Evelyn Essig-Steinmeier räumt auf

»So, und nun zu euch beiden.« Die Direktorin verschränkte die Arme vor der Brust und sah Lilli und Jesahja frostig an. »Ich will jetzt in allen Einzelheiten von euch hören, was sich hier wirklich abgespielt hat.« Ihre Stimme war scharf wie ein Rasiermesser. »Herr Pong mag glauben, was er will. Aber mir könnt ihr nichts vorgaukeln. Vor euch steht Evelyn Essig-Steinmeier!«

Lilli starrte auf den Boden und begann, nervös an ihren Fingernägeln zu knibbeln.

»Punkt eins!«, durchschnitt die Stimme der Direktorin die Stille. »Wieso seid ihr überhaupt bei der Kobra gewesen?«

Jesahja holte Luft, um zu antworten, da donnerte Frau Essig-Steinmeier schon ihre nächste Frage in den Raum. »Punkt zwei! Warum um alles in der Welt habt ihr das Terrarium geöffnet? Wisst ihr denn nicht, dass Schlangen taub sind und dich nicht hören können, Liliane?«

Lilli sah die Direktorin beschämt an. »Jetzt wissen wir’s.«

»Das war dir vorher nicht klar?«, fragte Finn sanft, und Lilli schüttelte den Kopf. Sie kannte sich zwar sehr gut mit Tieren aus und Biologie war in der Schule ihr Lieblingsfach, aber über Schlangen wusste sie nicht viel.

»Schnickschnack!«, blaffte die Direktorin. »Ich will jetzt die ganze Wahrheit hören. Sofort!« Sie tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden.

Jesahja sprach als Erster. »Wenn Sie daran glauben, dass Lilli mit Tieren spricht, weshalb zweifeln Sie dann daran, dass chinesische Tigerschuhe zum Leben erwachen können?«

Lilli schnappte erstaunt nach Luft. Jesahja war ganz schön mutig, so etwas zu fragen!

»Weil ich ziemlich sicher bin, dass ich gesehen habe, wie ein Löwe aus dem Fenster sprang!«, polterte die Direktorin. »Hat Bao Löwenschuhe getragen? Nein!«

»Haben Sie Samira denn nicht aus dem Fenster springen gesehen?«, fragte Lilli verwundert. Dann biss sie sich auf die Lippen. Jetzt hatte sie sich verplappert.

»Die Tigerin war also auch hier?«, fragte die Direktorin, und plötzlich wurde ihre Stimme gefährlich leise. »Wie kam es dazu?«

Lilli sah ein, dass es keinen Sinn hatte, noch länger zu leugnen, was wirklich geschehen war. Sie mussten ihr die Wahrheit sagen.

»Es war so«, begann Lilli. »Trina hat uns abgefangen und behauptet, dass mit der Kobra etwas nicht in Ordnung wäre und dass Sie gesagt hätten, ich sollte mal mit ihr sprechen. Aber als ich das versuchte, ging es nicht. Ich dachte, es läge daran, dass mich die Schlange durch die dicken Scheiben nicht hört. Deshalb hat Trina das Terrarium geöffnet. Aber dann ist Trina plötzlich rausgelaufen und hat die Tür von außen abgeschlossen. Wir haben sie und ihre Schwester Trixi draußen lachen gehört.«

»Trixi darf den Zoo doch gar nicht mehr betreten!«, warf Finn ein.

»Still, Finn Landmann!«, kommandierte Frau Essig-Steinmeier. »Lass Liliane zu Ende erzählen.« Sie verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann, vor den Terrarien auf und ab zu gehen.

Lilli fuhr fort. Ihre Stimme klang nun fester als zuvor. »Trina und Trixi hatten das alles geplant, um uns eins auszuwischen. Und dann …« – bei der Erinnerung lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken – »… dann kam die Kobra aus dem Käfig heraus und wollte uns angreifen. Da habe ich nach Shankar und Samira gerufen.«

»Und dann?« Die Direktorin beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor.

Jesahja kam Lilli zu Hilfe. »Die beiden sind da oben hereingesprungen.« Er wies mit der Hand auf das offen stehende Fenster.

»Wie das?«, fragte die Direktorin mit erhobener Augenbraue. »Haben die Raubkatzen etwa Schlüssel für ihre Gehege?«

»Nein.« Nun musste Lilli mit der ganzen Wahrheit herausrücken. »Wir hatten ihre Käfigtüren vorher aufgeschlossen und angelehnt.«

Die Augenbraue der Direktorin verschwand fast in ihrem Haaransatz. »Könntest du das nochmal sagen? Ich glaube, meine Ohren funktionieren nicht richtig.«

Finn meldete sich zu Wort. »Ich war es, der die Türen geöffnet hat.«

»Aber es war meine Idee!«, warf Jesahja ein, damit Finn den Ärger nicht allein ausbaden musste.

Lilli erklärte: »Shankar und Samira sollten die Türen heute Nacht aufdrücken, damit sie ein bisschen zusammen sein können.«

Daraufhin sagte niemand mehr etwas, und es trat eine angespannte Stille ein. Frau Essig-Steinmeier begann wieder, auf und ab zu gehen, und ihre hallenden Schritte waren das einzige Geräusch im Raum.

Lilli verknotete nervös ihre Finger. Es stand so viel auf dem Spiel! Wenn die Direktorin wollte, konnte sie sie feuern – und Finn gleich mit!

Schließlich hielt Lilli es nicht mehr aus. »Was sagen Sie dazu?«

Die Direktorin blieb stehen und sah nacheinander Lilli, Jesahja und Finn an. »Wisst ihr, was mich am meisten enttäuscht? Dass ihr mich nicht eingeweiht habt. Weshalb seid ihr davon ausgegangen, dass ich euch verbieten würde, Shankar und Samira zeitweise ins gleiche Gehege zu lassen?«

Die drei wussten nicht, was sie sagen sollten.

»Wir dachten, Sie hätten etwas dagegen, dass die Raubkatzen aus den Käfigen gelassen werden und frei im Zoo herumlaufen«, antwortete Finn nach einer Weile kleinlaut.

»Bestimmt hätte ich auf ein paar Sicherheitsvorkehrungen bestanden. Aber generell halte ich die Idee für sehr gut.«

Lilli schaute betreten auf ihre Fußspitzen. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, Frau Essig-Steinmeier einzuweihen. Sie hatte nicht geglaubt, dass die Direktorin mit einer solch waghalsigen Sache einverstanden gewesen wäre.

»Viel schlimmer als die Sache mit den angelehnten Türen ist, dass ihr etwas dermaßen Gefährliches hinter meinem Rücken getan habt.« Die Direktorin seufzte. »Beim nächsten Mal kommt ihr gleich zu mir. Und wenn ich euch trotzdem etwas verbiete, dann, weil es gute Gründe dafür gibt und es wirklich zu gefährlich ist. Verstanden?«

Lilli und Jesahja nickten.

»Beim nächsten Mal?«, fragte Finn vorsichtig. »Heißt das, Sie schmeißen uns nicht raus?«

»Nein, das wäre mehr als unklug.«

Lilli stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

Frau Essig-Steinmeier sprach weiter: »Finn Landmann, du bist der beste Pfleger, den wir haben. Auch wenn du noch in der Ausbildung bist. Und du, Liliane Susewind, hast vielen Tieren hier im Zoo sehr geholfen. Wir brauchen deine Hilfe auch in Zukunft. Und Jesahja Sturmwagner …« Die Direktorin streckte die Hand aus und tippte Jesahja gegen die Brust. »Irgendwie schaffst du es immer, dir einen Plan auszudenken, um den Dingen eine neue Wendung zu geben.«

Lilli blickte verwundert zwischen Jesahja und der Direktorin hin und her.

Jesahja schien ebenso wenig zu wissen, wovon Frau Essig-Steinmeier redete. »Was meinen Sie?«

Über das Gesicht der Direktorin huschte ein Lächeln. »Das weißt du doch genau.«

Jesahjas Gesichtsausdruck hellte sich schlagartig auf. »Heißt das … hat es etwa geklappt!?«

Frau Essig-Steinmeier nickte. »Heute Morgen erhielt ich ein Fax von dem Zoo aus Bayern, der Samira gegen eine Löwin eintauschen wollte. Der Direktor teilte mir darin mit, der Tausch sei geplatzt.«

Lilli blieb der Mund offen stehen. Das war zu schön, um wahr zu sein!

»Offenbar hat bei dem bayrischen Zoo jemand angerufen, der sich als Pfleger unseres Zoos ausgegeben hat«, fuhr Frau Essig-Steinmeier fort. »Dieser Jemand hat behauptet, unsere Tigerin Samira leide an einer schlimmen Krankheit namens Verliebosis. Es sei ein schlechter Handel, eine kranke Tigerin gegen eine schöne, gesunde Löwin einzutauschen. Der Unbekannte hat gesagt, er wolle den Zoo warnen und ihm raten, von dem Tauschhandel zurückzutreten, solange es noch möglich sei.« Frau Essig-Steinmeier bedachte Jesahja mit einem stolzen, beinahe mütterlichen Blick. »Ich habe mir gleich gedacht, dass du es warst, der in Bayern angerufen hat. Ich weiß noch gut, auf welch clevere Art du das Geld für Ronni aufgetrieben hast.«

Jesahjas Augen strahlten. »Die haben mir tatsächlich geglaubt!«

»Ja, das haben sie«, bestätigte die Direktorin. »Und obwohl du geflunkert hast und das eigentlich nicht in Ordnung ist, bin ich sehr froh über deinen Anruf. Jetzt steht uns nichts mehr im Weg. Wir können das Experiment wagen und die Tigerin und den Löwen in ein gemeinsames Gehege verlegen.«

Lilli jauchzte. »Wirklich? Samira und Shankar dürfen zusammen sein?« Sie lachte vor Freude laut auf. In dem Terrarium hinter Lilli wuchs ein Zweig durch ihr Lachen derartig schnell in die Höhe, dass sich der kleine Gecko, der auf ihm saß, den Kopf an der Decke des Terrariums stieß.

»Wir müssen aber noch eine wichtige Sache erledigen, bevor wir zu Samira und Shankar gehen, um ihnen die guten Neuigkeiten mitzuteilen.«

»Was für eine Sache?«, fragte Lilli, die es kaum erwarten konnte, der Tigerin und dem Löwen zu erzählen, dass nun alles gut werden würde.

Frau Essig-Steinmeiers Gesicht wurde ernst. »Ich habe ein Wörtchen mit Trina und Trixi Korks zu reden.«