Shankar und Samira

Lillis zweiter Arbeitstag im Zoo begann anders als der vorherige. Ihr erster Tag war ein Samstag gewesen, deshalb hatte sie morgens mit der Arbeit anfangen können und die tägliche Besprechung der Pfleger miterlebt. Diesmal besuchte Lilli den Zoo aber erst am Nachmittag, nach der Schule. Frau Essig-Steinmeier hatte ihr gesagt, sie könne so oft kommen und so lange bleiben, wie sie wolle. Es gab keine festen Arbeitszeiten.

Lilli suchte auf den Pfaden zwischen den Tiergehegen nach Finn, damit er ihr sagen konnte, mit welchem Tier sie diesmal sprechen sollte.

Wie so oft versammelten sich schon nach kurzer Zeit einige Vögel in Lillis Nähe. Die Amseln, Rotkehlchen und Meisen folgten ihr von Baum zu Baum, während Lilli den Zoopfad aus Schotter entlangging. Ein paar neugierige Meisen hüpften schließlich vor Lilli auf den Weg, und ein vorwitziges Rotkehlchen ließ sich sogar auf Lillis Schulter nieder.

Lilli seufzte und blickte sich vorsichtig um. Im Augenblick waren kaum Zoobesucher in der Nähe. Ein Stück vor ihr schlenderte lediglich ein älteres Ehepaar.

»Könntet ihr mich bitte allein lassen?«, bat Lilli die Vögel mit gesenkter Stimme.

»Wieso denn? Warum das?«, zirpten die Meisen durcheinander, und einige hüpften trotzig auf der Stelle.

»Wenn andere Menschen sehen, dass ihr mir folgt, starren sie mich an und fangen an zu tuscheln«, erklärte Lilli flüsternd.

»Wir wollen nicht weg!«, zwitscherte das Rotkehlchen auf Lillis Schulter. »Du bist interessant.«

Lilli überlegte. »Wenn heute Abend alle Leute weg sind, rufe ich euch. Dann könnt ihr wieder zu mir kommen.«

Inzwischen war ein neugieriges Eichhörnchen an einem Baumstamm herabgeklettert. Es hörte Lilli ebenso gebannt zu wie die Vögel. Zu allem Überfluss ließ sich nun auch noch ein Schmetterling auf Lillis Kopf nieder.

»Jetzt ist es wirklich genug!«, sagte Lilli laut und schüttelte das Rotkehlchen und den Schmetterling ab. Das ältere Ehepaar war glücklicherweise schon zu weit entfernt, um sie zu hören. »Heute Abend rufe ich euch und breite die Arme aus. Das ist das Zeichen. Dann könnt ihr alle kommen und auf mir landen. Aber lasst mich bis dahin bitte in Ruhe.«

Die Vögel zogen sich murrend zurück und das Eichhörnchen fiepte: »Wann ist heute Abend? Dauert das noch lange?«

»Das ist, wenn es dunkel wird«, erklärte Lilli.

Das Eichhörnchen rief »Aha!« und verschwand wieder im dichten Laubwerk der Bäume.

»Dunkel ist es wohl eher bei dir im Kopf«, erklang es plötzlich hinter Lilli.

Lilli drehte sich erschrocken um. Vor ihr stand Trina, hämisch grinsend. Sie sah ihrer Schwester Trixi in diesem Moment zum Verwechseln ähnlich. »Redest du mit dir selbst, Dumpfbirne? Oder ist das wieder einer deiner Zaubertricks?«

Lilli hatte keine Lust, Trina zu erklären, mit wem sie gesprochen hatte. Deshalb schwieg sie.

»Besonders helle kannst du jedenfalls nicht sein«, höhnte Trina und verschränkte die Arme vor der Brust.

Lilli wünschte sich, Jesahja wäre bei ihr. Ihm wäre bestimmt eine schlagfertige Antwort eingefallen.

»Du sollst übrigens mit mir mitkommen. Anordnung von Oberst Essig«, sagte Trina und marschierte ohne ein weiteres Wort los.

Lilli rührte sich nicht. Hatte Frau Essig-Steinmeier Trina tatsächlich beauftragt, sie abzuholen? Was, wenn das eine Falle war?

Trina drehte sich nach ihr um. »Hast du etwa Schiss?«

Da trat Finn neben Trina auf den Pfad. »Lilli, kommst du nicht? Wir müssen uns um Samira kümmern.«

Lilli setzte sich in Bewegung und schloss mit ein paar schnellen Schritten zu Finn und Trina auf. Wenn Finn dabei war, musste sie sich keine Sorgen machen.

Finn sagte zu Trina: »Ich gehe allein mit Lilli zum Gehege. Du wirst bei der Säuberung des Reptilienhauses gebraucht.«

Trina verzog unwillig das Gesicht. »Ich soll schon wieder Putzfrau spielen?«

»Hast du ein Problem damit?« Finn blieb stehen. »Dann hast du dir den falschen Beruf ausgesucht.«

Trinas Augen verengten sich. Sie schien abzuwägen, ob sie sich einfach weigern konnte. Finn war schließlich nicht ihr Chef, sondern nur ein anderer Auszubildender.

Finn sah ihr fest in die Augen, und Trina senkte den Blick. »Nein, ich habe kein Problem damit«, würgte sie hervor, und in ihrem Gesicht erkannte man die unterdrückte Wut. Sie stapfte mit zornigen Schritten davon.

Finn blickte ihr nach, und als er weitersprach, schwang in seiner Stimme eine Spur Misstrauen mit. »Irgendwie ist mir wohler, wenn Trina nicht dabei ist.«

Lilli hätte am liebsten heftig genickt, ließ es dann aber bleiben. »Wer ist Samira?«, fragte sie stattdessen neugierig.

»Unsere Tigerin. Sie scheint seit einiger Zeit nicht mehr die Alte zu sein. Sie wirkt auf mich, als ob sie Schmerzen hätte. Aber sicher sind wir uns nicht. Vielleicht kriegst du ja was raus.«

»Ich werde es versuchen.« Lilli folgte Finn durch den Zoo bis zu den Raubtierkäfigen. Wieder kamen sie an dem schwarz gefleckten Leoparden vorbei. Die zierliche Raubkatze lag auf dem Ast eines Baumes, dem Gitter recht nah, und betrachtete Lilli interessiert. Ihr langer Schwanz schwang langsam hin und her.

»Hallo«, sagte Lilli leise im Gehen. »Wer bist du?«

»Ich bin Feodor«, antwortete der Leopard. »Mir ist langweilig. Hier gibt es nichts zu jagen.«

»Verstehe.« Lilli hätte gern länger mit dem Leoparden gesprochen, aber Finn war schon weitergegangen. Sie folgte ihm so schnell wie möglich.

Vor dem Tigergehege hielten sie an. Samira, die Tigerin, lag vor der hinteren Wand ihres Käfigs. Anscheinend schlief sie.

»Gutes Timing«, sagte Finn mit einem Blick zum Löwengehege, das direkt neben dem der Tigerin lag. »Shankar zieht gerade seine Show ab. Die Leute sind also abgelenkt.«

Lilli folgte Finns Blick. Der Löwe stand wieder wie eine Statue auf dem Felsen, den Kopf stolz erhoben. Der Wind strich durch seine buschige Mähne und sein sandfarbenes Fell glänzte in der Nachmittagssonne wie Gold. Lilli dachte bei sich, dass sie noch nie ein schöneres Tier gesehen hatte. Trotzdem überkam sie wieder das Gefühl, dem Löwen ginge es nicht gut. In seinen Augen lag ein wehmütiger Ausdruck, eine starke Sehnsucht, die außer ihr niemand zu bemerken schien.

»Er ist traurig«, murmelte Lilli nachdenklich.

»Wer? Shankar?«

Lilli nickte. »Kannst du mir sagen, warum er da oben auf dem Felsen steht?«

Finn strich sich ratlos über sein hellbraunes Haar, das er auch an diesem Tag wieder zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. »Tja, ich dachte, du könntest uns das irgendwann erklären. Wir haben keinen Schimmer, warum er sich so in Pose schmeißt. Wie du siehst, sind die Besucher allerdings ganz begeistert von Shankars Anblick. Schau dir mal an, wie viele Leute vor seinem Käfig stehen!«

Vor Shankars Gehege drängelten sich zahllose Besucher. Jeder schien den Löwen fotografieren oder ihn einfach nur ansehen zu wollen. Manche Leute standen mit offenem Mund da.

»Zum Glück ist dadurch gerade niemand hier bei Samira«, sagte Finn. »Sobald Shankar auf den Felsen steigt, haben alle nur noch Augen für ihn. Da könnte ein zweiköpfiger Marsmensch vorbeispazieren – das würde niemandem auffallen. Wir können also ganz in Ruhe mit Samira reden.«

Die Tigerin hatte geschlafen, als Finn und Lilli zu ihrem Käfig kamen. Doch sobald sie Lillis Stimme hörte, stellte sie ein Ohr auf. Kurz darauf folgte das zweite, und dann sprang sie auf.

»Wieso verstehe ich, was du sagst?« Samira eilte ans Gitter und musterte Lilli mit wachem Blick. »Du bist ein Mensch – wieso kann ich dich verstehen?«

Die tiefe, volltönende Stimme der Tigerin klingelte Lilli regelrecht in den Ohren. Sie war es nicht gewöhnt, mit Raubkatzen zu sprechen, und musste sich erst an den warmen, leicht grollenden Klang gewöhnen. »Hallo, ich bin Lilli«, erklärte sie der Tigerin und hielt die Hand in die Höhe, damit Samira ihren Geruch aufnehmen konnte.

»Vorsicht!«, warnte Finn.

Lilli ahnte, was er dachte. Samira war eine Tigerin mit scharfen Reißzähnen und Krallen, und kein friedlicher Elefant. »Sie wird mir nichts tun«, versicherte sie. Woher sie ihre Sicherheit nahm, wusste sie selbst nicht. Sie spürte einfach, dass für sie von der Tigerin keinerlei Gefahr ausging.

Sie trat näher an das Gitter heran, und die Tigerin reckte schnuppernd die Nase in die Luft. »Samira«, begann Lilli, »du kannst mich verstehen, weil ich eine besondere Gabe habe. Ich kann mit Tieren sprechen.«

Samiras Ohr zuckte. Sie blickte Lilli mit ihren klugen Augen lange an. Dann sagte sie: »Vielleicht kannst du uns helfen.«

»Uns?«

»Ich habe eben gehört, wie du über Shankar gesprochen hast. Du hast recht. Er ist traurig.«

»Aber warum denn?« Lilli trat noch näher.

Finn, der gleichzeitig Lilli, die Raubkatze und die Zoobesucher im Auge behielt, zischte: »Pass auf!« Doch dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sorry. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen, dass Raubtiere dir nichts tun.«

Lilli nickte.

»Was sagt sie?«, fragte Finn.

»Ich übersetze es dir später.« Lilli lehnte ihren Kopf gegen die Gitterstäbe. »Samira, warum ist Shankar traurig?«

»Wir sind beide traurig«, offenbarte Samira, »weil wir nicht zusammen sein können.«

Lilli runzelte die Stirn. »Ihr möchtet zusammen sein? Seid ihr etwa ineinander verliebt?«

Samira sah sehnsüchtig zum Revier des Löwen hinüber. »Ja, das kann man so sagen. Shankar lebt schon seit einiger Zeit im Käfig neben mir. Wir mochten uns von Anfang an sehr, obwohl wir einander nur durch diese Stäbe sehen können.«

»Aber sprechen Tiger und Löwen denn die gleiche Sprache?«

»Alle Raubkatzen verstehen sich untereinander, auch wenn die einzelnen Sprachen ein wenig unterschiedlich sind.«

Finn schaltete sich ein. »Shankar guckt immer wieder zu uns rüber. Er hat wohl bemerkt, dass wir mit Samira reden. Die Zoobesucher kriegen aber nichts mit. Sie sind dermaßen fasziniert von Shankar, dass sie den Blick nicht von ihm abwenden können.«

Lilli übersetzte Samira, was Finn gesagt hatte.

»Ja, Shankar ist wirklich sehr schön«, stellte Samira mit weicher Stimme fest. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich ihn so mag. Er ist wirklich ein lieber Kerl. Ich wünschte nur, er würde aufhören, sich ständig derart in Pose zu werfen.«

»Weswegen macht er das? Will er bewundert werden?«

»Ja, er ist ein bisschen eitel und zieht gern die Show vom König der Tiere ab.«

Wie aufs Stichwort veränderte Shankar in diesem Moment seine Haltung. Er fauchte laut und fuhr mit der Pranke durch die Luft, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Angreifer. Die Menschen vor seinem Gehege raunten beeindruckt und ihre Kameras klickten wie wild.

Samira betrachtete Shankar liebevoll. »Weißt du, er hat dieses Heldengehabe gar nicht nötig. Ich mag ihn nicht wegen seines tollen Aussehens oder wegen seiner Showeinlagen. Ich mag ihn, weil er ein gutes Herz hat, und weil er mir abends, wenn alle Menschen weg sind, von Afrika erzählt. Ich bin in einem Zoo geboren worden, aber Shankar hat früher, bevor er gefangen wurde, in der Savanne gelebt.«

Lilli hörte aufmerksam zu. Samira schien Shankar sehr gern zu haben. Wenn sie von ihm sprach, wurde ihre Stimme sanfter und ihre Augen blitzten. Lilli konnte sich keinen Grund vorstellen, warum die beiden nicht in einem gemeinsamen Gehege leben konnten.

»Ich werde versuchen, euch zu helfen«, versprach sie der Tigerin entschlossen. »Ich gehe sofort zur Direktorin. Sie trifft hier die Entscheidungen.«

»Danke!«, seufzte die Raubkatze aus tiefster Tigerbrust.