Kapitel 3
Dermot saß aufrecht im Bett und atmete schwer. Er war in Schweiß gebadet, als wäre er gerade nach einem Marathon ins Ziel gelaufen. Er vernahm das lang anhaltende Klingeln der Türglocke, als Neela aus dem Badezimmer gelaufen kam.
»Lieber Himmel, Dermot! Was ist los? Du hast geschrien. Bist du okay?« Sie nahm ihn in die Arme, während die Glocke weiter schrillte.
»Mir geht’s gut, Neela. Es war nur ein Albtraum.«
Er legte sich zurück. »Hey, kannst du zur Tür gehen? Dieser Lärm treibt mich in den Wahnsinn.«
Neela erhob sich. Das leere Gefühl der Zurückweisung machte ihr zu schaffen.
Der Radau verstummte, sobald sie den Fuß der Treppe erreicht hatte. Sie öffnete die Haustür und erhaschte einen Blick auf einen Mann mit orangerotem Haar in einem langen braunen Reitermantel; er schlurfte die Straße hinunter in Richtung Pershing Square. Gleich darauf entdeckte sie einen handgeschriebenen Flyer, der nur halb im Briefkasten steckte und in der Morgenbrise flatterte.
»Wer war das?«, schrie Dermot, der inzwischen in der Küche Kaffee machte. Neela gesellte sich zu ihm und las laut vor, was auf dem Flugblatt stand: »Verlange nie zu wissen, für wen die Glocke schlägt; sie schlägt für dich.«
»Was hat John Donne mit alldem zu tun?«
»Das steht hier, Liebling. Ein Typ hat das in den Briefkasten gesteckt. Wenigstens glaube ich, dass er es war – ich hab nicht selbst beobachtet, wie er es getan hat. Es ist handgeschrieben.«
»Du hast ihn gesehen?«
»Ja. Hauptsächlich von hinten. Er hat sich nur einmal kurz zu mir umgedreht, dann verschwand er um die Ecke.«
»Wie sah er aus?«
»Ende sechzig, schätze ich. Vielleicht älter. Er trug einen dieser langen Cowboy-Mäntel, die bis zu den Knien reichen. Orangerote Haare.«
»Scheiße. Das ist derselbe komische Kauz.«
»Der mit dem Manuskript?«
»Ja. Hast du sein Gesicht gesehen?«
»Flüchtig. Griesgrämig und verwittert. Wahrscheinlich ein Obdachloser. Er hatte den Bart von etwa einer Woche. Rötlich, genau wie sein scheußliches Haar.«
»Komm mal kurz mit.« Dermot ging in sein Arbeitszimmer und holte das Manuskript aus dem Papierkorb. Dann nahm er ihr den Flyer aus der Hand und verglich die Schrift mit der auf der Titelseite des Manuskripts. »Schau – es ist dieselbe Schrift«, sagte er und zeigte ihr beides. »Ich sage dir, wenn ich diesen Spinner noch einmal in der Nähe dieses Hauses erwische, ramme ich ihm sein verfluchtes Manuskript in den Arsch. »Sie schlägt für dich.‹ Guter Gott, was hat es mit dem Kerl auf sich?«
»Hältst du ihn für gefährlich? Sollten wir Mike anrufen?« Detective Mike Kandinski war Dermots Kontaktmann zur North Hollywood Division Police. Seit Jahren waren sie locker befreundet, und Mike half Dermot bei den Recherchen, wenn es um Polizeiarbeit oder rechtliche Fragen für seine Romane ging »Glaubst du, ich übertreibe?«, fauchte er Neela an.
Sie entschied, nicht darauf einzugehen. »Na ja, vielleicht ist die Antwort in dem Manuskript zu finden.«
»Meinst du nicht, dass ich Besseres zu tun habe, als das Machwerk irgendeines verrückten Typen zu lesen?«
»Im Moment? Vielleicht nicht.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie sie zutiefst. »Entschuldige, Liebling. Ich hab’s nicht so gemeint.«
»O doch, ganz bestimmt.«
Das Telefon läutete, und Dermot erstarrte. »Wenn das Esther ist – ich bin beim Joggen.«
Neela seufzte. »Du kannst ihr nicht bis in alle Ewigkeiten aus dem Weg gehen. Du musst mit ihr reden. Alles erklären. Ihr offen sagen, wie die Dinge stehen. Du bist kein Automat, der alle zwei Jahre einen Roman ausspucken kann. Zu seiner Zeit war Dostojewski ein Schnellschreiber, und er hat im Schnitt alle drei Jahre ein Buch geschafft.«
Sie nahm den Hörer ab. »Hi, Esther. Leider hat er gerade das Haus verlassen, um in den Park zu gehen. Joggen. Ich sage ihm, dass er zurückrufen soll, wenn er wieder da ist. Alles Gute. Tschüs.«
Sie legte den Hörer weg, und Dermot umarmte sie.
»Danke. Du darfst das Vertrauen nicht verlieren, Neela. Alles wird gut. Bald werden wir wieder das gute Leben genießen, und dann bekommen wir die Babys, die du dir wünschst. Du musst an mich glauben. Das ist alles.«
»Ich habe niemals an dir gezweifelt, Liebling. Nicht vor dem Booker Prize und nicht danach.«
Neela sah zu, wie Dermot das Manuskript zum zweiten Mal in den Papierkorb warf. »Darf ich mir das mal anschauen, ehe du es den Müllmännern überlässt?«
»Es ist brutal, nihilistisch und sadistisch – das ist mein Eindruck nach den ersten drei Seiten. Aber bitte, überzeug dich selbst. Ich ziehe einen Spaziergang vor. Vielleicht inspiriert mich die frische Luft. Ausflüge in die Tundra haben bei Tolstoi gewirkt.«
»Ist er nicht an Lungenentzündung gestorben?«
»Der springende Punkt ist, dass er vor seinem Tod sehr produktiv war. Außerdem lebte er in Russland, um Himmels willen. Er ist bei minus dreißig Grad ohne Thermoklamotten durch die Gegend gestapft. Irgendwann musste ihn die Kälte ja umbringen.«
Neela nahm das Manuskript aus dem Papierkorb und ging damit in die Küche.