Kapitel 33
Sophie sah ihn sofort. Sie blieb abrupt stehen und hielt sich an Brandon fest. Dann sandte sie ein Dankgebet zum Himmel, dass sie nicht allein war und diese unangenehme und unerwartete Begegnung nicht ohne Brandon an ihrer Seite überstehen musste.
Nach all der Zeit begegnete ihr ausgerechnet hier der Mann, den sie fast geheiratet hätte. Er war es. Jeder Zweifel wurde von dem plötzlich schwankenden Boden unter ihren Füßen, ihren klammen Händen und ihrer Atemnot ausgeräumt. Ein Irrtum war unmöglich.
Es war Matthew Fletcher. Nach so langer Zeit sah sie ihn wieder.
Es tut mir so unglaublich leid, Sophie, aber ich kann dich nicht heiraten.
Jener Augenblick war in ihrer Erinnerung perfekt eingefroren. Seine Worte, seine Stimme und seine Angewohnheit, nervös mit den Knöpfen seiner Weste zu spielen – seine Entschuldigung, die sie nicht akzeptieren konnte.
»Sophie?«, fragte Brandon leise, aber sie bemerkte ihn kaum. Sie war in dem Moment erstarrt, als sie Matthew erblickt hatte. Mit einer anderen Frau.
Dann entdeckte Matthew auch sie. Sophie beobachtete, wie sich eine Reihe Gefühle auf seinem Gesicht abzeichnete: Unglaube, Verwirrung, Entsetzen.
»Mein Gott. Sophie!«, rief Matthew. Er kam auf sie zu, umfasste ihre Oberarme und blickte sie prüfend an. Einen Moment kam es ihr so vor, als erwöge er, sie zu umarmen. Er blickte an ihr vorbei, und als er Brandon sah, ließ er sie augenblicklich los und trat einen Schritt zurück. Er nickte dem Gentleman hinter ihrem Rücken zu.
»Das kommt unerwartet«, sagte Matthew. Er schien froh zu sein, sie zu sehen, aber irgendwie wirkte er zugleich seltsam nervös. Sie verstand seine Nervosität. Zahllose Gefühle überschwemmten sie. Natürlich war sie entsetzt, sie hätte am liebsten die Flucht ergriffen oder ihm etwas angetan. Sie brannte darauf, ihn nach dem Warum zu fragen und nach einem Dutzend anderer Dinge. Zugleich wollte sie ihn schneiden und weitergehen.
Und dann war da noch die Frau, die neben ihm stand. Sophie musste davon ausgehen, dass es sich um Lavinia handelte. Sie blickten einander abwägend an.
»Aber es ist trotzdem ein Vergnügen, dich zu sehen«, fügte Matthew hinzu. Er lächelte.
Hatte der Mann Nerven! Ihre letzte Begegnung war jene in der Kirche gewesen, als er sie bei der Hochzeit sitzen gelassen hatte, und jetzt strahlte er sie an!
»Lord Hamilton and Brandon«, sagte der Duke sanft aus dem Hintergrund und stellte sich damit selbst vor, da Sophie offenbar die Sprache verloren hatte. »Und Sie sind?«
»Matthew Fletcher. Sophie und ich …« Er zögerte, erst jetzt ging ihm auf, dass Sophie sich in Begleitung eines Gentlemans befand, eines Lords sogar, der über ihre Vergangenheit möglicherweise nicht im Bilde war.
»Matthew ist der Mann, der mich sitzen gelassen hat«, sagte sie mit wiedererlangter Stimme. Matthew verzog das Gesicht bei dieser unvorteilhaften Vorstellung, was Sophie eine kleine Genugtuung bereitete.
»Aha, ich verstehe.« Brandon hob die Arme und verschränkte sie vor der Brust. Er starrte ihren ehemaligen Verlobten finster an. Matthew machte noch einen Schritt nach hinten. Vermutlich erinnerte er sich gerade daran, wie ihr Bruder ihn an jenem Tag mit einem Faustschlag außer Gefecht gesetzt hatte. Mit Brandon, der bedrohlich hinter ihr aufragte, spürte Sophie, wie ihr Selbstvertrauen langsam zurückkehrte.
Vielleicht, aber nur vielleicht, musste das hier nicht zu einer Begegnung werden, nach der sie sich absolut jämmerlich fühlte.
»Willst du uns nicht vorstellen?«, fragte Sophie. Die Frau an seiner Seite war hübsch. Sie hatte zarte Gesichtszüge und hellbraunes Haar. Sophie hatte eine Vermutung, wer sie war. Diese Vermutung bestätigte Matthew prompt.
»Sophie, das ist Lavinia. Meine Ehefrau.«
Ehefrau. Er hatte also nichts gegen eine Heirat gehabt, er hatte nur sie, Sophie, nicht heiraten wollen.
Sie spürte Brandons Hand in ihrem Rücken und reckte trotzig das Kinn. Oh, sie würde den Kopf hoch tragen!
Sophie rang sich ein Lächeln ab. Was um alles in der Welt sollte sie auch darauf antworten? Was sah die Etikette für so eine Situation vor? Soll man sagen »es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen«? Das klänge in ihren Ohren falsch. Trotzdem musste sie irgendetwas sagen und durfte nicht einfach starr dastehen wie eine hohlköpfige Strohpuppe.
»Meinen Glückwunsch«, brachte sie schließlich hervor.
»Danke«, sagten Mr und Mrs Fletcher gleichzeitig.
Danach setzte eine unangenehme Stille ein. Matthew räusperte sich verlegen, und Lavinia strich über ihren Rock. Brandons Hand glitt sanft über Sophies Rücken. Ein Dutzend Fragen brannten ihr auf der Seele, aber jede einzelne wäre unhöflich, weshalb sie sich lieber auf die Zunge biss.
»Nun, es war nett, dich wiederzusehen. Sehr überraschend und nett«, sagte Matthew. Lavinia lächelte und nickte dazu. Sie wollten gehen, und Sophie würde die beiden wahrscheinlich nie wiedersehen – und nie wieder eine Gelegenheit bekommen, ihnen eine von diesen vielen unangemessenen Fragen zu stellen.
»Bevor ihr geht«, stieß sie hervor, »möchte ich dir, Matthew, und deiner Frau eine entsetzlich ungehörige Frage stellen. Und ich wünsche mir eine ehrliche Antwort darauf.«
»Sophie …«, setzte Matthew an. Er fühlte sich sichtlich unwohl. »Jetzt ist vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Matthew, du hast mir am Tag unserer Hochzeit den Laufpass gegeben und mich damit in größte Verlegenheit gestürzt. Mein Leben war danach nicht mehr dasselbe. Ich bin sicher, du hast einen Moment Zeit, um mir wenigstens eine Frage zu beantworten.«
»Natürlich«, gab Matthew nach. Lavinia nickte. Sophie widerstand dem Drang, zu sagen: »Das habe ich mir gedacht.« Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Brandon sich ein Grinsen verkniff.
»Hast du es bereut, dass du mich verlassen hast, Matthew? Und Lavinia, haben Sie es bereut, ihn mir weggenommen zu haben?«
Zuerst schwiegen die beiden. Es war ein langes, unangenehmes Schweigen.
Matthew spielte mit den Knöpfen seiner Weste. Diese nervöse Angewohnheit hatte er also nicht abgelegt. Lavinia bemerkte es und nahm zärtlich seine Hand. Sophie fragte sich, warum sie nie auf die Idee gekommen war, etwas Derartiges für ihn zu tun.
»Ich weiß, es ist sehr unhöflich von mir, das zu fragen. Aber ich würde mich für den Rest meines Lebens über mich ärgern, wenn ich diese Gelegenheit verstreichen ließe.«
»Ich verstehe Ihr Interesse sehr gut«, sagte Lavinia. »Ich habe damals nicht gewusst, was Matthew vorhatte. Er kam später zu mir und erzählte mir davon. Ich war fürchterlich entsetzt um Ihretwillen und habe ihn gehörig ins Gebet genommen, weil er diese Unterhaltung so … unpassend geführt hat. Es tut mir so leid, dass wir Ihnen wehgetan haben. Das war keine unserer Sternstunden.«
Um ihre Worte zu unterstreichen, drehte sie sich zu Matthew um und knuffte ihn gegen die Schulter. Er verzog das Gesicht, beklagte sich aber nicht. Sophie lächelte ironisch.
»Aber trotzdem«, fuhr Lavinia vorsichtig fort, »habe ich damals gefühlt und fühle es noch heute, dass er der Richtige für mich ist. Ich könnte ihn nicht gehen lassen.«
Sophie nickte, denn das verstand sie. »Matthew?«
»Manchmal frage ich mich, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn ich die Trauung nicht unterbrochen hätte, Sophie«, begann Matthew vorsichtig. »Wir wären verheiratet, nehme ich an. Vermutlich hätten wir inzwischen ein Kind. Wir würden noch in Chesham leben – ich wäre nie auf Reisen gegangen, und du wärst nicht in London gelandet.«
»Du bereust es also überhaupt nicht«, sagte Sophie.
»Ich hasse es, wie sehr ich dir wehtun musste, und es tut mir aufrichtig leid. Aber ich glaube, wir wären nicht glücklich geworden mit dem Leben, das wir gemeinsam geplant hatten. Jetzt bin ich sehr glücklich. Ich bereue nur den Schmerz, den ich dir zufügen musste. Meine Entscheidung bereue ich nicht.« Matthew unterstrich diese Worte, indem er Lavinias Hand nahm. Seine Ehefrau.
»Vielen Dank für die ehrlichen Worte«, sagte Sophie. Sie fühlte sich irgendwie betäubt, aber zugleich empfand sie das, was sie gehört hatte, als Geschenk.
Alle waren erpicht darauf, ihren Weg fortzusetzen, darum verabschiedeten sie sich rasch. Mit einem letzten Gruß verschwand Matthew Fletcher erneut aus ihrem Leben.
Brandon reichte Sophie ein Taschentuch, aber ihre Augen blieben merkwürdigerweise trocken. Das war vermutlich der Schock. Oder ihr Kontingent an Tränen, die sie um Matthew Fletcher weinen konnte, war seit Langem erschöpft. Es war einige Zeit her, seit sie ihn vermisst hatte.
»Es tut ihm überhaupt nicht leid«, wiederholte sie, nachdem sie ein Stück gegangen waren. Sie musste es einfach noch einmal aussprechen. Sie hatte gehofft, Matthew habe quälende Gewissensbisse oder bereute wenigstens, was passiert war. Dass es nicht so war, entsetzte sie. Verwirrt fragte sie sich, was Brandon darüber dachte.
»Es tut ihm nicht leid, mich verlassen zu haben. Er bereut nicht, eine Frau wegen einer anderen verlassen zu haben«, wiederholte sie.
Der gesunde Menschenverstand musste Brandon verlassen haben, als er sie zu diesem Spaziergang einlud. Er war von einem verrückten und heftigen Verlangen dazu verführt worden, die Frau, die er begehrte, tief in die Gärten von Vauxhall zu führen, an einen versteckten Ort, der geradezu nach Romantik und Verführung schrie.
Es tat ihm nicht leid.
Brandon verließ den Kiesweg. Er zog Sophie einfach mit sich und blieb erst stehen, als er eine ruhige Ecke fand. Dieser Ort war von Bäumen beschattet und wurde vor neugierigen Blicken durch hohe Hecken geschützt. Er drehte sich zu Sophie um. Der Mond schien hell genug, dass er das dunkle Rosa ihrer Lippen und die zarte Blässe ihrer Haut erkennen konnte. Sie blickte zu ihm auf, wie es noch nie eine Frau vor ihr getan hatte und vermutlich keine nach ihr tun würde.
Er bereute es nicht …
Er wollte sie so sehr, dass er ihr nicht fernbleiben konnte, dass seine allgemein bekannte und gewöhnlich verlässliche Selbstkontrolle ihn in diesem einen Fall im Stich ließ.
Brandon ermahnte sich, dass er ein Gentleman war. Und im selben Moment verstand er plötzlich den Sinn von Roxburys Worten: Ein englischer Gentleman weiß genau, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um kein Gentleman mehr zu sein.
Dies war der besagte Moment.
Brandon presste seinen Mund auf ihren.
Jetzt wusste er, wie es sich anfühlte, wenn man von den eigenen Empfindungen fortgespült wurde. Wenn man sich verlor, wenn man sich ergab und der Logik nicht mehr zugänglich war. Er verlor den Verstand und wollte nur noch diese Frau schmecken, berühren und küssen. Diese Frau, die er nicht haben durfte, die er aber genauso wenig loslassen konnte. Eine Hitzewelle erfasste ihn. Es war unwirklich und einfach unglaublich. Es war, als ginge er zwischen zwei Welten verloren.
Jeden Augenblick könnte jemand sie entdecken. Schließlich waren Hunderte Menschen auf denselben Pfaden unterwegs.
Aber er dachte nicht länger nach. Zum ersten Mal erlaubte er diesen merkwürdigen Empfindungen, die er sonst nie zuließ, sich vollständig zu entfalten. Und darum gab es um ihn herum nur die Dunkelheit; der süße, berauschende Duft von Sophie nach Rosen und Frau ließ alles andere in den Hintergrund treten. In der Ferne hörte er die Stimmen von Menschen und ihre Schritte auf dem Kies. Vor allem aber hörte er das Rauschen seines eigenen Bluts, das durch seine Adern brauste. Sein Herz hämmerte.
Ihre Lippen waren weich und gaben unter seinen nach. Behutsam verlockte er sie, sich ihm zu öffnen. Ihre Lippen teilten sich, und sein Herz schlug schneller.
Mit einem letzten Rest Selbstbeherrschung hielt er sich davon ab, sie stürmisch zu überwältigen, nachdem er sich schon so weit hatte gehen lassen …
Doch nein. Weiter durften sie niemals gehen.
Sie schmeckte süß und wild und wie etwas, was er niemals besitzen konnte. Er erkundete ihren Mund, und seine Zunge umspielte ihre, er knabberte an ihrer vollen Unterlippe und hauchte zarte Küsse auf ihre Mundwinkel. Doch er wollte sie wieder schmecken und gab dem Drang nach. Brandon vergrub die Finger in ihren weichen Locken und hielt ihren Hinterkopf umfangen. Fest hielt er sie an sich gedrückt und fragte sich, wie er sie nach diesem Kuss je wieder loslassen sollte. Er verdrängte den Gedanken und widmete sich nur noch Sophie und ihrem herrlichen Mund. Ihr verrückter, wundervoller Kuss verführte ihn, alles hinter sich zu lassen – für sie.
»Sophie«, murmelte er.
»Ja«, hauchte sie.
Als sich seine Lippen auf ihre pressten, hämmerte Sophies Herz in der Brust: Er ist der Richtige!
Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, bis ihr Mund sich verlangend auf seinen presste. Sie öffnete die Lippen. Der Kuss überraschte sie, Erregung durchströmte ihren ganzen Körper, und sie wollte ihm alles geben. Oder zumindest das Einzige, was dieser doppelte Duke, der zahlreiche Güter und unvorstellbaren Reichtum sein Eigen nannte, nicht besaß: sie. Ihre Liebe.
Der Kuss wurde inniger. Sophie bog sich ihm entgegen und schmiegte sich noch enger an ihn, sie konnte ihm einfach nicht nah genug sein.
Am Rand ihres Bewusstseins war ihr klar, dass sie sich in der Öffentlichkeit küssten und jeden Augenblick entdeckt werden könnten. Dieser Gedanke und die damit einhergehende Angst fielen von ihr ab, als er ihren Kopf mit seiner Hand umfasste. Doch dann ließ er sie los, und seine Finger glitten federleicht über ihre Brüste hinab über die Rundungen ihrer Taille, ihrer Hüfte und wieder nach oben. Seine Berührung hinterließ eine Spur aus flüssiger Hitze. Sophies Haut kribbelte, sie wollte mehr davon.
Sie stöhnte leise. Er erstickte den Laut mit seinem Kuss, und ihre Finger fuhren durch sein Haar, zerzausten es. Das hatte sie sich seit jenem Tag gewünscht, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.
Sie zog ihn näher an sich. Brandon leistete keinen Widerstand.
»Oh, Sophie«, murmelte er.
»Ich weiß«, flüsterte sie. Manche Dinge brauchten keine Worte.
Mit diesem Kuss ergab sie sich ihm ohne Vorbehalte. Sie lieferte sich seinem Mund aus, der lustvoll mit ihrem verschmolz, und seinen Händen, die erregend über ihren Körper glitten – und so herrliche Empfindungen auslösten, dass sie zu explodieren meinte.
Ihre Hand krallte sich in sein Hemd, sie brauchte Halt, ehe sie vollständig davontrieb. Sein Kuss war hitzig, selbstsicher und stürmisch. Sie hatte noch nie etwas Derartiges erlebt, und sie würde alles darum geben, wenn sie ihn für immer so küssen könnte.
Doch irgendwann war der Kuss zu Ende. Alles Gute war schließlich irgendwann zu Ende.
»Was machen wir hier bloß?«, fragte Sophie.
»Mein Begehren ist nicht ehrenvoll«, antwortete er. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und blickte ihn nachdenklich an. Er erwiderte ihren Blick. »Obwohl meine Absichten ehrenvoll sind, das verspreche ich.«
»Du begehrst mich. Trotzdem willst du mich nicht …« Sophie zögerte. Du willst mich nicht in Besitz nehmen, küssen, lieben … Sie brachte es nicht übers Herz, den Satz zu vollenden. Das musste sie auch gar nicht.
»Ich will dich, aber ich darf dich nicht haben«, sagte Brandon. Er öffnete die Augen. Sie wirkten in diesem Licht graugrün wie eine Wiese an einem wolkigen Tag. Er blickte sie ernst an. »Ich habe gute Gründe, Sophie. Es geht hier nicht nur um mich.«
Sie kannte dieses Gefühl zu gut, wenn ihr Herz leise zerbrach. Aus einem winzigen Riss wurden rasch viele Risse, die wie eine einzige, große Wunde schmerzten.
»Es ist irgendwie sogar fast lustig«, bemerkte Sophie. »Nach meiner unglückseligen Hochzeit hatte ich mir geschworen, ich würde einen ehrbaren Mann finden. Einen, auf den ich mich verlassen kann und der niemals ein Mädchen sitzen lassen würde.«
»Und du hast diesen Mann gefunden.«
»Lustig, wie das Universum Wünsche erfüllt«, sagte Sophie, obwohl ihr nicht zum Lachen zumute war.
»Urkomisch«, bemerkte er trocken. Sie verstanden einander. Sie lächelte ihn an, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Sein Lächeln war ebenso gequält.
Es war also ausgemacht. Er würde Clarissa heiraten und nicht Sophie. Doch darüber wollte sie sich nicht ausgerechnet jetzt Gedanken machen. Vielleicht später, in einem dunklen Raum und mit tausend Taschentüchern, um ihre Tränen zu trocknen.
Wie kann er bloß eine andere Frau heiraten, nachdem wir uns so geküsst haben?
Es war für sie unvorstellbar.
Sie könnte ihn fragen, warum er daran festhielt, aber sie wusste, dass ihr seine Antwort nicht gefallen würde. Im Übrigen hatte er es ihr ja bereits wortreich erklärt.
Er liebte sie nicht. Konnte sie nicht lieben oder hatte schlicht Angst, sie zu lieben. Er musste auch an das Herzogtum denken und ebenso an seinen Ruf als achtbarer Mann. Wie sie ihn kannte, hatte er bestimmt schon eine Liste geschrieben: Gründe, warum ich Sophie nicht heiraten kann.
Sie wollte diese Gründe gar nicht hören. Schließlich sagte sie nur: »Es ist spät. Wir sollten zurückgehen.«
Sie gingen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Diese Situation war einfach nur ein schreckliches Chaos und hatte schon jetzt alles, was man für eine Katastrophe brauchte. Aber sie musste darüber berichten. Die erste Woche hatte sie irgendwie überstanden. Der zweite Bericht war schon schwerer geworden, aber der bevorstehende dritte Artikel würde ihr Magenschmerzen und Liebeskummer bescheren. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, die letzte und finale Folge ihrer Artikelserie über die Hochzeit des Jahres zu schreiben.
Vorausgesetzt, sie verlor nicht schon vorher ihre Anstellung.
Sophie seufzte bei dem Gedanken. Brandon nahm ihre Hand. Ehe sie das Ende des Wegs erreichten, duckte er sich plötzlich und zog sie in einen Alkoven.
Lord Brandon wagte es tatsächlich, sie ein zweites Mal zu küssen.
Dieser Kuss war heftig und drängend. Vermutlich war es auch der letzte, den sie je von ihm bekam. Sein Mund lag heiß auf ihrem, und er küsste sie mit aller Leidenschaft. Sie saugte vorsichtig an seiner Unterlippe, und er stöhnte. Er umfasste ihre Wangen mit beiden Händen. Sophie seufzte.
Sie legte die Hände auf seine Brust, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Durch den Stoff spürte sie sein Herz pochen. Ihr wurde schwindelig, und am liebsten hätte sie geweint, weil dieser Moment so zauberhaft und wunderbar war. So verflucht perfekt. Sophie hatte nicht viel Erfahrung, aber so viel wusste sie: Küsse wie diese waren nicht alltäglich. Und aus diesem Grund schluckte sie ihre Tränen hinunter und erwiderte seinen Kuss voll wildem Verlangen.
Brandon schloss sie in seine Arme und begegnete ihrem Verlangen mit Leidenschaft.
Und dann war auch dieser zweite Kuss vorbei. Sie konnten nicht den ganzen Abend miteinander verbringen. Sie wünschte ihm eine gute Nacht, doch sagte sie nicht Lebewohl.
Sophie verließ den Lustgarten allein. Brandon wollte dort warten, bis ein wenig Zeit verstrichen war. Sie verfluchte jede Minute, die sie aus Gründen des Anstands und der Schicklichkeit von ihm getrennt war. Vor allem aber fluchte sie, weil er ein sturer Narr war, der sich einfach weigerte, sich in sie zu verlieben.
Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und stutze plötzlich bei einem schrecklichen Anblick: Mr Knightly war mit Lady Richmond in ein Gespräch vertieft, und Clarissa stand neben ihnen.
Sophies Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie überlegte noch, ob sie unbemerkt verschwinden oder sich zu der Gruppe gesellen sollte, als die Duchess sie bemerkte.
»Da ist sie ja! Fragen Sie sie doch, wo sie gewesen ist und mit wem sie zusammen war«, blaffte sie.
»Bei allem gebührenden Respekt, Euer Gnaden. Sie scheinen mich mit jemandem zu verwechseln, der für sie verantwortlich ist. Ich bin nur ihr Arbeitgeber, nicht ihr Vater«, informierte Mr Knightly die zunehmend erzürnte Duchess.
Sophies Panik schwand. Zumindest ein wenig.
»Ich könnte dafür sorgen, dass Sie aus der guten Gesellschaft ausgeschlossen werden«, zischte Lady Richmond.
»Ich werde dort trotzdem willkommen sein«, meinte Mr Knightly selbstsicher.
»Dann verlange ich, dass sie von der Geschichte abgezogen wird«, forderte Lady Richmond. Clarissa riss die Augen auf.
Sophie hielt den Atem an und versuchte, ihre Panik niederzuringen. Sie hatte feuchte Handflächen, ein flaues Gefühl im Magen und bekam kaum Luft. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen. Eindeutig eine Panikattacke.
»Ich fürchte, das ist nicht möglich«, sagte Mr Knightly ungerührt. Sophie atmete aus. Er blickte flüchtig in ihre Richtung und nickte knapp, doch sie wusste nicht, was er ihr damit sagen wollte.
»Dann werde ich mit meiner Geschichte zur London Times gehen«, drohte die Duchess. Sophie glaubte, sie müsse sich erbrechen.
»Tun Sie das nur, Lady Richmond«, antwortete Mr Knightly zu Sophies Überraschung.
Aber dann grinste er. »Es geht doch nichts über eine erstklassige Hochzeit in einem zweitklassigen Blatt.«
Lady Richmond schürzte die Lippen. Sie wandte ihm den Rücken zu. Seine Ambitionen, von der Aristokratie akzeptiert zu werden, hatten gerade einen gehörigen Dämpfer bekommen.
Die Duchess richtete ihren Blick aus zusammengekniffenen Augen auf Sophie.
Sie versuchte offenbar abzuwägen, was ihr wichtiger war: Sophie aus der Sache herauszuhalten oder ihre Geschichte in der besten Zeitung zu sehen.
Sophie hielt den Atem an.