Kapitel 28
Gesetzesbrecher V: Die Nutte
Wie schreibt man einen Text über Prostituierte, ohne dabei an Julia Roberts und Pretty Woman zu denken? Oder an Irma la Douce von Billy Wilder oder Geliebte Aphrodite von Woody Allen? An jene Filme, die mit der Pygmalion-Thematik zu erklären versuchen, dass jede Prostituierte heimlich darauf wartet, gerettet zu werden – von einem Milliardär, einem Polizisten, einem englischen Lord oder einem Sportjournalisten.
Wer sich an so einem Text versucht, der ist derart vollgestopft mit Klischees, dass er gar nicht umhinkommt, die eigene Arbeit mit Klischees vollzustopfen.
An Die Schöne des Tages (Belle de Jour) von Luis Buñuel denkt kaum jemand: Cathérine Deneuve spielt die Ehefrau eines Arztes, die sich in einem Selbstfindungsprozess als Prostituierte hingibt. Buñuel stellt in seinem Werk die bürgerlichen Konventionen infrage und dabei nicht nur der Bourgeoisie, sondern auch der Institution Ehe den Totenschein aus.
Wer denkt schon daran, wenn er an Prostituierte denkt? Eher schon an Tänzerinnen in den Videos von 50 Cent und Daddy Yankee und Sean Combs.
Die Vorstellung, eine Prostituierte zu befreien, ist nicht nur ein bescheuertes Klischee, es ist auch ein Männertraum. Sie hält sich ähnlich hartnäckig im männlichen Gehirn wie der Wunsch, ein Supermodel für sich zu begeistern. Wir reden uns ein, dass es sich bei Supermodels nur um ganz einfache Mädchen handelt, die von der Natur zufällig mit einer perfekten Körperstruktur, wunderbaren Haaren und einer makellosen Haut ausgestattet wurden. Dass es deshalb möglich ist, dass sich so eine Frau in uns verlieben könnte.
Doch das geht nicht. Diese Frauen sind optisch nahe an der Perfektion. Vielleicht kann sie darüber hinwegsehen, aber du kannst es nicht. Wenn du nicht in irgendeinem Bereich des Lebens ebenfalls nahezu perfekt bist – ob nun optisch, geistig, beim Geldverdienen, sportlich oder worin auch immer – und ihr dadurch auf Augenhöhe begegnen kannst, dann ist es beinahe unmöglich, eine Verbindung aufzubauen. Verbindung ist alles. Du wirst dich ihr immer unterlegen fühlen, weil sie eben kein einfaches Mädchen ist, wie du dir eingeredet hast. Dann suchst du nach Fehlern in anderen Bereichen, um dich gleichwertig zu fühlen. Sie denkt jedoch, dass du sie damit runterziehen willst, und wird kontern – und schon seid ihr in einer Fehlerspirale, aus der ihr nie wieder herauskommt. Die Verbindung ist weg.
Ähnlich ist es mit Prostituierten, nur umgekehrt: Du wirst niemals dieses Bild aus dem Gehirn bekommen, das dir durch Filme, Bücher und überhaupt die Gesellschaft eingehämmert worden ist. Sie kann darüber hinwegsehen, weil sie weiß, wie es wirklich ist – aber du hast keine Ahnung und wirst deshalb immer daran denken, dass sie eine Prostituierte ist.
Als ich damit begonnen habe, mich auf das Treffen mit einer Prostituierten vorzubereiten, hatte ich so ein Bild im Kopf: eine junge Frau, die ihre natürliche Schönheit durch übertriebenes Make-up zerstört, ihren perfekten Körperbau mit Minirock und Lederstiefeln zur Schau stellt wie ein Metzger ein saftiges Stück Fleisch und grundsätzlich immer einen Kaugummi im Mund hat.
Hatten Sie die gleiche Vorstellung? Nein? Ja, klar!
(Un-)Wichtiges Wissen
Eine Prostituierte kann seit 2002
die Entlohnung von ihrem Freier
vor Gericht einklagen.
Ich dachte, dass es recht schwer werden könnte, sich mit einer Prostituierten zu treffen. Natürlich könnte ich in ein Laufhaus gehen und die Frau dann bitten, sich einfach mit mir zu unterhalten. Aber gäbe es ein noch größeres Klischee?
Doch es ist einfacher, als ich gedacht hatte, weil erstaunlich viele Menschen in meinem Bekanntenkreis jemanden kennen, der in diesem Gewerbe tätig ist.
Mir sitzt eine junge Frau in Jeans und T-Shirt gegenüber, die mit ihren wilden schwarzen Haaren und dem Verzicht auf Make-up so aussieht, als würde sie danach in der ersten Reihe eines Muse-Konzerts stehen.
Es ist nicht so einfach, ein in Stein gemeißeltes Bild aus seinem Kopf zu bekommen.
Ich frage: »Ist das deine Arbeitskleidung?«
»Was hast du erwartet? Minirock und Lederstiefel?«
Ich sage nichts, weshalb sie merkt, dass ich genau daran gedacht habe.
»Ich besitze keine Perücke und keinen Minirock. Einen kurzen Rock, ja. Ich habe auch Lederstiefel, aber welche Frau hat keine Lederstiefel?«
Jemand hämmert an meinem Bild im Kopf herum. Mit dem Presslufthammer.
Mir sitzt jemand gegenüber, der gehofft hat, auf einen Menschen ohne Vorurteile zu treffen – und nun erkennt, dass sie sich getäuscht hat. Ich erkläre ihr meine Theorie von Klischee und Männerfantasie, was mich zumindest zurück ins Spiel bringt, um mich mit ihr unterhalten zu können.
Wir sprechen ein wenig über ihre Laufbahn: Realschulabschluss, Ausbildung zur Kosmetikerin, Auftritte bei Erotikmessen und Engagements in Bars, die sich auf exotischen Tanz spezialisiert haben. Danach habe sie sich bei einem Escortservice beworben, und nun arbeite sie seit drei Jahren in dem Beruf. Ihre Jobbeschreibung sieht nicht vor, dass sie an einer Straßenecke oder in einem Fenster darauf wartet, dass ein Mann vorbeikommt und dafür bezahlt, von ihr in einer dunklen Gasse oder einem engen Zimmer befriedigt zu werden.
Sie wird von ihren Kunden dafür bezahlt, dass sie einen Abend mit ihnen verbringt, wobei es meist vier Etappen zu absolvieren gilt: Restaurant, Ort für kulturelle Veranstaltungen, Bar, Hotelzimmer. »Nur bei der Hälfte der Verabredungen kommt es tatsächlich zu Sex«, sagt sie. Die meisten ihrer Kunden würden sich einfach nur unterhalten wollen: »Entweder können sie das bei ihren Ehefrauen nicht – oder sie sind Single und haben nicht den Mut, Frauen anzusprechen. Auf diese Weise erleben sie einen netten Abend mit einer hoffentlich netten Frau.«
Sie kennt natürlich auch die anderen Frauen, die ihre blauen Flecken mit dunklen Strumpfhosen verdecken müssen und von einem Zuhälter in die dunklen Gassen geschickt werden, um für wenig Geld ausgefallene Dinge anzubieten. Die ihre Schulden bezahlen müssen, weil sie ihren Drogenkonsum oder ihre Spielsucht nicht unter Kontrolle bekommen und ihnen kein anderer Ausweg bleibt, als im angeblich ältesten Gewerbe der Welt ein paar Euro zu verdienen. »Das ist schlimm«, sagt sie, »aber es gibt in jedem Beruf positive und negative Aspekte – und es gibt unterschiedliche Gründe, warum sich jemand für den Beruf entscheidet. Oder ihn machen muss. Glaubst du, ein Finanzbeamter ist als Neunjähriger zu seinem Vater gegangen und hat gesagt: ›Papa, ich werde Finanzbeamter!‹ Er musste Geld verdienen, der Job war da – also macht er ihn. Warum bist du Journalist geworden?«
»Weil ich dachte, dass ich das gut kann.«
»Und wenn du weniger verdienen würdest?«
»Keine Ahnung!«
»Tu nicht so selbstgefällig, als hättest du deine Berufung gefunden oder als hätte dir Gott eingeflüstert, dass du das machen sollst. Es ist ein Beruf, er macht dir hoffentlich Spaß, und du verdienst Geld.«
»Ja.«
»Und in Zeiten, in denen es nicht läuft, tröstest du dich damit, dass du mehr verdienst als andere und dass es immer noch besser ist, als arbeitslos zu sein oder einen anderen Job zu machen.«
Der Presslufthammer ist ganz schön am Hämmern.
»Bei mir ist das ähnlich«, sagt sie. Keine schlimme Kindheit, kein Drogenproblem, keine Geldsorgen. Ein Job, der gut bezahlt ist und ihr Spaß macht.
Es ist wie schon beim Pokerspieler und dem Drogendealer: Sie macht das nicht, weil sie hineingerutscht ist oder weil sie dringend Geld braucht, um ihren Sohn zu versorgen oder die Pflege für die kranke Oma zu bezahlen. Sie macht es, weil es ihr Spaß macht und weil sie damit sehr viel Geld verdient: Eine Verabredung mit ihr kostet, je nachdem, was am Ende passiert, bis zu 4000 Euro. Sie will nicht verraten, wie viel davon sie behält, doch offensichtlich reichen ihr drei Verabredungen pro Monat, um ein gutes Leben führen und eine Wohnung in einem der teuersten Viertel dieser Großstadt bezahlen zu können. »Meistens habe ich fünf, weil ich ein sehr gutes Leben führen will und etwas sparen möchte, um später mal einen eigenen Salon für Wellness und Kosmetik zu eröffnen. Ich meine, für meinen Beruf gibt es ein Ablaufdatum – wie für Fußballer auch.«
Irgendwann, das ist ein Zeitpunkt in der Zukunft, den sie noch nicht kennt. Sie schreibt schon Businesspläne und entwirft die Einrichtung, aber nur, weil sie an mehr als 20 Tagen im Monat nicht arbeiten muss und Zeit hat, ihre Zukunft schon jetzt zu gestalten.
Ihr hat das Prostitutionsgesetz geholfen, sagt sie. Das ist am 1. Januar 2002 in Kraft getreten und sollte dafür sorgen, die Prostitution aus der rechtlichen Grauzone heraus- und in die Sozialversicherung hineinzuholen. »Ich persönlich habe einen Arbeitsvertrag, ich kann meinen Lohn einklagen, und ich bezahle auch in die Sozialversicherung ein. Ich könnte mich sogar arbeitslos melden.«
Sie ist ein seltener Fall, denn für die meisten Frauen haben sich die Hoffnungen, die sie in das Gesetz setzten, nicht erfüllt. Viele von ihnen sind nach wie vor Tagelöhnerinnen, auf eine Rentenversicherung verzichten fast alle. Anrufe bei Arbeitsämtern bestätigen, dass kaum eine Frau jemals dort vorstellig geworden sei und gefordert habe, ihr Arbeit in diesem Gewerbe zu vermitteln und Arbeitslosengeld zu bezahlen.
Im Gegenteil: Nicht wenige Frauen halten das Gesetz für eine Verschlimmerung der Situation. Davor hätten die Behörden wenigstens weggesehen, doch nun würden Formulare und Steuerforderungen den Beruf kompliziert machen. Und welche Frau gibt schon gerne an, als Prostituierte zu arbeiten und diesen Beruf womöglich ein Leben lang in der Akte vermerkt zu haben?
Immerhin hat das Gesetz dafür gesorgt, dass seriöse Geschäftsmänner das Gewerbe mit den hohen Gewinnspannen entdeckt haben. Die Arbeitgeber sind nicht mehr unbedingt Halbweltmänner, die nebenher einen Boxstall betreiben oder mit Waffen handeln oder Drogen verkaufen. Es sind Kaufleute, die Geld verdienen möchten und die wissen, dass so etwas vor allem dann möglich ist, wenn man seinen Arbeitnehmern vernünftige Bedingungen bietet.
Carlos Obers etwa war einmal Präsident des Art Directors Club; er galt als einer der erfolgreichsten Werbefachmänner. 2006 gründete er eine Agentur für Edel-Callgirls, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte er Ende 2011: »In der Werbebranche heißt es eh: Wir sind alle Huren.« Seine Angestellten seien allesamt finanziell unabhängige Akademikerinnen, die Umgangsformen seien freundlich, die herausragenden Damen würden pro Nacht 1800 Euro verdienen.
»Es gibt zwei Seiten in diesem Gewerbe«, sagt die Frau, mit der ich mich treffe und die sich nicht Tiffany nennt oder Fantasy oder Destiny, sondern für ihre Kunden Namen wie Mercedes Derant oder Silvia Müller annimmt: »Den einen hat das Gesetz geholfen, weil es Regeln gibt, an die man sich halten kann und die für ein seriöses Klima sorgen. Den anderen geht es immer noch beschissen. Da hilft kein Gesetz auf der Welt.«
Sie habe das Glück, zur ersten Kategorie zu gehören: »So ist das Leben. Vor allem aber ist das Leben keine Männerfantasie.«
Dann verabschiedet sie sich. Sie muss nicht arbeiten. Sie will zu einem Konzert. Mit einer Freundin.
Und ich bin erst einmal damit beschäftigt, die Trümmer in meinem Gehirn aufzuräumen.