Kapitel 35
Generation Zuseher

Zu Beginn des Films Fight Club fragt Brad Pitt seinen Freund Edward Norton: »Was weißt du über dich, wenn du dich noch nie geprügelt hast?« Dann fordert er ihn auf: »Ich will, dass du mich so hart schlägst, wie du nur kannst.« Sowohl der Film als auch das Buch von Chuck Palahniuk sind Klassiker – vor allem deshalb, weil Palahniuk es geschafft hat, dass Männer wieder Bücher lesen.

Du musst dich mindestens ein Mal im Leben geprügelt haben.

Nun saust die Faust an meinem Gesicht vorbei und trifft den rechten Oberarm. Das Adrenalin lindert den Schmerz, doch es kommt bereits eine zweite Faust angerauscht. Der Kopf schnellt nach hinten, der Kiefer knackst, mindestens zwei Zähne wackeln. Einer meiner Freunde steht an der Hauswand mit einer stark blutenden Platzwunde unter dem linken Auge, ein anderer fällt um, als hätte ihm Mike Tyson einen linken Haken verpasst. Zwei meiner Freunde, jeder von ihnen für sich eine Ein-Mann-Naturgewalt, stürzen sich auf den Initiator dieser Schlägerei, einen menschgewordenen Baumstamm.

Was weißt du über dich selbst, wenn du dich nie geprügelt hast?

Wissen gegen den Knast

Wer bei gemeiner Gefahr nicht
Hilfe leistet, der kann mit einer
Freiheitsstrafe bestraft werden.
(§ 323 StGB)

Auf diesem Platz findet eine der skurrilsten Schlägereien statt, an denen ich jemals beteiligt war, weil es eigentlich nur eine Mannschaft gibt, die sich gerade selbst eliminiert. Die anderen stehen herum und grinsen. Hin und wieder feuert einer an.

Was man über sich und die Welt weiß, wenn man sich prügelt: Es gibt immer Leute, die gerne zusehen.

In diesem Fall gibt es einen Initiator der Schlägerei, zwei Helfer – und vier Leute, die eingreifen. Dazu 15 Zuseher draußen und noch einmal zehn Zuseher, die sich in einer Kneipe eingeschlossen haben und durch das Fenster gaffen. Könnte sein, dass diese Aufteilung recht repräsentativ ist dafür, wie es zugeht in Deutschland.

Unserer Gesellschaft wird immer wieder vorgeworfen, dass die Menschen wegsehen würden. Dass uns die Probleme anderer nicht interessieren. Dass wir einfach weitergehen. Warum entstehen nach Autounfällen regelmäßig Staus? Natürlich sind wir schockiert. Aber wir sehen nicht weg.

Was weißt du über dich, wenn du dein Leben lang nur Zuschauer bist?

Beantworte diese Frage ehrlich für dich selbst: Wenn in der U-Bahn ein Mädchen von vier Schlägern angegriffen wird, würdest du eingreifen?

Vor diesem Abend war meine Antwort: Ich hätte viel zu viel Angst um mein eigenes Leben, um mich einzumischen. Ich würde vielleicht rufen, dass sie aufhören sollen. Aber bei einer ernsthaften Konfrontation wäre ich wohl zu feige, um wirklich etwas zu unternehmen.

Es ist der erste Weihnachtsfeiertag, andere Menschen besuchen an diesem Tag Freunde und Familie, sie singen Lieder und tauschen Geschenke. In meinem Freundeskreis wird Beerpong gespielt, eine Mischung aus Basketball, Tischtennis und Saufgelage. Es ist das Spiel der Generation Dorian Gray, deren Vertreter die Peter-Pan-Pille geschluckt haben und mit 32 Jahren immer noch pubertär sein müssen. Beim Beerpong wirft man Tischtennisbälle in mit Bier gefüllte Plastikbecher und trinkt diese anschließend aus. Es gibt Weltmeisterschaften in dieser Sportart, in der es letztlich nur darum geht, alle Teilnehmer betrunken zu machen.

Das Turnier ist gerade vorbei, als sich ein Rudel bildet. Offensichtlich hat ein alkoholisierter Spieler einen anderen alkoholisierten Spieler angerempelt, der gegen die alkoholisierte Freundin eines alkoholisierten Spielers getorkelt war. Der alkoholisierte Partner glaubt, seine alkoholisierte Freundin am besten dadurch zu verteidigen und zu rächen, indem er Rempler und Gerempeltem einen Schwinger verpasst. Sein alkoholisierter Bruder hilft ihm.

Innerhalb von einer Minute ist der Streit vorbei, weil Team A (alkoholisierter Freund, alkoholisierter Bruder und alkoholisierte Freundin) und Team B (Rempler und Angerempelter) sofort getrennt werden. Team A wird nach draußen geleitet, Team B durch den Hinterausgang nach Hause geschickt. Alles ist ruhig.

Nach fünf Minuten erinnert sich der alkoholisierte Freund – nennen wir ihn von nun an Prügler –, dass seine Freundin angerempelt worden ist, und beschließt, sie nochmals zu rächen. Er will zurück in die Kneipe, stürmt auf seine Freunde am Eingang zu und schlägt wild um sich. Er trifft seinen großen Bruder und verpasst ihm einen Cut unter dem linken Auge.

Mit den Augen eines Boxers, der zu oft getroffen worden ist, wendet er sich nun mir zu. Seine Halsschlagader steht kurz vor der Eruption, seine Muskeln sind angespannt, dass das Hemd zu zerreißen droht. Fehlt nur noch, dass er grün anläuft, dann hätte er sich komplett von Dr. Bruce Banner in Hulk verwandelt. Er will mir einen Schwinger verpassen – trifft aber nur den rechten Oberarm.

Was würdest du machen, wenn ein Freund angegriffen wird?

Uli Hoeneß hat eine Rede gehalten anlässlich des Todes von Dominik Brunner, der 2011 versucht hatte, Kinder vor einer Bande von Schlägern zu beschützen, und deshalb gestorben war. Hoeneß sagte: »Ein Mann, der Kindern helfen wollte, die beraubt werden sollten, wurde von brutalen Schlägern zu Tode gebracht. Es war schockierend, dass viele Passanten dieses Drama miterlebt und nicht aktiv eingegriffen haben. Wir alle können in derartige Situationen kommen, und dann wären wir froh, wenn jemand wie Dominik Brunner helfen würde. Deshalb ist er für uns ein Vorbild für Zivilcourage und praktizierte Nächstenliebe. Wir verneigen uns vor einem Menschen, der sein Leben gegeben hat, um andere, in dem Fall Kinder, zu schützen.«

Einer meiner Freunde, der aufgrund seiner Statur »Mugel« (für halb Mensch, halb Kugel) genannt wird, bringt den Prügler für einige Sekunden unter Kontrolle. Dann sieht er kurz weg – und fängt sich einen Schwinger, der ihn umfallen lässt, als wäre er ein Baum in der kanadischen Wildnis, der gerade von der Axt eines 120-Kilo-Holzfällers den finalen Hieb verpasst bekommen hat. Er fällt gegen eine Hauswand und schlägt sich seinen Kopf auf.

Nach zehn Minuten drücken die beiden Ein-Mann-Naturgewalten den Prügler zu Boden. Dann kommen Polizei und Notarzt.

Zusammenfassung: Team B hat sich nach einer kurzen Rangelei verabschiedet, während Team A sich selbst ausgelöscht hat.

Die Statistik für den Prügler:

– Feinde verletzt: null.

– Freunde verletzt: zwei

Die beiden Polizisten sehen sich kurz um, dann schicken sie alle nach Hause. Mugel und Prüglers Bruder werden in den Krankenwagen gebracht. Der Polizist sagt: »Gehen Sie nach Hause, und schlafen Sie Ihren Rausch aus!«

Ich würde gerne wissen, ob ich Mugel und den Bruder des Prüglers bald aus dem Krankenhaus abholen kann. Antwort des Polizisten: »Das geht Sie überhaupt nichts an.« Dann sagt er zu seinem Kollegen, dass es an der Zeit sei zu fahren. Ich habe während meines Projekts zahlreiche Polizisten kennengelernt: Die meisten waren überaus kompetent, freundlich und hilfsbereit. Mir ist klar geworden, dass viele einen schwierigen und gefährlichen Job haben, sich für ihre Mitmenschen einsetzen und sich stets am Rande der Belastungsgrenze bewegen.

Diese beiden waren einfach nur arrogant.

Ich bin kurz versucht, dem Polizisten ganz ehrlich zu sagen, was ich von ihm halte, doch ich erinnere mich, dass es bei diesem Projekt nicht darum geht, 40 Tage nicht zu lügen, sondern ein Jahr lang das Gesetz zu befolgen.

Im Krankenhaus versichern Mugel und der Bruder des Prüglers, dass sie hingefallen seien – doch der Arzt erwidert sofort: »Solche Wunden kommen nicht vom Fallen, sondern von Schlägen!« Das vermerkt er auch in seinem Bericht.

Und nun? Alles wieder gut?

In der Zeitung zwei Tage später steht nichts von der Schlägerei, sondern nur von der Ruhestörung, die von einem Nachbarn der Kneipe angezeigt wurde, dazu ein Bericht darüber, dass die Polizei einen torkelnden Mann hatte nach Hause bringen müssen. Die Schlägerei ist nie passiert.

Wissen gegen den Knast

Es gibt keine »Beamtenbelei-
digung« – es macht keinen Unter-
schied, ob der Beleidigte ein
Beamter ist oder nicht. (§185 StGB)

Im zweiten Teil seiner Rede führt Uli Hoeneß aus: »Wir alle in der Gesellschaft sind aufgerufen, da nicht still zu sein. Wir müssen uns alle gegen Gewalt wehren und vor allen Dingen gegen das Wegsehen. Wir müssen uns solidarisieren in der Gemeinschaft, dass solche Leute nicht noch ermuntert werden, dass ihnen nichts passieren kann.«

Mugel, der immer noch eine ansehnliche Wunde am Kopf hat, sagt: »Ich sage nichts!« Vom Bruder des Prüglers bekomme ich eine Facebook-Nachricht: »Servus Jürgen, das Gerücht, dass meine Platzwunde von meinem Bruder stammt, stimmt so nicht, weil ich dazwischen bin, wie er die Freundin von meinem Bruder geschubst hat, und dann am Boden lag und mir die Platzwunde dort zugezogen habe.« Ein anderer sagt: »Ich kann dazu nichts sagen, weil ich nichts mitbekommen habe.« Und noch eine Antwort: »Bringt doch nichts, da steht doch am Ende Aussage gegen Aussage.«

Was weißt du über dich, wenn du prügelnde Menschen schützt?

Wissen gegen den Knast

Ein Angeklagter kann auch bei
»Aussage gegen Aussage« ver-
urteilt werden – wenn das Gericht
ihm nicht glaubt. (§ 261 StPO)

Im Strafgesetzbuch heißt es unter Paragraf 223: »(1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.«

Von 30 Menschen ist einer bereit, mit mir zur Polizei zu gehen – ein zweiter ist bereit, nach einer Anzeige auszusagen.

Zufälligerweise haben die beiden Beamten Dienst, die am Abend der Schlägerei zehn Minuten anwesend waren.

»Was wollen Sie denn?«

»Ich würde gerne eine Anzeige aufgeben wegen der Schlägerei am ersten Weihnachtsfeiertag.«

Die beiden Polizisten sehen sich erst gegenseitig an, dann blicken sie zu mir. Sie haben einen Gesichtsausdruck, als hätte ich ihnen gerade erzählt, die Weltherrschaft übernehmen zu wollen.

»Aha«, sagt einer.

»Aha«, sagt der andere.

»Ich habe gesehen, wer es getan hat – und mein Freund hier hat auch alles beobachtet.«

Ich deute hinüber zu meinem Kumpel, der nickt.

»Dieser Mensch hat bereits wiederholt andere Menschen verletzt – muss sich erst jemand ernsthaft verletzen, bevor jemand etwas unternimmt?«

Wieder sehen die beiden Beamten sich an. Diesmal mit einem Ausdruck, der verrät: Ja, da wird sich wohl einer verletzen müssen, bevor wir was machen.

Einer sagt: »Da werden Sie nicht weit kommen. Körperverletzung ist ein Antragsdelikt – und solange die beiden Geschädigten keinen Antrag stellen, wird da wenig passieren.«

Unter Paragraf 230 des Strafgesetzbuchs steht: »(1) Die vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 und die fahrlässige Körperverletzung nach § 229 werden nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.«

Der Polizist sagt: »Von öffentlichem Interesse können wir hier ja nicht gerade sprechen.«

In Polizistenkreisen ist das offensichtlich ein ganz hervorragender Gag, weil auch der andere Polizist zu lachen beginnt.

»Aber es gibt Zeugen, die alles gesehen haben!«

»Ich habe den einen schon am Abend vernommen – der hat gesagt, dass er gefallen sei. Den anderen habe ich vorhin angerufen: Er sagt auch, er sei gefallen – natürlich wird der nicht gegen seinen Bruder vorgehen.«

Wissen für Nichtjuristen

Es gibt entgegen der Darstellung
in vielen Fernsehserien keine
Pflicht für Ärzte, Schusswunden
bei der Polizei zu melden. Ein
Arzt muss nur schwere Infektions-
krankheiten dem Gesundheits-
amt melden. (§ 6 Infektionsschutz-
gesetz)

»Und der Krankenhausbericht, in dem vermerkt ist, dass die Wunden keinesfalls vom Fallen stammen können, sondern aus Schlägen resultieren?«

Die beiden sehen sich an. Sie haben offensichtlich keine Ahnung, wovon ich spreche.

»Wenn ich doch Anzeige erstatte? Dann müssen die doch aussagen!«

Die beiden Beamten sehen sich wieder an – ich bin mittlerweile der Meinung, dass sie telepathisch kommunizieren, bevor einer mir eine Antwort gibt.

»Dann schlägt der Staatsanwalt ein Ei drüber!«

Heißt übersetzt: Den Staatsanwalt interessiert meine Anzeige ungefähr so, als würde in China ein Sack Reis umfallen. Ein Sack Reis scheint auch für die Polizisten interessanter zu sein als die Schlägerei.

»Was für ein Interesse haben Sie eigentlich daran, Anzeige zu erstatten?«

»Ich habe das Turnier mit Freunden organisiert.«

Als ich das Wort »organisiert« sage, benehmen sich die beiden Polizisten wie zwei Erdhörnchen, wenn das Wachhörnchen bellt.

»Ach, Sie gehören dazu? Dann geben Sie doch gleich mal Ihre Personalien her!«

»Ich arbeite nicht in der Kneipe, sondern habe nur bei der Vorbereitung des Turniers geholfen!«

»Lassen Sie mal Ihre Daten da. Nur vorsichtshalber!«

Er grinst, als hätte ihm im Restaurant jemand nach einem Fünf-Gänge-Menü gesagt, dass das Haus die Rechnung übernimmt.

Ich muss meinen Ausweis vorzeigen, einer der Beamten schreibt meine Adresse und Telefonnummer auf. Ich muss erklären, was Beerpong ist und warum man so etwas am ersten Weihnachtsfeiertag spielt.

»Ein schönes Spiel ist das.«

Würde ich mit den Polizisten sprechen wie sie mit mir, hätte ich eine Anzeige wegen Beleidigung am Hals. Sie tun so, als wäre ich ein Kleinkind. Dann schicken sie mich fort.

Vielleicht drückt der Begriff »Beamtenbeleidigung« auch aus, wie sich viele Beamte gegenüber anderen Menschen benehmen.

Enttäuscht verlasse ich die Dienststelle der Polizei. Ich höre nie wieder etwas.

»Das war ein klassisches Beispiel dafür, wie man eine Anzeige abwimmelt«, sagt mein Begleiter. Er muss es wissen, denn er ist selbst Polizist. »Das hat die überhaupt nicht interessiert, die wollen ihre Ruhe haben, weil sie wissen, dass die Ermittlungen ohnehin nicht viel bringen.«

Die Menschen verfügen über ganz ausgezeichnete Augen, wenn es um Verbrechen geht. Wegsehen ist nicht das Problem unserer Gesellschaft. Zusehen und nicht eingreifen ist das Problem.

Als sich im Jahr 2012 die Berichte über brutale Schlägereien häufen, muss Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ein Interview in der Welt geben. Er spricht von einem vermehrten Einsatz von Polizeistreifen (»Je mehr, desto besser«), er spricht von einer stärkeren Videoüberwachung (»mehr Kameras«), er spricht von einer besseren Zusammenarbeit von Justiz und Innenministerium (»Kommunikation verbessern«).

Er sagt nicht: Wir alle müssen darauf aufpassen, dass unseren Mitmenschen nichts passiert! Wir sind füreinander verantwortlich!

Ich kann die Frage, ob ich eingreifen würde, wenn ein kleines Mädchen in der U-Bahn angegriffen wird, immer noch nicht beantworten. Ich weiß nicht, ob ich mein Leben oder meine Gesundheit gefährden würde – oder ob ich in diesem Moment vor lauter Angst dastehen würde, als wäre ich in einem Eisblock gefangen.

Aber ich wünsche mir mittlerweile, dass ich den Mut haben würde, nicht wegzulaufen und nicht zuzusehen, sondern aktiv zu werden.

Ich will kein Beobachter sein. Ich möchte ein Eingreifer sein.

Und du? Was bist du?