Kapitel 9

Brandon war auf die Terrasse getreten, um eine Ruhepause einzulegen. Zu spät erkannte er, dass ihm hier nichts dergleichen vergönnt war.

»Miss Harlow. Ich wünsche einen guten Abend«, sagte Brandon und blieb neben ihr an der Brüstung stehen, weil sie sich zu ihm umgedreht und ihn erblickt hatte. Es wäre unhöflich von ihm, wenn er sie ignorieren würde.

Miss Harlow allein an einem spärlich beleuchteten und ziemlich versteckten Ort zu finden, war genau das, was er nicht wünschte. Eigentlich stand diese Begegnung sogar im krassen Gegensatz zu der Regel, die er erst gestern aufgestellt hatte: Ich muss sie unter allen Umständen meiden.

Daher verlangte es die Rationalität von ihm, dass er augenblicklich in den Ballsaal zurückkehrte. Allein der Umstand, dass Lord Brandon nichts dergleichen tat, war ziemlich merkwürdig.

»Guten Abend, Euer Gnaden.«

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei irgendetwas«, sagte er, obwohl das nicht stimmte. Wenn er sie bei etwas störte, hätte er eine Entschuldigung, sich höflich und rasch wieder zu entfernen.

»Ich warte auf meinen Liebhaber«, erklärte sie ihm. Zuerst entsetzte ihn ihre Freimütigkeit, mit der sie ihm etwas so Intimes anvertraute. Dann erfasste ihn eine Welle der Eifersucht, was im Grunde lächerlich war, weil er sie nicht besaß und auch niemals Anspruch auf sie erheben wollte. Und erst dann ging ihm auf, dass sie ihn neckte.

»Dann sollte ich Ihnen wohl Gesellschaft leisten, bis er kommt«, sagte Brandon, stets der perfekte Gentleman. Es wäre ungehörig, eine Frau allein auf der Terrasse stehen zu lassen, wo sie für Lustmolche und Wüstlinge eine leichte Beute wäre. Bei ihm jedoch war sie in Sicherheit.

»Dann müssten Sie ziemlich lange bei mir verweilen. Ich bin eine ziemlich anständige Frau.« Wie um ihre Aussage zu unterstreichen, zog sie den Schal enger um ihre Schultern.

»So anständig wie ein skandalöses Fräulein, das Geschichten schreibt, nur sein kann«, bemerkte er leichthin. Es passierte schon wieder: Sie neckte ihn, lockte ihn aus der Deckung, und er schaffte es einfach nicht, den Mund zu halten.

»Ich bin nicht mehr skandalös. Anfangs haben die Leute ständig über mich geredet, und ich wurde zu Partys eingeladen, weil ich eine kleine Sensation war. Aber ich verhielt mich ganz normal, und inzwischen haben sich die Leute wohl an mich gewöhnt.«

»Sie sind auch jetzt noch sehr begehrt.«

»Ein Interview mit zwei Duchessen ist ein sicheres Zeichen, dass ich nun vollkommen anständig geworden bin.«

»Und mit einem Duke«, fügte er hinzu. Widerstrebend musste er sich eingestehen, wie leicht es ihnen fiel, in dieses Geplänkel zu verfallen. Das war ihm mit Clarissa bisher noch nie passiert, und er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwann dazu kommen würde. Erstaunlicherweise enttäuschte ihn diese Erkenntnis. Aber Brandon ermahnte sich sogleich, dass gerade dieses Fehlen inniger Gespräche der Grund war, warum er sie heiratete.

Es ging ihm darum, sich nicht ablenken zu lassen und sich ganz auf das zu konzentrieren, was wirklich zählte. Aber wenn Miss Harlow vor ihm stand, war es ihm vollkommen unmöglich, sich auf etwas anderes als auf sie zu konzentrieren.

»Wie konnte ich das vergessen?«, neckte sie ihn. »Ich könnte die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen ein paar Fragen zu stellen«, sagte sie.

»Für diese Geschichte, die Sie schreiben?«

»Ja, und weil es vielleicht unpassend aussehen könnte, wenn wir beide hier draußen stehen und miteinander reden. So allein …«

Es gefiel ihm, dass sie sich Gedanken darüber machte, ob die Situation unpassend erscheinen könnte, obwohl er zugleich von unzüchtigen Gedanken gequält wurde, in denen ihre üppigen rosigen Lippen und die Rundungen ihres Körpers eine nicht unwesentliche Rolle spielten.

Miss Harlow griff in ihr Retikül und zog einen Notizblock heraus. Während sie ihn flüchtig durchblätterte und anscheinend einen Bleistift suchte, rutschte der Schal von ihren Schultern. Der Ärmel ihres Kleids folgte, und ihre Schulter bot sich ihm nackt dar.

Der Anblick ließ in ihm die Vorstellung erwachen, wie sie nur mit einem Nachthemd bekleidet vor ihm stand. Wie er ihr das Hemd auszog und es einfach beiseitewarf. Sein Mund wurde trocken.

Die dunkle, lockige Masse ihrer Haare trug sie hochgesteckt. Nur ein paar Strähnen berührten ihre entblößte Haut und ließen in ihm die Vorstellung an eine zärtliche Liebkosung erwachen. Wie ein Flüstern. Er wollte die Linie ihrer Schulter mit den Fingerspitzen nachzeichnen, seinen Mund in das halbmondförmige Rund pressen, wo Hals und Schulter aufeinandertrafen.

Eine milchweiße, weiche, herrlich gerundete Schulter, und schon war er vollends in ihrem Bann.

Dass er sich von einer bloßen Schulter und einem verrutschten Ärmel so erregen ließ, verriet ihm immerhin so viel, dass er die Beziehung zu seiner Mätresse nicht schon vor seiner Hochzeit mit Clarissa hätte beenden sollen.

»Verzeihung. Jetzt finde ich meinen Stift nicht. Ich verliere nämlich ständig irgendwas«, sagte sie und blickte mit einem leisen Lächeln zu ihm auf. »Das ist eine schreckliche Angewohnheit von mir.«

Wenn sie lächelte, hatte sie ein kleines Grübchen in der Wange. Er fand es hinreißend und erotisch zugleich.

»Es ist heute Abend recht kühl«, sagte sie, schob den Ärmel nach oben und schlang den Schal enger um sich. Der Bann war gebrochen – fast. Augenblicke wie diese bestätigten ihn darin, warum er sie nicht mochte. Sie brachte ihn in Schwierigkeiten. Sie war dunkle Magie, wohingegen er Logik war. Vernunft. Rationalität. Diese Dinge vertrugen sich nicht.

»Wie gefällt Ihnen die Verlobungsfeier?«

»Es ist ein schöner Abend.«

Sie notierte rasch etwas. Erst jetzt bemerkte er, dass sie offenbar ein Schreibgerät gefunden hatte, während er wie ein Seemann auf Landgang begierig ihre nackte Haut betrachtet hatte.

»Wie sehr werden Sie sich zukünftig bei den Hochzeitsvorbereitungen einbringen?«

»Zur gegebenen Zeit werde ich am richtigen Ort sein, um mein Ehegelübde abzugeben«, antwortete Brandon. Was wurde von einem Mann sonst erwartet? Er würde bestimmt nicht bei der Auswahl der Blumen helfen oder die Speisefolge für das Hochzeitsmahl erörtern.

»Es ist ein bisschen einfältig, wenn man einen Mann nach Hochzeitsvorbereitungen fragt, nicht wahr?«, fragte Miss Harlow. Sie schmunzelte, und das Grübchen blitzte wieder auf.

»Was das betrifft, sind wir einer Meinung, Miss Harlow«, sagte er. Sie lachte. Es war ein herrliches, aufrichtiges Lachen, und er freute sich, weil er es war, der es hervorgerufen hatte. Er ertappte sich dabei, wie er sich gegen die Balustrade lehnte, gerade so, als richtete er sich auf ein längeres Gespräch mit ihr ein.

Aber Dukes lehnten sich nicht gegen Balustraden, und anständige Gentlemen starrten nicht und beschäftigten sich auf der eigenen Verlobungsfeier auch nicht mit anderen Frauen. Darum entschuldigte er sich und kehrte in den heißen, hell erleuchteten und heillos überfüllten Ballsaal zurück, obwohl er sich nichts mehr wünschte, als mit Miss Harlow an einem dunklen, einsamen Ort allein zu sein.