Kapitel 20

Seine Verlobte schäkerte ausgerechnet mit einem der wenigen Männer, die im Rang über ihm standen. Für Brandon war es ein merkwürdiges und völlig neues Gefühl, sie dabei zu beobachten.

Er hatte Clarissa nie für eine Frau gehalten, die gerne flirtete. Und er kannte auch niemanden, der sie dafür hielt – abgesehen von diesem Prinzen von was auch immer. Anscheinend brachte nur der Prinz diesen Charakterzug in Clarissa zum Vorschein. Etwas, das Brandon bisher nicht gelungen war.

Zu seiner Überraschung war Brandon sogar fast eifersüchtig. Zumindest war er verstimmt. Vielleicht war es auch der Schreck, der ihm in die Glieder fuhr – sie war nicht die Frau, für die er sie immer gehalten hatte. Das ergab keinen Sinn, und das wurmte ihn gewaltig. Spencers angebliches Geheimnis machte die Angelegenheit noch komplizierter. Obwohl er dem Gerücht keinen Glauben schenkte, solange es keine eindeutigen Beweise gab (und die hatte man ihm bisher noch nicht vorgelegt), konnte Brandon den Gedanken daran nicht aus seinem Kopf verbannen.

Links neben ihm saß seine Verlobte. Eine helläugige, errötende und neuerdings faszinierende Fremde.

Zu seiner Rechten saß Sophie – eine verführerische Frau, in die er vorübergehend verliebt war. Zumindest hoffte er, dass es vorübergehen würde.

Nachts wurde er von erotischen Träumen geplagt, in denen er jeden Zoll von Sophies Körper mit seinen Händen oder sogar seinem Mund erkundete. Er träumte davon, wie sie unter ihm lag. Wie sie sich liebten. Und dann sah er sie in diesen Träumen auf ihm sitzen, während er in ihr war und sie sich leidenschaftlich küssten.

Tagsüber dachte er ständig an sie, weil ihn alles an sie erinnerte.

Ein Mann konnte nicht ewig in diesem Zustand verharren.

Brandon versuchte, diese Gedanke zu vertreiben. Aber im Moment war es schlicht unmöglich. Das Sofa, auf dem sie saßen, war nicht besonders groß, und Sophie und er waren einander ziemlich nahe. Wenn sie allein wären, müsste er nur den Kopf zur Seite drehen und könnte sie küssen.

Er würde einen Ärmel ihres Kleids herunterschieben und dann den zweiten, und dann das ganze Mieder. Er würde ihre Brüste mit den Händen umschließen und sie sanft liebkosen und dann …

Brandon riss sich zusammen. Es dauerte einen Moment, bis er das Bild aus seinem Kopf verbannt hatte. Während eines Musikabends im Salon von Lord und Lady Westbrooke war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um sich erotischen Tagträumen hinzugeben, in denen die junge Frau neben ihm eine entscheidende Rolle spielte.

Er hatte beide Arme vor der Brust verschränkt, um sich davon abzuhalten, Sophie zu berühren. Doch sie fasste ihn leicht am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und neigte den Kopf in Richtung von Lord Borwick. Der alte Geselle war eingeschlafen. Sein Kopf rollte nach hinten, und sein Mund stand offen.

Unwillkürlich musste Brandon grinsen. Auch Sophie schmunzelte. Und dann richteten beide ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Musik.

Im nächsten Moment wurde Brandon von einem lauten Schnarchen aus seiner Konzentration gerissen. Lord Borwick. Es war laut genug, um die Zuhörer in seiner unmittelbaren Nähe zu stören.

Sophie presste sich die Hand auf den Mund. Ihre Wangen wurden rosig, und sie versuchte krampfhaft, ihr Lachen zurückzuhalten. Ebenso erging es ihrer Freundin. Clarissa lachte nicht. Sie machte ihrem Prinzen schöne Augen.

Er presste den Mund zu einer dünnen Linie zusammen und zwang sich, finster dreinzublicken. Aber es gelang ihm beim besten Willen nicht.

»Sie üben einen schlechten Einfluss auf mich aus«, flüsterte Brandon Sophie zu.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, antwortete sie grinsend.

»Sie sind ein freches Frauenzimmer.«

Sie schnappte nach Luft. »Euer Gnaden!« Aber sie lächelte dabei, und es kostete sie einige Mühe, die Empörte zu spielen. Er war hingegen über sein Verhalten entsetzt. Hatte er wirklich gerade eine anständige junge Frau als Frauenzimmer tituliert?

»Ein sehr schlechter Einfluss. Jetzt bezeichne ich anständige junge Damen schon als Frauenzimmer«, sagte er. Zugleich fragte er sich, was zum Teufel mit ihm passierte. Erneut warnte ihn sein Verstand: Vorsicht! Gefahr! Sein ganzer Körper summte vor Aufregung und sehnte sich nach mehr. Mehr Sophie.

In diesem Augenblick verstummte Lord Borwicks Schnarchen für einen Moment, und der Mann fesselte erneut ihre Aufmerksamkeit. Seine Lider flatterten, schlossen sich wieder, und sein Kopf kippte nach vorne. Er sah aus wie eine Gliederpuppe, der jemand die Fäden durchgeschnitten hatte. Die ruckartige Bewegung ließ ihn aufwachen.

Sophie wurde knallrot im Gesicht. Ihr Körper bebte, so angestrengt versuchte sie, ihr Lachen zu unterdrücken.

»Muss ich Sie nach draußen begleiten, um mich davon zu überzeugen, dass es Ihnen gut geht?«, fragte er. Irgendwie gelang es ihm, mit ruhiger Stimme zu sprechen, obwohl auch er sich vor Lachen ausschütten wollte.

»Es geht mir gut«, keuchte sie.

»Ausgezeichnet, denn als ich das letzte Mal einen Raum mit Ihnen verließ, habe ich mich in den Klatschspalten wiedergefunden, und ich bin nicht sicher, ob ich mich inzwischen von der damit einhergehenden Aufregung erholt habe.«

»Ich kenne da ein Sprichwort«, meinte Sophie. »Einmal ist keinmal, doch was zweimal passiert, kann auch dreimal geschehen.«

»Das ist eine interessante Logik, Miss Harlow. Wollen Sie damit andeuten, wenn ich Sie jetzt vor die Tür begleite, könnte ich es irgendwann auch ein drittes Mal tun?«

»Es ist nur ein Sprichwort«, sagte sie.

»Was passiert nach dem dritten Mal?«

»Das weiß ich nicht. Mir jedenfalls geht es gut. Zumindest solange Lord Borwick nicht wieder einschläft.«

»Sind Sie sicher? Frauen sagen nämlich immer, es gehe ihnen gut, auch wenn es nicht stimmt«, neckte Brandon sie.

»Das machen Männer auch. Und ja, ich bin sicher.«

»Pssst«, ermahnte Lady Endicott die beiden und warf ihnen einen tadelnden Blick zu, der sie fast in lautes Gelächter ausbrechen ließ. Sie verhielten sich unverzeihlich, aber sie konnten einfach nicht anders. Er hatte noch nie mehr Spaß bei einem gesellschaftlichen Ereignis gehabt.

»So wurde ich nicht mehr zum Schweigen gebracht, seit ich ein kleiner Junge war. Sie sind Schwierigkeiten in Person, Miss Harlow.«

»Aber Sie mögen Schwierigkeiten, nicht wahr, Lord Brandon?«, fragte sie geziert.

»Ich finde sie hin und wieder ganz amüsant«, sagte er. Sogar mehr als das.

Er mochte sie und hatte sie vom ersten Tag an begehrt. Aber es war ihr Geständnis bei der Winchester-Hochzeit, das ihn so fasziniert hatte. Sie war keine verwöhnte Debütantin, die sich unerreichbar gab. Er war noch nie einer Frau wie ihr begegnet. Einer Frau, die der Bräutigam sitzen gelassen hatte und die jetzt über die perfekten Trauungen all der anderen Frauen schrieb.

Wenn sie sich bei jeder Hochzeit so unwohl fühlte … Er fragte sich, wie es ihr bei seiner Hochzeit ergehen würde, doch den Gedanken schob er rasch beiseite. Er rutschte unruhig auf dem Sofa herum.

Zu seiner Linken flirtete Clarissa schamlos mit einem Prinzen.

Zu seiner Rechten strichen Sophies Finger verborgen in den Falten ihres Kleids ganz leicht über seine.

Er musste sich daran erinnern, dass der Ehevertrag bereits unterzeichnet war.

Sophie verbrachte den Großteil des Musikabends damit, sich zu fragen, wie Brandon seine Zeit mit ihr genießen konnte, obwohl Clarissa direkt neben ihm saß. Dachte er vielleicht darüber nach, seine Braut zu wechseln oder wenigstens den Hochzeitstermin zu verschieben?

Aber nein, das passte einfach nicht zu ihm.

Bisher gab es kein Anzeichen, dass er die Hochzeit nicht wie geplant hinter sich bringen wollte.

Die Trauung war in elf Tagen. Das war verdammt wenig Zeit, um eine Entscheidung zu treffen, die sein Leben von Grund auf ändern würde.

Falls er überhaupt vorhatte, seine Meinung zu ändern und eine andere Frau zu seiner Braut zu machen.

Aber wieso lachte er dann mit ihr? Warum verschränkte er heimlich die Finger mit ihren?

Wenn es nicht so unglaublich schön wäre, würde sie aufstehen und gehen. Aber er und sie passten einfach perfekt zusammen. Wenn ihr Herz nicht aufgeregt schlug, weil er bei ihr war, dann schmerzte es, weil sie stets daran dachte, ihn schon bald für immer zu verlieren.

Es war eine komplizierte Situation.

Eine Situation, die durch den Prinzen noch komplizierter wurde. Sophie hatte bemerkt, dass er seine Aufmerksamkeit auf Clarissa richtete. Und sie reagierte darauf. Insgeheim fragte Sophie sich …

»Auf Wiedersehen, Sophie«, sagte Clarissa. Ihre Augen strahlten. Wenn Sophie es nicht besser wüsste, würde sie annehmen, das Mädchen hätte Fieber.

»Auf Wiedersehen, Miss Harlow«, murmelte Brandon. Sie brachte ein gequältes Lächeln zustande, weil sie wusste, dass er nun mit Clarissa ohne Anstandsdame in einer Kutsche sitzen würde. Sie würde alles darum geben, an Clarissas Stelle zu sein. Sophie seufzte. Einen Augenblick später wurde sie aus ihrer sentimentalen Träumerei gerissen. Seine Hoheit, der Prinz von Bayern, tauchte vor ihr auf.

Sophie schaute über ihre Schulter, um zu sehen, mit wem er sprechen wollte. Aber da war niemand.

»Eure Hoheit.« Sie sank in einen tiefen Knicks und fragte sich, warum um alles in der Welt er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte.

»Halten wir uns nicht mit Formalitäten auf, Miss …« Er verstummte und wartete, dass sie ihren Namen nannte.

»Miss Harlow.«

»Würden Sie dies bitte Lady Clarissa Richmond überbringen?«, bat er und händigte ihr einen Brief aus.

»Ein Brief?«, fragte sie dümmlich. Natürlich war es ein Brief.

Er nickte.

»Haben Sie sich nicht gerade erst kennengelernt?«, fragte Sophie. Ach, schrecklich! Sie sollte wirklich aufhören, einem zukünftigen König neugierige Fragen zu stellen.

»In der Tat. Aber ich denke, unser Gastgeber hat nichts dagegen, wenn ein Prinz sich sein Briefpapier für einen kleinen Liebesbrief ausleiht«, antwortete Seine Hoheit, obwohl er einer Frau wie ihr keine Erklärung schuldig war.

»Das mag stimmen. Sie ist verlobt, müssen Sie wissen.« Sophie empfand es als ihre Pflicht, ihn darüber zu informieren, damit ihn nicht dasselbe Schicksal ereilte wie sie.

»Dessen bin ich mir ebenso bewusst wie Sie, Miss Harlow.«

In diesem Moment erst dämmerte ihr, dass der Brief in ihrer Hand alles ändern könnte.