Kapitel 3

Auch nachdem sie in eine ruhigere Straße abgebogen und ein, zwei Blocks weit gegangen waren, hämmerte Sophies Herz noch immer beängstigend schnell. Sie sollte schleunigst zurück in die Kirche eilen und Julianna finden, damit sie gemeinsam eine Mietdroschke nach Hause nehmen konnten. Aber sie ertrug es nicht, nach St. George’s zurückzugehen.

Sie sollte wirklich nicht mit einem Fremden durch die Stadt spazieren – und das würde sie auch nie tun, wenn sie nicht dieses gewisse Gefühl für Mr Brandon hegen würde. Ein Gefühl, das man in zwei Worten zusammenfassen konnte: der Richtige. Sie wollte mit diesem Mann zusammen sein.

Es ist noch zu früh, um tatsächlich Gedanken dieser Natur zu hegen, schalt sie sich und versuchte, sie so gut wie möglich zu ignorieren.

Was für ein turbulenter Morgen!

Ihr Herz raste und verstärkte das Gefühl von Schmetterlingen in ihrem Bauch. Kein Wunder, bei der dramatischen Begegnung, die sie gerade überlebt hatte: Sie war dem Tode nahe gewesen und auf romantische Weise gerettet worden! Sie wollte entzückt auflachen, obwohl sie vor nicht mal einer Stunde noch verzweifelte Tränen zurückgedrängt hatte.

Sophie blickte zu Mr Brandon auf und ertappte ihn dabei, wie er seinerseits versuchte, einen heimlichen Blick auf sie zu werfen. Er war überdurchschnittlich groß, aber seine stattliche Gestalt schüchterte sie nicht ein, vielmehr fühlte sie sich beschützt. Sein Haar war dunkel, und er trug es kurz, statt der modischen Unsitte zu folgen, die lange und zerzauste Locken verlangte. Mr Brandon hatte helle grüne Augen, die durch das modische Jagdgrün seines Gehrocks nur noch leuchtender wirkten. Wenn er sie anlächelte – und er lächelte sie oft an –, bildeten sich zarte Fältchen in seinen Augenwinkeln. Er machte auf sie keinen besonders alten Eindruck, strahlte aber etwas sehr Kluges aus. Ihr Retter war zweifellos ein sehr attraktiver Mann.

Sophie blickte zu Mr Brandon auf – schon wieder, und erneut warf er ihr einen verstohlenen Blick zu. Alles war so schüchtern und unbeholfen und zugleich so schrecklich süß – und völlig anders als alles, was Sophie bisher erlebt hatte. Sie hatte Matthew geliebt, aber ihr Herz hatte er nicht höher schlagen lassen. Nicht so wie dieser Mann.

»Miss Harlow, ich muss Sie warnen.« Sie blickte neugierig zu ihm auf, weil er plötzlich so ernst klang. »Wir gelangen jetzt an eine Kreuzung. Bitte versuchen Sie, diesmal nicht überstürzt auf die Straße zu treten«, sagte er ernst. Sie lachte. Sie wünschte sich einen Mann, der sie zum Lachen brachte und nicht zum Weinen. Ihr Herz trommelte laut im Takt der Worte: Der Richtige. Der Richtige. Der Richtige.

»Die neusten Nachrichten! Zeitung nur sieben Pence!«, rief ein junger Mann, der an der Ecke mit einem Stapel Zeitungen in der Hand stand.

»London Weekly! Kaufen Sie die neueste Ausgabe!«, schrie er den Dutzenden Fußgängern entgegen, die darauf warteten, die Straße überqueren zu können. Unter ihnen waren auch Sophie und Brandon.

»Lesen Sie solchen Unsinn, Miss Harlow? Oder ist Ihnen die Times lieber?«

Sophie schaffte es, ihm ein knappes Lächeln zuzuwerfen, doch zugleich dachte sie: Verflixt und zugenäht!

Sie las die London Weekly nicht nur, sie schrieb sogar für dieses Blatt. Das konnte sie ihm keinesfalls gestehen. Ihr Stolz erlaubte es ihr allerdings auch nicht, die Times ihres Interesses für wert zu befinden. Schließlich war sie der Erzrivale ihrer eigenen Zeitung. Aber sie wollte auch nicht behaupten, dass sie gar keine Zeitung las. Es wäre doch schrecklich für Mr Brandon, wenn er glauben müsste, dass sie eine uninformierte Närrin war. Schließlich wollte sie ihn beeindrucken.

»Ich glaube, die meisten Londoner lesen diesen Unsinn«, sagte sie daher. Als der Weg frei war, legte er seine Hand auf ihren Rücken und führte sie durch die Menge. Ein leiser Schauer durchrieselte sie.

»Das stimmt natürlich. Die London Weekly ist die Zeitung mit den skandalösen Schreibfräulein, die über noch skandalösere Ereignisse berichten, oder?«

»Genau«, antwortete Sophie. Diese Beschreibung seines liebsten Projekts würde Mr Knightly gefallen. »Und was denken Sie über diese kritzelnden Frauen?« Jeder in der Stadt hatte zu diesem Thema eine Meinung. Es hatte sie nie interessiert, was irgendjemand darüber dachte. Bis jetzt.

»Ich halte es für skandalös, aber den Tätigkeiten, die einer Frau sonst noch offenstehen, bei Weitem vorzuziehen«, gab Brandon zurück. Sophie grinste breit. Er würde ihre innere Stimme verstehen: Näherin oder Dienerin, Gouvernante oder Mätresse. Sie wollte ihm gerade eröffnen, dass sie eine dieser anstößigen Frauen war, die über Skandale berichteten, aber dann …

»Natürlich wäre es etwas völlig anderes«, fuhr er fort, »wenn die fragliche Dame eine meiner Schwestern oder meine Frau wäre.«

Sophie machte – unglücklicherweise – wieder einmal Bekanntschaft mit dem schrecklichen Gefühl, wenn Hoffnungen zerschmettert werden. Ihr Mut sank.

»Haben Sie eine Frau?«

»Nein«, sagte er, und sie erwartete, dass er »allerdings« oder »aber« oder irgendetwas anderes anfügen würde, was ihre romantischen Fantasien endgültig zum Einsturz brächte. Doch er sprach nicht weiter, und so wagte sie es, ihre Gedanken und Träume von dem Richtigen fortzusetzen.

Die Frage erwischte Brandon auf dem falschen Fuß, und er zögerte, ehe er darauf antwortete. Er hatte keine Frau, das stimmte. Er hatte allerdings eine Verlobte. Wenn er Miss Harlow irgendwann noch einmal begegnen würde, würde er sie jetzt bestimmt über seine Verlobung in Kenntnis setzen. Aber sie hatten nur diesen einen Nachmittagsspaziergang. Lady Clarissa zählte in diesem Fall nicht.

»Es wäre sehr liederlich und verrucht, wenn Sie mit anderen Frauen umherspazieren würden, obwohl Sie verheiratet sind«, bemerkte Miss Harlow. Er hoffte, sie würde das Zucken seiner Augenbrauen nicht bemerken.

»Stimmt, das wäre ziemlich ruchlos von mir«, gab er ihr recht. »Man müsste mich läutern.«

»Geläuterte Lebemänner geben die besten Ehemänner ab«, trug Miss Harlow vor.

»Stimmt das wirklich?«, fragte Brandon sich laut. Man konnte keine zehn Minuten in der Stadt sein, ohne diese abgedroschene Phrase zu hören. Trotzdem gab es für ihn keine Beweise, die diese gewagte These stützten.

»Ich wüsste nicht. Wissen Sie mehr? Sind Sie gar ein Lebemann?«, fragte Miss Harlow. Brandon ertappte sie dabei, wie sie ihm einen schüchternen Seitenblick zuwarf. Ihre geheimnisvollen, dunklen Augen ruhten auf ihm. Für eine Sekunde raubte sie ihm den Atem.

»Ich weiß nichts darüber«, beantwortete er ihre erste Frage.

»Sie wissen nicht, ob Sie ein Lebemann sind?«, neckte sie ihn.

Sonst machte sich nie jemand über ihn lustig. Außerdem verdächtigte ihn niemand eines ausschweifenden Lebenswandels. Es gefiel ihm, wenigstens für kurze Zeit nicht der Duke, sondern einfach Mr Brandon zu sein. Zu schade, dass er es nicht bleiben konnte.

»Ich bin bestimmt kein Lebemann«, antwortete er ehrlich.

»Das behaupten sie alle«, gab sie schlagfertig zurück.

»Das glaube ich gerne«, erwiderte Brandon. Eine leise Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, da er unwillkürlich an seine Freunde bei White’s denken musste.

»Oh, wollen wir durch den Park spazieren?«, schlug sie vor, als sie den Bloomsbury Square erreichten. »Ich liebe es, durchs Grün zu wandeln.«

Der Bloomsbury Square war tatsächlich sehr hübsch gestaltet mit sauber geharkten Kieswegen, die zwischen Rasenflächen und unter riesigen Eichen kreuz und quer gingen. Sobald sie den Park betreten hatte, schien der Lärm der Stadt zurückzuweichen. Die Luft roch sogar etwas süßer, fand er.

»Kann es sein, dass Sie zufällig vom Land kommen, Miss Harlow?«

»Ja«, sagte sie. »Können Sie etwa erkennen, dass ich keine Londonerin bin?«

»Ich habe nichts dergleichen vermutet, bis Sie Ihr Interesse an Bäumen und Gras zum Ausdruck gebracht haben. Seit wann leben Sie in der Stadt?«

»Erst seit knapp einem Jahr. Ich bin hier glücklich, aber gelegentlich vermisse ich das Land. Besonders dieses Gefühl von Weite und den Wind, der in den Bäumen rauscht, und das Zirpen der Grillen am Abend …«

»Nichts davon gibt es in London«, gab Brandon zu.

»Was ist Ihnen lieber? Die Stadt oder das Land«, fragte sie.

»Ich mag beides«, sagte er.

»Das ist keine faire Antwort!«

»Aber es ist eine ehrliche Antwort. Ich liebe die Energie der Stadt, denn ich kann ihr leicht entfliehen in die Ruhe des Landes – und umgekehrt.« Es war ein Luxus, hin und her zu reisen, wie es ihm beliebte. Die Verwaltung vieler Landsitze machte es zudem erforderlich, aber er fand, es war die Mühe wert.

»Sie können sich glücklich schätzen, jederzeit dorthin zu gehen, wo Sie gerne sein möchten«, sagte sie wehmütig.

»Oh, ich gebe nicht einfach meinen Launen nach. Alles muss sorgfältig im Voraus geplant werden«, antwortete er.

»So war ich früher auch einmal. Heute weiß ich, ein Plan bedeutet nicht, dass er auch ausgeführt wird«, sagte sie.

Die Traurigkeit in ihrer Stimme machte ihn neugierig. Aber es stand außer Frage, sich zu erkundigen, warum das so war. Ein Mann mit Verstand vermied in einem Gespräch sensible Themen, die eine Lady in Tränen ausbrechen ließen.

»Darum sollte man immer noch einen Alternativplan haben«, meinte er stattdessen. Sie lachte.

»Sie müssen sich scheinbar immer auf alles vorbereiten. Ich wette, Sie vergessen nie eine Verabredung und werden auch nicht vom Regen überrascht, weil Sie stets einen Schirm zur Hand haben. Und bei Dinnerpartys geht Ihnen nie der Wein aus.«

»Woher wissen Sie das?« Zugegeben, er hatte Personal, das ihn bei diesen Fragen unterstützte. Aber er war berüchtigt dafür, dass er seine Leute ständig an die verschiedenen Aufgaben erinnerte.

»Sie schwindeln mich doch nicht an?«, fragte Miss Harlow.

»Nein«, sagte er. »Ich bin immer auf jede Eventualität vorbereitet«, sagte er. Nur auf Sie war ich nicht vorbereitet, schoss ihm durch den Kopf.

Sie blieb vor einem schmalen Stadthaus aus grauen Ziegeln und mit weißen Zierleisten stehen. Obwohl er für diese Information keine Verwendung hatte, merkte er sich ihre Adresse: Bloomsbury Place 24.

»Nun, Mr Brandon. Sie haben Ihre Pflicht als Gentleman erfüllt und mich sicher nach Hause begleitet. Ich hatte viel Spaß an diesem Spaziergang.«

»Den hatte ich auch«, antwortete er. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass diese Stunde seine glücklichste war seit langer Zeit. Ginge es nach ihm, sollte sie nie zu Ende gehen. Er wollte mit ihr bis nach Schottland und zurück spazieren, solange er nur ihrer Stimme lauschen und sie zum Lachen bringen durfte.

Aber er hatte eine Verlobte und ein unverbrüchliches Ehrgefühl. Ein Leben, das dem Herzogtum gewidmet war und nicht ihm gehörte. Er war ein Meister der Selbstbeherrschung, doch so viel Verführung konnte er kaum ertragen. Brandon wollte ihr das alles sagen, damit sie verstand, warum es kein Wiedersehen geben durfte.

Doch schließlich sagte er bloß: »Auf Wiedersehen, Miss Harlow.«

»Auf Wiedersehen, Mr Brandon«, sagte sie mit einem süßen Lächeln, das ihn flüchtig über einen zweiten Besuch nachdenken ließ. Aber nein, dies war der letzte Blick, den er auf die hübsche Miss Harlow werfen durfte.

Mr Brandon, genau. Wenn sie wüsste …