Captain Caruso
Wenig später standen Lilli und Jesahja vor dem Gehege der Otter. Lilli rief sich noch einmal ins Gedächtnis, was ihr Frau Essig-Steinmeier über das Problem erzählt hatte: Das Ottermännchen, Captain Caruso, hatte ständig Nasenbluten. Aber Doktor Özgür sagte, körperlich sei alles in Ordnung mit ihm. Niemand wusste, warum die Nase des kleinen Tiers so oft blutete, und Lilli sollte es herausfinden.
Der katzengroße Otter mit dem dunkelbraunen Fell tauchte gerade aus dem Teich auf, der in der Mitte seines Reviers angelegt war. In der Schnauze trug er einen Zweig, der dreimal so lang war wie er selbst. »Herrschaftszeiten! Zum Donnerlittchen!«, schimpfte er. »Das hält einfach nicht. So ein Käse!« Offensichtlich versuchte der Otter, irgendetwas zu bauen, und hatte dabei Schwierigkeiten. »Käse, Käse, Käse!« Captain Caruso stapfte auf seinen krummen Beinchen ärgerlich aus dem Wasser.
Lilli beugte sich über die Glasscheibe, die das Ottergehege umzäunte. »Was gibt es denn für ein Problem?«
Als Captain Caruso Lillis Stimme hörte, ließ er vor Schreck den Zweig fallen und starrte Lilli gebannt an.
Da kam Carusos Weibchen Ursel aus dem Bau geflitzt. »Woher kommt die Stimme?«, fragte sie aufgeregt. »Wer war das?«
»Da«, hauchte Captain Caruso und wies langsam mit dem Kopf auf Lilli.
Die beiden Otter glupschten Lilli mit ihren schwarzglänzenden Knopfaugen an.
Lilli sagte: »Ihr wundert euch sicher, dass ihr mich versteht, richtig?«
Captain Caruso und Ursel reagierten nicht, sondern stierten Lilli weiterhin wortlos an.
»Ich möchte euch gern etwas fragen«, sprach Lilli weiter. »Captain Caruso, du hast doch oft Nasenbluten …«
»Ach, das ist doch nicht der Rede wert!« Der Otter erwachte aus seiner Starre und plusterte sich auf. »So ein bisschen Nasenbluten haut einen alten Seemann wie mich nicht um!«
Ursel reckte schnuppernd die Nase in die Luft und trippelte vertrauensvoll näher. »Er regt sich immer so auf.«
»Ach, Papperlapapp! Das stimmt doch gar nicht, Weib!«
Ursel fuhr unbeirrt fort. »Er regt sich über alles und jedes auf, und ganz besonders über dieses Menschenmädchen, das ihn immer ärgert.«
Lilli wurde hellhörig. »Was für ein Menschenmädchen?«
»Niemand ärgert mich!«, polterte Captain Caruso. »Das würde keiner wagen.«
Ursel ignorierte ihn. »Dieses Mädchen hält jedes Mal einen kleinen, leckeren Krebs in der Hand und wedelt hinter der durchsichtigen Wand damit hin und her. Wenn Caruso nach dem Krebs schnappt, prallt er mit der Nase gegen die Wand. Dann bekommt er Nasenbluten.«
»Niemand legt Captain Caruso rein!«, wetterte der Otter. »Ich springe nach dem Krebs, weil es mir eben so gefällt.«
Ursel schnaufte. »Ich habe ihm schon oft gesagt, dass er den Krebs nie im Leben kriegen wird. Aber er springt immer wieder drauflos, wenn das Mädchen ihn lockt. Er scheint dann zu vergessen, dass da diese unsichtbare Wand ist.«
Mit der unsichtbaren Wand meinte Ursel wohl die Glasscheibe, die um das gesamte Ottergehege herumgebaut war.
»Wie sieht das Mädchen denn aus?«, wollte Lilli wissen.
Ursel kratzte sich mit dem Hinterlauf am Bauch. »Wie alle Menschenmädchen. Riesengroß. Nur zwei Beine. Keine Haare im Gesicht.«
»Es hat oben auf dem Kopf gelbe Haare«, warf Captain Caruso ein. »Und Krachohren!«
»O ja, das stimmt. Das Mädchen hat Krachohren.«
Lilli wiegte überlegend den Kopf hin und her, dann übersetzte sie für Jesahja, was die Otter ihr berichtet hatten.
»Krachohren?«, wiederholte er. »Ist das so ein Wort, das du dir ausgedacht hast, weil es das, was die Otter gesagt haben, in Menschensprache nicht gibt?«
Lilli nickte, tief in Gedanken. »Aus den Ohren kommt Krach …«
»Vielleicht Musik?«
Lilli und Jesahja blickten einander mit großen Augen an. Sie wussten, dass sie beide dasselbe dachten.
»Trixi trägt Kopfhörerstöpsel«, sagte Lilli.
»Sie hat seit Wochen immer und überall ihren MP3-Player dabei, weil in der Schule kaum noch jemand mit ihr redet.«
»Außerdem hat sie gelbe Haare. Sie ist blond«, fügte Lilli hinzu. »Glaubst du, sie ist diejenige, die Captain Caruso immer ärgert? Etwas dermaßen Gemeines würde ihr ähnlich sehen.«
Plötzlich tauchte Frau Essig-Steinmeier vor ihnen auf. Lilli zuckte zusammen, denn sie hatte die Direktorin nicht kommen sehen. Finn begleitete die große Frau mit dem pfeilgeraden Rücken. »Na, dich kenne ich doch!« Frau Essig-Steinmeiers laute Stimme ließ nun auch Jesahja zusammenfahren. »Du bist doch der Junge, der Lilli damals geholfen hat, Ronni in den Zoo zurückzuholen! Jesahja war der Name.« Die Direktorin piekste mit dem Zeigefinger auf Jesahjas Brust.
»Richtig«, erwiderte Jesahja.
»Wie ist dein Nachname?«
»Sturmwagner.«
»Sturmwagner, Jesahja Sturmwagner. Hmm.« Frau Essig-Steinmeier verschränkte die Hände auf dem Rücken und schien ein paar Augenblicke zu benötigen, um sich Jesahjas vollen Namen unwiderruflich einzuprägen.
»Liliane Susewind, was ist mit Captain Caruso?«, verlangte sie anschließend zu wissen.
»Er springt manchmal gegen die Glasscheibe und stößt sich dabei die Schnauze. Daher kommt das Nasenbluten.«
»Und warum macht er das?«, fragten Finn und die Direktorin gleichzeitig.
Lilli warf Jesahja einen fragenden Blick zu. Jesahja schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Lilli, an die Direktorin gewandt.
»Dann sprich doch nochmal mit dem Otter«, schlug Frau Essig-Steinmeier vor und beugte sich verschwörerisch zu Lilli herab. »Mehr Gespräche bringen mehr Erkenntnisse!« Sie schnippte energisch mit den Fingern und wandte sich mit Schwung ab. »Auf Wiedersehen, Jesahja Sturmwagner!«, rief sie und winkte zackig, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Wiedersehen, Oberst Essig«, murmelte Jesahja. Und dann fügte er hinzu: »Die Frau ist echt schräg.«
Finn grinste, doch er wurde schnell wieder ernst. »So, und was steckt nun wirklich hinter Captain Carusos Nasenbluten?«
Lilli drehte eine ihrer Locken um den Zeigefinger. »Wir sind uns nicht hundertprozentig sicher, aber …« Lilli und Jesahja tauschten einen Blick, dann erzählte Lilli Finn, was die Otter ihr anvertraut hatten und was Jesahja und sie vermuteten.
Finn holte vernehmlich Luft. »Warum habt ihr das nicht Oberst Essig gesagt?«
Jesahja zog eine missmutige Grimasse. »Wir haben keine Beweise dafür, dass Trixi dahintersteckt.«
Finn dachte einen Augenblick lang nach. »Lilli, kannst du den Captain fragen, ob das Menschenmädchen heute schon da war?«
Lilli fragte den Otter, und Captain Caruso antwortete: »Nein, meine Nase ist noch heil.«
»Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Trixi noch kommt«, schlussfolgerte Jesahja, nachdem Lilli übersetzt hatte.
»Genau«, stimmte Finn zu. »Wisst ihr was? Ich werde mich da vorn hinter dem Geräteschuppen verstecken und das Ottergehege im Auge behalten. Wenn Trixi kommt und ihre Nummer mit dem Krebs abzieht, erwische ich sie auf frischer Tat.«
»Das würde ihr recht geschehen«, sagte Jesahja.
Lilli wandte sich noch einmal an Captain Caruso. »Wenn das Mädchen wiederkommt, spring bitte nicht gegen die unsichtbare Wand, okay?«
»Natürlich nicht!« Der Otter reckte den Kopf in die Höhe. »Da wäre ich ja schön blöd.«
Lilli und Jesahja entfernten sich vom Ottergelände, und Lilli kümmerte sich um eine Eule, die eine Impfung bekommen sollte, aber nicht stillhalten wollte.
Nachdem die Eule problemlos geimpft worden war, schlenderten Lilli und Jesahja wieder in Richtung des Ottergeheges. Als sie um die Ecke bogen, blieben sie wie angewurzelt stehen. Vor der Glaseinfassung der Otter kniete Trixi, mit einem Krebs in der Hand.
Jesahja zog Lilli gerade noch rechtzeitig hinter einen Busch, sodass Trixi sie nicht entdeckte.
Aus den Kopfhörerstöpseln der jüngeren Korks-Schwester dröhnte Hip Hop, und immer wieder sah Trixi den Zoopfad entlang, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass niemand sie überraschte. Sie wedelte genüsslich mit dem Krebs vor Captain Carusos Nase herum, und der Otter sprang immer wieder mit voller Wucht gegen die Glasscheibe. Dabei schrie er: »Ich krieg ihn! Herrschaftszeiten! Ich krieg das Ding!«
Ursel lief währenddessen aufgeregt hinter Caruso auf und ab. »Nicht springen, du tust dir weh!«
Trixi grinste höhnisch und genoss das böse Spiel anscheinend in vollen Zügen.
Da trat Finn von hinten an sie heran und tippte ihr auf die Schulter. Trixi zuckte zusammen. Eilends zog sie die Stöpsel aus den Ohren.
»Du hörst sofort damit auf!«, herrschte Finn sie mit eisiger Stimme an.
»Ich …«
»Sofort!«
Trixi übergab Finn mit gesenktem Kopf den Krebs, und Finn warf ihn über die Glasscheibe in das Gehege.
Der Otter jubelte. »Ich hab ihn! Weib, siehst du? Ich hab ihn doch gekriegt. Hab ich’s nicht gesagt? Niemand veräppelt Captain Caruso!«
Finns Miene, die für gewöhnlich verschmitzt und freundlich war, zeigte nun keinerlei Wohlwollen. »Du bist Trinas Schwester, richtig?«
Trixi schob trotzig das Kinn vor. »Wäre möglich.«
»Hör mit den Spielchen auf, Trixi! Das hier ist alles andere als spaßig«, sagte Finn schneidend. »Du hast ab sofort kein Besuchsrecht mehr im Zoo. Das heißt, du darfst nie wieder hierherkommen. Hast du das verstanden?«
Trixis Augen verengten sich, doch als Finn sich zu voller Größe aufrichtete und sie streng anblickte, begriff sie offenbar, dass sie verloren hatte. »Ja, ich habe verstanden.«
»Dann geh jetzt, und komm nie wieder.«
Trixi zögerte kurz, dann machte sie sich auf den Weg zum Ausgang.
Lilli und Jesahja bückten sich tief hinter den Busch, doch da hatte Trixi sie schon entdeckt. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch düsterer. »Habt ihr etwa alles mit angesehen?«
Lilli und Jesahja traten langsam hinter dem Busch hervor.
»Hat euch das Zusehen Spaß gemacht?« Trixis Stimme bebte. »Oder seid ihr sogar diejenigen, die den Pfleger auf mich gehetzt haben?«
»Tu nicht so, als hätten wir dir irgendwas getan!«, platzte Jesahja heraus, und Lilli rief: »Du hast ein Tier gequält! Wieso machst du das? Captain Caruso tut sich deinetwegen weh und blutet! Du bist so gemein!«
Trixi lachte böse. »Ist doch witzig, diese strohdummen Viecher zu ärgern. Dann langweilt man sich hier wenigstens nicht so.« Ihre Miene wurde wieder ernst. »Gibst du es zu, Lilli? Der Otter hat mich bei dir verpfiffen und du hast es brühwarm dem Pfleger weitergetratscht?«
»Das ist richtig.« Lilli konnte einfach nicht lügen.
Trixi lief dunkelrot an. »Das zahle ich euch heim, das schwöre ich. Das bekommt ihr doppelt und dreifach zurück!« Mit diesen Worten stürmte Trixi davon.
Lilli und Jesahja blieben schweigend zurück. Lilli wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Finn hatte Trixi zwar auf frischer Tat ertappt und nun durfte sie den Zoo nie wieder betreten und würde kein Tier mehr ärgern können. Aber Lilli wusste auch, dass Trixi es bitterernst meinte, wenn sie eine Drohung aussprach. Sie war sowieso wütend auf Lilli gewesen, und nun hatte sie einen neuen Grund, auf Rache zu sinnen.
Jesahja und Lilli waren in Gefahr.