Der Junge mit den Tigerschuhen

»Hier entlang, die Großkatzen sind da hinten«, sagte Lilli und zog Jesahja am Arm. An diesem Tag war sie mit ihrem besten Freund in den Zoo gekommen, um ihm Samira und Shankar vorzustellen. Natürlich hatte sie Jesahja alles erzählt, was bei ihren Zoobesuchen vorgefallen war, und er war nun neugierig und wollte die Raubkatzen unbedingt kennenlernen.

»Was hat der denn da?«, fragte Jesahja plötzlich und blieb stehen.

Ein paar Meter vor ihnen stand ein mürrisch dreinblickender, asiatischer Mann mit grauem Haar, der eine Gießkanne in der Hand hielt und einen Strauch wässerte. Doch als Lilli Jesahjas Blick folgte, erkannte sie, dass Jesahja nicht von dem Mann sprach, sondern von einem etwa neunjährigen Jungen, der daneben auf einer Bank saß. Der Junge hatte kurze, schwarze Haare, asiatische Augen und braune Haut. Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine Schuhe. Er trug rote Stoffschuhe, auf die vorn bunte Tigergesichter genäht waren. Gelbe Bommel stellten die Augenbrauen der Tiger dar und baumelten an den Seiten der Schuhe hinunter. Lilli hatte so etwas noch nie gesehen.

Sie und Jesahja waren nicht die Einzigen, denen die Schuhe ins Auge gefallen waren. Neben ihnen zeigten zwei Jugendliche mit den Fingern auf den Jungen und lachten unverhohlen.

Der Junge bemerkte, dass die Jugendlichen über ihn lachten. Er wurde rot und setzte sich hastig in den Schneidersitz. Dabei verschwanden die Schuhe unter seinen Beinen. Die Jugendlichen lachten noch lauter, gingen dann aber weiter, da es nichts mehr zu sehen gab.

»Warum hat er die Dinger denn an, wenn sie ihm peinlich sind?«, fragte Jesahja verwundert.

»Keine Ahnung.« Lilli tat der Junge leid. Sie wusste, wie unangenehm es war, angestarrt und ausgelacht zu werden. Aber Jesahja hatte recht – der Junge musste die Schuhe ja nur ausziehen, dann würde ihn niemand mehr anstarren.

»Soweit ich weiß, trägt er die Schuhe nur im Zoo«, sagte Finn, der plötzlich neben ihnen auftauchte. »Hallo Lilli.«

Lilli begrüßte Finn erfreut und stellte ihm Jesahja vor.

»Er trägt diese Stoffpantoffeln immer, wenn er im Zoo ist?«, hakte Jesahja interessiert nach.

»Ja, ich hab Bao noch nie ohne seine Tigerschuhe gesehen.«

»Du kennst den Jungen?«, fragte Lilli.

»Er ist der Sohn unseres Gärtners.« Finn wies auf den Mann mit der Gießkanne. »Herr Pong ist Chinese. Er spricht nicht viel und ist ein bisschen griesgrämig. Sein Sohn Bao kommt immer nach Schulschluss her. Herr und Frau Pong sind geschieden, und zu Hause kann niemand auf Bao aufpassen, deswegen ist er jeden Tag hier. Bao sitzt nachmittags stundenlang herum und sieht seinem Vater bei der Arbeit zu. Wenn er in den Zoo kommt, trägt er jedes Mal diese Tigerschuhe, obwohl es nicht den Anschein hat, dass er das gern tut. Wenn ihr mich fragt, sind ihm die bunten Puschen tierisch peinlich.«

»Irgendeinen wichtigen Grund muss es aber doch dafür geben, dass er sie anzieht«, murmelte Jesahja und kratzte sich am Hinterkopf. Lilli sah ihm an, dass diese Geschichte seine Entdeckerneugier weckte.

»Wohin wollt ihr?«, wechselte Finn das Thema.

»Wir sind auf dem Weg zu Shankar und Samira.«

»Die beiden sind ziemlich unglücklich, seit du ihnen gesagt hast, dass sie sich bald für immer trennen müssen.« Finn seufzte. »Sie freuen sich aber bestimmt trotzdem, dich zu sehen.«

Lilli und Jesahja verabschiedeten sich von Finn und gingen zu den Raubtiergehegen. Der Leopard, der links neben Samira wohnte, saß wenig begeistert neben seinem neuen Ball.

»Hallo Feodor! Wie gefällt dir dein neues Spielzeug?«, rief Lilli ihm zu.

Der Leopard rümpfte die Nase. »Es ist unter meiner Würde, mich mit derart geistlosem Gerät zu beschäftigen.«

Lilli hob überrascht die Augenbrauen. Der Leopard klang beinahe wie Frau von Schmidt.

Jesahja zog sie weiter. Der Löwe und die Tigerin waren noch schlechter gelaunt als der vornehme Leopard. Shankar stand diesmal nicht auf seinem Felsen. Er lag in der hintersten Ecke seines Geheges und blickte unbeteiligt auf die wenigen Besucher vor der Absperrung. Niemand fotografierte ihn.

Wenn Shankar keine Show abzieht, ist er für die Leute wohl nicht mehr besonders interessant, dachte Lilli.

Samira lag ebenfalls in ihrem Käfig. Sie schien zu schlafen.

Als keine Zoobesucher mehr in der Nähe waren, rief Lilli den Löwen und die Tigerin. Samiras rechtes Augenlid hob sich langsam. Als sie Lilli erkannte, öffnete sie auch das zweite Auge und stand mühsam auf. Sie sah aus, als müsse sie ein schweres Gewicht tragen. Shankar erwachte ebenfalls aus seiner Teilnahmslosigkeit, und die beiden kamen an das Gitter heran.

»Gibt es etwas Neues?« Shankars Ohren waren hoch aufgerichtet, als hielte er den Atem an.

Lilli schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, leider nicht.«

»Oh.« Die beiden Raubkatzen ließen die Köpfe hängen.

»Dann lege ich mich mal wieder hin.« Shankar schlurfte zu seiner Ecke zurück und ließ sich schwerfällig nieder.

Samira zog sich hinter einen Strauch zurück.

»Die beiden sind wirklich ziemlich fertig, was?«, bemerkte Jesahja, ohne dass Lilli ihm etwas von der Unterhaltung übersetzen musste.

»Wenn ich ihnen nur irgendwie helfen könnte …« Lilli dachte angestrengt nach.

»Es gäbe da eine Möglichkeit«, sagte Jesahja. »Aber die ist ziemlich waghalsig.«

Lilli blickte ihn elektrisiert an. »Wenn du irgendeine Idee hast, dann raus damit!«

»Wer hat die Schlüssel zu den Gehegen?«

Lilli überlegte. »Alle Pfleger haben Schlüssel, und Oberst Essig hat natürlich einen Generalschlüssel.« Dann dämmerte ihr, worauf Jesahja hinauswollte. »Schlägst du etwa vor, dass wir die Käfigtüren öffnen sollen, um Shankar und Samira zusammenzubringen?«

Lilli ging ein paar Schritte von den Gehegen fort, damit die Raubkatzen sie nicht hörten und sich womöglich Hoffnungen machten. Jesahjas Idee war völlig irrwitzig! Es würde keine fünf Minuten dauern, bis irgendjemandem auffiel, dass der Löwe im Gehege der Tigerin war, und dann würde es einen Riesenaufstand geben – und Ärger.

»Oberst Essig wird mich rausschmeißen, wenn das auffliegt«, wandte Lilli aufgeregt ein. »Die Leute merken garantiert rasend schnell, dass wir die Raubkatzen im Zoo haben rumlaufen lassen.«

»Nicht, wenn wir das Ganze in der Nacht machen«, erwiderte Jesahja ruhig.

»In der Nacht?«

»Ja. Wir schleichen uns bei Dunkelheit in den Zoo, öffnen die Käfigtüren und lassen Shankar zu Samira ins Gehege. Niemand wird was mitkriegen. Alles, was wir brauchen, sind Schlüssel für das Eingangstor und für die Käfige.«

»Ach du meine Güte!«, stieß Lilli hervor. »Du meinst das wirklich ernst.« Ihre Gedanken überschlugen sich. »Und woher sollen wir die Schlüssel bekommen?«

»Dieser Finn scheint ziemlich nett zu sein. Glaubst du, er gibt dir den Schlüssel, wenn du ihn einfach darum bittest?«

Lilli sah Jesahja zweifelnd an. Doch dann dachte sie darüber nach. Wahrscheinlich war es wirklich am leichtesten, Finn einfach zu fragen. »Was, wenn er nein sagt?«

»Du musst halt überzeugend sein«, antwortete Jesahja leichthin und begann, den Pfad zurückzugehen, den sie gekommen waren.

Lilli folgte ihm, und mit jedem Schritt wurde sie entschlossener. Wenn sie Samira und Shankar mit dieser Aktion eine Freude machen konnte, dann wollte sie das Risiko auf sich nehmen.

Es dauerte eine Weile, bis sie Finn aufgespürt hatten. Er fütterte gerade die Lamas.

»Finn, ich wollte dich was fragen«, sagte Lilli unsicher.

»Was denn?«

Jesahja knuffte sie sanft in die Rippen und Lilli erzählte Finn von ihrem Plan, sich in der Nacht in den Zoo zu schleichen und Shankar in Samiras Gehege zu lassen.

Finn sog scharf die Luft ein. »Lilli, wir könnten beide unseren Job verlieren, wenn das rauskommt!«

»Shankar und Samira sind so schrecklich traurig.« In Lillis Gesicht spiegelte sich die Verzweiflung der Tigerin und des Löwen wider.

»Wir werden vorsichtig sein«, versprach Jesahja.

Finn rieb sich den Kopf, als habe er sich gestoßen. »O Mann, das ist echt ’ne riskante Sache. Seid ihr sicher, dass ihr das durchziehen wollt?«

Lilli und Jesahja nickten heftig.

»Wahrscheinlich frage ich mich irgendwann, wie ich so leichtsinnig sein konnte, aber …«

»Aber?« Lilli hing an Finns Lippen.

»… aber ich gebe euch meine Schlüssel.«

»Jippieh!«, jauchzten Lilli und Jesahja.

Finn zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche und übergab ihn Lilli. »Pass gut darauf auf. Und komm morgen früh genug her, damit du mir die Schlüssel rechtzeitig zurückgeben kannst.«

»Ja, morgen ist ja Samstag. Da habe ich keine Schule und kann ganz früh kommen«, versicherte Lilli glücklich.

»Alles klar. Viel Glück.« Finn schien zwar Bedenken zu haben, aber er war auf ihrer Seite.

Lilli steckte den Schlüsselbund ein und schlenderte mit Jesahja zum Ausgang. Nun wurde ihr erst richtig klar, was sie da eigentlich vorhatten. Mit einem Schlag wurde sie ganz kribbelig. Etwas Derartiges hatte sie noch nie zuvor gemacht. Was, wenn etwas schiefging?

»Schau mal!« Jesahja stupste sie an. Hinter einem Wärterhäuschen stand der Gärtner, Herr Pong, zusammen mit seinem Sohn Bao. Offensichtlich stritten sie über irgendetwas, und zwar auf Chinesisch. Herr Pong sprach schnell und streng auf seinen Sohn ein und deutete dabei immer wieder auf Baos Schuhe.

»Es geht offenbar um die Tigerdinger«, flüsterte Jesahja Lilli zu. »Ich wette, Bao will sie nicht mehr tragen, aber sein Vater zwingt ihn dazu.«

Die Art und Weise, wie der Chinese und sein Sohn mit den Händen gestikulierten, schien Jesahjas Vermutung zu bestätigen.

»Aber warum zwingt Herr Pong seinen Sohn dazu?«, fragte Lilli verwundert. »Was für einen Sinn kann es denn haben, bunte Schuhe mit Tigergesichtern zu tragen?«

»Das ist eine sehr gute Frage«, murmelte Jesahja grüblerisch.

Lilli sah ihn lächelnd an. Wenn irgendjemand die Antwort auf diese Frage finden konnte, dann war es Jesahja. Er kam den Dingen letzten Endes immer auf die Spur. Darauf war Verlass.