Kapitel 1
Der Autor Dermot Nolan, Ire von Geburt und gut aussehend, besaß alles, was man sich nur wünschen konnte. Als britischer Staatsbürger hatte er vor zwei Jahren den Booker Prize und im Vorjahr den Flannery O’Connor Award für Kurzgeschichten gewonnen. Sein jüngstes Werk, Incoming Tide, stand auf der Bestsellerliste der New York Times, und eine Verfilmung des Stoffes wurde ins Auge gefasst; aus diesem Grund war sein Bankkonto bis vor kurzem so gut bestückt gewesen, dass er sich wegen der laufenden Lebenskosten keine Sorgen zu machen brauchte. Nolan war der Liebling und die Melkkuh seiner temperamentvollen jüdischen Literaturagentin Esther Bloom. Neela, seine Ehefrau, die er abgöttisch liebte, war hochintelligent und schön. Ihre zarte Gestalt erinnerte an Audrey Hepburn.
Fast zwei Jahre lang hatten die Nolans genügend Geld gehabt, um sich alles zu kaufen, was ihr Herz begehrte. Sogar eine kleine Yacht wäre möglich gewesen. Allerdings hatten weder Dermot noch Neela Interesse an solchem Luxus. Sie lebten in einem geräumigen umgebauten Lagerhaus in Los Angeles, teilten ihre Wohnung mit einer fetten marmeladefarbenen Katze namens Cheesecake und besaßen nur ein Auto – einen praktischen, aber unspektakulären Peugeot 207 mit getönten Scheiben.
Man hätte also annehmen können, dass Dermot ein glücklicher Mann war. Doch das war er nicht. Vielmehr war sein Leben von Verzweiflung überschattet. Seit einem geschlagenen Jahr hatte er kein einziges Kapitel mehr zu Papier gebracht; genauso lange belog er seine Agentin und behauptete, der Text »sprudele« nur so aus ihm heraus. In Wahrheit waren seine Gedanken zäh wie Sirup, und er hatte Angst, weil er eine Million Dollar Vorschuss von seinem Verleger Dan Wasserman bekommen und beinahe das ganze Geld bereits ausgegeben hatte.
Esther unterstützte ihn unermüdlich und wartete geduldig darauf, dass ihr Lieblingsschützling sein neues »Meisterwerk« präsentierte – Booker-Prize-Gewinner setzte man nicht unter Zeitdruck, man verhätschelte sie. Für Dan Wasserman, den Boss von Gunning and Froggett, hingegen war Zeit Geld. Dans Verlag hatte ein Vermögen mit Dermots Incoming Tide gemacht, doch nun wartete er bereits seit achtzehn Monaten auf das nächste Werk und fragte sich allmählich, ob er das Geld des Unternehmens für ein Versprechen verschwendet hatte, das Nolan niemals einlösen würde.
An dem schicksalhaften Tag, an dem Dermot das Tagebuch in die Hände fiel, kam er gerade von einem Termin mit seinem Finanzberater zurück. Auf keinen Fall etwas kaufen, sondern abstoßen, was noch übrig war, hatten Dermots Instruktionen gelautet.
Als er wenige Blocks vom Pershing Square entfernt auf den Linley Place einbog, fiel ihm sofort ein alter Mann mit zerlumptem langem Reitermantel und strähnigen, gräulich orangeroten Haaren auf, der sich an seinem Briefkasten zu schaffen machte. Beim Näherkommen entdeckte er, dass der Mann Mühe hatte, einen dicken Umschlag durch den Schlitz zu schieben.
»He, Sie!«, rief Dermot, als er die Wagentür zuschlug und zu laufen begann.
Der alte Mann drehte sich um, schuldbewusst wie ein Kind, das eine Standpauke von seinen Eltern erwartete. Dermot schrie noch einmal, aber der Stadtstreicher machte sich erstaunlich behände aus dem Staub und ließ den prallen wattierten Umschlag, der nur zur Hälfte im Briefkasten steckte, zurück. Das Kuvert sah aus, als enthielte es ein Manuskript. Bevor Dermots erster bahnbrechender Roman Beneath the Level veröffentlicht worden war, hatte er regelmäßig solche Umschläge von Verlagen und Agenturen zurückbekommen.
Dermot zog das Päckchen aus dem Schlitz des Briefkastens und las die Vorderseite: »Für Dermot Nolan.« Auf der Rückseite stand: »Von Albert K. Arnold.«
Kopfschüttelnd klemmte sich Nolan den Umschlag unter den Arm, ging zur Haustür und tippte den Code in den Zahlenblock des Schlosses. Alle hielten ihn für den neuen Hemingway.
Alex Popov, ein weltberühmter Architekt, hatte das frühere Lagerhaus zu einer luxuriösen Wohnung auf drei Ebenen umgestaltet. Die Böden bestanden aus poliertem Douglastannenholz, die Wände waren cremefarben im Eingangsbereich und weiß in den beiden oberen Etagen. Das Parterre bestand aus einem offenen Wohnraum, einem Arbeitszimmer, einer großen Küche und einem Gästebad. Erlesene Kunstwerke zierten die Wände – ein Scheeler, ein Sciberras, zwei kleine Boyds, ein neuerer Kamrooz Aram und ein einigermaßen handlicher Pollock, den Dermot nach zu viel Veuve Clicquot bei einer Christie’s-Auktion ersteigert hatte. Es war vorgesehen, dass Nick Hoyle, ein enger Freund der Nolans und »Kunsthändler im Auftrag der Reichen und Schönen«, diese Bilder verkaufte.
»Was ist das für ein Päckchen?«, wollte Neela wissen, die gerade aus der Küche kam. Ihr spröder Ton spiegelte den gegenwärtigen Zustand ihrer Ehe wider.
»Keine Ahnung. Ein seltsamer Typ hat versucht, es in unseren Briefkasten zu stopfen. Ich habe ihm etwas zugerufen, doch er ist gleich auf und davon.«
»Lass es zu, wenn es nicht mit der Post gekommen ist«, wies sie ihn unvermittelt an.
»Da hat sie recht, Dermot.« Nick Hoyle kam nach Neela mit einer Flasche Neuseeland Marlborough Sauvignon blanc und drei Gläsern aus der Küche.
Nick war ein guter Freund, seit Dermot ohne jede Wehmut von London nach Kalifornien übersiedelt war. Nick hatte die Ausstrahlung eines Daily-Soap-Stars, auch wenn niemand sagen konnte, wem genau er ähnelte. Seine Augen wirkten ein wenig gehetzt und ernst, das Funkeln jedoch ließ auf Humor und die ständige Bereitschaft zu lachen schließen. Und das, obwohl sein linkes Bein während seiner Armeezeit in Tikrit, Irak, vor ein paar Jahren schwer verwundet worden war. Bei diesem Einsatz hatte er die Tapferkeitsmedaille verliehen bekommen, weil er im Alleingang fünf Kinder aus einem brennenden Schulgebäude gerettet hatte. Zwar war sein Bein zweimal operiert worden, dennoch hinkte er und stützte sich auf einen antiken Stock mit Silberknauf, den er in Londons Silver Vaults erstanden hatte.
Dermot, Nick und Neela hatten gleichzeitig an der UCLA studiert – Dermot Kunst und Naturwissenschaften, Nick bildende Kunst und Neela Medien- und Naturwissenschaften. Dermot lernte Neela in der ersten Studienwoche kennen, und sie verliebten sich während des ersten Semesters. Im selben Jahr war Nick Giselle begegnet – einem bezaubernden Mädchen französischer Herkunft, groß gewachsen, schlank, dunkelhaarig und elegant. Sie studierte Literatur und träumte davon, eine respektierte Literaturagentin zu werden. Dermot, Nick, Neela und Giselle schlössen sich zu einer Viererbande zusammen und wurden unzertrennlich.
Nach dem Studienabschluss machte sich Nick als Kunstsachverständiger selbstständig, um die reichsten Geschäftsleute von L.A. zu beraten, Kunstportfolios verschiedener Firmen zu verwalten und im Auftrag seiner Klienten bei Auktionen mitzubieten. Giselle wurde in der Literaturagentur Bloom & Associates angestellt und überredete ihre neue Chefin Esther Bloom, Dermot unter ihre Fittiche zu nehmen. Zu der Zeit, in der Dermot die amerikanische Staatsbürgerschaft bekam, begann er mit seinem ersten Roman Beneath the Level, der mit Thomas Manns Tod in Venedig verglichen wurde, aber im verschneiten Montana spielte; dieses Erstlingswerk brachte ihm Nominierungen für den Whiting Writers’ Award und den Hemingway Foundation/PEN Award ein. Im selben Jahr wurde Neela Junior-Kuratorin des Los Angeles County Museum of Art. Alles lief bestens. Zumindest für eine Weile …
»Was soll ich deiner Meinung nach tun? Die Cops alarmieren?«, fauchte Dermot seine Frau an, während er sein Arbeitszimmer ansteuerte.
Neela gab keine Antwort.
Sobald er seinen Schreibtisch erreichte, griff er nach dem Brieföffner und schlitzte das dicke Kuvert auf. Er hatte richtig geraten. Es war tatsächlich ein Manuskript, allerdings war es nicht getippt, sondern in kindlicher Handschrift geschrieben. Dermot verlor augenblicklich das Interesse und ließ es auf den Schreibtisch fallen. Es gab genügend andere Dinge, um die er sich sorgen musste, beispielsweise um Neelas Stimmung. Ihr aggressiver Ton verriet ihm, dass dies wieder einer der emotional unterkühlten, angespannten, feindseligen, unversöhnlichen Tage war. Als sie nach ihm ins Zimmer trat, bekam er die Bestätigung.
»Esther hat vorhin angerufen. Du hast dein Handy zu Hause liegen lassen, deshalb konnte sie dich nicht erreichen. Sie …«
« … möchte die ersten Kapitel haben. Ja, ich weiß«, fiel ihr Dermot ins Wort. »Sie wird warten müssen.«
»Hey, ich richte dir nur was aus. Mich brauchst du nicht für die Nachricht zu strafen.« Ja, die Gereiztheit war da wie immer und aus denselben Gründen wie immer. Neela war in den Dreißigern und bereit, Kinder zu bekommen; Dermot war das nicht. Zwar wünschte er sich eine Familie, wollte aber mit der Gründung warten, bis er finanziell wieder auf sicheren Füßen stand. Wenn Dermots Schriftstellerkarriere auch in Zukunft so düster blieb, wie sie gegenwärtig war, konnte Neela davon ausgehen, dass dieser Tag nie kommen würde. Dies war einer von vielen Gründen ihres Zerwürfnisses.
»Sie scheint zu glauben, dass du bald mit etwas aufwarten kannst. Wir wollen’s hoffen.«
Dermot schwieg.
»Du wirst Esther ein paar Seiten geben müssen, auch wenn es nur eine Zusammenfassung ist. Dan hat den Vorschuss schon vor Monaten überwiesen.«
»Stimmt. Was schlägst du vor? Soll ich Wasserman den Scheck zurückgeben?« Dermot deutete zur frisch renovierten Küche. »Das Geld ist längst weg, wie du weißt.«
»Schrei mich nicht so an, Dermot. Das ist Nick gegenüber nicht fair – er ist unser Gast.«
»Ich bin ein Freund«, rief Nick aus dem Wohnzimmer.
Dermot brachte ein Lächeln zustande. »Tut mir leid, Nick, und bei dir entschuldige ich mich auch, Liebes. Es ist nur …«
»Und? Was war in dem Umschlag?«, unterbrach ihn Neela.
»Der übliche unaufgeforderte Quatsch. Die Leute mühen sich nicht mehr jahrelang mit Verlagen und Absagen ab, sondern legen ihre Manuskripte gleich auf Dermot Nolans Türschwelle. Er managt das dann schon – der arme Teufel hat ja sonst nichts zu tun. Seit einem ganzen Jahr fehlen ihm die zündenden Ideen.«
Nick kam ins Arbeitszimmer und hielt beschwichtigend die Hand hoch. »Hey, wenn ihr Geld braucht, ich leih euch was. Im umgekehrten Fall würdet ihr mir auch aus der Patsche helfen.«
Weder Dermot noch Neela reagierten, doch ihren Gesichtern war anzusehen, dass beide Nicks Angebot ernsthaft in Betracht zogen.
»Hör zu, wenn es euch lieber ist, kann ich auch Zinsen auf das Darlehen berechnen, rückzahlbar, sobald Dermot den nächsten literarischen Preis gewinnt. Sagen wir jährlich zwei Prozent, bis du den Pulitzer einheimst?«
»Klar«, brummte Dermot mürrisch.
Neela ging auf Nick zu und umarmte ihn. »Du bist der Beste. Vielleicht später? Wenn es wirklich hart auf hart kommt.«
Dermot lachte unfroh. »Sie spricht von morgen früh.«
Neela war fest entschlossen, sich die Laune nicht noch mehr verderben zu lassen.
»Nun, das Angebot steht. Es geht nur um Geld – also nicht um Leben und Tod. Es ist besser, den Reichtum mit der einzigen Familie zu teilen, die ich habe.«
Dermot und Neela wechselten einen betretenen Blick, weil sie so unsensibel gewesen waren nach allem, was Nick durchgemacht hatte.
»Ich muss los«, verkündete Nick und stellte das halb ausgetrunkene Weinglas auf den Schreibtisch. »Ein Klient ist furchtbar scharf auf einen Klimt, ich soll ihn für ihn ersteigern. Ich muss also meine gleichgültigste Miene aufsetzen und den anderen Bietern bei Christies’s weismachen, dass ich keinerlei Interesse habe. Mein Klient kann nur bis zwei Millionen gehen, und das ist eigentlich viel zu wenig für den Klimt.«
Nick nahm das eingepackte Bild, das er mitgebracht hatte, in die Hand und ging zur Tür.
»Hey, was hast du da?«, wollte Neela wissen.
»Sehen wir’s uns an.« Nick riss das Klebeband ab und nahm ein kleines Gemälde aus der Verpackung.
Neela betrachtete es. »Warhol. Eines aus den Absolut-Vodka-Serien. Ich liebe es. Wer ist der Klient?«
»Ein bekannter Restaurateur, dem es nicht gut geht und der die Kohle braucht, um zu überleben.«
Betretenes Schweigen machte sich breit – wieder ging es um das liebe Geld.
Nick schlug einen heitereren Ton an: »Ich sehe hier einen Warhol, aber Jerry Warschein sieht darin die Gehälter für seine Angestellten und ein paar Wochen in Palm Springs.«
»Falls es sich verkaufen lässt.« Dermot wollte negativ denken; das war seine Art, sich selbst zu geißeln.
»Hey, jeder mag Wodka.« Neela gab sich alle Mühe, unbekümmert zu klingen.
»Er wird sich ein paar Wochen im Villa Royale Inn leisten können, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe«, sagte Nick. »Und ich? Ich bekomme eine Woche Jamaika. Dafür sorgt schon die Provision.«
Neela lächelte, Dermot hingegen hörte gar nicht mehr zu. Nick ging zur Haustür und stützte sich schwer auf seinen Stock.
»Bis später«, rief er Dermot zu. »Vergesst nicht, ich bin für euch beide da.«
Neela nahm das Weinglas an sich und verließ nach Nick das Arbeitszimmer. Dermot hob das Manuskript auf. Die einzelnen Blätter wurden auf der linken Seite von einem Metallbügel zusammengehalten. Er las die Titelseite: Meine schlimmsten Albträume – kostbare Erinnerungen von Albert K. Arnold.
Er seufzte matt. Horrorgeschichten hatten noch nie zu seiner Lieblingslektüre gehört. Ohne großes Interesse blätterte er weiter, als Neela wieder hereinkam. Sie warf einen Blick auf den wattierten Umschlag.
»Und? Worum geht’s?«
»Lass mir Zeit, Neela – bisher habe ich noch keine Zeile gelesen, vom Titel abgesehen, den ich schrecklich finde.«
»Weil er zu lang ist? Wer hätte gedacht, dass Mitternacht im Garten Gottes und des Teufels funktioniert? Oder Alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie gewagt haben zu fragen?«
»Nein, nicht weil er zu lang ist. Er hat etwas Widerliches an sich. Wahrscheinlich ist es das schlecht geschriebene Machwerk eines pseudobritischen Möchtegern-Akademikers.« Dermot begann laut vorzulesen: »›Mein Name ist Arnold. Mittlerweile bin ich allein. Meine Absicht war, Leid über andere zu bringen, und zwar im selben Maße, wie ich es erdulden musste. Für alle, die mit Mühsal beladen sind, kommt die Erlösung. Leid bringt Erlösung. Kein Mensch weiß, was echte Qualen sind, wenn er nie einen wahren Verlust erlitten hat.‹ Siehst du?«, fragte er. »Das ist wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack auf das blanke Grauen.« Dermot warf das Manuskript in den Papierkorb und bedachte es mit einem bösen Blick. »Eines sag ich dir, du beschissener Schreiberling: Das einzige Leid, das du über mich bringen könntest, wäre das Bedauern, Zeit mit deinem Unsinn vergeudet zu haben. Aber ich habe eine Neuigkeit für dich – ich verzichte darauf, krankes Arschloch.«
Neela öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich jedoch eines Besseren. Dermots Stimmungsschwankungen häuften sich in letzter Zeit, und seit einem guten Jahr steckte er in einer tiefen Depression. Ihm genügte ein klitzekleiner Vorwand, um einen Streit vom Zaun zu brechen, mit ihr oder jedem anderen, der zufällig anwesend war, wenn die Gäule mit ihm durchgingen.
»Was?«, tobte er.
»Vergiss es.«