Kapitel 7
Gesetzesbrecher I: Der Pokerspieler

»Das war ein schöner Abend! Wenn ihr mir nun bitte mein Geld zurückgeben würdet, ich gehe nämlich nach Hause. Es war wunderbar mit euch!«

So einen Satz darf ein Mensch normalerweise nur sagen, wenn er eine Pistole oder wenigstens ein Messer in der Hand hält.

Meine Freunde gucken verwundert, jeder auf seine Weise. Niko sieht mich an, als hätte ich ihm gesagt, dass er künftig nie wieder ein Fußballspiel im Stadion ansehen darf. Bernd guckt, als würde er versuchen, das kniffligste Rätsel aller Zeiten zu lösen. Die anderen blicken, als hätte gerade jemand einen wunderbaren Witz erzählt, nur leider die Pointe vergessen.

»Ich weiß schon, dass ich Geld verloren habe – aber das kann ich mir jetzt zurücknehmen, und ihr könnt rein gar nichts dagegen tun. Wenn ihr mir also einfach die 45 Euro zurückgeben würdet, die ich verloren habe, dann wäre das eine prima Sache.«

Noch mal: So was kann man nur mit Pistole sagen.

»Echt lustig, Jürgen«, sagt einer, »aber Spielschulden sind Ehrenschulden.«

Ich grinse nur: »Ganz genau, es sind nur Ehrenschulden, keine rechtlichen Schulden. Vor Gericht habt ihr keine Chance, das Geld einzuklagen.« Ich habe keine Pistole in der Hand, aber das Recht auf meiner Seite – und das kann auch eine recht beeindruckende Waffe sein.

Wissen für Nichtjuristen

Wett- und Spielschulden sind nicht
verbindlich, niemand kann ge-
zwungen werden, Geld zu bezah-
len. (§ 284 StGB, § 762 BGB)

Öffentliches Glücksspiel ist in Deutschland strafbar, wenn keine behördliche Genehmigung wie etwa bei Spielbanken vorliegt. Die Pokerrunde im Wohnzimmer eines lieben Freundes ist öffentlich, weil die Einladung über Facebook an einen riesigen Kreis erfolgte und darin sogar aufgefordert wurde, neue Spieler mitzubringen. Von einer geschlossenen Gesellschaft kann keine Rede sein. Gespielt wird mit Chips, abgerechnet und bezahlt wird am Ende des Abends. Die Einsätze werden derweil in einem Koffer aufbewahrt. Was die anderen von mir gewonnen haben, ist die Beute aus einer Straftat.

Das teile ich den anderen mit.

»Jetzt spinnt er komplett«, sagt einer.

»Ich stelle mir sogar die Frage, ob es überhaupt unehrenhaft wäre, wenn ich meine Spielschulden nicht bezahlen würde – schließlich ist das eine illegale Veranstaltung. Und da halte ich es doch für ehrenhaft, wenn ich den Abend in vernünftige Bahnen lenke, indem ich alle auffordere, ihren vermeintlichen Gewinn zurückzuzahlen. Damit würde ich die Runde legalisieren, indem wir sie als Training ohne Einsatz und Gewinn betrachten.«

Ralf hilft mir – schließlich hat auch er einen ordentlichen Batzen Geld verloren: »Das ist die beste Idee, die der Schmieder jemals hatte!«

Ralf und ich klatschen uns ab – doch Kai springt auf und läuft zum Pokerkoffer, in dem das Geld aufbewahrt wird. Er nimmt den Koffer in einen Klammergriff, den ich zuletzt von Hulk Hogan bei Wrestlemania VI gesehen habe. Er sieht aus wie ein Kleinkind, dem mitgeteilt wurde, dass es sein Lieblingsspielzeugauto dem Nachbarskind schenken muss. Er ist offensichtlich wild entschlossen, das Geld notfalls mit seinem Leben zu verteidigen; er sieht aus wie eine New Yorkerin beim Schlussverkauf von Winterstiefeln.

Uli springt ihm zur Seite, wie eine New Yorkerin ihrer Freundin beispringt, die gerade um ein Paar Manolo Blahniks kämpft.

»Du hast verloren, du bezahlst«, sagt Uli und wirkt dabei wie der Türsteher einer Dorfdisco, der einem Jugendlichen mitteilt, dass er als Eminem-Lookalike mit Baseballmütze und Turnschuhen keine Chance auf Einlass habe.

»Ich werde mir nun den Koffer nehmen und dann das Geld herausholen«, sage ich. Beim Üben vor dem Spiegel ein paar Stunden vorher hatte ich den Eindruck, dass dieser Satz cool und bestimmt ankommen müsse – wie beim Protagonisten eines Quentin-Tarantino-Films oder bei Robert de Niro in Taxi Driver. In Wirklichkeit wirke ich recht lächerlich, so wie jeder lächerlich wirkt, der im wirklichen Leben versucht, was nur im Film oder in Büchern funktioniert.

»Das Einzige, was du Vollidiot bekommst, ist eine Tracht Prügel, wenn du hierherkommst, du Penner!«

»Jetzt hast du mich beleidigt und auch bedroht. Und solltest du mich tatsächlich verprügeln, dann wäre das vorsätzliche Körperverletzung.«

Wissen gegen den Knast

Für Kampfsportler gelten die glei-
chen Regeln wie für jeden anderen
Menschen – das gewählte Vertei-
digungsmittel muss »erforderlich
und geboten« sein. Ohne Notwehr-
situation darf niemand körperliche
Gewalt anwenden, ob Kampfsport-
ler oder nicht. (§§ 223, 224 StGB)

Kai ist Kampfsportler. Viele Menschen sind der Meinung, dass jemand wie er seine möglichen Gegner auf ihre Fähigkeiten hinweisen müsste. Das stimmt jedoch nicht.

Uli und Kai sehen sich verwundert an.

»Ich kann auch vor Gericht gehen und dafür sorgen, dass ich nicht bezahlen muss, ich habe das Gesetz eindeutig auf meiner Seite.«

Ich gehe auf Kai zu, nehme mir ruhig den Koffer, öffne ihn und nehme das Geld heraus. Ich nehme mir meinen Teil und gebe Ralf das Geld, das er an diesem Abend verloren hat.

»Nein, will ich nicht«, sagt Ralf, »es wäre zwar eine lustige Idee, aber wenn ich verliere, dann bezahle ich auch. Dieses Mal bist du allein, Schmieder.«

Ich nehme mein Geld und gehe nach Hause. Während der Heimfahrt bekomme ich eine SMS. Uli teilt mir mit: »Dir ist schon klar, dass du auf Lebenszeit von den Pokerrunden ausgeschlossen bist. Außerdem betrachte ich unsere Freundschaft als beendet. So etwas habe ich von einem Freund nicht erwartet. Viel Spaß mit deinem Gesetz-Projekt!«

Da hält man sich an das Gesetz – und schon hat man einen Freund weniger.

Ich vergesse mein schlechtes Gewissen, weil ich den Abend als Startschuss dafür nutzen will, mich mit Gesetzesbrechern zu treffen: mit professionellen Pokerspielern, Drogendealern, Huren, Betrügern, Schwarzarbeitern. Weil ich selbst nicht in ausreichendem Umfang gewisse Gesetze breche, will ich von diesen Menschen erfahren, warum sie das tun. Ich will wissen, warum sie diesen Weg eingeschlagen haben, was sie von der deutschen Gesetzgebung halten und wie sie damit umgehen.

Warum machen diese Menschen das?

Ich treffe mich zunächst mit einem professionellen Pokerspieler, der seit fünf Jahren von der Zockerei lebt. Kennen Sie die Pokerspieler aus Filmen? Steve McQueen in Cincinnati Kid oder Mel Gibson in Maverick oder Paul Newman in The Sting? Kein Pokerspieler ist wie diese Figuren.

Pokerspieler tragen bei öffentlichen Auftritten manchmal einen Anzug, eine Krawatte und ein Einstecktuch – aber man sieht sogleich, dass sie sich in diesen Klamotten so unwohl fühlen wie Angela Merkel im Trainingsanzug. »Ein Mann im Anzug sieht immer ein bisschen aus wie James Bond«, sagt meine Mutter gerne. Das ist gelogen. Viele Männer im Anzug sehen ein bisschen aus wie Heinz Erhardt.

Heutzutage wird ohnehin nicht mehr in feinen Casinos oder in den Hinterzimmern von Saloons um das große Geld gespielt, sondern im Internet. Die Spieler tragen keine Anzüge und rauchen keine dicken Zigarren, an der Bar wartet auch keine hübsche Frau mit Cocktail. Sie tragen Jogginganzug und Brille, in der Küche wartet die Mutter mit dem Abendessen.

Wissen gegen den Knast

Das Veranstalten und das Vermit-
teln öffentlicher Glücksspiele im
Internet sind verboten. (Glücks-
spielstaatsvertrag, § 4, Sektion 4)
Der Glücksspieländerungsstaats
vertrag wurde nach einer Interven-
tion der EU noch nicht ratifiziert.

In Deutschland pokern etwa 600000 Menschen regelmäßig im Internet. Alle illegal. Oder zumindest in einem Graubereich des Rechts.

Sie geben sich Namen wie »Zocker68«, »All-In-King« oder ganz bescheiden »DerBeste79«. Sie sind Kunden der lukrativsten Banken weltweit. Freilich veröffentlichen die Online-Casinos keine Zahlen, meine Recherchen werden abgeblockt mit dem Hinweis, dass keine genauen Daten vorliegen würden. Auf den Hinweis, dass man doch nur den Kontostand der einzelnen Mitglieder zusammenrechnen müsse, kam die Antwort: »Das interessiert uns aber nicht – also sollte es Sie auch nicht interessieren. Ich kann Ihnen nur versichern, dass unser Unternehmen auf wirtschaftlich gesunden Beinen steht.«

Wissenschaftler haben durch repräsentative Umfragen die durchschnittlichen Einzahlungen und Auszahlungen deutscher Pokerspieler zu erfahren versucht. Die Ergebnisse sind recht unterschiedlich: Die einen sprechen von etwa 85 Euro pro Jahr, andere kommen auf bis zu 420 Euro pro Spieler. Wohlgemerkt: Diese Zahlen beschreiben den Betrag, den die Spieler netto einbezahlen – bei der 85-Euro-Umfrage zahlt der Spieler also etwa 130 Euro ein und lässt sich im Laufe des Jahres 45 Euro ausbezahlen. Er erhöht also das im Umlauf befindliche Geld um 85 Euro. Wer also der Umfrage mit der mittleren Schätzung vertraut, der kommt auf rund 50 Millionen Euro, die in Deutschland pro Jahr in die Casinos einbezahlt werden.

Die Betreiber von Online-Casinos bekommen also von deutschen Pokerspielern pro Jahr einen zinslosen Kredit von 50 Millionen Euro. Noch mehr: Die Spieler bezahlen Kontoführungsgebühr, schließlich behalten die Casinos fünf Prozent der umgesetzten Spielsumme ein. Wer einzahlt und regelmäßig spielt, der bekommt fünf Prozent Zinsen abgezogen. Online-Casinos sind die lukrativsten Kreditinstitute der Welt. Sie müssen nicht zocken wie andere Banken, sondern profitieren von der Zockerei der anderen.

Sie sind wie Sam Brannan, jener Mann, der während des Goldrauschs in Kalifornien zum ersten Millionär des Bundesstaats wurde – nicht etwa, weil er eine Goldmine entdeckte, sondern weil er den Glücksrittern die Utensilien zum Schürfen verkaufte.

Ich treffe mich mit Thomas, den ich so nenne, weil er mir mehr erzählen darf, wenn ich nicht seinen richtigen Namen verwende. Er lebt in einer Wohnung, für deren Einrichtung man einen niedrigeren sechsstelligen Betrag ausgeben muss. In seinem Arbeitszimmer ist ein Computer aufgebaut, der an zwei der größten Bildschirme angeschlossen ist, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Als er mich hineinführt, trägt er einen Anzug und sieht tatsächlich eher aus wie James Bond als Heinz Erhardt.

»Mein Tagesablauf ist klar definiert«, sagt er, »ich schlafe bis 10.30 Uhr, dann gehe ich kurz joggen oder fahre mit dem Rad, dann dusche ich mich und ziehe mich so an, als würde ich zur Arbeit gehen. Ich habe mich am Anfang eine Woche lang in Schlabberklamotten vor den Computer gesetzt, doch dann war ich nicht konzentriert. Wenn man von zu Hause aus arbeitet, dann muss man sich selbst die Illusion geben, als würde man ins Büro gehen.«

Er spielt sieben Stunden pro Tag, er ist gleichzeitig an neun Tischen angemeldet. Blinds, also der Grundeinsatz: zwei und vier US-Dollar pro Spiel. Nebenher errechnet eine Software die Chancen auf einen möglichen Sieg bei der aktuellen Hand. Die Einstellungen hat Thomas so geändert, dass der Computer automatisch Hände wegwirft und ihn nur dann alarmiert, wenn es seiner Meinung nach interessant sein sollte. »Für die Programmierung habe ich etwa eine Woche gebraucht und modifiziere sie immer wieder.« Im Regal stehen Bücher über Mathematik, Astronomie und Schach.

Der Mann ist kein Glücksritter, der auf den großen Durchbruch aufgrund einer Serie von günstigen Händen hofft. Er hat Abitur, ihm wäre wegen seines gemessenen Intelligenzquotienten auch eine Karriere als Physiker zuzutrauen gewesen. Er ist aber Pokerprofi, der bei einem Online-Casino unter Vertrag ist. Er bezieht ein Grundgehalt und Boni für gespielte Stunden, dazu übernimmt das Casino die Startgebühren für bedeutsame Turniere. Dafür ist an jedem Kleidungsstück das Logo des Casinos eingenäht.

Er macht das nicht, weil er muss oder weil die Gesellschaft keinen anderen Beruf für ihn bereithält. Kein Zwang, kein Druck, keine Hoffnungslosigkeit. Er macht das auch nicht, weil er nichts anderes kann. Er ist Pokerspieler, weil er Pokerspieler sein möchte.

Wir kommen auf den rechtlichen Aspekt seines Berufs zu sprechen: »Was glaubst du denn, warum ich so nahe an der Grenze wohne?«

Zum Spielen wählt er sich in ein tschechisches Netz ein – und könnte notfalls behaupten, dass er jeden Tag die paar Kilometer in die Tschechische Republik fahren würde, um im Internet zu pokern. Dass er pokert, ist für jeden zu sehen, schließlich ist er mit seinem richtigen Namen angemeldet. Das Casino rühmt sich gar, ihn unter Vertrag zu haben, und lädt Amateurspieler ein, sich mit ihm zu messen. Angst, dass mal jemand in seine Wohnung marschieren und feststellen würde, dass er in Wirklichkeit von Deutschland aus pokert, hat er nicht wirklich: »Die Casinos beschäftigen Anwälte, die haben mir genau erklärt, was ich tun darf und was ich zu lassen habe.« Offiziell nehme er auch an keinen öffentlichen Pokerspielen in Deutschland teil – inoffiziell sagt er, dass er im Jahr 2011 bei 57 Veranstaltungen war. Dazu kommen noch Turniere im Ausland – weshalb er in jedem Land ein Bankkonto eingerichtet hat. »Ich kann ja das Geld nicht einfach nach Deutschland einführen.« Das haben ihm die Anwälte gesagt und geraten, mehrere Konten zu eröffnen. In Zeiten von Online-Banking ist es kein Problem, die zu verwalten. Außerdem bezahlt er auf diese Weise kaum Steuern.

Genau an diesem Punkt wird es interessant: Der Pokerspieler, der sein Jahresgehalt vorsichtig auf 500000 Euro schätzt, bezahlt Steuern wie einer, der knapp 60000 Euro verdient – auf seine Einnahmen als Werbefigur und auf sein Gehalt als Profi beim Online-Casino. Die anderen Gewinne versteuert er nicht.

»Ich setze aber auch keine Verluste ab, wenn ich einen schlechten Abend habe«, sagt er und sieht dabei aus, als würde er sich entschuldigen.

Al Capone sagte einst bei seiner Gerichtsverhandlung: »Wie soll ich Steuern bezahlen auf Geld, das ich offiziell niemals verdient habe?« Pokerspielern heutzutage geht es ähnlich.

»Ich würde schon Steuern bezahlen, wenn man ein vernünftiges System finden würde«, sagt er, »aber ich werde ja schon als Verbrecher stigmatisiert, nur weil ich am Pokertisch sitze.« Seiner Meinung nach werde er aufgrund der Gesetzgebung in die Steuerhinterziehung getrieben. Auf der anderen Seite sei er froh, dass Pokern weiterhin als Glücksspiel eingestuft wird – auch wenn er bei jeder Gelegenheit betont, dass es sich um ein Geschicklichkeitsspiel handeln würde. Solange das nämlich so ist, muss er die Gewinne nicht versteuern, und solange die Polizei derart lasch gegen Pokerspieler vorgeht, muss auch kaum einer etwas befürchten. Thomas sagt: »Ich glaube, dass sich außer unseren Anwälten kaum jemand mit der rechtlichen Situation auskennt.«

Wie soll die Polizei gegen etwas vorgehen, bei dem sie gar nicht weiß, ob sie dagegen vorgehen darf und wie sie dagegen vorgehen soll?

Auswandern möchte er nicht. »Ich habe hier meine Freunde, ich mag das Essen, das Land, die Leute. Ich reise ohnehin um die Welt und nehme an Turnieren teil. Aber meine Heimat bleibt hier.«

Er weiß, dass das, was er da macht, illegal ist oder sich zumindest in einem Graubereich bewegt – doch es ist ihm egal. Er hat seinen Traumberuf gefunden, er ist sehr gut darin, und es scheint auch sonst keinen zu stören. Also soll er von mir aus weiterpokern.

Doch was passiert mit mir? Ich bin kein guter Pokerspieler und habe mich geweigert, meine Schulden zu bezahlen.

Natürlich habe ich alles beglichen, gleich am nächsten Tag. Schließlich wurde ich so erzogen, dass Spielschulden Ehrenschulden sind – ob sie nun rechtlich verbindlich sind oder nicht.