Kapitel 15
Der Letzte zahlt die Rechnung

Wer kennt das nicht: Da führt man seine Liebste in ein schickes Restaurant, bestellt ihr das eindrucksvollste Gericht auf der Speisekarte – und was passiert? Die Freundin findet eine Perle in einer der Austern. Sie darf sich also nicht nur auf Sodbrennen freuen, sondern auch auf einen Scheck über Tausende von Euro. So etwas passiert jeden Tag – zumindest in der Welt der Juristen.

Christian Fahl hat diesen beliebten Fall in seinem Buch Jura für Nicht-Juristen beschrieben: Die Begleiterin findet eine Perle im Essen, zu dem sie ihr Freund eingeladen hat. Wem gehört die Perle? Der Begleiterin, die sie gefunden hat? Dem Partner, der sie eingeladen und damit Essen und Perle gekauft hat? Dem Besitzer des Restaurants, der nicht wusste, dass da eine Perle in der Auster gewesen ist, und der deshalb die Rückgabe fordert? Oder gar dem Fischer, der die Auster einst gefangen und sie an den Besitzer des Restaurants verkauft hat? Der Fall beschäftigt Juristen seit 1905. Fahl führt den Leser auf Irrfährten, er schreibt über Schatzfund, Abstraktion und Aneignungsgestattung und erklärt, wie anerkannte Juristen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und warum am Ende der Restaurantbesitzer die besten Chancen hat.

Laien zeigt dieser Fall: Das Recht ist ein hochkomplexes System, das eine eigene Methodik hat und nach eigenen Gesetzen funktioniert. Es ist ein Monstrum, mit dem sich nicht einmal mehr jene auskennen, die es einst geschaffen haben. Es ist, als würde Victor Frankenstein vor seinem Monster stehen, auf die Einzelteile blicken und feststellen, dass er da etwas Schreckliches erschaffen hat – dass er aber nicht mehr in der Lage ist, es zu kontrollieren.

Natürlich sind diese Fälle auch für den Laien interessant zu lesen, doch eigentlich sind sie ihm egal. Er möchte wissen, wie das tägliche Leben durch das Recht beeinflusst wird. Rechtsprechung soll ein Instrument der gesellschaftlichen Konfliktlösung sein und kein Lieferant für Schenkelklopfer beim Juristenstammtisch.

Wir wollen Hilfe, wo uns halbwahre Volksweisheiten die Sinne vernebeln. Und es gibt zwei Bereiche, in denen wir vor lauter Halbwahrheiten schon gar nichts mehr sehen: beim Restaurantbesuch und beim Mieten einer Wohnung. Das sind die Bereiche im Dschungel, in die sich nicht einmal giftige Spinnen und acht Meter lange Schlangen trauen.

(Un-)Wichtiges Wissen

Es ist nicht erlaubt, seinen Kinder-
wagen im Hausflur zu parken,
ohne ihn zu nutzen. Gelegentliches
Abstellen ist gestattet, doch vor
allem abends und in der Nacht soll
der Flur frei sein. (OLG Hamm)

Etwa 50 Millionen Menschen wohnen hierzulande zur Miete, und nicht immer geht es harmonisch zu. Mal ärgert man sich über den Vermieter, mal regt einen der Nachbar auf, und natürlich nörgelt die Putzfrau an jedem Dienstag darüber, dass da immer noch der Kinderwagen im Treppenhaus herumstehen würde. Dann erklärt man ihr selbstbewusst, dass dies völlig legal sei und dass sie eben drumherum putzen oder den Wagen kurz wegschieben solle.

Andauernd kommt es in Deutschland zu heftigen Streitereien, die sich nur noch vor Gericht klären lassen. Mehr als 300000 Wohn- und Mietfälle müssen die Richter pro Jahr bearbeiten. Ein Richter sagte mir: »Die Leute hören Halbwahrheiten, dann ärgern sie sich über den Nachbarn oder den Vermieter und glauben, sie wären im Recht. Es beginnt mit Kleinigkeiten, wird immer größer, und schließlich gibt es einen handfesten Streit. Die Mischung aus Unkenntnis und Sturheit führt dann zu einem Fall, den es eigentlich nie gebraucht hätte.« Das habe auch zur Folge, dass es mittlerweile vor dem Einzug zu wahren Verhören kommt.

Als ich mit meiner Familie vor einigen Jahren in München eine Wohnung suchte, haben wir den potenziellen Vermietern alles mitgeteilt, was die wissen wollten: Haben wir Schulden? Wollen wir noch mehr Kinder? Wer sind unsere Arbeitgeber? Ist einer von uns arbeitslos? Sind wir vorbestraft? Das alles haben wir beantwortet, hätten es aber nicht müssen. In München kämpfen allerdings Menschen um Wohnungen wie Frauen um Schuhe beim Winterschlussverkauf – und die Chancen auf eine Wohnung erhöhen sich natürlich nicht unbedingt, wenn man dem Vermieter bei der Frage nach Vorstrafen entgegenschleudert: »Geht Sie gar nichts an!«

Wissen für Nichtjuristen

Der Bundesgerichtshof entschied
im Jahr 2008, dass Raucher beim
Auszug nicht verpflichtet werden
können, die Wohnung in beson-
derem Maße zu renovieren – sie
müssen es nur tun, wenn die Spu-
ren des Rauchens nicht durch
Anstreichen und Tapezieren be-
seitigt werden können.

Wir wurden auch häufig gefragt, ob wir Raucher seien. Manche Vermieter erklärten ihr Haus zur rauchfreien Zone und wollten nur Mieter haben, die auf die tägliche Dosis Nikotin verzichten würden. Auch diese Frage ist unzulässig, der Vermieter kann einem das Rauchen nicht verbieten.

Es gibt noch mehr Volksweisheiten, die in etwa so wahr sind wie Politikeraussagen in Talkshows. Viele glauben, dass es vollkommen genügen würde, dem Vermieter drei mögliche Nachmieter zu präsentieren, um rasch aus dem Mietvertrag herauszukommen. Wer eine Nachmieterklausel vereinbart hat, der muss nur einen zumutbaren Nachmieter stellen. Ohne die Klausel allerdings kann er eine ganze Schiffsladung an Nachmietern anschleppen – es wird nur in Härtefällen (Job in einer anderen Stadt, Nachwuchs) funktionieren.

Auch die Annahme, fünf Mal Grillen pro Jahr sei einem gesetzlich zugesichert, ist vollkommener Quatsch. Das Grillen darf komplett untersagt werden, wenn es eine erhebliche Belastung für die Nachbarn darstellt – die Nachbarn dürfen gar die Miete mindern, wenn der Vermieter nicht dafür sorgt, dass die Belästigung aufhört.

(Un-)Wichtiges Wissen

Wenn sich ein Garagentor nur mit
erheblicher Geräuschentwick-
lung öffnen lässt, darf die Garage
nachts nicht benutzt werden.
Wer zwischen 22 und 6 Uhr nach
Hause kommt, muss sein Auto
im Freien stehen lassen.

Man kann als Mieter jedoch Spaß haben, wenn man sich mit den Gesetzen des Mietens und Wohnens auskennt. Da meine Familie zu den eher langweiligen Mietern gehört und wir in einem der harmonischsten Häuser dieses Planeten wohnen, veranstalten wir den Spaß im Mehrfamilienhaus, in dem mein Freund Tobias wohnt. Er ist der ideale Kandidat dafür: Er hasst seinen Vermieter, er hasst zwei seiner Nachbarn – und er ist sich sicher, dass er vom Vermieter und den Nachbarn ebenso gehasst wird.

Tobi ist eigentlich ein lieber Kerl, als Tier wäre er ein Bär geworden, der tagsüber gemütlich auf einem Felsen herumliegt und Honig schlürft und nachts laut schnarchend in einer Höhle schläft und von Honig träumt. Er ist immer noch Single, was vielleicht daran liegt, dass er sich tatsächlich ausschließlich von Honig ernährt und es in seiner Wohnung aussieht, als wären sämtliche Superhelden dort eingezogen: Batman-Bettwäsche, Spiderman-Bademantel, He-Man-Zahnbürste. Dazu Actionfiguren, die noch immer unausgepackt auf den Regalen herumstehen. Er ist eine Mischung aus allen männlichen Big-Bang-Theory-Charakteren zusammen. Der Mann hat einen IQ von mehr als 140, er kann einem innerhalb von zwei Minuten die Relativitätstheorie erklären und die Aufgabe des Rubik-Zauberwürfels aus jeder Stellung in höchstens 25 Zügen lösen. Er kann aber keine Frau ansprechen, weil er die meistens für »blöde Schlampen« hält. Sein Zitat, nicht meins.

Tobi ist ein treuer Kumpel, zu Studienzeiten war er ein perfekter Begleiter, weil er Frauen gleichzeitig anzog und abstieß. Man musste ihm nur Alkohol geben und geduldig warten, dann lieferte das System Tobi genügend Frauen, um eine Demonstration für Gleichberechtigung starten zu können.

Wir treffen uns an einem Sonntagmorgen, weil Tobi der Meinung ist, dass sich um diese Uhrzeit interessante Beobachtungen machen ließen. Ich bin um acht Uhr morgens bei ihm, er führt mich in sein Schlafzimmer und sagt: »Gerade noch pünktlich, gleich geht es los!«

Sieben Minuten später hören wir aus der Wohnung unter uns Geräusche, bei denen ich mir sicher bin, dass eine Sau rituell abgeschlachtet wird, gleichzeitig ein brünftiger Elch röhrt und dazu noch das Treffen der Federkerninnung stattfindet. Vier Minuten später endet das Spektakel mit einem lang gezogenen Schrei der Sau und einem Röhren, das alle anderen Elche aus Bayern verjagen soll.

»Kein Rekord«, sagt Tobi gelangweilt und notiert in seinem Notizbuch die Zeit und die Lautstärke: 66 Dezibel. Ja, er besitzt tatsächlich ein Gerät, mit dem man die Lautstärke in seinem Schlafzimmer messen kann. Und er protokolliert seit mehr als drei Monaten die Aktivitäten in der Wohnung unter ihm. »Immer sonntags ab ungefähr acht Uhr, meistens drei Mal hintereinander, hin und wieder vier Mal. Die Bestmarke liegt bei sechs Mal Koitus.«

Er sagt wirklich Koitus.

Ich will gerade lachen, da beginnt der zweite Akt der Schwein-Elch-Aufführung. Dauer: vier Minuten. Lautstärke: 62 Dezibel. Die dritte Runde dauert sechs Minuten und schafft 61 Dezibel, der Schlussakt bringt es innerhalb von zwei Minuten auf 63 Dezibel.

»Ich kann am Sonntag nie ausschlafen!«

Er zeigt mir die Tabelle der technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm mit den Richtwerten. In reinen Wohngebieten liegen sie tagsüber bei 50 und nachts bei 35 Dezibel.

»Das sind Richtwerte für Gewerbelärm.«

»Aufgrund der Regelmäßigkeit muss ich davon ausgehen, dass es sich dabei um Gewerbelärm handelt!«

»Und was willst du machen? Die beiden verklagen?«

»Ich dachte eher daran, die Miete zu mindern. Es gibt da Urteile.«

»Wenn ich bei meinem Projekt etwas gelernt habe, dann das: Man sollte erst einmal mit den Leuten reden.«

»Bist du betrunken? Willst du da runtergehen?«

»Klar!«

Ich nehme seinen Notizblock und sein Messgerät und stürme aus der Wohnung. Er folgt mir – und vergisst dabei vollkommen, dass er immer noch seinen Schlafanzug mit Superman-Logo trägt.

Ich klopfe, wenige Sekunden später öffnet eine Frau in Shorts und T-Shirt die Wohnungstür. Sie sieht ein wenig aus wie Miranda aus Sex and the City und nicht wie eine frisch aufgespießte Wildsau.

Wissen für Nichtjuristen

Das Amtsgericht Charlottenburg ent-
schied, dass die Miete um
30 Prozent gemindert werden
darf, wenn sich im Haus ein Bor-
dell befindet.

»Dürfen wir kurz reinkommen? Wir müssten etwas besprechen.«

Sie mustert mich, dann mustert sie Tobi – dann bittet sie uns herein. In der Wohnung riecht es nach Tee und Marihuana, es sieht aus, als wäre hier das Zentrum für Esoterik. Wir gehen in die Küche, dort sitzt ein Mann am Tisch, raucht eine Zigarette und trinkt Tee. Ich muss kichern, weil er tatsächlich ein wenig aussieht wie ein Elch.

»Hört zu, das ist alles ein bisschen unangenehm – Superman hier wohnt direkt über euch und bekommt jeden Sonntagmorgen mit, was ihr hier so treibt.«

Dem Gesichtsausdruck der beiden ist anzumerken, dass ihnen das alles andere als peinlich ist. Sie grinsen. Wem die Situation überaus peinlich ist: Tobi, der am Tisch steht und herumtrippelt.

»Tobi hat das protokolliert – und es stört ihn ungemein. Ich bin eher beeindruckt von der Quantität und der Regelmäßigkeit.«

Die beiden sehen sich an, dann lachen sie laut los.

Tobi und ich gucken irritiert.

»Ich wusste nicht, dass wir so laut sind.«

Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie lügt.

»Es ist so: Mein Freund ist Franzose, er arbeitet seit ein paar Monaten in Straßburg. Er nimmt am Samstagabend den ersten Zug, den er bekommen kann, und kommt um halb acht Uhr am Bahnhof an. Dann eilt er natürlich sofort hierher. Wir haben nur den Sonntag, weil er spätestens am Montagmorgen wieder nach Straßburg fahren muss.«

Manchmal gibt es für mysteriöse Beobachtungen ganz einfache Erklärungen.

»Könnt ihr vielleicht ein bisschen leiser sein in Zukunft? Superman braucht seinen Schlaf, ihr seid wie ein Kryptonit für seine Kräfte am Sonntag.«

(Un-)Wichtiges Wissen

In Deutschland ist Sex mit Tieren
seit dem Jahr 1969 per Gesetz
erlaubt. Es gibt immer wieder
Versuche, eine Novelle des Tier-
schutzgesetzes einzuführen und
sexuelle Handlungen mit Tieren
oder auch das Abrichten für solche
Handlungen zu verbieten.

»Wir bemühen uns.«

Wir trinken noch einen Tee und stellen fest, dass der Freund während unseres kompletten Besuchs kein einziges Wort sagt, dann gehen wir.

»Siehst du, geht doch!«

Tobi sieht mich böse an.

»Du weißt, dass ich dich grundsätzlich hasse. Aber mein Hass war noch nie größer als in diesem Moment.«

»Warum denn?«

»Ich stehe im Superman-Schlafanzug in einer fremden Wohnung, während mein Freund einer Sexsüchtigen erklärt, dass ich derart einsam und verzweifelt bin, am Sonntag ihre Aktivitäten zu protokollieren!«

Tobi spricht nach diesem Zwischenfall zwei Monate nicht mehr mit mir – mittlerweile ist er in einer Beziehung und sagt, dass auch er sehr gut einen Elch nachahmen kann. Ich bin mir nicht sicher, aber ich fürchte, dass er darüber sehr penibel Protokoll führt.

Ich habe dadurch gelernt, dass es sich vor allem im Bereich des Zusammenlebens in einem Mietshaus durchaus lohnt, sich mit den Regeln und Gesetzen zu beschäftigen, bevor man sich unnötig aufregt oder zu spät feststellt, dass man über den Tisch gezogen wurde. Wir haben es in unserer Wohnung geschafft, dass Toilettenspülung und Sprechanlage repariert wurden und regelmäßig die Heizung entlüftet wird. Wir haben sogar durchgesetzt, dass wir in unserer Wohnung einen Trockner aufstellen durften – und zwar genau dort, wo wir es wollten –, ohne dass die Vermieterin etwas dagegen sagen konnte. Es ist auch uns überlassen, wann und wie lange wir das Fenster öffnen.

Informieren Sie sich, es lohnt sich!

Es ist wie bei der Auster. Wer nicht nachsieht, ob da eine Perle drin ist, der darf sich hinterher nicht darüber beschweren. Viele Vermieter nutzen die Unwissenheit der Mieter aus – aber es gehört natürlich zu den Pflichten, sich über die eigenen Rechte zu informieren.

Allerdings müssen Sie sich dann auch an die Regeln halten: Wir haben den Kinderwagen entfernt, wir lassen den Trockner nicht mehr nach zehn Uhr abends laufen, unser Sohn darf nur noch dann »Rock Band« in voller Lautstärke spielen, wenn in der Hypnosepraxis unter uns keine Sitzung stattfindet. Wir halten uns strikt an die Vorgaben zur Mülltrennung – und wenn wir bald ausziehen, dann werden wir keine Nachmieter präsentieren, sondern rechtzeitig kündigen und die Kündigung mit dem Wechsel des Wohnorts begründen.

Wer auf die Rechte pocht, der muss sich auch an die Pflichten halten. Es geht nicht immer nur darum, möglichst viel für sich herauszuschlagen, sondern sich mitunter so zu verhalten, dass es allen besser geht. Nicht nur in einem Mietshaus.

Der zweite große Konfliktort menschlichen Zusammenlebens ist wie erwähnt das Restaurant. Meistens geht es dort aber nicht um eine Perle in der Auster. Wir sind dort ständig mit dem Gesetz in Kontakt, an kaum einem anderen Ort gibt es derart viele Halbwahrheiten, die wir glauben. Es geht um miesen Service, verdorbenes Essen, schlecht gemixte Cocktails und Schrotkugeln im Hackfleisch.

Wer eine Schnecke im Salat findet, darf zwar den Salat zurückgehen lassen und muss auch danach nichts mehr essen – er muss aber die zuvor verzehrten Gerichte bezahlen. Wer sich beim Genuss von Fleisch einen Zahn ausbeißt, der muss beweisen können, dass dies tatsächlich wegen eines Fremdkörpers passiert ist. Ein Mann in Spandau bekam kein Geld, obwohl er beim Ćevapčići-Essen einen Backenzahn verloren hatte. Es könnte auch beim Biss auf ein Knorpelteilchen passiert sein, entschied der Bundesgerichtshof. Ein Mann im Schwarzwald dagegen bekam Geld, weil er beweisen konnte, dass der Zahnverlust auf ein Schrotkorn zurückzuführen war. Der Gast musste aber immerhin noch drei Viertel der Rechnung bezahlen, denn das Gericht stellte fest: Wer Wild isst, muss vorsichtig kauen.

Auch eine Reservierung kann nicht unbedingt ohne Konsequenzen abgesagt werden: Kann der Wirt nachweisen, dass ihm dadurch ein Schaden entstanden ist – wenn er etwa andere Gäste abweisen musste oder er eingekauftes Essen nicht verwenden kann –, dann kann er Schadenersatz verlangen. In England ist es bereits üblich, bei Reservierungen die Kreditkartennummer zu verlangen und einem ferngebliebenen Gast bis zu 50 Pfund in Rechnung zu stellen. Von derart drastischen Maßnahmen habe ich in Deutschland noch nicht gehört, eine Schadenersatzforderung ist indes nicht so selten, wie man glauben mag.

Meine Frau und ich haben uns vorgenommen, diese Fehleinschätzungen zu überprüfen und zu testen, wie die Menschen damit umgehen. Zuerst einmal im Steakhaus. Wir geben unsere Jacken am Eingang ab, ich sage zur netten Bedienung: »Passen Sie bloß darauf auf, die sind neu.«

Sie sieht uns verwundert an. An der Garderobe hängt wie in allen deutschen Wirtshäusern ein Schild – weshalb ich schon einmal ausgerechnet habe, wie reich der Mensch sein muss, der diese Schilder herstellt. Es gibt in Deutschland etwa 189000 Restaurants, Cafés, Eisdielen und Wirtshäuser – und in jedem davon gibt es dieses Schild. Würde man diese Schilder einfach übereinanderlegen, dann gäbe es einen Turm, der etwa 630 Meter hoch wäre – und damit nach dem Burj Khalifa das zweithöchste Gebäude der Welt. Der Hersteller der Schilder müsste so reich sein, dass er sich einen Turm dieser Höhe leisten könnte. Rechnet man Diskotheken und Clubs noch hinzu, könnte es zum höchsten Bauwerk des Planeten reichen.

Auf diesem Schild stehen vier Worte: »Für Garderobe keine Haftung«. In den meisten Fällen ist dieses Schild noch nutzloser, als es ein Turm aus diesen Schildern wäre.

Ich bestelle ein 750-Gramm-Steak – und sorge nur kurz für Verwirrung, als ich meine Waage zücke und kurz prüfe, ob das Steak wirklich 750 Gramm wiegt.

(Un-)Wichtiges Wissen

Die Gewichtsangabe in der Speise
karte muss sich auf das Gewicht
des Stückes beziehen, das auf dem
Tisch liegt.

Nachmessen macht einen nicht gerade beliebt – und die eigene Frau hasst einen schon zu Beginn eines schönen Abends.

Das Steak war schwer genug, es war perfekt zubereitet und schmeckte herausragend. Nur mein Magen und mein Cholesterin beschweren sich gerade, warum sie im Körper eines derart verfressenen Menschen gefangen sind, und bestehen darauf, im nächsten Leben in Claudia Schiffer wiedergeboren zu werden.

Als wir unsere Jacken zurückfordern, stellt sich wie geplant heraus, dass sie weg sind. Wir haben einen Freund gebeten, ebenfalls das Restaurant zu besuchen und am Ende einfach unsere Jacken statt seiner mitzunehmen. Das ist gemein – aber es geht hier darum, etwas zu beweisen, und nicht darum, nett zu sein. Meine Frau findet mich peinlich und besteht darauf, vor dem Restaurant warten zu dürfen. Der Besitzer des Restaurants eilt herbei. »Das tut mir sehr leid«, sagt er, »wir werden da schon eine Lösung finden. Haben Sie noch einmal nachgesehen, ob die Jacken nicht umgehängt wurden? Das ist mir wirklich peinlich. So etwas ist in unserem Haus wirklich noch nicht passiert.« Er reagiert derart nett, dass es mir schwerfällt, meine Mission durchzuziehen.

(Un-)Wichtiges Wissen

Es ist vollkommen unerheblich,
wie oft man nach der Rechnung
fragt, die Drei-Mal-Fragen-Regel
ist Quatsch. Ist die Rechnung nach
15 Minuten nicht da, darf man
das Lokal verlassen – allerdings
ist man verpflichtet, Namen und
Adresse zu hinterlassen, sonst
gilt es als Zechprellerei.

»Welche Lösung?«, frage ich. »Sie müssen mir die Jacken ersetzen. Beide waren Weihnachtsgeschenke unserer Eltern! Die bedeuten uns etwas.« Ich versuche, sowohl empört als auch mitleiderregend zu wirken. »Meine Eltern haben monatelang nach so einer Jacke gesucht und ziemlich viel Geld ausgegeben.« Würde nun eine Träne aus meinem linken Auge kullern, könnte ich bei der nächsten Oscar-Verleihung der Academy danken.

Der Besitzer des Wirtshauses sagt: »Wir haften nicht für die Garderobe, tut mir leid – aber ich bin bereit, Ihnen einen Gutschein auszustellen. Es tut mir wirklich sehr leid, dass die Jacken nicht mehr da sind.«

»Natürlich haften Sie für die Garderobe! Ich konnte die Garderobe nicht sehen – also haften Sie, egal, ob da ein Schild hängt oder nicht! Das ist im Bürgerlichen Gesetzbuch in den Paragrafen 205 Absatz 2, 307 Absatz 1 und 690 geregelt.«

Es ist manchmal ein herrliches Gefühl, Paragrafen zu zitieren. Jura kann tatsächlich Spaß machen, wenn man weiß, wie man Spaß damit haben kann.

Paragrafen auswendig lernen: 30 Minuten.

Zwei neue Jacken: 620 Euro.

Das Gesicht des Wirts: unbezahlbar.

»Ich wollte Ihnen gerade einen Vorschlag zur Güte machen.«

»Und ich wollte Sie bitten, mir 620 Euro zu bezahlen. Ich kann auch gerne die Polizei rufen.«

»Es kann doch nicht sein, dass ich für die Jacken bezahlen muss!«

Wissen für Nichtjuristen

Biergläser müssen bis zum Eich-
strich gefüllt sein – der Schaum
zählt nicht mit. Wenn bei einer
Maß der Liter nicht erreicht ist,
muss nachgeschenkt werden.
(§§ 433, 437, 439 und 440 BGB)

Er wirkt verärgert – aber sieht anscheinend auch ein, dass ich recht habe. Zur Unterstützung meines Arguments zücke ich das BGB, das ich für alle Fälle eingepackt habe – und ich habe auch mehrere Zeitungsartikel dabei, die bestätigen, dass er für meine Jacken verantwortlich ist und den Verlust bezahlen muss. Er schüttelt den Kopf.

»Das wusste ich nicht! Ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen.« Das sagt er, nachdem er die Paragrafen und die Artikel durchgelesen hat.

Ich kann nicht mehr.

»Ich muss etwas gestehen: Es waren meine Freunde, die unsere Jacken mitgenommen haben – ich wollte nur sehen, wie Sie reagieren. Ich habe vorhin auch das Steak gewogen – da war alles in Ordnung. Ich finde es generös von Ihnen, dass Sie bezahlen wollten. Eigentlich ist das eine schöne Geschäftsidee: Jacken in Restaurants klauen lassen.«

Er sieht mich verärgert an.

»Sie müssen nichts bezahlen, keine Sorge!«

»Sind Sie noch zu retten? Hier brummt der Laden, wir sind total ausgebucht – und Sie nerven mich hier fast eine halbe Stunde lang? Spinnen Sie denn total? Hier sind alle am Rotieren, und Sie quatschen mich voll wegen Jacken, die überhaupt nicht gestohlen wurden? Schauen Sie bloß, dass Sie Land gewinnen! Also so was!«

Ein köstliches Steak mit Beilagen: 39 Euro.

Eine Flasche Châteauneuf-du-Pape: 47 Euro.

Weder Steak noch Wein jemals wiederzubekommen aufgrund eines doofen Buchprojekts: unbezahlbar.

Es ist manchmal kein herrliches Gefühl, Paragrafen zu zitieren. Andererseits: Wären die Jacken wirklich gestohlen worden, hätte der Wirt sie wirklich ersetzen müssen. Das weiß nur kaum jemand.

Ich wende mich nun der flüssigen Gastronomie zu.

Ich gehe mit Freunden in eine Kneipe – und achte bei jeder Bestellung darauf, dass auch tatsächlich ein halber Liter in dem Glas eingeschenkt ist. Das geht jedoch lediglich zwei Runden lang gut, weil meine Freunde dann nur noch Flaschenbier bestellen. Ich bin ihnen peinlich. Die Bedienung ist langsam und unfreundlich, weshalb meine Freunde beschließen, auf Trinkgeld zu verzichten. Ich überlege, ob man nicht vielleicht ein wenig weitergehen kann.

(Un-)Wichtiges Wissen

Unfreundlichkeit ist kein Kri-
terium, eine Minderung wegen
mangelnden Services zu verlan-
gen. Es braucht objektiv nach-
weisbare Gründe: Wer etwa mehr
als 90 Minuten aufs Essen warten
muss, der kann Minderung ver-
langen. Bei Getränken sind es
gar nur 20 Minuten.

Ich lasse den Barchef rufen und erkläre ihm, dass die Bedienung unfreundlich gewesen sei und wir zudem länger als 20 Minuten auf unsere Bestellung warten mussten. Meine Freunde schämen sich, als wäre ich gerade nackt durch das Lokal geflitzt.

Der Barchef sagt gelangweilt: »Geht aufs Haus!«

Meine Freunde bestehen darauf, die Bar zu verlassen. Ihre Begründung: Was helfen einem Freigetränke, wenn das nächste Bier eine schleimige Konsistenz hat oder nach Spucke schmeckt?

Die Botschaft »Der Kunde ist König« wurde in vielen Bars und Clubs ersetzt durch »Halte die Klappe, oder ich spucke dir ins Bier«.

Wir gehen in eine Cocktailbar, ich bestelle einen Mai Tai, einen meiner Lieblingsdrinks. Er besteht aus Rum, Curaçao Orange, Orgeat, Zuckersirup und Limettensaft – in diesem Glas ist keine einzige dieser Zutaten.

Mein Getränk schmeckt wie eines dieser hypergesunden Gesöffe, die man im Fitnessstudio bekommt, wenn der Trainer bestellt. Man weiß dann: Was derart scheußlich schmeckt, muss gesund sein.

»Entschuldigung«, sage ich zum Barkeeper, der sich lieber auf die Frauen an der Bar konzentriert als auf die Zutaten in den Gläsern, »das ist kein Mai Tai, das ist ein Vitaminshake. Der lässt mich wach werden, aber nicht betrunken. Können Sie mir bitte einen neuen machen – diesmal aber mit Rum und Limettensaft!«

Wissen für Nichtjuristen

Ein Wirt muss Essen, das dem
Gast nicht schmeckt, nicht zurück-
nehmen. Geschmack ist kein ob-
jektiver Maßstab. Es braucht einen
objektivierbaren Grund, etwa dass
die Speise versalzen oder ver-
brannt ist. (§§ 433, 437, 439, 440
und 651 BGB)

Er nimmt das Glas ohne Murren und mixt einen neuen Cocktail – offenbar ist ihm das schon öfter passiert. Ich beobachte ihn dennoch, als wäre ich der Jäger des verlorenen Alkohols. Zum einen will ich sehen, was genau er da ins Glas schüttet, zum anderen möchte ich sichergehen, dass er nicht seine Spucke als eine der Zutaten verwendet. Er schüttet Rum hinein, allerdings so wenig, dass eine homöopathische Dosis als Überfluss gelten würde. Dazu irgendein Gemisch aus einer Plastikpackung und ein bisschen Zitronensaft. Während er schüttelt, zwinkert er einer Frau an der Bar zu, die offensichtlich sehr zufrieden mit ihrem Drink ist. Dann stellt er mir das Glas hin.

»Willst du mich verarschen?«, frage ich. »Ich möchte einen Cocktail und nicht nur den Tail!«

»Wie bitte?«

Er zwinkert der Frau wieder zu – als wollte er ihr zeigen, wie cool er diesen komischen Gast abfertigte.

»Einen anständigen Mai Tai, also einen mit Alkohol – und weil du nun drei Versuche gebraucht hast, wäre eine Runde des stärksten Getränks eine angemessene Entschädigung, oder?«

Er hebt die Augenbrauen: »In der Happy Hour sind die Cocktails nicht so stark.«

»Sagt wer?«

»Das weiß doch jeder! Ist Anweisung vom Chef!«

»Das ist aber illegal – man kann einen anständig gemixten Cocktail verlangen, auch zur Happy Hour.«

Ich hole mein BGB aus der Tasche und zeige ihm die Paragrafen, ich habe auch noch das Original-Mai-Tai-Rezept dabei. Meine Freunde tun derweil, als wäre ich ein verrückter Stalker, der ihnen in die Bar gefolgt ist. Der Barkeeper sieht auf Rezept und Gesetz: »Wir bereiten die hier normalerweise anders zu. Ich mische dir einen, wie du magst, und du bekommst noch ein Glas mit dem stärksten Schnaps, den wir hier haben.«

Meine Freunde tun mittlerweile so, als hätte ich ein Elixier genommen, das mich unsichtbar macht. Nach einigen Minuten habe ich meinen Cocktail in der Hand und dazu ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.

»Slibowitz«, sagt er.

Ich kippe die Flüssigkeit hinunter und bin zufrieden – zumindest eine Minute lang. Dann wird mir schwummrig, ich sehe nichts mehr, und ich merke, wie meine Knie zu Pudding werden. Ich schaffe es gerade noch auf die Toilette, wo ich mich meiner Meinung nach fünf Minuten sammle. Als ich wieder zurückkomme, fragen mich meine Kumpels, wo zur Hölle ich die vergangene halbe Stunde gewesen bin. Zwei sind schon gegangen.

Der Barkeeper grinst: »72 Umdrehungen – du wolltest das Stärkste.«

Wir bleiben noch zwei Stunden, irgendwann ist meine Sehkraft wieder da. Adam und ich sind die Letzten, die noch übrig geblieben sind, die anderen sind aus fadenscheinigen (Arbeit), unsinnigen (Müdigkeit) und durchaus nachvollziehbaren (Freundin im Nachthemd) nach Hause gegangen. Ich bleibe immer bis zum Ende, ich bin der Großrechner des Weggehens: entweder eins oder null.

Adam und ich haben nur Mai Tai getrunken, dennoch sagt der Barkeeper: »Da sind noch zwei Cuba Libre offen, die haben eure Freunde vergessen.«

Ich sage: »Na und?«

»Könnt ihr die schnell mitbezahlen? Ihr wisst schon: Der Letzte zahlt die Rechnung!«

Das ist wie ein Elfmeter für mich. Der Spruch mit dem Letzten und der Zeche ist nämlich ebenso falsch wie der mit der Garderobe und der Haftung. Es ist die Aufgabe des Wirts, Einzelrechnungen zu führen und jeden Gast korrekt abzukassieren. Der Gast muss sich nicht einmal merken, wie viel er getrunken hat – auch das ist Aufgabe des Wirts.

»Das stimmt nicht, der Letzte zahlt überhaupt nicht!«

»Aber der Adam zahlt.«

Während ich mir eine Strategie überlegt habe, meine Meinung zu begründen, hat Adam längst die Getränke der anderen bezahlt und führt mich nun nach draußen: »Nur weil du im Recht bist, musst du noch kein Vollidiot sein. Wir haben das getrunken, und wir bezahlen es auch. Die anderen geben uns beim nächsten Mal einen aus. Es wird Zeit, dass dein Projekt vorbei ist. Du bist wirklich zu einem schrecklichen Pedanten geworden.«

Es stimmt: Ich bin so ungenießbar wie mancher Cocktail. Ich muss aufhören, wie ein Pedant daherzukommen.

Ich sehe ihn an: »Aber wenn wir in einer Auster mal eine Perle finden, dann stecken wir sie einfach ein und gehen heim.«

»Das tun wir«, sagt er – und setzt mich in ein Taxi.