Bao
Einige Stunden später saßen Lilli und Jesahja auf einer Mauer am Wegesrand. Beide waren nicht besonders gesprächig. Ihnen ging immer noch die Geschichte mit Trixi im Kopf herum. Sie wussten nur zu gut, wozu Trixi Korks fähig war und dass sie keinerlei Skrupel kannte.
»Da drüben ist Herr Pong«, bemerkte Jesahja nach einiger Zeit.
Da sah Lilli ihn auch. Herr Pong harkte den Boden eines Blumenbeets, in dem herrliche Rosen blühten. Lilli hatte die Rosen am Morgen, als niemand sie beobachtete, ein wenig mit Energie aufgetankt, und nun gediehen die Pflanzen auf wunderbare Weise.
Lilli hatte dies getan, um Herrn Pong aufzuheitern, doch wie sie bemerkte, war der Gesichtsausdruck des Gärtners alles andere als fröhlich. Lilli beobachtete den Chinesen für eine Weile gedankenverloren bei der Arbeit und bemerkte etwas Seltsames. Herr Pong hielt beim Harken immer wieder inne und starrte mit finsterem Blick hinüber zum Reptilienhaus, das gleich neben den Raubtiergehegen lag.
Lilli und Jesahja, die noch nie im Reptilienhaus gewesen waren, wunderten sich. Die Art, wie Herr Pong das Haus betrachtete, war merkwürdig. Er schien sich über irgendetwas Sorgen zu machen, doch gleichzeitig wirkte seine Miene regelrecht hasserfüllt und voller Abscheu.
»Der sieht aus, als würde er das Haus am liebsten kurz und klein schlagen«, stellte Jesahja trocken fest.
»Da kommt Bao!«, rief Lilli und deutete auf den chinesischen Jungen, der gerade den Weg entlangkam.
Bao hörte Lilli und sah, dass sie auf ihn zeigte. Er blickte bestürzt auf seine bunten Tigerschuhe, drehte sich um und ging fluchtartig in die entgegengesetzte Richtung.
»Er denkt, du hättest dich über seine Schuhe lustig gemacht«, folgerte Jesahja.
»Aber das stimmt doch gar nicht!« Lilli sprang von der Mauer und rannte Bao nach. Jesahja folgte ihr.
»Bao!«, rief Lilli, aber der chinesische Junge marschierte weiter, obwohl er sie hören musste. Erst als Lilli und Jesahja ihn eingeholt hatten, blieb er stehen. Bao vergrub die Hände tief in den Hosentaschen.
»Ich hab mich nicht über deine Schuhe lustig gemacht«, fiel Lilli mit der Tür ins Haus.
Bao schien zu überlegen, ob er antworten sollte. »Ist schon in Ordnung«, erwiderte er leise. »Alle machen sich über die Schuhe lustig. Ich bin daran gewöhnt.« Er scharrte verlegen mit dem Fuß im Schotter.
»Warum trägst du diese Schuhe?«, fragte Jesahja.
»Das kann ich nicht sagen.«
»Ist schon okay.« Lilli hob beschwichtigend die Hand. »Du musst es uns nicht erzählen.« Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie Bao sich fühlte. »Die Schuhe sind ja eigentlich egal.«
Ein überraschtes Lächeln erhellte Baos Gesicht. »Wirklich?«
»Ja, klar. Lass uns über was anderes reden.«
Baos Augen leuchteten auf. »Gern!«
Jesahja fragte neugierig: »Warum starrt dein Vater zum Beispiel immer so komisch zum Reptilienhaus rüber?«
Baos Lächeln erlosch. »Das kann ich euch auch nicht sagen.« Er blickte zu Boden. »Ich muss jetzt meinen Vater suchen.«
Lilli sah sich um. Herr Pong stand inzwischen nicht mehr da, wo er zuvor mit seiner Harke gearbeitet hatte. »Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt«, hielt sie Bao zurück. »Das ist Jesahja, und ich bin Lilli.«
Bao, der im Begriff gewesen war, zu gehen, überlegte es sich anders. »Du bist oft hier im Zoo«, stellte er fest und musterte Lilli schüchtern.
»Ja, ich arbeite nach der Schule hier. Ich bin Dolmetscherin, also Übersetzerin.«
»Was übersetzt du denn?«
»Das, was die Tiere sagen. Weißt du … ich kann mit Tieren sprechen.« Da Bao ständig im Zoo war, hielt Lilli es für das Beste, ihn sogleich einzuweihen. Früher oder später würde er es sowieso erfahren.
»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Bao schien seine Schuhe für einen Augenblick völlig vergessen zu haben.
»Ich zeig’s dir.« Lilli warf einen Blick nach links und rechts. Außer ihnen war niemand da. Sie breitete die Arme aus. Das war das Zeichen.
Aus den Bäumen flogen innerhalb kürzester Zeit mehrere Amseln, Zaunkönige, Spatzen und eine Drossel zu ihr herab. Sie landeten auf Lillis Armen und Schultern und zirpten fröhlich durcheinander.
Bao fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Das gibt’s doch gar nicht«, flüsterte er atemlos.
»Hallo du«, wandte sich Lilli an einen Spatz. »Weißt du, wo Baos Vater ist? Der Mann mit der Harke?«
»Harke?«, sang der Spatz. »Was ist eine Harke?«
»Ein Stock, mit dem man den Erdboden auflockert.«
»Oh, du meinst den Stock mit dem Blumenmann dran«, zwitscherte der Spatz. »Der ist bei den Streifen-Ponys.«
»Danke«, erwiderte Lilli freundlich. »Bao, dein Vater ist bei den Zebras.«
Bao schüttelte baff den Kopf. »Hat das etwa der Vogel gesagt?«
»Ja.« Nun erklärte Lilli den Vögeln, dass dies eine Ausnahme war und sie normalerweise erst abends, wenn alle anderen Menschen fort waren, zu ihr kommen durften. Dann bat sie die Vögel, wieder davonzufliegen, und die kleine Schar erhob sich in die Lüfte.
Bao konnte es noch immer nicht fassen. »Das ist ja der Wahnsinn! Kannst du auch mit Katzen sprechen?«
»Klar. Jesahja hat auch eine Katze.«
»Wir haben einen Perserkater«, erzählte Bao aufgeregt. »Sein Name ist Smoky. Seit einiger Zeit verlässt er das Haus nicht mehr. Früher war er gern draußen unterwegs, aber jetzt bleibt er immer zu Hause. Wir fragen uns, woran das liegt. Könntest du irgendwann mal mit ihm reden? Wir wohnen in dem grünen Haus gleich neben dem Zoo.«
»Ja, das kann ich gern machen.« Lilli freute sich, dass Bao seine Schüchternheit abgelegt hatte.
Bao sah auf seine Armbanduhr. »Ich muss zu meinem Vater. Er will nicht, dass ich lange allein im Zoo herumlaufe.«
Jesahjas Gesichtsausdruck verriet Lilli, dass ihm die Frage »Wieso nicht?« auf der Zunge lag. Aber er verkniff es sich, nachzuhaken.
»Ich gehe dann mal zu den Zebras.« Bao verabschiedete sich.
Lilli und Jesahja blickten ihm nach, wie er in seinen rot-bunten Tigerschuhen mit den gelben Bommeln davonstapfte, und Jesahja sagte: »Ich recherchiere heute Abend mal ein bisschen im Internet. Vielleicht finde ich ja etwas über diese seltsamen Schuhe heraus.«
Lilli nickte. Sie selbst hatte keinen eigenen Computer und hätte nicht im Traum gewusst, wie man irgendetwas im Internet recherchierte. Aber wenn es dort irgendeine Information gab, die sie der Lösung dieses Rätsels näherbrachte, dann würde Jesahja sie gewiss finden.