir schauen, ob der
Wurmfortsatz noch da ist, ob die Gallenblase noch da ist, und so
weiter. Sobald uns die Polizei einen konkreten Verdacht mitteilt,
um wen es sich bei der Leiche handeln könnte, machen wir den
DNA-Fingerprint.«
»Und wie zuverlässig sind diese Methoden?«
»Das ist pauschal schwer zu beantworten. Der
DNA-Fingerprint ist hundert Pprozent zuverlässig. Ansonsten kommt
es drauf an. Wenn wir Pech haben, sind wir mit einer vollkommen
durchschnittlichen Leiche konfrontiert, die keinerlei besondere
Merkmale hat. Dann kann die Identifizierung schwierig
werden.«
»Die Leiche, die sie im Pergamon-Museum gefunden
haben, konnten Sie die zuverlässig identifizieren?«
»Sie haben sicher Verständnis dafür, dass ich keine
Auskünfte über Fälle geben kann, bei denen die Ermittlungen noch
laufen.« Der Mann im weißen Kittel lächelte. Granit war dagegen ein
Pausensnack. »Wenn Sie hier im Moment keine Fragen mehr haben, dann
lassen Sie uns doch in den Sektionssaal gehen, damit ich Ihnen die
Örtlichkeiten dort zeigen kann.«
Kyra packte ihren Notizblock ein, Nike das Mikro
und den Kassettenrecorder, und im Gänsemarsch folgten sie Professor
Dollitzer die Treppe hinunter. Er öffnete die Stahltür zu einem
verwinkelten weißen Labyrinth. An den Wänden hingen großformatige
Fotos in Farbe und Hochglanz. Eine Frau mit schwarzem Loch in der
Schläfe. Ein Handschuh, menschliche Haut, im Wasser abgelöst. Eine
geöffnete Kehle, aus der ein Flaschenhals herausragte.
Atemlos folgten die beiden Frauen dem
Rechtsmediziner, der seine Lieblingsfotos im Vorbeigehen
kommentierte.
»Zusammen mit der Tochter jeweils im Zustand
fortgeschrittener Fäulnis in der Wohnung aufgefunden. -
Vom Sohn mit einem Beil erschlagen worden. Sieben
Hiebverletzungen im Bereich des Kopfes mit Spaltung des Schädels
unter einer längsgestellten Wunde in der Mitte des Scheitels.
-
Subarachnoidalblutung. In seinem Büroraum tot
aufgefunden, Hose war geöffnet. Penis hing aus dem Hosenschlitz
heraus. Dichte Blutungen zwischen den Hirnhäuten, besonders an der
Hirnbasis.«
Der Professor redete und redete. Und plötzlich,
ohne Vorwarnung, waren sie da.
Jenny Mayer zog die Tür hinter sich mit einem
Knall zu. Olaf Wössner blickte von seinem Schreibtisch auf.
»Ich habe nachgedacht«, sagte die Blonde kühl. »Ich
bin einverstanden. Wie sollen wir es machen?«
Olaf Wössner lehnte sich in seinem Ledersessel
zurück. »Wovon redest du?«
»Du weißt genau, wovon ich rede.«
»Ich weiß nur, dass du gestern wie eine Verrückte
aus meiner Wohnung gerannt bist.«
»Umso besser.« Jenny Mayer stemmte eine Hand in die
Hüfte. »Wenn du nichts mehr mit der Kassette vorhast, dann kannst
du sie mir ja gleich zurückgeben.« Sie streckte die rechte Hand
aus.
»Aber, liebe Jenny, nicht so schnell. Ich habe
nicht gesagt, dass ich mit der Kassette nichts mehr vorhabe.«
Doktor Olaf Wössner lächelte. Perfider, als sein akademisches
Gesicht erlaubte.
»Du verdammter Spanner.«
Sein Lächeln wurde schmallippig. »Ich könnte das
inkriminierende Band zum Beispiel immer noch der Polizei
aushändigen.«
Jenny Mayer stieß sich von der Tür ab und kam
hochhackig auf den Schreibtisch zu. »Herrgott noch mal, dann sag
mir doch endlich, was du willst!«
Der Chefredakteur schlug die lederne
Korrespondenzmappe auf. »Ich würde vorschlagen, wir vertagen diese
Diskussion auf heute Abend. Wie du siehst, bin ich im Moment
anderweitig beschäftigt. Komm um acht wieder.«
Die alte Frau war nackt. Vom Hals bis zu den
Fußsohlen nackt. Aber das machte nichts. In ihrer wachsgelb
zerknitterten Haut, die mit Altersflecken übersät war wie ein
Gepardenfell, sah sie angezogener aus als in jedem Nachthemd. Das
Schamhaar war ihr bis auf wenige weißdürre Kringel ausgegangen. Und
dennoch hatte eine nackte Frau nie weniger schamlos dagelegen. Eine
Lampe goss sie in gleißendes Licht. Die alte Frau blickte hinein,
ohne zu blinzeln. Sie blinzelte auch nicht, als der Mann mit der
Spritze sich über sie beugte und die Nadel in ihr rechtes Auge
stach.
Nike blieb stehen. »Was macht Ihr Kollege
da?«
Professor Dollitzer, der mit Kyra vorausgegangen
war, drehte sich um. Er lächelte. »Sie meinen Herrn Doktor Brenner?
Er ist gerade dabei, die beiden Glaskörper der Frau abzusaugen, um
den Kaliumgehalt zu bestimmen. Zwei bis drei Tage nach
Todeseintritt ist es eines der zuverlässigsten Verfahren, um die
Todeszeit zu schätzen.«
Die Kleine nickte stumm.
Kyra hatte die Ablenkung genutzt, um allein weiter
in den gekachelten Saal hineinzugehen. Da war sie also. Dorthin
zurückgekehrt, wo sie vor einunddreißig Jahren begonnen hatte. Zu
den stahlblitzenden Sektionstischen, auf denen die Toten lagen. Den
harten Holzbänkchen, die man ihnen als Nackenstütze untergeschoben
hatte. Den Brausen, mit denen die Sektionsgehilfen unablässig die
Tische vom Blut reinigten. Den klaffenden Bäuchen mit den
gespreizten Rippen, den dicken gelben Fettschichten, die an den
Schnittstellen der Haut wie altes Schaumgummi hervorschauten. Den
kleinen Suppenkellen, mit denen die Menschen in den weißen Kitteln
das Blut aus den offenen
Bäuchen schöpften. Den großen Silbertellern, auf die die
Eingeweide aus den Körperhöhlen wanderten.
- Kind, wie viele Körperhöhlen hat der
Mensch?
- Drei, Mami. Kopfhöhle, Brusthöhle,
Bauchhöhle.
Auf einem Teller lag ein Magen-Darm-Trakt, auf
einem anderen ein Herz-Lungen-Bereich. Alles fertig zum Wiegen und
Lamellieren. Geduldig ließen die Toten es zu, dass die Ärzte ihnen
die Teller mit ihren eigenen Organen auf den Oberschenkeln
abstellten.
Kyra schloss die Augen. Sie lauschte dem Geräusch
der Knochensägen. Der leisen, vornehmen Sprache, dem
allgegenwärtigen »Könnten Sie bitte noch« - »Würden Sie bitte
hier« - »Danke« - »Danke«. Sie atmete tief durch. Nie im Leben
würde sie diesen Geruch vergessen können. Nie im Leben beschreiben
können. Der einzige Geruch der Welt, gegen den der Mensch sich
nicht sperren konnte, der in ihn hineinkroch, egal, ob er sich die
Nase zuhielt oder zu atmen aufhörte.
Wie eine Schlafwandlerin ging Kyra durch den Saal.
Vergessen, dass sie hier war, um zu schnüffeln. Vergessen die
kleine Blonde, die Professor Dollitzer großäugig Fragen
stellte.
Am zweiten Sektionstisch stand eine Ärztin. Eine
schöne Frau. Nicht alt. Kyra lächelte sie an. Sie schaute nicht
einmal zurück. Sie war ganz darauf konzentriert, eine Leber aus
einem grotesk fetten Bauch zu holen. Mit beiden Unterarmen hievte
sie das aufgedunsene Organ auf eine der Platten.
Kyra ging weiter. Auf dreien der vier Tische lagen
Menschen in mehr oder weniger geöffnetem Zustand. Der feingliedrige
Arzt, der an dem Tisch auf der rechten Seite arbeitete, war mit
seiner Sektion am weitesten. Die komplett leergeräumte Brust- und
Bauchhöhle verschaffte Kyra ein Gefühl von Ordnung und
Klarheit.
Die geöffneten Leichen waren ihr als Kind immer wie
Baukästen vorgekommen. Wie ein besonders kompliziertes
dreidimensionales Puzzle. Und deshalb war sie immer so enttäuscht
gewesen, wenn die Pathologen nach getaner Arbeit sämtliche Organe
blind in die Bauchhöhle hineingeworfen hatten, anstatt alles wieder
ordentlich hineinzubauen. Sogar die zerschnittenen Hirne hatten sie
von den Silbertellern einfach in die Bauchhöhle gekippt. Und die
leeren Kopfhöhlen mit Watte ausgestopft. Als sie ihre Mutter danach
gefragt hatte, hatte diese nur lachend geantwortet, sie solle
selbst einmal versuchen, ein lamelliertes Hirn wieder in eine
Schädelhöhle hineinzusetzen.
Kyra wanderte zu der alten Frau zurück, die auf dem
ersten Sektionstisch lag. Inzwischen war auch sie zur Hälfte
ausgeräumt.
Professor Dollitzer führte Nike gerade eine
besonders verkalkte Arterie vor. Atemlos verfolgte die Kleine, wie
der Arzt die Röhre, die Handgelenkdurchmesser erreicht hatte, der
Länge nach aufschnitt. Es knirschte wie bei einem alten
Waschmaschinenschlauch.
Kyra musste lächeln. So ahnungslos, das Mädchen.
Und so geschmeichelt der Professor, dass er Kabinettstückchen aus
dem menschlichen Körper vorführen konnte.
Langsam ging sie ans Kopfende des Sektionstisches.
Noch hatte der Arzt der Greisin den Schädel nicht geöffnet. Noch
hatte er nicht den Schnitt von Ohr zu Ohr gesetzt, um ihr die Haut
nach vorn und nach hinten wie eine Strumpfmaske übers Gesicht zu
ziehen, bis der nackte Knochen hervorschaute. Ihre abgesaugten
Augen blickten fremd. Ein Blick, wie ihn Kyra noch nie gesehen
hatte. Ein Blick in eine andere Dimension.
Die Stimme des Professors verschwamm in ihren
Ohren. Sie war so schön. Die tote Greisin. So puppenschön.
»Es tut mir außerordentlich Leid, dass ich Sie
noch einmal behellige, aber die Dinge haben sich in eine Richtung
entwickelt,
die es erfordert, dass ich Ihnen noch einige Fragen stelle.«
Hauptkommissar Heinrich Priesske schlug die Beine übereinander und
zupfte seine Bügelfalte aufrecht.
Doktor Olaf Wössner kreuzte die Hände auf dem
Schreibtisch. »Sicher. Ich hoffe nur, dass ich Ihnen weiterhelfen
kann.«
Kleine Pause unter Männern.
»Herr Doktor Wössner, ich möchte nicht, dass Sie
mich falsch verstehen, aber ist Ihnen etwas darüber bekannt, ob
Robert Konrad homosexuelle Kontakte hatte?«
»Selbstverständlich nicht.« Ein flüchtiges Rot
huschte über das Gesicht des Chefredakteurs.
»Sie meinen, es ist Ihnen nicht bekannt, oder
Konrad hatte keine solchen Kontakte?«
»Robert Konrad hatte keine solchen Kontakte.«
Priesske lächelte verbindlich. »Ich begreife, dass
dieses ganze Thema für Sie höchst unangenehm sein muss, aber der
Verstorbene schien - wie soll ich sagen: ein recht ausschweifendes
Liebesleben geführt zu haben. Woher nehmen Sie die Sicherheit, dass
er sich immer nur an Frauen gehalten hat?«
Eine Zornesfalte teilte Wössners Stirn in zwei.
»Ich sehe nicht, was diese Frage mit Ihren Ermittlungen zu tun hat.
Gehen Sie plötzlich davon aus, dass Robert Konrad von einem Mann
ermordet wurde? Ich dachte, Sie waren davon überzeugt, dass es sich
um eine Täterin handelt.«
»Wir ermitteln in alle Richtungen.«
»Sicher. Sicher.« Olaf Wössner starrte auf seine
Hände. Seine Lippen spitzten sich ein paar Mal. Er holte Luft. »Es
tut mir Leid, Herr Kommissar. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht
mehr sagen, als ich eben schon gesagt habe.«
»Danke, ich möchte nur Mineralwasser.« Nike
Schröder lächelte den Kellner an und strich sich die langen blonden
Haare aus dem Gesicht.
Kyra griff nach ihren Zigaretten. »Ich wette, Sie
trinken niemals Alkohol?« Sie warf das Streichholz so heftig in den
Aschenbecher, dass es auf der anderen Seite wieder
heraussprang.
»Das stimmt. Es bekommt mir nicht.« Nike Schröder
legte das Streichholz sorgfältig in den Aschenbecher zurück.
»Muss sich verdammt gut anfühlen, so erhaben zu
sein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Immer durch die Welt zu laufen, als hätte man das
Drehbuch vorher schon gelesen.«
»Welches Drehbuch?«
»Was weiß ich. Den Text, den sich diese höheren
Idioten da oben für uns ausgedacht haben.«
»Glauben Sie, dass da oben höhere Idioten sind?«
Nike Schröder zeigte mit dem Finger vorsichtig aufwärts.
»Vielleicht ist es auch einfach nur ein großer,
großer Rechner mit Drehbuchprogramm, der sich langweilt.«
»Nein. Nein. Das glaube ich nicht.«
Beide Frauen schwiegen, bis der Kellner die
Getränke brachte. Kyra kippte ihren Wodka in einem Zug hinunter.
»Bringen Sie mir gleich noch einen.«
Schweigen, die zweite.
»Und? Hats Ihnen gefallen?« Kyras Stimme war rau,
als hätte sie bereits zwanzig Wodka getrunken. Sie knallte das Glas
auf den Tisch.
»Es war sehr interessant.« Nike Schröder schien mit
den Gedanken noch woanders zu sein.
Kyra zog an ihrer Zigarette. Ihre Finger zitterten.
»Verdammt, können Sie diesen Höhere-Tochter-Scheiß nicht wenigstens
mal fünf Minuten sein lassen? Wir waren zusammen in einem
Sektionssaal. Nicht im Kupferstichkabinett. Also erzählen Sie mir
bitte nicht, dass es interessant war.«
»Es war aber interessant«, beharrte Nike. Sie
dachte einen Moment nach. »Oder haben Sie vorher schon gewusst,
dass die Leber eines Menschen so groß und gelb werden kann?«
»Hab ich«, knurrte Kyra und setzte das Glas an, das
der Kellner soeben vor sie hingestellt hatte. Sie trank. Und trank.
Am liebsten hätte sie getrunken, bis sie vergaß, dass es so etwas
wie eine Welt überhaupt gab.
»Haben Sie die alte Frau gekannt?«
»Wie bitte?« Kyra runzelte die Stirn.
»Die alte Frau, der Sie über den Kopf gestreichelt
haben.«
»Was reden Sie da für Quatsch?« Kyra setzte das
Glas an, das bereits lange leer war.
»Ich habe es aber gesehen.« Die hellen Augen ruhten
auf ihr. Nicht unfreundlich.
»Nein«, sagte Kyra leise. Und stellte das Glas ab.
»Ich habe diese Frau nicht gekannt.«
»Sie müssen sich nicht schämen. Es ist ja nichts
Schlimmes dabei.«
Bitteres Lachen. »Wie überaus tolerant von
Ihnen.«
»Ich habe mich nur gewundert. Ich hätte nicht
gedacht, dass Sie Leichen mögen.«
Kyra schlug mit der Hand auf die marmorne
Tischplatte. »Jetzt halten Sie aber mal die Luft an. Ich mag
keine Leichen. Ich - ich -« Sie verschmierte den Kreis, den das
geeiste Wodkaglas hinterlassen hatte. »Es hat mich nur an früher
erinnert. Meine Mutter war Pathologin. Das ist alles.«
»Ihre Mutter war Pathologin? Das ist ja
interessant.«
»Ich will nicht darüber reden.« Kyra winkte in
Richtung Tresen.
»Aber warum denn nicht?«
Die Kleine hatte einen unglaublichen Kinderblick.
Aber keinen von den beleidigten. Beleidigt heruntergezogene
Kinderfressen ließen Kyra nach dem nächsten Küchenmesser suchen.
Dieser Blick war offen. Rein. Gegen ihren Willen musste Kyra
lächeln.
»Als ich klein war, hat mich meine Mutter öfter mal
in
den Sektionssaal mitgenommen. Wenn das Kindermädchen keine Zeit
hatte. Sie hat mich dann in eine Ecke gehockt, mir die Bauklötzchen
hingestellt und selbst zu schlitzen begonnen.«
Der nächste Wodka kam an den Tisch.
»Wirklich? Sie mussten als Kind Ihrer Mutter beim
Sezieren zugucken? Igitt.« Die Kleine verzog das Gesicht.
»Was heißt da mussten? Ich fands
okay.«
»Und Ihr Vater? Hätte sich nicht Ihr Vater um Sie
kümmern können?«
»Ich hatte keinen Vater.«
»Oh.« Zum ersten Mal an diesem Nachmittag sah Nike
Schröder ernsthaft schockiert aus.
Kyra musste lachen. »Glauben Sie mir, ich bin
großartig ohne Alten durchs Leben gekommen.«
»Aber haben Sie denn nie einen Vater
vermisst?«
»Ich hatte ja meine Mutter. Und die Leichen.« Kyra
lachte noch einmal. »Das ist doch viel aufregender als so ein
Vater.«
»Und wie war das?«
»Was?«
»Das Leben ohne Vater.«
»Wie soll das schon gewesen sein? Ich war halt
allein mit meiner Mutter.« Kyra fuhr mit dem Zeigefinger über den
vereisten Glasrand. Eine Runde. Zwei Runden. Drei Runden. Die dünne
Eisschicht war weg. Es gab einen leisen Ton. »Meine Mutter war eine
besondere Frau.« Vier Runden. Fünf Runden. Ein hohes Wimmern. »Tote
aufzuschneiden, war ihre ganze Leidenschaft. ›Ex-Leben‹, wie sie
sagte. ›Ich weiß nicht, was die Leute wollen‹ hat sie immer gesagt,
›das Leben ist nur ein höchst unwahrscheinlicher Sonderfall, der
Normalzustand ist der Tod.‹« Kyra unterbrach ihre kleine Glasmusik
und trank einen Schluck. »Sie war aus der DDR. Und ist dort
abgehauen. Gleich nach dem Abi, als klar war, dass sie keinen
Studienplatz für Medizin
bekommen würde.« Sie stellte das Glas wieder hin. Der Wodka begann
zu wirken. Ihre Zunge wurde pelzig. »Aber was langweile ich Sie mit
diesem alten Scheiß.«
»Sie langweilen mich gar nicht. Erzählen Sie
weiter.«
Kyra blickte die Kleine lange an. Irgendetwas hatte
dieses Mädchen an sich. Nichts Hübsches. Auch nichts im klassischen
Sinn Schönes. Sie war makellos. Unverletzt.
»Meine Mutter hat keinem was gesagt, als sie
abgehauen ist, nicht mal ihrem geliebten Vater. Der war Tierarzt.
Bei dem hat sie schon mit fünf die toten Hunde und Kälber
aufschneiden dürfen.« Sie lachte. »Sie hat einfach das Westgeld aus
dem Familienversteck genommen, es in einen Pariser gerollt, sich in
den Arsch geschoben und ist heimlich los nach Ost-Berlin. Von da
nach West-Berlin. Die Mauer gabs ja damals noch nicht. Und dann in
die Bundesrepublik rüber. Marburg. Düsseldorf. Sie hat ihr Studium
in kürzester Zeit durchgezogen. Mit fünfunddreißig war sie
Pathologin. - Mich hat sie zur Welt gebracht, kurz nachdem sie ihre
erste Professur hatte.« Kyra leckte einen letzten Tropfen aus dem
Glas. »Meine Mutter war eine Heldin der Planung.«
»Und Sie wissen wirklich nicht, wer Ihr Vater ist?«
Die Kleine konnte es einfach nicht fassen.
Kyra legte die Hände in den Nacken, schloss die
Augen und lächelte. Wodka. Wodka-Daddy. »Es gab Gerüchte.
Dass es ein Neurochirurg aus München war. Ich hab mich nie weiter
darum gekümmert.«
»Sie müssen Ihre Mutter sehr geliebt haben«, sagte
Nike langsam. Es klang wie eine Erkenntnis, die ihr nicht besonders
einleuchtete, aber logisch folgte.
»Geliebt? Ich weiß nicht. Ich habe sie bewundert.
Für ihre Stärke.«
Nike nippte an ihrem Mineralwasser. »Wieso sprechen
Sie die ganze Zeit von Ihrer Mutter in der Vergangenheit? Lebt sie
nicht mehr?«
Kyra hatte gerade zum Tresen winken wollen. Mitten
in
der Bewegung hielt sie inne. Sie drehte sich zum Tisch zurück. Und
schaute die Kleine eindringlich an. »Nein. Sie lebt nicht mehr.«
Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Ich war dabei. Meine Mutter
hat einen jungen Mann obduziert, der an einer unbekannten
Virusinfektion gestorben war. Und sie ist mit dem Skalpell
abgerutscht. Der falsche Schnitt an der falschen Leiche.« Kyra
schluckte. »Es war Anfang der Achtziger. Wo die gerade erst
begonnen haben zu entdecken, dass es so was wie AIDS überhaupt
gibt.«
»Dann müssen Sie ja richtig früh allein gewesen
sein?«
Kyra lächelte schwach. Sie hatte plötzlich
Kopfschmerzen. Warum erzählte sie der Kleinen das alles? Noch nie
hatte sie mit jemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Franz.
»Sie ist kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag gestorben. Tante
BRD hat die Vormundschaft für mich übernommen, mir ne Wohnung
besorgt und mich ansonsten in Ruhe gelassen. Weil zu den bösen
Verwandten im Osten haben sie einen Dreiundachtzig ja nicht
geschickt.«
»Haben Sie Ihre Mutter denn nicht dafür gehasst,
dass sie Sie allein gelassen hat?«
Kyra kramte in ihrer Handtasche nach Aspirin. Sie
fand ein zerdetschtes Tütchen. »Kann ich den Rest von Ihrem Wasser
haben?«
»Aber sicher. Bitte.« Nike schob das halb volle
Glas über den Tisch. Kyra riss den Beutel auf und schüttelte die
Tablettenkrümel hinein. Sie schaute zu, wie sie sich sprudelnd
auflösten. »Nein. Ich habe meine Mutter nicht gehasst«, sagte sie
nach einer Weile. »Aus dem einfachen Grund, weil ich keine
Gelegenheit hatte, sie zu hassen. Versuchen Sie mal, sich mit einer
Halbtoten wegen Taschengeld, ersten Sex oder Discowochenende zu
streiten. Vier Jahre ist meine Mutter vor sich hin krepiert. Und
ständig bewacht von diesen Ärzten, die ihr AIDS-Versuchstierchen
keine Sekunde aus den Augen gelassen haben.« Sie setzte das Glas
an, bevor die Tabletten vollständig zerfallen waren. Die Gischt,
die aus dem Glas sprühte, tat gut auf ihrem heißen Gesicht. Sie
wischte sich über den Mund. »Nun ja. Wenigstens hat mir das alles
meine Pubertät erspart.«
»Sie hassen sie doch.« Es klang zufrieden.
Kyra wiegte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Das
Schlimme ist nicht, dass meine Mutter mich allein gelassen hat. Das
Schlimme ist, dass sie mich im Kinderzimmer eingeschlossen und den
Schlüssel für immer mitgenommen hat.«
Jenny Mayer fasste sich an ihr kobaltblaues
Montana-Kostüm und begann zu knöpfen. Unter der Jacke kam
nur noch ein weißer Spitzen-BH. Unter dem Rock strapste und
strumpfte es passend weiter. Mit langen Schritten bewegte sie sich
auf den Schreibtisch zu, um den Schreibtisch herum und ging vor dem
Mann, der reglos dahinter hockte, in die Knie. Routiniert griff sie
nach seiner Gürtelschnalle.
»Nicht.« Es war der erste Laut, den Doktor Olaf
Wössner von sich gab, seitdem Jenny Mayer mit dem Striptease
begonnen hatte.
»Was ist los, willst du jetzt plötzlich nicht mehr
oder was?«
»Nein. - Doch.« Hektisch nestelte Wössner an seinem
Gürtel herum, bis er ihn keusch verschlossen hatte. »Aber so geht
es nicht.«
Die Blonde kam wieder hoch und stützte sich mit
einer Hand seitlich auf dem Schreibtisch ab. »Bist du
impotent?«
Wössner riss die Korrespondenzmappe, auf die sich
Jenny gestützt hatte, unter ihrer Hand weg. »Es geht nicht, wenn du
auf mich zukommst wie eine in diesen billigen
Sekretärinnen-Pornos.«
Achselzuckend ging Jenny Mayer zu der Ledercouch
zurück, wo ihre Kleider lagen. »Ich dachte, Männer wie du stehen
auf die Sekretärinnen-Nummer.« Sie setzte sich, schlug die Beine
übereinander und streckte ihre Arme rechts und links auf der
Rückenlehne aus. »Also gut. Wenn
Blasen dem Herrn nicht genehm ist, was soll ich dann
machen?«
Wössner starrte auf die oberste
Schreibtischschublade, als habe er dort einen Spickzettel mit der
Antwort versteckt.
»Wir könnens auf der Couch treiben«, schlug Jenny
Mayer grinsend vor. »Wenn das gute Stück Robert verkraftet hat,
wird es dich ja wohl auch tragen.« Sie klopfte ein paar Mal auf die
lederne Rückenlehne.
Wössners Augen waren rot, als er endlich wieder
aufblickte. »Glaub bloß nicht, dass ich es mit dir treiben werde.«
Er sprach sehr leise und hastig.
»Wie bitte?«
»Robert hat es nur mit dir getrieben, weil du dich
auf ihn gestürzt hast.«
»Sag mal, was soll das denn jetzt?« Jenny nahm die
Arme von der Rückenlehne.
»Du hast ihn ausgesaugt.«
»Bist du total übergeschnappt?« Während ihr Mund
noch nach dem passenden Ausdruck suchte, schlüpften ihre Arme
bereits in die Jackenärmel. »Du bist ja nicht ganz dicht.« Auch die
Beine hatten den Rock gefunden. »Ich gehe.«
»Für diesmal.«
»Ach. Und warum sollte ich wiederkommen?«
»Weil du Robert auf dem Gewissen hast. - Und weil
du mir dafür bezahlen wirst.«
Kyra ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen und
streckte sich. Sie war so fertig, dass sie nicht einmal mehr Lust
auf einen Gute-Nacht-Drink hatte. Die Vorstellung, Zähne zu putzen
oder sonstige Kosmetik zu betreiben, erschien ihr geradezu absurd.
Sie hatte Schuhe und Hose fallen lassen, als das Telefon
klingelte.
Kyra stieß ein kleines Winseln aus und schüttelte
den Kopf. Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. Der
Anrufbeantworter schien neuerdings die Nachtschicht zu verweigern.
Mit schwerem Seufzen schleppte sie sich ins dunkle Wohnzimmer und
tastete nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Wer war die Tussi, mit der du heute im Café
gesessen hast?« Kleine-grüne-Görenstimme.
Kyra stöhnte. »Oh nee. Was willst du denn schon
wieder.«
»Ich will wissen, wer die Schlampe war.«
»Isabelle, ich bin scheißmüde, lass mich in
Ruhe.«
»Hat sies dir besser besorgt als ich?« Giftiges
Fauchen.
»Was ist los?«
»Tu nicht so beschissen unschuldig. Ich hab euch
heute Nachmittag beobachtet. Hätte ja nicht mehr viel gefehlt, und
du hättest der Tussi schon im Café an die Titten gegrapscht.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Sag mir, wer die Tussi ist.«
Kyra gähnte. »Gibts noch was Wichtiges? Ansonsten
leg ich nämlich auf.« Sie hörte Isabelle am anderen Ende der
Leitung schnaufen. »Also. Tschüs dann«, sagte sie.
»Nein. Halt. Leg nicht auf.« Die Stimme klang
plötzlich ganz anders. Verzweifelt. Naiv. »Warum bist du so komisch
zu mir? Was hab ich falsch gemacht?«
Kyra musste trotz Müdigkeit lachen. »Oh Mädchen, du
machst so ungefähr alles falsch, was eine im Leben falsch machen
kann.«
»Was hab ich bei dir falsch gemacht?«
»Isabelle, jetzt hör mal gut zu. Dass ich nix von
dir will, hat nix mit dir persönlich zu tun. Du warst bestimmt ganz
große Klasse. Ehrlich. Aber ich steh nu mal nicht auf
Mädels.«
»Da hat mir dein hässlicher Freund heut aber was
ganz anderes erzählt.« Das Gift in der Stimme war wieder da.
»Welcher hässliche Freund?«
»Na, dein Pawlak. Der hat mir erzählt, dass du mit
allem
in der Redaktion rumvögelst, was unter fünfundzwanzig ist und zwei
Titten hat.«
»Wie kommst du dazu, mit Franz zu reden?« Obwohl
sie viel zu müde war, regte sich Kyra jetzt doch auf.
»Also. Läuft da was, zwischen dieser kleinen
Schlampe und dir?«
»Isabelle, es geht dich einen feuchten Scheißdreck
an, was ich treibe. Du spielst in meinem Leben keine Rolle. Ist das
klar?«
Böses Lachen. »Du bist das Letzte. Fick dich doch
selbst!« Der Rest war beleidigtes Tuten.
Tränen stiegen Kyra in die Augen. Sie konnte nicht
sagen, ob es Lach-, Müdigkeits- oder Verzweiflungstränen waren.
Nike Schröder und sie. Diese höhere Alabastertochter, die sich an
Franz ranwarf. Franz, der Isabelle Scheiße erzählte. Wie bescheuert
konnte Eifersucht einen machen?
Sie legte den Hörer neben das Telefon und schleppte
sich ins Schlafzimmer.
Kaum eingeschlafen, träumte sie schon.
Die alte Frau mit der wächsernen Gepardenhaut erhob
sich vom Sektionstisch und nahm sie an der Hand. Sie gingen im Park
spazieren. Es war schön. Auf einer Lichtung kam ihnen ein Mädchen
im weißen Kleid entgegen. Das Mädchen lief auf sie zu, weinte und
rief: »Ich will aber! Ich will aber! Dich! Dich!« Es griff
nach der alten Frau und fasste das Ende ihrer Eingeweide. Kyra und
die alte Frau gingen immer weiter. Hinter ihnen ribbelten sich die
Gedärme der alten Frau auf wie ein Wollschal.
»Ich habe in keinster Weise Scheiße
erzählt.« Franz schmollte. Er hielt es nicht einmal für nötig,
sich zu Kyra hin umzudrehen, die in seiner Zimmertür stand und
fluchte.
»Doch. Hast du. Und zwar absichtlich. Weil du dir
genau
ausrechnen konntest, dass ich diese Nervtussi dann wieder am Hals
hab.«
»Ich dachte, du freust dich, wenn ich dir reizende
junge Damen an den Hals schicke.«
»Sei nicht albern.«
»Und wieso hast du dann gestern Nike in die
Rechtsmedizin mitgeschleppt?«
Kyra stemmte die Arme in die Seite. Es machte sie
rasend, dass Franz sie nicht anschaute. »Ach so ist das. Der Herr
brummt, weil er seine süße kleine Praktikantin nicht mehr für sich
allein hat.«
Endlich drehte er sich um. Kein Lächeln, keine
Freundlichkeit, nicht einmal Ironie lag in seinem Gesicht. »Kyra,
du musst mir nicht beweisen, dass du die Königin bist. Du brauchst
dich nicht an Nike ranzumachen, um mich zu ärgern.«
Kyra blinzelte. »Du - du spinnst ja.« Einigermaßen
verwirrt stapfte sie auf den Gang hinaus. Katertag. Grässlicher
Katertag.
Schon von weitem sah sie den gelben Reiter, der an
ihrer Zimmertür klebte.
»Bitte die Fotos vom Pergamon-Museum zurück!
Dringend! Kalle.«
Sie riss den Zettel ab, knüllte ihn zusammen und
warf ihn auf den Boden. Warum wollte dieser Knipser ausgerechnet
jetzt seine Scheiß-Fotos zurückhaben. Keine Ahnung, wo sie die
hingepackt hatte. Wütend zog sie ein paar Schubladen. Sie schaute
in die Ablage, in der Fotos prinzipiell liegen sollten. Naturgemäß
nichts.
Unter einem Zeitschriftenberg auf dem Fensterbrett
fand sie sie endlich. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr das
wilde Räumen gut getan hatte. Sie fühlte sich nur noch halb so
geladen. Wozu Kalle diese Fotos dringend zurückbrauchte, begriff
sie allerdings nach wie vor nicht. Sie blätterte die Bilder einmal
flüchtig durch und steckte sie in eine Hülle.
Nichts als belanglose Schnappschüsse: Nur Gaffer, Zeitungsmeute
und Bullen waren ihm an jenem Morgen vor die Linse gelaufen. Kein
Einziges hatte sie für ihre Artikel verwenden können.
Sie war mit den Fotos schon draußen auf dem Gang,
als ihr Blick noch einmal auf das oberste fiel. Eine junge Frau war
darauf zu sehen, die hastig über den Museumsplatz in Richtung
Brücke ging. Der Platz war an jenem Morgen hermetisch abgeriegelt
gewesen, davon hatte sie sich vor ihrer Festnahme noch selbst
überzeugen können. Also musste die Frau aus dem Museum
herausgekommen sein. Kyra blieb stehen, zog das Bild aus dem
transparenten Umschlag und betrachtete es näher. Von irgendwoher
kam ihr die Frau bekannt vor. Vielleicht eine Kommissarin in Zivil,
der sie bei einem anderen Einsatz schon mal begegnet war.
Achselzuckend steckte Kyra das Bild wieder zurück.
Im Fahrstuhl musste sie an Franz denken. Es hatte
keinen Sinn, wenn sie sich mit ihm zerstritt. Am besten, sie ging
gleich anschließend noch einmal zu ihm.
Ihr Blick fiel wieder auf das Foto. Für eine
Kommissarin war die Frau viel zu jung. Sie nahm das Bild nochmals
in die Hand. Schmales Gesicht. Lange schwarze Haare. Schlank. Viel
mehr war nicht zu erkennen. Sie blätterte den ganzen Stapel durch,
ob sich noch eine größere, schärfere Aufnahme von der Frau fand.
Nichts.
Zögernd verließ Kyra den Fahrstuhl und ging den
Korridor zur Bildredaktion hinunter. Verdammt, verdammt. Woher
kannte sie diese Frau? Und wieso war diese Frau aus dem Museum
herausgekommen, wenn sie keine Polizistin war? Eine Ärztin?
Erkennungsdienst? Pressesprecherin? Museumsangestellte?
Irgendetwas stimmte nicht auf diesem Bild.
»Einen wunderschönen juten Tach, die Dame. Womit
kann ick dienen?« Freddy Lehmann legte einen Ellenbogen auf
den Tresen und grinste die Blondine an. Vom angefressenen Ohr zum
anderen.
Obwohl das Licht so dunkel war, wie es in solchen
Etablissements zu sein pflegte, nahm Jenny Mayer ihre große
schwarze Sonnenbrille nicht ab.
»Ich - ich brauche etwas.«
»Da sindse bei mir schon mal mit hundertprozentjer
Sicherheit anner richtjen Adresse.«
»Kann ich irgendwo mit Ihnen unter vier Augen
reden?« Um die knallrote Oberlippe herum begann es zu zucken.
»Na, na, na, nu tunse man nich so verschämt. Den
Mädels hier könnense nix erzählen, was die nich alles selber schon
erlebt hätten. Stimmts, Biggi, oder hab ick Recht.«
»Recht haste, Freddy«, kam es gelangweilt aus einer
der Sitznischen. Biggi stark behaart steckte für einen
Moment ihren Kopf hervor und blinzelte die Neue durch den Qualm
ihrer Kippe skeptisch an.
»Wennse wollen, könnense sich ja och erstmal n
bisschen umkieken und mit den Mädels quatschen. Die werden Ihnen
dann schon bestätjen, dasse hier bei ner eins a Adresse jelandet
sind. Ick sach immer: Hauptsache die Damen ham Top-Niveau. Dann
kann ick och mal eine nehmen, die nich so viel Erfahrung
hat.«
»Ich suche keine Anstellung bei Ihnen.« Jenny Mayer
konnte nicht verhindern, dass ihre Oberlippe stärker zuckte. Sie
öffnete ihre Lackhandtasche, ließ den Zuhälter einen kurzen Blick
auf das solide Bündel Banknoten werfen und klappte die Tasche
wieder zu. »Wenn Sie jetzt bitte mit mir an einen Ort gehen würden,
wo wir ungestört reden können.«
Kyras Herz wummerte, als sie die Telefonnummer des
Wachdiensts Spengler & Sühne wählte. Es wummerte
schneller, als sich am anderen Ende der Leitung endlich eine Stimme
meldete.
»Ja. Guten Tag. Hier ist Berg.« Sie räusperte sich.
Nervöse Heiserkeit. »Ich habe ein Problem, und ich hoffe, dass Sie
mir weiterhelfen können. Sie sind doch der Wachdienst, der das
Personal für das Pergamon-Museum stellt. - Ja. Können Sie mir
sagen, ob bei Ihnen eine Frau namens -«
Es war nur ein kleines Geräusch in ihrem Rücken,
aber es genügte, dass sie herumfuhr. Zart und lächelnd stand Nike
Schröder auf der Schwelle. Sie hauchte Kyra ein stummes »Hallo«
entgegen.
Kyras Herz machte einen kleinen Sprung. Hilflos
schaute sie zwischen Nike hin und dem Hörer her.
»Hallo«, stammelte sie der Kleinen entgegen.
»Es tut mir Leid, ich kann jetzt nicht«, stotterte
sie in die Leitung, »ich rufe später noch mal an.« Sie warf den
Hörer auf die Gabel.
Nike Schröder lächelte. »Habe ich Sie bei einem
wichtigen Telefongespräch gestört? Das tut mir Leid. Das wollte ich
nicht.«
Kyra errötete. »Nein. Nein. Ist schon in Ordnung.«
Sie versuchte, wenigstens halb so unschuldig zu lächeln wie die
andere. »Haben Sie unseren Ausflug gestern gut überstanden?«
»Ja. Ganz gewiss. So einen interessanten Nachmittag
habe ich schon lange nicht mehr erlebt. - Schreiben Sie bereits an
dem Artikel?«
»Nein. Ich - ich sitze noch an etwas
anderem.«
Die Kleine kam näher. »Vermissen Sie etwas?«
»Ich? Nein. Wieso?«
»Doch. Ich glaube doch, dass Sie etwas
vermissen.«
Kyra hatte ein Gefühl, als ob sich ihr Magen um ihr
Herz wickelte. Die Kleine kam näher und näher, irgendetwas hielt
sie hinter ihrem Rücken versteckt. Als sie den Schreibtisch fast
erreicht hatte, streckte sie den rechten Arm aus und öffnete die
Faust.
»Sehen Sie?«, sagte sie und lächelte. »Ihre
Streichhölzer.
Sie haben gestern im Café Ihre Streichhölzer liegen
gelassen.«
»Ja. Ja. Die Schellen sind von mir. Ist irgendwas
nicht okay damit?« Der Schmied kratzte sich im schweißigen
Nacken.
Lächelnd zog Törner seinen Dienstausweis aus der
zivilen Blazertasche. »Mit den Schellen ist alles in Ordnung. Das
Problem ist nur, dass der Ermordete im Pergamon-Museum damit
gefesselt war.«
»Oh Scheiße. Scheiße.« Der Stahlhandwerker griff
sich mit beiden Händen an den Schädel, als könne er es nicht
fassen.
»Versuchen Sie die Person zu beschreiben, an die
Sie die Schellen verkauft haben.«
»Ich hatte noch nie Ärger mit den Bullen. Ehrlich,
Mensch. Ich glaubs nicht. Das war so ne Frau. So ne ganz normale
Frau, die die Dinger gekauft hat. Ich dachte, die wollte mal was
anderes ausprobieren als immer nur Blümchensex.«
Törners Herz klopfte schneller. An dem Tag, an dem
sein Herz in einer solchen Situation aufhörte, schneller zu
schlagen, würde er kündigen. Er holte ein Foto von Isabelle Konrad
aus der Innentasche. »Haben Sie diese Frau schon einmal
gesehen?«
»Nö. Nö.« Der Schmied gab sich Mühe. »Also, die
wars nicht. Ganz bestimmt nicht. Viel zu jung. Obwohl.« Er
schüttelte den Kopf. »Es war mehr eine, Mensch, wie soll ich sagen,
mehr eine unauffällige.« Er schaute Törner so hilflos wie
hilfsbereit an. »Ich weiß, das klingt jetzt blöd, aber es war eine,
die gar kein Gesicht hatte. Verstehen Sie, was ich meine?«
Der Kommissar hob die Augenbrauen.
»Kennen Sie das nicht? Es gibt doch Menschen, die
können Sie minutenlang ansehen, und danach können Sie ums Verrecken
nicht sagen, ob die ein rundes Gesicht hatte oder
ein eckiges, helle Augen oder dunkle, große Nase oder kleine und
so weiter. Kennen Sie das nicht?«
»Doch. Doch.« Törner lächelte nachsichtig. »Es gibt
erstaunlich unauffällige Gesichter. Trotzdem. Schauen Sie sich das
Foto noch einmal genau an. Könnte es diese Frau mit anderen Haaren
gewesen sein?«
»Na ja. Ich weiß nicht. Die, die hier war, hatte so
strubbelige braune Haare. Irgendwie gar keine richtige
Frisur.«
»Herr -«, Törner warf einen kurzen Blick auf seinen
Zettel. »Herr Schenker, hätten Sie etwas dagegen, mich aufs
Präsidium zu begleiten? Ich möchte, dass Sie dort mit Hilfe unseres
Zeichners versuchen, ein Phantombild der Frau zu erstellen.«
»Aua! Was wollen Sie von mir!« Nike Schröder trat
nach hinten aus und erwischte die Angreiferin, die ihr an der
Bushaltestelle Unter den Linden aufgelauert hatte, am
Schienbein.
Isabelle Konrad jaulte, ohne loszulassen. »Lass die
Finger von Kyra. Kyra gehört zu mir.«
»Wer sind Sie?«
»Kyra und ich, wir gehören zusammen, Kyra braucht
keine kleine Schlampe wie dich.«
»Ich verstehe nicht, was Sie wollen. Wenn Kyra mich
doch mag...« Nike versuchte, die andere über die Schulter
anzublicken.
»Quatsch. Kyra mag dich überhaupt nicht. Kyra mag
mich.« Mit einem wütenden Stoß schubste Isabelle Konrad sie weg.
Nike stolperte ein paar Schritte. Sie rieb sich den Nacken.
»Meinen Sie wirklich, dass Kyra mich nicht mag?«,
fragte sie zögernd. »Ich glaube schon, dass sie mich gestern
gemocht hat.«
Isabelle Konrad packte sie diesmal am Oberarm. »Was
hast du mit ihr angestellt? Hast du sie gefickt?«
»Wir waren in der Rechtsmedizin. Es war ein sehr
spannender Nachmittag.«
»Das glaub ich.« Isabelle Konrad drückte noch
fester zu.
»Aua. Wer sind Sie überhaupt?«
»Hör endlich mit dem Scheiß Sie auf. Du glaubst
wohl, du bist was Besseres? Frau Praktikantin.« Die Grüne lachte
höhnisch. »Mein Alter war der Boss von dem Laden.«
Erstaunte Pause. »Sie sind die Tochter von Robert
Konrad?«
Die Grüne ließ sie zum zweiten Mal los.
»Ja. Was dagegen?«
»Nein.« Nike lächelte. »Im Gegenteil. Ich freue
mich, die Tochter dieses bedeutenden Journalisten kennen zu
lernen.« Sie wischte sich die rechte Hand am Kleid ab und hielt sie
der Grünen hin.
»Sag mal, bist du meschugge oder was?« Die Grüne
verschränkte die Arme vor der Brust.
Nike lächelte unverändert freundlich. »Sie müssen
sehr stolz darauf sein, dass Sie die Tochter von Robert Konrad
sind.«
»Deine Alten haben dich wohl mitm Klammersack
gebeutelt. Stolz darauf sein, dass dieser Bock mein Vater
war?«
»Bock?« Nike sprach das Wort aus, als habe sie es
in solchem Zusammenhang noch nie gehört. »Wieso Bock?«
»Weil mein Alter so ne Zuckerpuppen wie dich
schneller flachgelegt hat, als die ihr Höschen festhalten
konnten.«
»Ach. Wirklich?« Große Augen.
»Megawirklich. Hat er dich nicht auf seiner
Praktikantinnencouch genagelt?«
»Nein. Natürlich nicht.« Nike lächelte
verwirrt.
»Na. Da kannste mal von Glück reden.« Isabelle
Konrad fasste in die Luft, als wolle sie eine Mücke fangen. »Ich
hab jetzt aber keinen Bock, mit dir über meinen Alten zu quatschen.
Ich wollt nur wissen: Hast du nu mit Kyra, oder hast du
nicht?«
Nike dachte einen Moment nach. »Ich würde sagen:
Ich habe.« Sie legte den Kopf schief. »Hat Ihr Vater Sie auch auf
seiner Couch genagelt?«
»Hast du se noch alle?« Die Grüne senkte den Kopf
und kam ganz nah an sie heran. »Was fällt dir ein, mir so ne
Scheißfrage zu stellen?«
»Es interessiert mich.«
»Es interessiert die Prinzessin«, höhnte Isabelle.
Sie packte Nike am Arm. »Hör mal zu, du kleine Spinnerin. Meine
Family geht dich n nassen Furz an. Ist das klar? Und das Gleiche
gilt für Kyra. In Zukunft lässte die Finger von der.«
Die Frau in der graublauen Uniform nickte. »Ja.
Die hat hier bei uns gearbeitet. Aber nicht lange. Die hab ich nur
ein- oder zweimal gesehen.«
»Können Sie sich vielleicht an ihren Namen
erinnern?« Kyra hätte die Frau vor Ungeduld am liebsten
geschlagen.
Die Frau lachte hilflos auf. »Puh. Namen. - Nee,
also an den Namen - Mensch - ich weiß, da war irgendwas, irgendwas
war mit dem Namen, aber jetzt, nee, Mensch.«
»War der Name vielleicht Kyra?« Handbuch der
Verhörtechnik, erste Lektion.
Die Frau nickte begeistert. »Ja, Mensch. Kyra kann
sein. Ich wusst doch, dass es irgendn ganz komischer Name
war.«
»Danke. Sie haben mir wirklich geholfen.« Kyra
brachte ein gequältes Lächeln zu Stande und streckte die Hand nach
dem Foto aus.
»Nee! Halt!« Die Uniformierte riss das Bild wieder
an sich, als habe sie jetzt erst bemerkt, dass es eine Kachel vom
Löwentor war. »Warten Sie noch nen Moment.« Sie schloss die Augen
und nickte mit dem Kopf. »Warten Sie, warten Sie - Ja! Ja! Jetzt
isses mir wieder eingefallen.«
Mit großen Schritten stapfte Isabelle Konrad auf
den Eingang des Berliner Morgen zu. Diese Schlampe. Diese
verlogene Schlampe. Das alles würde ihr noch unendlich Leid
tun. Kurz vor der gläsernen Drehtür blieb sie stehen. Da hatte
sie doch was gesehen. Am Straßenrand was gesehen. Sie drehte sich
noch einmal um. Ein feuerroter Alfa Spider leuchtete ihr aus dem
Halteverbot entgegen. Isabelle Konrad ging näher. Enttäuscht
stellte sie fest, dass es nicht Kyras Auto war. Falsches
Baujahr.
Als sie vor den Fahrstühlen im Zeitungsfoyer stand,
kam ihr die Idee. Nicht rauf, sondern runter. Tat viel mehr weh. Im
Kellergeschoss, Tiefgarage stieg sie aus.
»Wo bist du«, knurrte sie gegen das
Lüftungsrauschen an. »Du musst hier doch irgendwo stehen. - Ja, na,
wer sagts denn. Da haben wir dich ja, du blödes Mamamobil.«
Isabelle Konrad eilte ans hinterste Ende des
Parkdecks. Trotz Lüftung und allem war die Luft zum Kotzen hier
unten. Besser schnell machen. Sie zog den Schlüsselbund aus ihrer
Jackentasche, suchte den spitzesten heraus und nahm ihn auf
Hüfthöhe. Mit unschuldigem Grinsen wanderte sie an der
Beifahrerseite der Giulia entlang. Klang nicht gut. Gar nicht gut.
Was die arme Kyra nachher wohl sagen würde.
Sie wanderte die gleiche Strecke noch einmal
zurück.
»Hey, was machstn du da?«
Isabelle Konrad ließ vor Schreck den Schlüsselbund
fallen. Ein dunkelhaariger Schönling stand in der Durchfahrt
zwischen den Autos und schaute sie finster an.
Sie bückte sich nach den Schlüsseln. »Was ich mit
dem Wagen von meiner Mutter mach, geht dich nen Scheißdreck
an.«
»Ich würd sagen: Das geht mich sehr wohl was an.«
Der Schönling war einen Moment irritiert. Er schätzte und rechnete.
Es konnte nicht sein. »Das ist nämlich nicht der Wagen von deiner
Mutter, sondern von Frau Berg.«
»Oh, wirklich. Von Frau Berg.« Isabelle
Konrad grinste breit. »Das tut mir jetzt aber Leid. Da muss ich
mich doch tatsächlich im Wagen geirrt haben.« Sie ließ die
Schlüssel klimpern. »Und wer bist du so? Der Wachhund von Frau
Bergs Auto?«
Andy war mit wenigen Schritten bei ihr. Er
versuchte sie zu schnappen, aber Isabelle war unter ihm
weggetaucht. Frauenselbstverteidigung. In guten Zeiten dreimal die
Woche. Sie entwischte auf die andere Seite der Giulia.
»Bist du auch einer von denen, die Frau Berg
ficken dürfen?«
Andy klappt der Kiefer runter. »Wie - wie - woher
-«
»Ich glaubs nicht. Verdammte Scheiße.« Isabelle
donnerte mit der Faust auf die Kühlerhaube. Das Geräusch hallte von
den nackten Betonwänden wider. »Gibts in diesem verfickten Laden
hier irgend jemanden, mit dem es diese Schlampe nicht
treibt?«
Gott sei Dank war es kein Death-Metal-,
sondern ein Schönberg-Konzert. Und Gott sei Dank hatte es noch
nicht begonnen. Atemlos zwängte sich Kyra durch das
Festwochenpublikum, das wie ein kultiviertes Bienenvolk in Richtung
Saal summte.
Endlich, von einer Galerie aus erspähte sie die
vertraute Halbglatze in Grau. Eine Etage tiefer lehnte Franz an
einem Stehtisch - im angeregten Gespräch mit Nike Schröder. Gegen
den Bienenstrom arbeitete sich Kyra die Treppe hinunter. Als sie
unten ankam, hatte Franz seinen Stehplatz aufgegeben. Sie fasste
ihn am Jackenärmel, bevor er eine andere Treppe hinauf in den Saal
verschwand.
»Kyra. Was machst du denn hier?« Die Verblüffung
war echt.
»Ich muss mit dir reden.«
»Jetzt?« Eine Falte, tief wie der Andreas-Graben,
zeigte sich auf Franz’ Stirn.
»Ja.« Kyra bemühte sich, nicht hysterisch
loszuschreien. »Es ist dringend.« Trotz Eisberg im Hals gelang es
ihr, Nike Schröder ein flüchtiges »Hallo« zuzuwerfen.
Die Kleine lächelte freundlich zurück. »Wie schön.
Wollen Sie auch mit ins Konzert kommen?«
»Nein, nein.« Kyras Blick rutschte auf den
Boden.
Franz tippte seiner Begleiterin leicht an den
Oberarm. »Möchten Sie vielleicht schon mal reingehen? Warten Sie,
ich gebe Ihnen Ihre Karte, hier.« Er riss die beiden Karten
auseinander und reichte die eine an Nike. »Ich komme sofort
nach.«
»Na gut. Bis gleich dann.« Sie verschwand mit einem
flüchtigen Fingerwinken.
Kyra packte Franz fester am Arm und zerrte ihn zu
dem Stehtisch zurück. Das Foyer hatte sich mittlerweile
geleert.
»Franz. Ich weiß jetzt, wer die drei Männer
umgebracht hat.«
»Meinen herzlichen Glückwunsch. Darf ich dich
trotzdem darauf hinweisen, dass mein Konzert in wenigen Minuten
beginnt.«
Jetzt erst merkte Kyra, dass sie Franz immer noch
am Ärmel hielt. Sie ließ ihn los und verschränkte die Arme vor der
Brust.
»Deine Lolita hat es getan. Das wundervolle
Fräulein Schröder.«
Eine Sekunde lang sagte Franz nichts, dann brach er
in ein Gelächter aus, wie Kyra es schon lange nicht mehr gehört
hatte.
»Bitte, Kyra«, japste er, nachdem der schlimmste
Anfall vorüber war, »du warst schon besser.«
Kyra lenkte den Schlag, den sie in seiner
Gesichtsmitte hatte platzieren wollen, auf die Tischplatte um.
»Deine geliebte Lolita hat im Pergamon-Museum als Aufseherin
gejobbt. Und exakt zwei Tage, nachdem Homberg ermordet wurde, hat
sie gekündigt.«
»Ja, und? Eine Menge Studentinnen jobben in Museen.
Und wenn du mal eine Sekunde lang in Betracht ziehst, dass Nike
nicht so verbrechensgeil ist wie du, ist es doch klar, dass sie
gekündigt hat. Nach dem, was dort passiert ist.«
»Quatsch. Ich hab sie gestern schließlich im
Sektionssaal erlebt. Die hat mit keiner Wimper gezuckt.«
Franz wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. Er
schaute Kyra an. Ungewohnt mitleidig. Spöttisch. »Was man von dir
wohl nicht sagen konnte.«
»Was soll das heißen?«, fragte Kyra scharf.
Er zupfte sich am Bart. »Ich habe gehört, dass dir
der Besuch in der Rechtsmedizin nicht so gut bekommen ist.«
»Es interessiert mich nicht, welchen Quatsch dir
diese Irre heute Morgen erzählt hat.«
»Liebe Kyra. Ich begreife, dass es eine herbe
Enttäuschung für dich sein muss, dass Nike keine Lust hatte, mit
dir ins Bett zu steigen. Aber ich glaube nicht, dass du deine
Chancen erhöhst, indem du sie zur Mörderin machst.«
»Franz. Mit dieser Frau stimmt was nicht.«
Der kleine Mann schaute sie lange an. »Hast du
schon mal darüber nachgedacht, dass es auch Leute geben könnte, die
behaupten würden, dass mit dir etwas nicht stimmt.«
Kyra machte den Mund auf. Und biss sich auf die
Unterlippe. Ihre Finger begannen zu zittern. »Franz. Diese Frau hat
wahrscheinlich drei Männer ermordet.«
»Ich begreife nicht, was du willst. Monatelang
beschwerst du dich, dass es keine gewaltigen Frauen in dieser Stadt
gibt, und jetzt glaubst du, eine gefunden zu haben, und was machst
du: Tussigeschrei.«
»Franz, ist dir eigentlich aufgefallen, dass du das
perfekte Opfer Nummer vier abgeben würdest? Das Alter stimmt, du
arbeitest im Kulturbetrieb, hast Halbglatze, Vollbart - was meinst
du, warum sich die Kleine so an dich ranschmeißt?«
»Vielleicht gefalle ich ihr.« Er strich sich übers
neue Jackett. »Und überhaupt. Was regst du dich so auf? Erzähl mir
bloß nicht, dass du dir Sorgen um mich machst.«
»Verdammt noch mal. Du benimmst dich wie der letzte
männliche Idiot. Wenn Nike tatsächlich diejenige ist, die die drei
umgebracht hat, ist das hier kein Lolitawitz mehr.«
Es gongte wieder. Franz stieß sich vom Tisch ab.
»Es tut mir Leid, Kyra. Ich muss jetzt wirklich rein.« Er zwinkerte
ihr zu. »Keine Angst, ich werde den Kopf schon nicht
verlieren.«
Kyra konnte sich nicht erinnern, ihn jemals
beschwingter eine Treppe hinauflaufen gesehen zu haben.
»Scheiße!« Sie ergriff eines der Sektgläser, die
auf dem Tisch herumstanden. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Nö. Ja. Also, wenn Sie hier die Stirn noch ein
bisschen höher ziehen. Halt. Ja, genau so.« Der Schmied schwitzte.
Er starrte auf den Bildschirm, der sämtliche Gesichter, die sich
die Natur jemals ausgedacht hatte und ausdenken würde, entstehen
lassen konnte. »Das mit den Augen stimmt noch überhaupt nicht. Die
waren größer. - Nein, kleiner. - Nein - Mensch - ich weiß überhaupt
nichts mehr.«
Der Polizeizeichner legte ihm freundlich die Hand
auf die Schulter. »Herr Schenker. Bleiben Sie ruhig. Nehmen Sie
sich Zeit. Niemand setzt Sie unter Druck.«
Tara ra bumbia. Ich sitz im Dunkeln
da.
Kyra konnte nicht sagen, wie lange sie schon hier
hockte. Dem Stand der Whiskyflasche nach zu urteilen, war es schon
eine ganze Weile. Sie griff nach der halb leeren Flasche auf dem
Schreibtisch vor ihr. Es war alles so komisch. So schrecklich
komisch. Franz im Konzert. Nike im Konzert. Die süße Nike. Die süße
Mörderin. Und alle so glücklich. So schrecklich glücklich.
Der Whisky lief ihr rechts und links übers Kinn.
Sie lachte, als sie spürte, wie ihre Bluse nass wurde. Yeah.
Nasse
Bluse nachts in Zeitung. Wann war sie das letzte Mal mit Franz im
Konzert gewesen? Ein paar Wochen musste es her sein. Bruckner.
Bruckners Achte. Sie lachte. Bruckners Achte. Pawlaks Erste.
Anschließend hatten sie in irgendeiner der neuen Schnöselbars
gehockt. Am Tresen. Und als sie beide völlig blau gewesen waren,
hatten sie angefangen, erst ihren Gläsern, dann dem Aschenbecher im
Spülbecken das Schwimmen beizubringen. Der Barbulle hatte sie
rausgeworfen. Bis zum Morgen waren sie durch die neue Mitte Berlins
gezogen. Am Alex hatte Franz ihr ein Konzertplakat der
Backstreet Boys geklaut. Sie hatten im Tiergarten ein
Wettrennen um den Goldenen Hirschen veranstaltet. Um sieben waren
sie ins Barbarossa frühstücken gegangen. Oder waren das
verschiedene Nächte gewesen? Egal. Alles war gut gewesen. So
einfach.
Kyra setzte die fast leere Flasche ab und griff
nach der Mappe, die sie vorhin aus dem nächtlichen Chefsekretariat
entführt hatte. Unter Wössners Tür hatte sie noch Licht gesehen.
Schade, dass es nicht mehr der Alte war. Zum Alten hätte sie jetzt
hochgehen und sich mit ihm gemeinsam besaufen können. Heute hätte
er sie auch ficken dürfen.
Das Telefon klingelte. Kyra schaute auf die Uhr.
Ihr Herz randalierte. Das Konzert musste aus sein. Sie langte nach
dem Hörer.
»Ja?«
»Mensch, da steckst du, ich versuch schon seit
Stunden, dich daheim zu erwischen. - Kann ich vorbeikommen? Ich
finde, wir sollten noch mal in Ruhe miteinander reden.«
Wut, Wut, Wut ließ Kyras Stimme zittern.
»Isabelle.«
»Hey, bist du besoffen? Du klingst so
komisch.«
»Ich kling komisch? Du hast meinen Wagen
zerkratzt.«
»Das ist nicht wahr.«
»Lüg nicht. Andy hat mit erzählt, dass es ein Gör
mit grünen Haaren war, das er heute Nachmittag an meinem Auto
erwischt hat.«
»Das stimmt gar nicht. Dieser Lackaffe hat mich
nicht erwischt. - Hey. Es tut mir Leid. Ich bezahl dir das auch«,
schob sie schnell hinterher. »Ich wollte es nicht tun. Ehrlich
nicht. Aber ich war plötzlich so wütend auf dich. Weil - diese
ganzen Leute, die du alle an dich ranlässt - nur zu mir bist du so
komisch, und dabei passen wir doch viel besser zusammen, ich mein,
wir haben doch beide niemanden mehr auf der Welt, der wirklich
-«
»Halt die Schnauze. Ich hör mir dein Gesülz nicht
länger an. - Wenn du noch ein einziges Mal bei mir anrufst oder in
meiner Nähe auftauchst, ruf ich die Bullen und erzähl denen was von
meinem Wohnungsschlüssel.«
Tiefes Atmen. »Das würdest du nicht wirklich
tun.«
»Oh doch, Schätzchen.«
Ludwig Törner betrachtete das Computerbild, das
seit zehn Minuten vor ihm lag. Alles, was sich darüber sagen ließ:
Es war ein Gesicht. Geschlecht: weiblich. Alter: irgendwo zwischen
zwanzig und dreißig. Augenfarbe: unklar. Haare: kinnlang.
Er legte das Foto von Isabelle Konrad daneben.
Anfangs hatte er geglaubt, sie könne es doch sein. Je länger er
hinund herstarrte, desto unsicherer wurde er. Er wusste noch nicht,
ob es ihn erleichterte oder enttäuschte. Irgendwie hatte er fast
begonnen, die Konrad-Tochter zu mögen. Nicht sehr. Aber
immerhin.
Inzwischen kam es ihm so vor, als ob er das Gesicht
von anderswoher kannte. Aber das geschah immer. Früher oder später
kam einem jedes Gesicht bekannt vor. Denn letzten Endes war es ja
auch immer dasselbe: Pünktchen, Pünktchen, Komma, Strich, fertig
ist das Menschgesicht.
Geh ran. Verdammt noch mal, geh endlich
ran.
Wütend knallte Kyra den Hörer auf die Gabel. Franz
musste zu Hause sein. Längst zu Hause sein. Nike Schröder
trank nicht. Was sollte er stundenlang mit einer Frau machen, die
nicht trank.
Sie blätterte in der Mappe, auf der
»Bewerbungsunterlagen - Schröder, Nike« stand. Die Seiten
ratschten. Geboren 1978. Kyra lachte. Ein Witz. Sweet little
nineteen. Geboren in Aschaffenburg. Keine Spur von Abitur.
Merkwürdig. Wie studierte die Kleine ohne Abitur.
Kyra fegte die leere Flasche vom Tisch.
Scheiße. Es war scheißegal, ob die Kleine mit oder ohne
Abitur studierte. Franz sollte ans Telefon gehen. Zum zigsten Mal
drückte sie die Wahlwiederholung. »Guten Tag. Sie sind verbunden
-«
Kyra hielt es nicht mehr aus.
Der Mann in der dunklen Windjacke kam entschlossen
auf die Villa zu. Isabelle Konrad stoppte mitten im Rotzhochziehen
und sprang ans Fenster. Licht musste sie nicht löschen, sie hatte
ohnehin im Dunkeln auf dem Bett ihres Vaters gesessen.
Sie erstarrte. Es konnte nicht sein. Durfte nicht
sein. Konnte nicht sein. Schüttelfrost. Ganz schlimmer
Schüttelfrost.
Es war einer der beiden Bullen, der den Kiesweg
entlangkam.
Am liebsten hätte sie geschrien. Laut geschrien.
Die Fensterscheibe eingeschlagen. Aber sie wusste, dass sie keinen
Lärm machen durfte. In dieser Nacht. Ihr wurde schwindlig. Sie biss
sich in die Hand, bis sie blutete. Es konnte nicht sein. Durfte
nicht sein. Konnte nicht sein. Das konnte diese Frau ihr nicht
wirklich angetan haben.
Es war dasselbe Gefühl wie damals, als sie ihren
Vater das erste Mal mit einer fremden Frau im Bett erwischt hatte.
Sie hatte auch nur dagestanden und nicht geglaubt, was sie
sah.
Der Bulle klopfte unten an die Tür. Jetzt schrie
sie doch. Aber so, dass nur sie selbst es hören konnte. Tief in
ihrem
Kopf schrie es und wollte nicht mehr aufhören zu schreien. Blind
stürzte sie zu dem Kleiderschrank ihres Vaters und riss die
Schubladen heraus.
»Das erste Mal hatten wir Sex nach dem Presseball.
Robert und ich, wir hatten schon den ganzen Abend geflirtet. Wir
haben es auf der Damentoilette getrieben. Robert hatte vor den
Toiletten auf mich gewartet.«
Jenny Mayer saß mit steifem Rücken auf der
Ledercouch und sprach gegen die Wand.
»Wir haben kein Wort miteinander geredet. Ich bin
zuerst in die Toilette rein, um zu sehen, ob die Luft rein ist.
Robert kam sofort nach. Die Kabine war eng. Zuerst haben wir es im
Stehen versucht. Es ging nicht gut. Im Stehen klappt es bei mir nie
richtig. Und Robert war zu betrunken, um mich zu heben. Dann hat er
sich hingesetzt. Und ich mich umgekehrt auf ihn drauf. Es war
heftig. Es ging nicht lange. Höchstens drei Minuten.«
Vom Schreibtisch kam ein leises Stöhnen. Jenny
drehte sich um. Olaf Wössner hatte beide Hände unter der
Schreibtischplatte.
»Schau mich nicht an«, zischte er. »Erzähl
weiter!«
»Ich hab dir doch gesagt, dass es da nicht viel zu
erzählen gibt. Wir waren beide ziemlich betrunken. Und
dementsprechend unspektakulär war die Angelegenheit.« Jenny Mayer
kratzte sich an der Wade. Sie trug noch immer das rote Kostüm, das
sie heute Morgen schon angehabt hatte. Ihre rote Lackhandtasche lag
neben ihr auf der Couch. Ihren schwarzen Businesscase hatte sie auf
die breite Lehne gestellt.
»Du weißt, dass du so billig nicht wegkommst.
Erzähl mir Details.«
»Wir haben uns geküsst. Robert ist mir sofort mit
der Hand unter den Rock. Als ich seine Hose aufgemacht habe, war er
schon voll da. Ich war so nass, dass er nicht lange an
mir rumspielen musste. Wie gesagt, das im Stehen hat nicht
funktioniert, also habe ich ihn aufs Klo gedrückt. Ich habe mich
zuerst über ihn gestellt und bin dann langsam runtergegangen. Ich
habe meine Beine so breit gemacht, wie das in dieser engen Zelle
ging. Ich habe ein bisschen mit ihm gespielt. Er wollte gleich
zustoßen, aber ich bin noch ein paar Mal wieder hoch, bevor ich ihn
reingelassen habe. Wir mussten nicht die Hände dazunehmen. Er hat
den Weg auch so gefunden. Ich habe dann angefangen, langsam auf ihm
zu reiten. Er hielt mich um die Taille, sodass ich mich weit
zurücklehnen konnte. Mit beiden Händen habe ich -«
»Ich will seine Details hören. Erzähl mir, wie er
war.« Leise Geräusche vom Schreibtisch. Pfud - pfud - pfud -
Pfud -
Jenny Mayer drehte sich abermals um.
Pfud - Pfud - pfud - pfud - »Du sollst mich
nicht anschauen, habe ich gesagt.«
»Mein Gott, bist du pervers.« Ihr Blick streifte
den schwarzen Koffer. Sie sah zurück zur Wand. Ihre Wangenknochen
traten spitz hervor. »Er hatte einen großen Schwanz. Beim Blasen
habe ich ihn nie ganz in den Mund bekommen. Sein linkes Ei war
etwas kleiner als das rechte. Er mochte es, wenn ich beide
zusammenquetsche, während ich ihm einen blase.«
Ludwig Törner ließ den Türklopfer fallen. Er war
enttäuscht. Selbst wenn Isabelle Konrad bereits schlief, müsste sie
ihn mittlerweile gehört haben. Aber die ganze Villa blieb so
dunkel, wie sie bei seiner Ankunft gewesen war.
Nur zu gern hätte er ihr das Phantombild gezeigt.
Auch wenn sie in letzter Zeit wenig Kontakt zu ihren Eltern gehabt
hatte - vielleicht hätte ihr das Gesicht etwas gesagt. Eine Frau,
die ihr Vater früher gekannt hatte. Eine lange begrabene
Geschichte.
Er lächelte in die Nacht hinein. »Ludwig, sei
ehrlich«, sagte eine innere Stimme zu ihm. »Du bist und
bleibst ein Weichei. Du hast ein schlechtes Gewissen. Priesske hat
die Kleine hart angefasst. Du wolltest ihr zeigen, dass es noch
gute Bullen gibt auf dieser Welt.«
Er ging den Kiesweg zurück. Morgen. Morgen würde
das Bild in sämtlichen Medien sein. Endlich gerieten die Dinge in
Bewegung.
Als er sich ein letztes Mal zur Villa umdrehte, sah
er, dass aus einem Fenster an der rechten Seite ein Vorhang wehte.
Was für ein Leichtsinn, dachte er, nachts ein Fenster offen zu
lassen.
Schwer atmend lehnte Olaf Wössner in seinem
Ledersessel. Er hatte die Augen geschlossen. Seine Lider flatterten
wie bei einem Träumenden.
Jenny Mayer strich sich übers feuerrote Kostüm,
fasste nach ihrer Handtasche und stand auf. »Gib mir die
Kassette.«
Lauter. »Gib mir die Kassette.«
Es dauerte, bis Olaf Wössner die Augen öffnete.
Noch länger dauerte es, bis er begriff, dass das schwarze Ding, das
Jenny Mayer auf ihn gerichtet hielt, eine Pistole war.
Er setzte sich mit einem Ruck gerade. »Was soll
das?« Einen kurzen Moment klang Panik aus seiner Stimme. »Willst du
mich erschießen?«, fragte er, und es klang beinahe schon wieder
spöttisch.
Die Blondine zielte direkt auf seine Brust.
»Notfalls. Ich denke aber nicht, dass es nötig sein wird. Du wirst
mir die Kassette auch so geben.«
»Werde ich.« Wössners Tonfall ließ offen, ob er
diesen Satz als Frage oder Antwort gemeint hatte.
»Es sein denn, du willst, dass sich jeder in der
Zeitung auf Video anschauen kann, wie sein Chefredakteur wichst.«
Jenny Mayer nickte in Richtung des Businesscases, den sie
auf die Sofalehne gestellt hatte. Wössners Blick folgte ihrer
Bewegung. Der Koffer hatte an der schmalen Seite ein rundes Loch.
Aus dem runden Loch starrte ein Kameraauge.
Wie von einem plötzlichen Krampf befallen klappte
Wössner zusammen. Seine Hände fassten nach seinem
Reißverschluss.
»Kassette gegen Kassette.« Jenny Mayer machte eine
ungeduldige Geste mit der Waffe.
»Ich habe die Kassette nicht hier« war alles, was
Wössner sagen konnte, denn im nächsten Moment brach auf dem Gang
der Tumult los. Jemand brüllte. Rüttelte an verschlossenen Türen.
Aschenbecher stürzten scheppernd um.
»Kyra! Du verdammte Schlampe, wo steckst
du!«
Bevor die beiden im Zimmer verstanden, was geschah,
wurde ihre Tür aufgerissen.
»Scheiße!« Die Gestalt, die hereinstürmte,
hatte Mord im Blick. »Scheiße!« Die Gestalt fuchtelte wild
herum - »Sagt mir sofort -«, die Gestalt hatte einen
Revolver, »- wo sich diese verdammte -«
Ein scharfer Knall und drei Schreie fetzten das
Satzende weg.
Isabelle Konrad taumelte rückwärts, als habe sie
einen heftigen Schlag in den Bauch bekommen. Der Revolver, den sie
im Kleiderschrank ihres Vaters gefunden hatte, fiel ihr aus der
Hand. Sie brüllte auf. Und versuchte gleichzeitig, nach der Waffe
am Boden zu greifen und das Loch in ihrem Bauch zuzuhalten. Das
Blut sprudelte zwischen ihren Fingern hervor. Sie
strauchelte.
Jenny Mayer schrie. Schrie. Schrie.
Die Konrad-Tochter brach zusammen.
Tableau vivant. Tableau mort.
»Ich kann nichts dafür! Es war Notwehr!« Jenny
Mayer schaute Wössner an. Ihre Augen flackerten. »Du hast gesehen,
dass es Notwehr war. Mein Gott, du hast gesehen, dass es Notwehr
war.«
Sie warf die Pistole, die ihr der Zuhälter verkauft
hatte, weit von sich und eilte zu der Verblutenden.
Isabelle Konrad stieß ein paar wimmernde Laute
aus.
»So tu doch was«, herrschte Jenny Mayer den
erstarrten Mann hinter dem Schreibtisch an. »Mein Gott, ruf doch
endlich einen Krankenwagen.«
Die Konrad-Tochter bewegte sich. Mühsam hob sie den
Kopf. Sie bewegte die Lippen, als wolle sie etwas sagen.
Jenny Mayer kniete sich neben sie.
»Wissen Sie, wo Kyra ist?« Die Stimme war kaum zu
hören.
Jenny Mayer beugte sich tiefer über sie. »Sie
müssen lauter sprechen, damit ich Sie verstehen kann.«
»Wissen Sie, wo Kyra ist?«
Mit Jennys Hilfe gelang es Isabelle, sich zu
setzen.
»Wissen Sie, wo Kyra ist?«
Sie machte Anstalten aufzustehen.
Jenny Mayer fasste sie vorsichtig am Arm. »Mein
Gott, ich wollte das nicht. Ich habe das nicht gewollt. Bleiben Sie
liegen. Der Krankenwagen ist schon unterwegs.«
»Ich muss Kyra finden.« Isabelle befreite sich von
der fremden Hand und rappelte sich auf. Das Blut lief ihr aus Mund,
Nase, Bauch.
»Ich habe das nicht gewollt«, schluchzte Jenny
Mayer jetzt. »Glauben Sie mir. Ich habe das nicht gewollt.«
Isabelle Konrad wankte auf den Flur hinaus. Sie
musste Kyra finden. Aber in welchem Stock war sie hier? Weil, Kyra
war ja im dritten, und wenn sie jetzt im fünften war, dann musste
sie -
Sie konnte nicht mehr denken. Das Blut quoll ihr zu
heftig aus dem Mund. Sie machte einige Schritte in Richtung
Fahrstuhl. Auch die Knie wollten nicht mehr.
Der Marmor, auf den sie der Länge nach schlug, war
kühl. Angenehm kühl. Sie ruderte mit den Armen über den
Stein.
Wie schön, dass ihr Vater in einer Zeitung
arbeitete, die sich Marmorboden leisten konnte. Nicht jede hatte
einen Vater, der in einer Zeitung mit Marmorfußboden
arbeitete.
Sie lächelte.
Wo war der Revolver? Sie musste ihn Vater
zurückgeben. Vater würde schimpfen, wenn er entdeckte, dass sie
sein bestes Stück verloren hatte.
Mit letzter Kraft drehte sie sich auf den
Rücken.
»Scheiße«, flüsterte sie, und das Blut in ihrem
Hals gluckste, »Scheiße, Mann, wir sind echt ne
Scheißfamilie.«
Es war so still. So wunderstill. Der
Schlüsselbund, mit dem Kyra unten die Haustür, oben die Wohnung
aufgeschlossen hatte, fiel zu Boden. Sie hörte es nicht. Sie hörte
gar nichts. Hinschauen. Hinschauen. Nichts als hinschauen.
Noch sah sie nicht wirklich, worauf ihre
Augen starrten. Das Auge frisst alles, das Hirn ist feige.
Den ganzen Abend hatte es sich nicht ausmalen wollen, was es finden
würde. Und jetzt, wo Wirklichkeit Vorstellung unnütz gemacht hatte,
begann es zu malen und zu malen und auszuschmücken und wollte gar
nicht mehr aufhören auszumalen.
Es tat so weh. Himmel, wie konnte etwas, das
einfach nur stumm dalag, so wehtun? Es brauchte doch nur ein Messer
oder eine Schere. Warum kam denn keiner mit der Kneifzange und
machte Schluss? Sehnerv links, Sehnerv rechts, zweimal knips und
aus das Licht!
Kyras Lider waren starr, als hätte sie sich heute
Abend mit Sekundenkleber geschminkt. Sie versuchte, ihre Hände zu
heben, um sich die Augen selber auszukratzen. Nicht einmal ein
müdes Zucken war den Händen zu entlocken.
Kyra brüllte, bis ihr Schwarz vor Augen wurde.
Endlich schwarz. Endlich Fallbeil. Aber die Gnade dauerte nur kurz.
Aus dem Schwarz kroch das Bild hervor, leuchtete drinnen im Kopf
noch greller. Wieder sehen, hinsehen, immer nur hinsehen, bis die
Augäpfel von selbst platzten.
Der geköpfte Freund. Der zu Kopfzeiten verschmähte
Freund.
Kyra blinzelte. Aber war das Blut und Fleisch,
das dort lag, überhaupt noch der Freund? Denn was war der
Freund - wenn nicht Kopf?
Der Gedanke machte sie gurgeln. Franz hatte sie
getäuscht. Er war nie Kopf gewesen. Denn wäre er Kopf gewesen, läge
er jetzt nicht ohne da. Ein Kopf ließ sich nicht köpfen. Was also
war er gewesen? Hatte er überhaupt jemals einen Kopf gehabt? Hatte
sie die ganze Zeit einen Kopflosen - ja denn: geliebt?
Eisschauer grieselten durch ihren Körper.
Geliebt. Ja. Sie hatte ihn geliebt. Ihre Zähne
klapperten. Sie schlang die Arme fest um sich selbst.
Zusammenhalten, was nicht mehr zusammenzuhalten war.
Plötzlich wurde es ganz still. In ihr drinnen. Sie
konnte sich wieder frei bewegen. Die Lider klappten mühelos auf und
zu. Klipp. Klapp. Schwingdeckel. Die Hände folgten wieder.
Sie ließen sich heben. Und fallen. Und heben. Und fallen. Prima.
Prima Pinocchio. Sie konnte im Zimmer umherlaufen. Sie konnte
sich bücken, unter den Couchtisch schauen, hinter den Fernseher
gucken, im Schrank herumwühlen -
Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie
wieder her, gib sie wieder her...
Ein Geräusch an der Tür ließ sie aufhorchen. Sie
legte den Kopf in den Nacken und jaulte. Er kam, er kam zurück. Auf
allen vieren schoss sie durch den Flur. Krachte mit
blutverschmierten Knien gegen die Tür. Wartete. Winselte.
Niemand kam heim.
Mit hängendem Kopf schlich sie zurück. Noch nie
hatte sie ihn genauer betrachtet. Lebende Menschen betrachtete man
nicht genauer. Jetzt war er schön. Schöner, als er jemals hätte
sein können. Sie schnüffelte.
Roch gut. Mami, roch er gut. Hatte er schon immer
so gut
gerochen? Nein. Geschwitzt hatte er. Im Büro geschwitzt. In der
Oper geschwitzt. Im Barbarossa geschwitzt. Im Winter
geschwitzt. Im Sommer geschwitzt. Im - aber jetzt nicht mehr. Nie
mehr Schweiß.
Sie stieß mit der Nase gegen seine Brust. Hart.
Schwarzes Hemd, Hemdbrust, blutsteif wie frisch gebügelt. Aber
schön.
Sie zerrte daran. Der linke Ärmel klemmte. Obwohl
der Arm gar nicht starr war. Puppig schlaff lag er da. Sie hob ihn
ein paar Mal an und ließ ihn wieder fallen.
Ene mene muh, und kalt bist du. Kalt bist du
noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist.
Wie schön wäre es gewesen, ihm jetzt zwei Finger an
die Wange zu legen und zu fragen: Franz, lebst du noch? Hallo?
Hörst du mich? Aber Wange war ja nicht mehr. Sie hielt ihr Ohr
an seine Brust. Still. Still. Still.
Endlich gelang es ihr, die Manschetten über die
Hände zu zerren. Schöne Hände hatte er. Schöne Hände und so schöne
schmale Finger.
Hast du schon immer so schöne schmale Finger
gehabt, Franz?
Es war ihr nie aufgefallen. War auch nicht gut
möglich, dass so ein kleiner runder Mann so schöne schmale Finger
hatte. Der Tod hatte ihm die Finger geschenkt. Die Hand gereicht
und die schönen schmalen Finger geschenkt.
Sie warf sein Hemd und T-Shirt in die Ecke, zog
seine schwarzen Schuhe aus, zog seine schwarzen Socken aus, zog
ihre schwarzen Schuhe aus. Sie berührte seine Füße mit ihren.
So viel gelaufen, ihr armen Zehen. Aber jetzt
dürft ihr ruhen.
Mit der Andacht, die der ersten Nacht gebührte,
streckte sie sich neben ihm aus.
Franz, deine Hand! Gib mir deine Hand!
Zärtlich küsste sie die Finger. Die dunklen Ränder
unter
den Nägeln. Das Blut. Sie küsste die Fingerkuppen, leckte eine
nach der anderen, bis die Trauer nur noch ein ferner Nachgeschmack
auf ihrer Zunge war.
Wir werden glücklich sein.
Sie nahm den Zeigefinger, feucht vom eigenen
Speichel. Alles war so still. So kalt. So schön. Sie schloss die
Augen.
Wollen wir, Geliebter? Wollen wir?
Sanft lag sein Finger in ihrer Hand. Sie lächelte.
Und fasste ihn fester. Und führte ihn sicher ans Ziel.