EINLEITUNG
Die gewaltsame Ausbreitung imperialer Regime und die erbitterten Kämpfe gegen den Kolonialismus, die vielerorts immer wieder aufflammten, zeichneten die Weltkarte zwischen 1870 und 1945 neu, und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Fieberhafte Wettläufe um Gebiete und Ressourcen, Kolonialkriege und anhaltende Kampagnen imperialer Befriedung führten in diesem Zeitraum dazu, dass Imperialsysteme sich ausbreiteten und vergrößerten: In den 1930er Jahren gehörten beinahe 85 Prozent des globalen Territoriums zu einem der Imperialsysteme oder waren vormals europäische Kolonialgebiete gewesen.[1] Imperien waren mächtige Akteure, denen eine Schlüsselrolle zukam, wenn es darum ging, die unterschiedlichen materiellen Bedingungen, sozialen Chancen und kulturellen Kompetenzen verschiedener menschlicher Gemeinschaften zu bestimmen. Selbst die Staaten und Gemeinwesen, die diesen imperialen Ansturm abwehren konnten oder sich erfolgreich der Kolonialherrschaft entledigten, blieben nicht unberührt vom Imperium: Sie sahen sich häufig diplomatischem und wirtschaftlichem Druck ausgesetzt, da die Imperialmächte intensiv darum bemüht waren, sie für den internationalen Handel und die globalen Märkte zu öffnen.
In dieser Zeit verfügten imperiale Staatsmänner und Kolonialverwalter über beträchtliche Macht, die Grenzen ihrer Großreiche neu zu definieren und nationale Grenzen festzulegen. Das berühmteste Beispiel für diese Form der Machtausübung ist die Berliner Konferenz (oder Westafrikakonferenz) von 1884/85, auf der der europäische Handel in Afrika neu geregelt und die europäischen Territorialgebiete und Einflusssphären auf diesem Kontinent formal festgelegt wurden. Ende des 19. Jahrhunderts waren Liberia und Abessinien die einzigen afrikanischen Staaten, auf die keine europäische Macht Anspruch erhob. Selbst wenn die exakt gezeichneten Karten europäischer Imperialmächte nicht immer tatsächliche koloniale Macht auf dem entsprechenden Territorium zur Folge hatten, so erinnern sie doch nachdrücklich daran, wie die Dynamik des empire building Weltbilder und geopolitische Realitäten neu strukturierte. Europäische Imperien schufen eine Art «kartographischer Imagination», der eine zentrale Rolle für das Verständnis des «Globalen» im 19. und 20. Jahrhundert zukam.[2]
Im Folgenden wollen wir untersuchen, auf welche Weise Imperien die globalen kulturellen Formationen geprägt und neu strukturiert haben. Es geht uns dabei also weniger um eine simple Geschichte von der Ausbreitung und vom Niedergang der Imperialsysteme, die von europäischen Nationalstaaten wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland errichtet wurden, sondern um den Versuch, Imperialgeschichte als eine – partielle, unregelmäßige und mitunter unvollkommene – Globalgeschichte neu auszurichten. Wir fragen nach der räumlichen Logik moderner Imperialsysteme, spüren den von ihnen generierten Formen der Vernetzung nach und beleuchten den grundsätzlich ungleichmäßigen Charakter der sozioökonomischen, kulturellen und politischen Konfigurationen, die sie ermöglichten.[3] Für Historiker, die damit befasst sind, die Funktionsweise kolonialer Macht zu rekonstruieren und die Reichweite von Globalisierungsprozessen zu spezifizieren, ist es nach wie vor eine der größten Herausforderungen, Ausmaß, Proportionalität und Bedeutung dieser imperialen Veränderungen zu bestimmen. Zu diesem Zweck reicht es nicht aus, wenn wir uns nur mit der globalen Dimension von Imperien – und ihren Globalisierungseffekten – beschäftigen, wir müssen auch nach den Grenzen ihrer territorialen Reichweite fragen und gegenüber europäischen Vorstellungen von einem kulturellen Exzeptionalismus misstrauisch bleiben. Zwar beanspruchten europäische Imperien den Löwenanteil an Territorium und Ressourcen für sich, doch in den Jahrzehnten vor und nach 1900 waren die imperialen Bestrebungen und die Früchte des Kolonialismus weit verbreitet: Am Anfang des 20. Jahrhunderts bestanden die Großreiche der Kadscharen, der Osmanen und der Qing noch immer, Japan errichtete zwischen 1895 und 1945 in Asien und im pazifischen Raum ein ausgedehntes Territorialreich, und die USA, Australien und Neuseeland – allesamt Ableger des britischen Imperialismus – machten sich daran, ihre eigenen Imperien aufzubauen.
In dem hier in Rede stehenden Zeitraum erlebten die Imperien dieser Welt fraglos eine rasante Ausweitung und Schrumpfung. Die expansiven Territorialreiche, die Eurasien seit Jahrhunderten prägten, gerieten in dieser Phase ins Wanken. Das Osmanische Reich, das im 14. Jahrhundert begründet worden war, verlor im Zuge des Russisch-türkischen Krieges von 1877/78 wichtige europäische Gebiete und musste nach dem Italienisch-türkischen Krieg (1911/12) auch Libyen aufgeben. Als es sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Mittelmächten anschloss, höhlte Großbritannien die osmanische Macht noch weiter aus und annektierte Zypern ebenso wie den Sudan und Ägypten. Nach der Besetzung Istanbuls durch Großbritannien und Frankreich bei Kriegsende wurden die Überreste des Osmanischen Reiches zerlegt und aufgeteilt; die Osmanen verloren ihre ausgedehnten Territorialgebiete in der arabischen Welt, an die Stelle ihres Reiches trat die Republik Türkei. Zur gleichen Zeit erodierte die Vorherrschaft der Kadscharen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts in Persien an der Macht waren, nach und nach durch britische und russische Einflussnahme. Die Besetzung Persiens durch russische, britische und osmanische Truppen während des Ersten Weltkriegs markierte das endgültige Ende der Kadscharenherrschaft.
Weiter östlich wurde die Vormachtstellung der Qing-Dynastie in China zunehmend durch soziale Unruhen im Innern erschüttert, und unmittelbar in Frage stand die Zukunft des Großreichs, als der Chinesisch-japanische Krieg 1894/95 vor Augen geführt hatte, wie sehr China im Hinblick auf politische Macht und militärische Fähigkeiten seinen Rivalen unterlegen war. 1900 gerieten die Qing-Machthaber von Seiten verschiedener Imperialmächte, die nach ungehindertem Zugang zu den chinesischen Märkten strebten, unter Druck: In diesem Jahr unterstützte die Kaiserinwitwe Cixi den Boxeraufstand, der gewaltsam gegen europäische Missionare und zum Christentum konvertierte Chinesen vorging und versuchte, die «ausländischen Teufel» aus China zu vertreiben und die traditionelle Obrigkeit zu stärken. Die Niederschlagung des Aufstands durch eine Allianz aus acht Nationen (Österreich-Ungarn, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Russland, Großbritannien und die USA) war ein deutliches Zeichen für die zunehmende Verwundbarkeit Chinas. Vor dem Hintergrund anhaltender politischer Instabilität und verschiedener Naturkatastrophen machte die Revolution von 1911 der Herrschaft der Qing ein Ende und rief eine neue Republik China ins Leben.
Während diese Landimperien einen rasanten Niedergang erlebten, blieb das russische Reich bis 1917 relativ stabil, und im Gefolge der Oktoberrevolution in jenem Jahr versuchten die Begründer des Sowjetimperiums, Moskaus imperialen Zugriff auf Zentralasien zu verstärken. Allgemein kann man sagen, dass Russland die Gebiete im Westen und Süden, die schon lange seiner Kontrolle unterstanden – die Osthälfte Polens, die Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Finnland, Armenien und Georgien –, mit fester Hand führte. Diese Gebiete waren unabdingbar für das Funktionieren des gesamten Imperiums: So lieferte beispielsweise die Ukraine einen Großteil des Weizens. Doch die verschiedenen Regionen des Imperiums verfügten nicht nur über wertvolle Ressourcen, sondern wurden auch dauerhaften Russifizierungskampagnen unterworfen, bei denen regionale Sprachen und lokale Kulturen unterdrückt wurden. Unter der Zarenherrschaft festigte man die russische Autorität in Zentralasien durch großangelegte Maßnahmen, mit denen russische Siedler dazu animiert wurden, sich an den Grenzen des Reiches niederzulassen: Durch die zahlenmäßige Überlegenheit und die Verpflanzung russischer Kultur in die Steppengebiete wollte man für sozialen Wandel sorgen. Zwar widersetzten sich nationalistische Bewegungen und Aufstände offen der zarischen wie später dann der sowjetischen Obrigkeit, doch wurden diese zentralasiatischen Gebiete fest in die russische Ökonomie eingebunden, sie stellten dauerhaft wichtige Ressourcen zur Verfügung und fungierten als Absatzmärkte.
Ganz vorn mit dabei im globalen Wettlauf um Kolonien waren in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts westeuropäische Nationen. Im berühmten «scramble for Africa» konkurrierten Italien, Spanien, Portugal, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und – eher indirekt – Belgien um Kolonialgebiete auf dem afrikanischen Kontinent. Für die Belgier stand Afrika – insbesondere der Kongo und Ruanda-Burundi – weiterhin im Zentrum der imperialen Aktivitäten; doch die anderen europäischen Mächte verfügten über global ausgreifende Imperien. Frankreich etwa war 1900 in Nord-, West- und Zentralafrika eine einflussreiche Imperialmacht. Im Norden gehörten zu seinen Besitzungen Algerien, Tunesien und (ab 1912) Marokko. Französisch-Westafrika wurde 1895 als Föderation von vier Kolonialgebieten begründet, 1910 dann Französisch-Ostafrika als Verwaltungsstruktur für vier Kolonialgebiete, die sich vom Kongofluss bis zur Sahara erstreckten. Französisch-Somaliland bildete einen kolonialen Außenposten am Horn von Afrika, und ab 1890 verleibte sich Frankreich die Insel Madagaskar nach und nach als Protektorat ein. In Asien behielt Frankreich die Kontrolle über seine Besitzungen in Indien – Pondicherry und Mahé – sowie über Kambodscha und Cochinchina, das südliche Drittel Vietnams, das in den 1860er Jahren unter französische Kontrolle geraten war. Später kamen dann noch Tonkin, Annam und Laos hinzu. In Ozeanien herrschte Frankreich als Imperialmacht über Neukaledonien, Französisch-Polynesien und – gemeinsam mit Großbritannien – über das Kondominium Neue Hebriden. Infolge des Ersten Weltkriegs vergrößerten sich die französischen Besitzungen noch weiter, man erhielt das Mandat über Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches (das heutige Syrien und den Libanon) sowie über die früheren deutschen Kolonien Kamerun und Togo.
Frankreichs Hauptrivale auf der globalen Bühne war schon seit geraumer Zeit Großbritannien. Es verfügte bereits 1870 über ein riesiges maritimes Imperium; zu seinen Kolonien gehörten Indien, Burma, Ceylon, Malaya und die Straits Settlements, Singapur, Hongkong, Australien, Neuseeland, Kanada, Trinidad, Tobago, die Inseln über dem Winde (der nördliche Teil der Kleinen Antillen), Britisch-Honduras, Jamaika, die Bahamas, Barbados, Sierra Leone, die Goldküste (das heutige Ghana), Britisch-Guyana, die Falklandinseln sowie Teile Südafrikas. Ende des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich die britischen Imperialbestrebungen vornehmlich auf Afrika. Bis 1900 kamen dort wichtige Besitzungen hinzu, andere wurden gefestigt: Zu diesen Kolonien gehörten Gambia, Sansibar, Britisch-Somaliland, der Anglo-Ägyptische Sudan, Njassaland, Nigeria, Britisch-Ostafrika sowie Südrhodesien. Ägypten war seit 1882 de facto ein britisches Protektorat, dessen Status 1914 formalisiert wurde. Ende des 19. Jahrhunderts vergrößerte Großbritannien zudem sein asiatisches und pazifisches Imperium, bis 1900 kamen Brunei, Nordborneo, Sarawak, Fidschi, die Gilbert- und Ellice-Inseln sowie das Königreich Tonga hinzu. Im 20. Jahrhundert befand sich das Empire in ständigem Fluss. 1902, am Ende des zweiten Burenkriegs, erweiterten und festigten die Briten ihren Einfluss in Südafrika, und 1910 vereinte die Südafrikanische Union die beiden zuvor unabhängigen Burenrepubliken mit den unter britischer Herrschaft stehenden Kolonien Natal und Kapkolonie. Als diese Kolonialherrschaft gefestigt war, begann man einige Protektorate und Kolonien in Ozeanien an Australien und Neuseeland zu übertragen, also an britische Kolonien mit eigenen imperialen Ambitionen. Nach einem anhaltenden Konflikt wurde Irland, das 1801 ins Vereinigte Königreich eingegliedert worden war, 1922 geteilt. Die neue unabhängige Republik Irland bestand aus 26 Grafschaften, während die sechs counties in Ulster (heutiges Nordirland) im Rahmen des Vereinigten Königreichs «home rule» praktizieren durften. Zur gleichen Zeit jedoch dehnten die Briten ihren Einfluss im Nahen Osten aus, wo Palästina und Transjordanien zu britischen Mandatsgebieten unter Aufsicht des Völkerbunds wurden. 1930 herrschte Großbritannien über ein riesiges und zersplittertes Weltreich.
Karte 4: Europäische Kolonialbesitzungen in Afrika, 1914
Nach der deutschen Einigung 1871 gewann die Idee eines Kolonialreichs als Indikator für die nationale Macht auch in Deutschland immer mehr an Bedeutung. Der deutsche Kolonialismus wurde einer älteren Tradition deutschsprachiger Forschungsreisender und Kompanien «aufgepfropft», die in West- und Ostafrika, auf Samoa und Neuguinea Handelsstützpunkte errichtet hatten. Sie bildeten die Grundlage für die formalen Kolonialgebiete Deutschlands. Im Zuge des «Wettlaufs um Afrika» konnten die Deutschen ein paar bedeutende Erwerbungen machen, darunter Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika sowie Deutsch-Westafrika, das später in Togoland und Kamerun aufgeteilt wurde. Im Pazifikraum fußte die deutsche Präsenz auf den Marshallinseln, den Marianen und den Karolinen, auf Deutsch-Neuguinea, dem Bismarck-Archipel und Nauru sowie auf Deutsch-Samoa. Der Erste Weltkrieg brachte das Ende dieses Imperiums: Einige deutsche Kolonien wurden zu Beginn des Krieges von Rivalen besetzt, die verbleibenden Territorien wurden dann gemäß Artikel 22 des Versailler Vertrags zwischen Frankreich, Belgien, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Japan aufgeteilt. Natürlich bedeutete das nicht das Ende des deutschen Strebens nach neuen Gebieten, wie die rasanten Eroberungen durch die Truppen des NS-Staates zwischen 1939 und 1941 belegen, denen ohne Zweifel imperiale Bestrebungen zugrunde lagen. Das Dritte Reich wollte sich nicht nur Zugang zu den Ressourcen seiner europäischen Nachbarn und Rivalen verschaffen, sondern war auch getrieben von der Sehnsucht nach «Lebensraum» für die Deutschen, die ihre angeblich überlegene Sprache, Kultur und «Rasse» in Gebiete im Osten verpflanzen wollten, wo bislang nicht-deutsche Völker geherrscht hatten. Die endgültige Niederlage Deutschlands zerstörte nicht nur diese Imperialträume, sondern sorgte auch dafür, dass die Verbindungen zwischen Rassendenken und empire building erstmals kritisch reflektiert wurden.
In den 1880er Jahren schloss sich Italien dem europäischen «Imperialistenclub» an und sicherte sich in Eritrea und Italienisch-Somaliland afrikanische Brückenköpfe. Seine Imperialträume konzentrierten sich anschließend weitgehend auf Äthiopien, erlitten jedoch anfänglich durch die demütigende Niederlage der italienischen Armee gegen äthiopische Truppen 1896 einen argen Dämpfer. 1911 wurde das Imperium durch den Einmarsch in Libyen erweitert. Unter Benito Mussolini konnte Italien schließlich 1936 seine Ambitionen in Äthiopien verwirklichen, und die frisch erworbene Kolonie wurde mit Eritrea und Italienisch-Somaliland zu Italienisch-Ostafrika vereint. 1939 befahl Mussolini die Invasion Albaniens, das dem Imperium als Protektorat eingegliedert wurde. Nach Mussolinis Sturz 1943 und dem Beginn von Geheimverhandlungen mit den Alliierten begann sich das italienische Kolonialreich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs rasch aufzulösen.
Zwischen 1870 und 1945 waren somit zahlreiche europäische Staaten energisch darum bemüht, ein Imperium aufzubauen. Spanien und Portugal hingegen, die den Einfluss Europas im 16. und 17. Jahrhundert ausgedehnt hatten, waren im späten 19. Jahrhundert keine dominanten Weltmächte mehr. Doch auch wenn mittel- und südamerikanische Staaten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit von den iberischen Mächten erlangt hatten, arbeiteten sowohl Spanien als auch Portugal weiter an ihrem Kolonialreich. Spanien versuchte in den 1860er Jahren mehrmals ohne Erfolg, sein Imperium auszudehnen. Trotzdem besaß das Land nach wie vor die Kontrolle über wichtige Kolonien der «Neuen Welt», nämlich Kuba und Puerto Rico, und herrschte seit dem 16. Jahrhundert über Guam und die Philippinen. Doch Ende des 19. Jahrhunderts zerfiel das spanische Imperium, als Kuba unabhängig wurde und Guam, Puerto Rico sowie die Philippinen nach dem Spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 an die USA abgetreten werden mussten. Um 1900 hatte auch das portugiesische Reich deutlich an Größe und Bedeutung verloren. Die Tatsache, dass Portugal 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens anerkannte, hatte es seiner Weltmachtstellung großteils beraubt. Das Land behielt allerdings wichtige Stützpunkte in Afrika, allen voran Portugiesisch-Westafrika und Portugiesisch-Ostafrika (Mosambik). Auch in Asien und im Westpazifik wahrte es seinen Einfluss mit Besitzungen in Indien, Goa, Damão und Diu sowie in Macao und Portugiesisch-Timor (heutige Demokratische Republik Osttimor).
Der imperiale Niedergang der Niederlande, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert so mächtig gewesen waren, zog sich lange hin, wobei bedeutende Kolonien schon während der Napoleonischen Kriege verloren gingen. Das asiatische Imperium der Niederländer schrumpfte in den 1820er Jahren deutlich, als man Malakka und die Besitzungen in Indien an die Briten abtrat. Dieser Rückzug setzte sich auch im hier interessierenden Zeitraum fort: 1871 wurde die niederländische Kolonie an der Goldküste an Großbritannien verkauft. Die verstreuten niederländischen Kolonien in der «Neuen Welt» – Suriname und die Niederländischen Antillen – stagnierten nach der Abschaffung der Sklaverei 1863. Nur in Niederländisch-Ostindien, aus dem später Indonesien hervorgehen sollte, expandierte das niederländische Imperium: Zwischen 1873 und 1920 brachte es über Java hinaus weitere Gebiete unter seine Kontrolle, und der Kolonialstaat arbeitete hart daran, die Produktion neuer Waren wie Kautschuk, Tee und Chinarinde sowie die Ölförderung voranzubringen und so den Bedarf eines sich industrialisierenden Europas zu decken.
Der schwindenden Bedeutung der iberischen Mächte und, in geringerem Maße, der Niederlande auf der globalen Bühne stand der Aufstieg der USA gegenüber. Die Vereinigten Staaten waren natürlich selbst aus älteren Traditionen des europäischen empire building hervorgegangen, und das rasche Vordringen der Siedler sowie der amerikanischen Souveränität in die Gebiete westlich des Mississippi im 19. Jahrhundert lässt sich durchaus als eine Form von Siedlungskolonialismus betrachten. 1867 kauften die USA dem Zarenreich Alaska ab, was eine signifikante Erweiterung territorialer Art, aber auch eine Ausweitung der geographischen Ambitionen bedeutete. Der Sturz der hawaiianischen Königin Lili’uokalani durch einen Staatsstreich 1893, hinter dem amerikanische Handelsinteressen standen, machte den Weg frei für die Annexion der Inseln im Jahr 1898. Im gleichen Jahr markierte der Spanisch-amerikanische Krieg den radikalsten Einsatz militärischer Macht von Seiten der USA auf der Weltbühne: Mit einer raschen Folge militärischer Siege zu Land und zur See gewannen sie die Oberhand über den europäischen Rivalen. Dieser Erfolg brachte ihnen die Philippinen, Puerto Rico und Guam ein und machte Kuba 1903 zu einem US-Protektorat. Anfang des 20. Jahrhunderts erfuhr das Imperium eine weitere Vergrößerung: Amerikanisch-Samoa (1900), die Panamakanalzone (1903) und die Amerikanischen Jungferninseln (1917) kamen unter US-Kontrolle.
Noch spektakulärer als der Aufstieg der USA war in vielerlei Hinsicht der Aufstieg Japans. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Japan nach zweihundert Jahren Isolation intensiv mit neuen Ideen, Technologien und politischen Modellen. Nach dem ersten Chinesisch-japanischen Krieg musste das China der Qing-Dynastie 1895 Taiwan an Japan abtreten. Die deutliche Überlegenheit der japanischen Flotte über die russische Marine im Krieg von 1904/05 machte den Weg frei für Japans Annexion Koreas. 1931 begann dann eine neue Phase des empire building, als Japan den Rest der Mandschurei besetzte. Dieses Gebiet bildete die Basis, von der aus Japan seinen Einfluss westwärts Richtung Russland und südwärts Richtung China auszudehnen versuchte. Die Unterzeichnung des Dreimächtepakts mit Deutschland und Italien im September 1940 verschaffte den imperialen Ambitionen Japans einen neuen Rahmen: Das Land arbeitete nun aktiv daran, seinen Einfluss nach Südostasien, in den Pazifikraum, aber auch nach Ostasien auszudehnen. Nach dem Überraschungsangriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 startete Japan einen beharrlichen Feldzug, um im westlichen Pazifik ein Seeimperium aufzubauen. Rasch eroberten seine Truppen die Malaiische Halbinsel, Singapur und Burma. Auf der Suche nach Öl und anderen Ressourcen stießen sie auch nach Borneo, Java, Sumatra und Niederländisch-Neuguinea vor. In Melanesien und Mikronesien schuf Japan ein Netzwerk aus Landepisten, Häfen und militärischen Außenposten; man hoffte, damit den strategischen Vorsprung gegenüber den alliierten Truppen zu sichern und neue Stätten imperialer Ausbeutung zu gewinnen, die im Krieg und für die japanische Wirtschaft von Nutzen waren. Letztlich jedoch machten die alliierten Streitkräfte diese Bestrebungen zunichte, und Japan konnte sich nur kurze Zeit an seinen jüngst erworbenen Kolonien erfreuen. Am Ende des Krieges war es gezwungen, die Kontrolle über seine deutlich älteren Kolonialgebiete in Taiwan, Korea und der Mandschurei abzugeben.
Wie diese kurze Skizze verschiedener Imperien zeigt, war der Zeitraum zwischen 1870 und 1945 von anhaltender und intensiver imperialer Aktivität bestimmt. In diesen fünfundsiebzig Jahren, einem vergleichsweise kurzen Zeitraum in der Weltgeschichte, brachen einige mächtige Imperialordnungen zusammen, während andere Regime ihren Einflussbereich rasant ausdehnten und im Zuge dessen neue, beschleunigte Formen interkulturellen Austauschs, interkultureller Aneignung und Interdependenz schufen. Obwohl diese Systeme bestehende kulturelle Gefüge veränderten und für neue Austausch- und Zirkulationsmuster sorgten, sahen sie sich ständig einer ganzen Reihe von Herausforderungen ausgesetzt, sie hatten es mit widerständigen Nationalismen zu tun und griffen vielfach zum Mittel der Gewalt, um die koloniale Kontrolle zu behaupten. Doch die Tatsache, dass die Kolonialregime das Wesen des «Eingeborenen» weiterhin fürchteten und sich der Fragilität ihrer eigenen Macht ängstlich bewusst waren, erinnert daran, dass diese Kontrolle niemals total oder unangefochten war. In dieser Zeit wurde deutlich: Charakter und Konsequenzen des Imperiums waren offenen Auseinandersetzungen unterworfen, und kolonisierte Völker konnten die Lücken in den Kolonialstrukturen ebenso nutzen wie die Widersprüche innerhalb der Imperialordnungen, die Zivilisierung versprachen, gleichzeitig aber auf Repression und Gewalt gründeten.[4]
So wie die einzelnen Kolonien einem ständigen Prozess in Gestalt endloser Reform-, Verbesserungs- und Neuordnungsinitiativen unterworfen waren, so waren auch die größeren Imperialsysteme, zu denen sie gehörten, keineswegs völlig unabhängig und hermetisch abgeschlossen. Zwar dürfte dies den damaligen Zeitgenossen deutlicher bewusst gewesen sein als vielen Historikern neuzeitlicher Imperien, doch diese Großreiche waren auf verschiedenste Art miteinander verbunden. Arbeitsmigranten, Missionare, Sozialreformer, hoch gebildete Fachkräfte und bescheidene Pilger waren genauso zwischen den verschiedenen Imperialsystemen unterwegs wie Geld, Waren, Technologien und auch Krankheiten. In einigen Schlüsselbereichen – wie etwa der Erforschung von Umwelteinflüssen, der Medizin oder der Ausgestaltung der Sozialpolitik – arbeiteten Imperien koordiniert zusammen, während gedruckte Texte und Artefakte der Populärkultur auf komplexen Wegen dafür sorgten, dass einige Ideen die Grenzen der Imperien problemlos überwanden.[5] Gleichzeitig beäugten sich die Imperialmächte, die dominanten wie die aufstrebenden, gegenseitig mit großem Misstrauen; sie überwachten Grenzen und Grenzregionen, Märkte und militärische Aktivitäten auf eine Weise, dass man für die 1880er Jahre beinahe schon von den (vorsichtigen) Anfängen einer imperialen Weltordnung sprechen kann. Im Folgenden versuchen wir, diese imperiale Globalität in ihren zeitlichen wie räumlichen Dimensionen nachzuzeichnen, also das Zusammen- und Wechselspiel zahlreicher Regime, die gleichzeitig, aber ungleichmäßig über die Welt verteilt waren und um Territorien, Souveränität, strategische Vorteile, nutzbare Ressourcen und kulturellen Einfluss konkurrierten.
Das späte 19. Jahrhundert wurde oft als singulärer Moment imperialer Geburt, Konsolidierung und Hegemonie bezeichnet (sogenannter neuer Imperialismus), doch in Wirklichkeit entstanden die Imperien dieser Zeit keineswegs so plötzlich, und sie waren auch keineswegs einzigartig. Vielmehr erwuchsen sie aus älteren imperialen Sicht-, Denk- und Handlungsweisen, die sie nachahmten oder sogar kannibalisierten. Moderne Imperialregime zehrten in hohem Maß von dem Kapital – dem symbolischen wie dem realen –, das frühere Imperien akkumuliert hatten, von den Großreichen der Frühen Neuzeit bis zu den klassischen Vorläufern in Griechenland und Rom. Insofern führt die Neigung der Historiker, diesen Moment des empire building eindeutig abzugrenzen, dazu, dass man die tiefgreifenden formalen und strukturellen Kontinuitäten ausblendet und die Fiktion reproduziert, wonach insbesondere europäische Imperien Ende des 19. Jahrhunderts mit viel Glück geschaffen wurden.
Demjenigen, der wissen will, wie Imperium und Globalität zusammenhingen, setzt diese exzeptionalistische Sicht in mehrfacher Hinsicht Grenzen. Erstens stellt sie Europa – und darin wiederum Großbritannien – in den Mittelpunkt der modernen Imperialgeschichte. Das heißt, es wird so getan, als stünden in Wirklichkeit ganz spezifische Imperialgeschichten beispielhaft für die Geschichte moderner Imperien insgesamt. Eine solche Annahme aber übersieht die longue durée etwa der muslimischen Großreiche, die Macht und Langlebigkeit der aufeinanderfolgenden Kaiserdynastien in China, die Bedeutung des empire building für die Konsolidierung des riesigen russischen Einflussbereichs in Eurasien oder die Stärke des modernen japanischen Kolonialismus. Diese anglozentrische Lesart betont bezeichnenderweise die «absoluten Unterschiede» zwischen Imperien und nimmt gleichzeitig – unmittelbar abgeleitet aus den rassistischen Prämissen, die im Zentrum britischer Macht stehen – für sich selbst, mitunter auch für den amerikanischen «Nachfolger» eine Sonderstellung in Anspruch.[6] Doch die Grenzen dieses anglozentrischen Modells werden immer deutlicher: Trotz aller Behauptungen einer Hegemonialstellung unter den Großreichen wie auch innerhalb des eigenen Imperiums war das Britische Empire beileibe nicht der einzige Globalisierungsakteur, der in dieser Zeit am Werk war. Tatsächlich lässt sich ein Imperialsystem wie das deutsche eher mit dem russischen, osmanischen und österreichischen vergleichen als mit dem des britischen Rivalen zwischen 1870 und 1918. Diese konkurrierenden globalen Sichtweisen «unter einen Hut» zu bringen und gleichzeitig die geopolitische Macht des britischen Imperialismus zu erklären – das ist eine der Herausforderungen, vor denen jede Darstellung von Imperium und Globalität in diesem Zeitraum steht.[7]
Zum Zweiten verdeckt diese «High noon»-Periodisierung das Wirken sub-imperialer Gebilde innerhalb der herrschenden Imperien – wie etwa des Raj im umfassenderen Projekt des Britischen Empire – wie auch neben ihnen, beispielsweise des sogenannten Imperiums der Komantschen, das Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts in den Grenzregionen des aufstrebenden US-amerikanischen Imperialsystems entstanden war.[8] Diese imperialen Gebilde, die von Natur aus multiethnisch waren, vereinten verschiedene Orte und Gemeinschaften zu neuen Formen von Interdependenz, die sich mit gängigen Erklärungsmustern wie etwa dem von der «europäischen Expansion» oder vom «West and the rest» nicht begreifen lassen. Der binären Entgegensetzung von Metropole und Kolonie, die einem Großteil der Literatur über Imperien zugrunde liegt, gelingt es nicht, die komplexen Handelsstrukturen, Wissensnetzwerke und politischen Verbindungen sichtbar zu machen, die sich innerhalb imperialer Systeme entwickelten und oft auch nach draußen schwappten. Schlichte Gegensätze sind wenig hilfreich, wenn man die Waren-, Geld- und Informationsströme verstehen will, die Haiderabad und Shikarpur in der Provinz Sindh mit Händlern in der Diaspora verbanden, welche innerhalb und jenseits des Britischen Empire unterwegs waren, um Enklaven zu schaffen, die zwischen Kobe und Panama, Buchara (Buxoro) oder Manila und Kairo verstreut waren. Ebenso wenig erklären sie uns die Geldtransfers und die weit gespannten religiösen Netzwerke, die Sikh- und Tamilenmigranten entlang und jenseits der imperialen Verkehrsrouten nach Südostasien, Australasien und darüber hinaus schufen. Derartig umfassende Verflechtungen gemahnen uns an die Komplexität imperialer Strukturen, an die vielfältigen Formen von Interdependenz, welche die kolonialen Begegnungen dieser Zeit vor Ort bestimmten, und im Falle der Geschichte der transozeanischen Diasporas an den Einfluss alter globaler Zusammenhänge.[9]
Drittens haben Narrative, die Imperien und Moderne als europäische Besonderheit oder gar als Merkmale eines europäischen Exzeptionalismus betrachten, zu einer radikal vereinfachten Geographie imperialen Einflusses geführt. Sie neigen zu der Annahme, die europäischen Imperialmetropolen seien Orte der Innovation und Dynamik, von denen die Untertanenvölker Aufklärung und andere Vorzüge der «Zivilisation» bezogen hätten, statt sie als Orte zu betrachten, die durchaus eine ganze Reihe wirtschaftlicher, politischer und sozialer Neuerungen aufnahmen und dadurch ihrerseits verändert wurden. Die Geographien von Imperium und Moderne, so wird zunehmend deutlich, waren miteinander verwoben: Plantagen, Kolonien, ferne Handelsstützpunkte und Missionsstationen in den Grenzgebieten der Imperien waren Orte, an denen einige der charakteristischen Praktiken, Gewohnheiten und Ideologien der Moderne entwickelt und verfeinert wurden. Die Integrationsarbeit imperialer Netzwerke, die frontiers und imperiale Zentren miteinander verbanden, bedeutete, dass die sich herausbildende Weltordnung durch einen ständigen Kulturtransfer zwischen modernen imperialen Kulturlandschaften angetrieben wurde – Landschaften, die geprägt waren durch die Kultur des Buchdrucks, die massenhafte Produktion von Gütern und der zugehörigen Werbung und natürlich durch das Dampfschiff, die Eisenbahn und den Telegraphen. Weltbürger – und diejenigen, die als solche gelten wollten – fühlten sich zunehmend «im Imperium zu Hause», je stärker imperiale Staatsbürgerschaft und Moderne als identisch betrachtet wurden. Die Spannungen, die innerhalb des Imperiums auftraten, waren Folge der unbehaglichen Nähe zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten vor Ort, im Bereich des Imaginären sowie in den vielfältigen Bereichen dazwischen.[10]
Da sich dieses Kapitel im zeitlichen Rahmen des 19. und 20. Jahrhunderts bewegt, sei auch darauf hingewiesen, dass die erweiterten kommerziellen und industriellen Fähigkeiten, die Europas aggressivem Griff nach der Welt seit den 1870er Jahren zugrunde lagen, auch aus früheren kolonialen Momenten und langen Imperialgeschichten resultierten. In den deutschen Kolonien – von Qingdao (Tsingtau) über Samoa bis Deutsch-Südwestafrika – finden sich sogar direkte Verbindungslinien zwischen vorkolonialen Reiseberichten sowie ethnographischen Forschungen und der späteren Kolonialpolitik. Rein ökonomisch betrachtet, war Europas erneute Vormachtstellung auf der weltwirtschaftlichen Bühne eine Folge der «new world windfalls», der unerwarteten Profite aus der Neuen Welt: Impulse des frühneuzeitlichen empire building sorgten dafür, dass ein ressourcenarmes Europa seine ökonomischen und umweltbedingten Beschränkungen überwinden konnte.[11] Doch das erste wahrhaft globale Zeitalter des Imperialismus, das mit den 1760er Jahren einsetzte und den Pazifik ebenso umfasste wie frika, Asien, die islamische Welt und den amerikanischen Doppelkontinent, war mehr als nur ein Vorläufer späterer imperialer «Größe».[12] Richard Drayton hat das prägnant so formuliert: «Die Alte Welt wurde von der Neuen in die Moderne geschleppt.» Die Modelle der Neuen Welt in Sachen Arbeitsdisziplin und Zeitmessung wurden in den Kolonialplantagen entwickelt und dann auf die Fabriken des sich industrialisierenden Europas übertragen.[13] Wie alle kapitalistischen Waren gelangte die moderne Zeit in die Metropole, ohne dass von ihren imperialen Wurzeln noch etwas zu sehen gewesen wäre, und doch spielte sie in den politischen Ökonomien der Kolonien eine wichtige Rolle.
Noch komplizierter wird unser Verständnis von Imperium und Moderne, wenn wir unser geographisches Blickfeld erweitern. Dann erkennen wir, dass muslimische Imperien weiter existierten, die in wichtigen Übergangszonen wie Nordafrika, Mesopotamien und Zentralasien imperiale Auseinandersetzungen überstanden, und dass die Frage des Imperiums auch für das moderne Ostasien eine zentrale Rolle spielte. Berücksichtigen wir bei der Genealogie des hier in Rede stehenden Zeitraums auch Phänomene wie die Eroberung Zentralasiens durch die Qing-Dynastie – und die damit einhergehenden räumlichen, ökonomischen, geopolitischen und sogar historiographischen Neuerungen und Umgestaltungen –, so wird uns bewusst, welche Erkenntnisse eine zeitlich umfassendere Betrachtung der Imperialgeschichte auf globaler Ebene liefert und wie wichtig es ist, über Europa als Maßstab des imperialen state building um 1900 hinauszudenken. Dass die Fernverbindungen und die Imperialsysteme, die den Kern der Geschichte Zentralasiens ausmachen, in Wirklichkeit auf vielfache Weise eine globale imperiale Welt antizipierten, wird erst allmählich so richtig erkannt, und man darf davon ausgehen, dass sich Forschung und Lehre in den Bereichen Imperial- und Weltgeschichte dadurch neu ausrichten.[14]
Die Gefahr dabei ist, dass dieser Schritt – der die imperialen Vorläufer moderner globaler Phänomene «rematerialisiert» – einfach von den Debatten über das Lokale und das Globale absorbiert wird. Mit dem Lokalen muss man sich ohne jeden Zweifel befassen, denn wenn man zulässt, dass die Spezifika und Besonderheiten vor Ort in einer Art ortloser globaler Landschaft aufgehen, reproduziert man gerade die Mechanismen kultureller Auslöschung, derer sich die Imperialismen häufig bedienten. Wahr ist auch, dass nicht alles Lokale fest ins Imperiale oder Globale eingebunden war – ein Phänomen, das vor allem die Forschungsarbeiten von Afrikanisten deutlich machen. Ganz gleich, ob wir Erdnussbauern in Niumi in Gambia betrachten, die einerseits mit den Weltmärkten verbunden waren, sich mitunter aber auch gar nicht darum kümmerten, oder das Desinteresse, mit dem Frauen vom Volk der Ashanti den Versuchen von Missionaren begegneten, strenge Regeln in Sachen körperlicher Hygiene einzuführen – in all diesen Fällen wird deutlich, dass es globalen Imperialregimen häufig nicht gelang, lokale Gemeinschaften in allgemeinere Muster wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs zu integrieren.[15] Kein Wunder, dass die afrikanische Sicht auf diese Phänomene insofern eine ganz andere ist, als sie totalisierende Betrachtungsweisen imperialer Macht und Globalisierung ablehnt. Für Afrika-Historiker wie Frederick Cooper war das Lokale oftmals bereits global, insofern es nicht notwendigerweise von transnationalen Vektoren, dafür aber von langfristigen und dynamischen interregionalen Einflüssen geprägt war: Die Tatsache, so Cooper, dass etwas nur partiell in das «imperiale Globale» eingebunden war, sei keineswegs mit völliger Isolation gleichzusetzen. Glaubt man Anthropologen wie James Ferguson, so führt das Beharren auf Konvergenz – von Waren und Einflüssen, insbesondere über «Ströme» – als Maßstab für Globalität dazu, dass man Afrika trotz der dortigen regionalen Vielfalt und des interkontinentalen Verkehrs über Jahrtausende dauerhaft marginalisiert.[16] Gleiches ließe sich für den Pazifikraum geltend machen, eine Region, die in den internationalen Debatten über Globalisierung und in der globalgeschichtlichen Forschung bisher nur am Rande vorkam. Diese Marginalität hat damit zu tun, dass in puncto Größe und Geographie Maßstäbe von außen herangetragen werden: Inseln im Pazifik wirken nun einmal klein und verstreut, wenn man sie nach eurasischen oder amerikanischen Standards bemisst. Der riesige Pazifik galt üblicherweise als Barriere, welche die Region von den Hauptströmungen der Weltgeschichte abgeschnitten habe. Doch für die Völker Ozeaniens war das Meer eine Hauptverkehrsstraße, die Nachbarn in Austauschkreisläufe einbezog, und ihr Blick auf die Geschichte ist voll von Begegnungen, Reisen und kulturellem Wandel. Oder anders aus gedrückt: Mit anderen verbunden zu sein war schon immer ein Merkmal des Lebens in Ozeanien; die Ankunft europäischer Imperialakteure sorgte keineswegs erstmals für interkulturelle Kontakte, sondern ordnete bereits bestehende Austausch- und Interdependenzstrukturen auf ziemlich gewaltsame, aber unvollständige Weise neu und gab ihnen eine neue Ausrichtung.[17]
In unseren Augen sind diese Beispiele insofern nützlich, als sie uns daran erinnern, dass die «Evidenz» von Globalität eine Voraussetzung ist, um Aufnahme in die Globalgeschichte zu finden. Mit anderen Worten: Die ideologischen Vorannahmen darüber, was «global aussieht», bestimmen in hohem Maße, wer in die weltgeschichtlichen Narrative aufgenommen wird; doch Globalisierung ist keineswegs die notwendige oder natürliche Bestimmung aller modernen Geschichtsverläufe.[18] Insofern diese kritischen Haltungen teleologische Deutungen der Globalisierung in Frage stellen, rücken sie auch die Fragen der Verhältnismäßigkeit, mit denen wir es zu tun haben, in den Vordergrund. Wann, wo und unter welchen Umständen wurde das Globale tatsächlich vom Imperialen geschaffen? Nicht minder wichtig ist die Frage: In welchem Maße wurden die imperialen Bedingungen ihrerseits durch andere nicht-imperiale globale Faktoren beeinflusst? Heute, da die Ansicht vorherrscht, das Imperiale und das Globale stünden in einer seriellen Beziehung, mögen Beispiele für eine solche «Disartikulation» wenig einleuchtend wirken, doch es gibt sie in Hülle und Fülle. Man denke beispielsweise an das wachsende Zusammenwirken zwischen einer restriktiven Einwanderungspolitik und der Reaktion auf die rasante Ausbreitung chinesischer Migrantennetzwerke im Pazifikraum oder an die Prozesse, die an der Schwelle zum Weltkrieg trotz und nicht wegen der kolonialen Intervention zum Ende der Sklaverei in Deutsch-Ostafrika führten.[19] In beiden Fällen war das Imperium zweifellos ein Faktor, ja, sogar ein geschichtlicher Akteur, aber es spielte keine vorrangige oder entscheidende Rolle. Wollen wir den Einfluss des Imperiums auf globale Entwicklungen bewerten, müssen wir aufpassen, dass wir nicht jedes Ereignis, jede Idee, Praxis oder Politik einer unvermeidlichen globalen Hegemonie des Imperialen zuschreiben, ohne auch die Kontingenzen und Brüche zu bedenken, denen, wie wir wissen, alle historischen Geschehnisse unterworfen sind.
Phänomene wie die Netzwerke der chinesischen Diaspora oder die Kampagnen zur Abschaffung der Sklaverei hingen mindestens genauso stark von früheren Geschichten des empire building, vom Fernhandel und von globalen religiösen Impulsen ab wie von den Ereignissen und Transformationen des Zeitraums, um den es uns hier geht. Wie oben bereits angedeutet, zogen Imperien unablässig Nutzen aus früheren Verbindungen, sie weiteten die vormodernen Netzwerke aus, verstärkten sie und verknüpften sie mit den Kreisläufen der größeren Imperial- oder Globalsysteme. Wir wollen im Folgenden zeigen, dass das Globale keine a priori bestehende, abstrakte Kategorie ist, die darauf wartet, mit Inhalt gefüllt zu werden, und auch nicht die unausweichliche Bestimmung jeder Imperialmacht. Die Imperien dieses Zeitraums waren vielmehr Regime, die damit beschäftigt waren, geographisch expandierende Märkte, politisch übertragbare Regierungsformen und zivilisatorische Identitäten zu schaffen, die nach Vernetzung und Interdependenz strebten. Während dieses ausgedehnten historischen Moments begann man, die Räume der imperialisierten Welt als global zu begreifen und als solche positiv zu bewerten – mit einem Begriff, der damals gelegentlich verwendet wurde, aber rückblickend gleichwohl analytische Möglichkeiten bietet, sofern wir darauf achten, seine jeweilige territoriale Gültigkeit zu spezifizieren. Denn mitunter war das imperiale Globale in Wirklichkeit zwischenkolonialer Natur, etwa die vielfältigen Verbindungen, die Siedlerkolonien wie Südafrika, Australien und Neuseeland direkt miteinander verknüpften, oder die Beziehungen, die sich zwischen Indien und den britischen Gebieten in Südostasien sowie in Süd- und Ostafrika entwickelten. Mitunter war es auch «interimperial», nimmt man beispielsweise die tiefreichenden ideologischen Kontinuitäten zwischen britischer und amerikanischer Kolonialherrschaft, die Umsiedlung von Zwangsarbeitern von den Neuen Hebriden in britisch kontrollierte Kolonien wie Westsamoa, Queensland oder Fidschi und in französische Kolonien wie Tahiti, Neukaledonien sowie nach Hawaii (vor und nach der Annexion), die Entstehung eines Pan-Asianismus an der Schnittstelle zwischen britischer und japanischer Imperialordnung oder auch die Interdependenz, die sich zwischen indigenen Aktivisten in Neukaledonien und australischen Kommunisten herausbildete.
Das «imperiale Globale» war selten flächendeckend und allumfassend in dem Sinne, dass es jeden auf dem Globus erreichte oder die kolonisierten Gesellschaften vollständig beeinflusste bzw. durchdrang. Insofern markiert das Zusammenspiel von Imperium und Globalität eine besondere Art ungleicher Entwicklung. Das imperiale Globale war weniger eine sich beschleunigende Dampfwalze, sondern ein Gefüge aus unregelmäßigen Integrationsprozessen, hinter denen keine gemeinsame treibende Kraft stand; vielmehr spiegelten diese Prozesse die Wechselfälle von Konvergenz und Divergenz, von Begierde und Gleichgültigkeit, von Intentionalität und Trägheit wider. Kritische Globalgeschichten wie die unsere werden also nicht nur die Rolle imperialer Macht bei der Herausbildung des Globalen im Auge haben, sondern auch die Grenzen imperialen Ausgreifens sowie die Ängste und Verwundbarkeiten imperialer Herrschaft herausarbeiten. Das heißt nicht, dass wir in der Frage, wie Imperien entstanden, die Ansicht vertreten, dies sei in einem «Anfall von Geistesabwesenheit» geschehen, im Gegenteil. Wir folgen in dieser Hinsicht eher dem Prinzip des «chaotischen Pluralismus», das John Darwin als mögliche Erklärung dafür bemüht, wie der westliche Imperialismus zumindest im 19. und 20. Jahrhundert die Hegemonie erlangen konnte.[20]
Wir orientieren uns an der postkolonialen Kritik und betrachten das Globale nicht als a priori bestehende Kategorie, sondern als Verortungsinstrument: als Deutungsrahmen, der es uns ermöglicht, ein Imperium in Relation zu einem sich herausbildenden, oftmals stockenden oder unvollständigen Gefüge von Prozessen zu setzen, statt es in einem territorial vorgegebenen Koordinatensystem zu verorten.[21] Dieser Ansatz, der sich auf den Feminismus und auf die Queer-Theorie ebenso stützt wie auf die postkolonialistische Kritik, hat methodisch mindestens dreierlei zur Folge. Zum einen signalisiert er unser Misstrauen gegenüber teleologischen Vorstellungen vom Terrain des Globalen. Indem wir der Versuchung widerstehen, das Globale als Endpunkt aller Geschichten zu betrachten, können wir die historischen Bedingungen besser erfassen, welche die Beziehungen zwischen Imperien und anderen Globalisierungsakteuren bestimmen, ohne von einer natürlichen oder schicksalhaften Affinität zwischen beiden ausgehen zu müssen. Zum Zweiten kann er deutlich machen, dass Kolonialregime und Imperialsysteme ganz unterschiedlich aussehen können, je nachdem, von welchem räumlichen oder sozialen Standpunkt aus man sie betrachtet. Verlässt man die Perspektive des imperialen Zentrums (ob nun London oder Istanbul, Tokio oder Paris), so kann man die Assemblage globaler Imperien von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten. So wurde beispielsweise die Ausübung osmanischer Autorität im Jemen oder Irak ganz anders wahrgenommen als in Istanbul selbst; und die Erfahrung der Han-Chinesen und der Bevölkerung Melanesiens, die beide von den Japanern kolonialisiert wurden, fiel völlig unterschiedlich aus, weil das rassistische Denken Japans in den Imperialgebieten unterschiedlich stark zur Anwendung kam. Drittens wollen wir die Erforschung der Imperialbeziehungen zum einen in die realen Spezifika vor Ort einbetten und zum anderen von einem Blickwinkel aus betrachten, der die Textur des Sozialen und des Kulturellen nicht einfach als gelebte Erfahrung erfasst, sondern als Teil struktureller Bedingungen des empire building und der globalen Vernetzung. Hier verdanken wir viel der Geographie, die uns mit Nachdruck an die Bedeutung und die historischen Besonderheiten des Raumes auf allen Ebenen erinnert: vom Krankenhaus bis zur Missionsstation, vom Recht bis zum Körper des Kindes, des Tagelöhners, des Rebellen.
Wir sind fest davon überzeugt, dass diese Mikrogeschichten die enormen Kontingenzen der imperialen Weltsysteme ebenso vor Augen führen wie die Spannungen, die aus der Kollision zwischen dem Gewicht lokaler Differenz (oder Indifferenz) und dem reterritorialisierenden Wesen imperialer Macht entstehen. Imperialgeschichten sind voll davon: vom Aufstieg der Islamschule des Deobandismus in Südasien, die dem Leben der Muslime eine neue Ausrichtung zu geben versuchte, indem sie angesichts kolonialer Modernisierung die kulturelle Tradition wieder geltend machte und Prinzipien aus der Frühzeit des Islam lehrte, bis hin zu den Maori-Propheten, die ihre Anhänger aktiv vor den Fallstricken der Moderne zu bewahren suchten und zu diesem Zweck die von Abraham und Moses im Alten Testament vollzogenen Veränderungen noch einmal ins Werk setzen wollten. Oder man denke an einen Ort wie Tianjin in China, wo zahlreiche Imperien Konzessionen und Privilegien genossen: Diejenigen, die vor Ort die Machtstrukturen steuerten, sahen sie nicht als Konkurrenz zwischen lokalem oder imperialem oder globalem Raum, sondern als Matrix aus allen dreien.[22] Oder anders ausgedrückt: Wir betrachten Imperien nicht als kohärente Ganzheiten, die sich in ihrer Bruchlosigkeit rekonstruieren ließen, sondern als Anhäufung oftmals unvereinbarer Bruchstücke, die den Homogenitätsanspruch, den das Globale gern verspricht, stört.
Die Homogenität, gegen die wir uns hier verwahren, wird befördert durch eine Imperialgeschichtsschreibung, die nicht über einen Top-down-Ansatz hinauskommt und auf Genealogien des gleichzeitigen imperialen Moments beharrt, indem sie das Modell der «großen Politik» aus dem politischen Denken und Europas übernimmt. Wir aber sind skeptisch gegenüber Imperialhistorien, welche die «Fußabdrücke» der Kolonisierten nicht reflektieren, und zwar nicht einfach nur deshalb, weil wir der Meinung sind, dass es genügend Belege dafür gibt, inwiefern und warum sie «Mitverfasser» der sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Ordnungen der Imperien waren. Grund ist vielmehr die Tatsache, dass diese Prozesse bei den einheimischen Völkern Praktiken und Vorstellungen indigener Souveränität entstehen ließen, die sich auf Widerstand und Entkolonialisierung im globalen Maßstab auswirkten. Antikoloniale Nationalisten der damaligen Zeit haben sicherlich nicht alle miteinander kommuniziert oder einander gekannt, aber die Parallelen zwischen den Bewegungen sind ebenso frappierend wie die Ähnlichkeiten zwischen den und innerhalb der Imperialordnungen. Keine Darstellung des imperialen Globalen dieser Zeit, die etwas auf sich hält, kann es sich deshalb leisten, das Wirken der Kritiker des Imperiums in den kolonialen «Gebieten» und in den imperialen Metropolen zu ignorieren oder zu umgehen, denn ihr Tun trug aktiv dazu bei, die alte Weltordnung, welche die Imperialmächte der Zeit vor 1945 zu errichten und bewahren versuchten, zu schaffen und am Ende dann zu zerstören. Die Aneignung von Technologie, die Neuordnung von Raum und Ort, der Wille, sich eine Gemeinschaft transnationaler antiimperialer Solidaritäten vorzustellen – all das hatte unweigerlich Folgen für das Schicksal der Weltordnung dieser Zeit, wie Ereignisse wie der Versailler Vertrag, die Eroberung der Mandschurei und die imperiale Grenzüberschreitung von Antikolonialisten wie Hồ Chí Minh oder Subhas Chandra Bose deutlich machen.
Die Bedeutung des antikolonialen Nationalismus «re-codiert» auch unseren Blick auf den Nationalstaat, eine politische Organisationsform, die trotz aller Versuche einer internationalen Gouvernementalität wie dem Völkerbund oder transregionaler politischer Formationen wie der Kalifat-Bewegung auf der globalen Bühne der damaligen Zeit zunehmend maßgeblich war. Statt Nationalstaaten einfach als Projektion europäischer Modelle in die Kolonialsphäre zu betrachten, legen wir Wert auf die Feststellung, dass imperiale Mobilität, koloniale Kommunikationssysteme und antikolonialer Nationalismus eine zentrale Rolle dabei spielten, Gestalt und Charakter einzelner Nationalstaaten und des globalen Nationalstaatssystems zu formen. Gleichzeitig zwang der imperiale Wirtschaftswettbewerb die Nationalstaaten dazu, sich zunehmend als Weltpolizisten zu definieren: Sie regelten die Migration und kontrollierten grenzüberschreitende Bewegungen durch immer strengere Staatsbürgerschaftsmechanismen, die mit Hilfe komplexer Gesetzgebung und von Techniken wie Pässen, Visa und Personalausweisen ins Werk gesetzt wurden. Der starke Nationalstaat war in vielerlei Hinsicht die Folge dieser Apparaturen, die ihrerseits angesichts eskalierender Verbindungen entwickelt wurden: Die Fähigkeit, Grenzen und Menschen zu kontrollieren, war das sine qua non seiner Definition, in demographischer wie in räumlicher Hinsicht. Und auch die Anführer der antikolonialen Bewegungen waren nicht immun gegen diese Erfordernisse, wie der Einsatz des indischen Nationalkongresses für die «Auslandsinder» in Südafrika und anderswo belegt. Insofern machten die von «einheimischen Kritikern» des Imperiums ausgearbeiteten Souveränitäts- und Territorialitätsmodelle deutlich, dass am Nationalstaat als Modell politischer Organisation und kultureller Imagination kaum mehr ein Weg vorbeiführte.
In den folgenden Abschnitten wollen wir die spezifischen, kontingenten und dynamischen Beziehungen zwischen verschiedenen Dimensionen gesellschaftlicher Organisation, politischer Aktivität und geistiger Arbeit in den Vordergrund rücken, um die Parameter des Globalen im Zeitalter der Imperien ermessen zu können. Besonders interessiert uns dabei, inwiefern Formen der Verbindung und Zirkulation – vom Funktionieren von Eisenbahnnetzen bis zu internationalen Konferenzen, vom Vertrieb von Zeitungen bis zur Ausbreitung von Seuchen – vielfältige Ausmaße und Dimensionen historischer Erfahrung sichtbar werden lassen. Doch auch wenn wir zeigen, wie diese Formen und Pfade das Globale prägten, betont unsere Analyse durchgängig die Ungleichmäßigkeit, Fragilität und Unvollständigkeit dieser Verbindungen. Im Zuge unserer Ausführungen hoffen wir, die Geschichten von Verbindung und Streit, von Interdependenz und Unabhängigkeit, von Anpassung und Widerstand innerhalb eines Rahmens zu fassen. Wir sind davon überzeugt, dass sich innerhalb dieser koexistierenden Geschichten nicht nur die Textur menschlicher Erfahrung finden lässt, sondern auch die spezifischen Manifestationen imperialer und globaler Kultur der Moderne Gestalt gewinnen. Von zentraler Bedeutung für dieses Projekt sind Fragen von Gender und Sexualität, von Rasse und Ethnizität, von Klasse und Status, und zwar nicht nur, weil sie erklärungsbedürftig sind, sondern weil sie absolut entscheidend dafür waren, wie Imperien sich entfalteten. Körperpraktiken und Intimbeziehungen der verschiedensten Art waren keineswegs marginal für die Abläufe imperialer Geopolitik, sondern spielten eine wichtige Rolle in den Ungleichheiten und Machtkämpfen des Kolonialismus.
In Abschnitt 1 untersuchen wir moderne Imperien als Projekte, die in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich der Territorialisierung dienten: «platzschaffende» Regime, deren räumliche Logik lokale und regionale Folgen hatte und deren kulturelle Formen (Kasernen, der Eisenbahnwaggon, das imperiale Zuhause) sich zu einem historisch besonderen globalen Modell von «Kultur» und «Zivilisation» summiert hatten. Abschnitt 2 ist der Geschichte von Kommunikation, Verkehr und verschiedenen Formen ökonomischer Verbindung gewidmet. Manchem mag das als Gegenstand einer «Imperialgeschichte» alten Stils erscheinen, doch sind wir der Überzeugung, dass diese Dinge unabdingbar dazugehören, wenn man die Beziehungen zwischen empire building und der Herausbildung des Globalen erforschen will – nicht zuletzt deshalb, weil sie von zentraler Bedeutung für die «Umskalierung» von Zeit und Raum waren, die Imperien – ob europäisch, muslimisch oder asiatisch – anstrebten. Abschnitt 3 befasst sich mit der Frage der Geopolitik und zeigt, welchen Beitrag Vertreter der Imperien und die antikolonialen Untertanen zur Schaffung der neuen Weltordnung leisteten, mit der sich die Teilnehmer der postkolonialen Konferenz von Bandung (1955) herumschlagen mussten. Hier geht es uns zum einen darum, Großbritannien in der Geschichte des modernen Imperialismus zu «provinzialisieren», zum anderen wollen wir das ideologische und politische Wirken der Widersacher und Feinde des Imperiums in den Mittelpunkt rücken. Das bringt eine Revision konventioneller Sichtweisen der damaligen räumlichen Ordnung mit sich, um einerseits die Rolle Russlands, Japans und der Vereinigten Staaten als Imperialmächte zu erfassen und andererseits deutlich zu machen, auf welche Weise antiimperiales Engagement und antiimperialer Widerstand das Schicksal der Welt nach 1945 bestimmten. Wir müssen zudem darauf achten, die ruckartige und ungleichmäßige Entwicklung des imperialen Globalen zu historisieren, und misstrauisch gegenüber ihrer angeblich weltgeschichtlichen Unausweichlichkeit bleiben – damals wie heute.
Wenn wir das Imperium – ein wenig augenzwinkernd – als eine Art GPS betrachten, birgt das freilich die Gefahr, dass wir unseren Blickwinkel für das historiographische Pendant zu Google Earth halten. Wir haben zwar versucht, uns geistig aus dem Gehege britischer Imperialräume und -orte zu befreien – und auch von all dem damit verbundenen Gepäck –, doch letztlich sind wir unserer Ausbildung, unserer intellektuellen Wissensbasis und den politischen Bedingungen unserer Standorte verhaftet. Letztere sind zugegebenermaßen «westlich», auch wenn das im Falle Neuseelands nicht ganz so evident ist; und sie sind in erster Linie anglophon ausgerichtet, was der Vielfalt an Historien, zu denen wir Zugang haben und die wir bei unserer Einschätzung der Grenzen und Möglichkeiten einer globalen Imperialordnung heranziehen können, deutliche Schranken setzt. Der Materialität des eigenen Standorts und deren Auswirkungen auf die eigenen Perspektiven und Methoden entkommt man nicht; das heißt freilich nicht, dass es unmöglich wäre, einen selbstkritischen und kritisch analytischen Blick darauf zu werfen und von dort aus neue Formen historiographischen Denkens und Handelns zu entwickeln. Wir sind uns also der Irrtümer und der Defizite unseres Tuns sowie der Grenzen unserer Interpretationen bewusst. Dieses Eingeständnis hat nichts mit Defätismus zu tun oder mit dem Wunsch, Verantwortung zu verweigern, sondern entspringt einer Verpflichtung auf das Projekt einer radikalen Kritik im Zeitalter anglo-amerikanischer Imperialaggression und einem echten Gefühl der Demut angesichts der Grenzen dessen, was man in einer Zeit der scheinbar grenzenlosen Globalität wirklich über die Welt wissen kann.