NACHBEMERKUNG:
Auf dem Weg zum Leviathan 3.0?
In den 1980er Jahren verwandelten sich die kommunistischen Regime Osteuropas, der Apartheidstaat in Südafrika und die Militärdiktaturen in Lateinamerika erkennbar in Demokratien. Bei diesen bemerkenswert gewaltlosen Übergängen spielten viele Faktoren eine Rolle, ökonomische Belastungen ebenso wie eine zurückhaltende Staatsführung und Massenproteste. Die Sowjetunion hat diesen Weg zumindest eingeschlagen. Diese große Liberalisierungswelle ist Teil einer späteren Geschichte. Genährt wurde sie durch Prosperität und die allmähliche Erkenntnis, wie sehr private Erfüllung durch die staatlichen Erfordernisse und Ansprüche der Jahre zwischen 1914 und den 1950er Jahren zurückgestellt oder in eine andere Richtung gelenkt werden musste. Verbunden war sie möglicherweise mit dem fortschreitenden Aufkommen intimer Kommunikationstechnologien, die an die Stelle des Massenpublikums des Kinos und der Rundfunkansprachen der 1930er und 1940er Jahre traten: zuerst durch das Fernsehen im Familienkreis in den 1950er und 1960er Jahren, dann durch Transistor, Mikrochips und Softwareinnovationen, schließlich durch mobiles Telefonieren und das Internet. In den 1980er Jahren ließen die Wahlen in Europa und den USA ein allgemeines Muster erkennen, das sich nicht nur gegen missbrauchende und pathologische Staaten, sondern gegen staatliche Autorität ganz allgemein wandte. Konservative vertraten die Ansicht, der Staat sei der Feind der Freiheit, mochte er auch noch so demokratisch sein. Und es hatte den Anschein, als könnte man seine Funktionen «outsourcen», sie abwälzen auf das, was man dann als den Bereich der Zivilgesellschaft bezeichnen sollte.
Sollte es einen Leviathan 3.0 geben, der in Wirklichkeit aber kein Leviathan im erkennbaren Sinne wäre, sondern eine Art funktionaler Zusammenschluss, wie ihn sich zahlreiche Denker im 19. und 20. Jahrhundert vorgestellt haben? In den 1970er und 1980er Jahren waren zahlreiche Beobachter, darunter auch der Verfasser dieses Beitrags, der Überzeugung, direkte, vom Staat beaufsichtigte Verhandlungen zwischen Interessengruppen wie etwa den Gewerkschaften und den Arbeitgebern – was man als Korporatismus oder Neokorporatismus bezeichnete – könnten eine bedeutsame Rolle für die staatliche Regulierung spielen. Eine solche Rolle jedoch, so die Theoretiker des Korporatismus, werde angeblich eher den freien Markt als den Staat ersetzen. Sie wurden dann vom Wiederaufleben des liberalen Marktes als Form ökonomischer Regulierung unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher (und dann von linken Parteien fortgeführt) ebenso überrascht wie vom Zusammenbruch des Staatssozialismus, der tatsächlich eng damit zusammenhing.
Seit den 1990er Jahren hat sich die Idee der Governance, der politischen Steuerung, als mögliche Alternative zum Staat herauskristallisiert. Sie geht von einem anderen Resultat aus als dem, was der Korporatismus leisten und erreichen sollte. Der Begriff der Governance ist darauf ausgerichtet, die Politik zu sublimieren, nicht die Ökonomie. Staatliche Ergebnisse sollten nicht durch Verhandlungen zwischen den Vertretern von Gesellschaftsklassen oder Interessengruppen zustande kommen; vielmehr implizierte Governance, dass sich zwischen unabhängigen Experten ein Konsens erzielen lässt, also zwischen Fachleuten, die nicht ihre eigenen Interessen vertreten, sondern das Gemeinwohl der Menschheit (oder mitunter auch der Tiere) im Sinn haben. Governance bedeutete, dass Regulierung aus den Empfehlungen von Nichtregierungsorganisationen und knowledge communities entsteht. Dieser Prozess war nicht per se demokratisch. Schmitt hatte in diesem Punkt durchaus recht: Demokratie beruhe auf einer gefühlten Gemeinschaft, also auf einer Gruppe von Menschen, die eine Identität für sich reklamierten (sei es territorial, sei es ethnisch oder sprachlich, sei es religiös). Doch bei Schmitt war damit implizit gemeint, dass es eine solche Identität nur geben konnte, wenn eine Grenze Freund und Feind trennte, uns und sie, ganz gleich, ob beide auf ein und demselben Territorium lebten oder nicht. Am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch hatte es die Politik oftmals mit Menschen zu tun, die Selbstidentifikation und Loyalität mit mehr als nur einem Territorium empfanden, mit Gemeinschaften, die wir als Diasporas bezeichnen. Gleichwohl hätte Schmitt die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, mit denen wir alle heute leben, als Beleg für den Realismus betrachtet, der seinen Ansichten zugrunde lag. Demokratien, so hätte er behauptet, würden den Staat benötigen, denn ihre Bürger seien beherrscht von der Gefahr, die alle Außenseiter und nicht nur Terroristen darstellten.
Wir haben diese Geschichte des modernen Staates in den 1870er Jahren am Little Bighorn begonnen, bei Völkern, die sich eine plastische Vorstellung von dem Territorium, von dem Land bewahrten, das ihnen gehörte, aber über keine genau definierten Grenzen verfügte; und wir schließen mit der Beschwörung von Gemeinschaften, die man als post-territorial bezeichnen könnte. «Bürger über Grenzen hinweg?» Wie aber könnte eine Regierung für solche transnationalen Gemeinschaften aussehen? Vielleicht ließe sich die Demokratie reduzieren auf Menschenrechte plus Experten. Informationen im Netz, private Akteure wie die Medien oder Google könnten eine größere öffentliche Rolle spielen. Doch die gegenwärtige Welt verfügt noch immer über Institutionen, die kollektiv den gesamten Globus erfassen, Wahlen abhalten, Streitkräfte unterhalten, Bündnisse eingehen und den Handel oder die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren versuchen.
Der Begriff der Governance, der sich Ende des 20. Jahrhunderts so großer Beliebtheit erfreute und Sozialwissenschaftler sowie Stiftungen bis heute fasziniert, zeugte und zeugt von der Hoffnung auf eine Regierung ohne «Staatlichkeit» – als könnte Politik künftig der Aufgabe enthoben sein, Präferenzen zu bündeln und sich schließlich für die eine oder die andere zu entscheiden, und stattdessen über Konsens und die Macht der rationalen Diskussion funktionieren. Man solle doch staatliche Stellen wie etwa Gerichte und Regulierungsbehörden auflösen und in «globale Regierungsnetzwerke» einbinden, so lautete eine Forderung, und am Ende habe man dann in Wirklichkeit eine gestärkte Staatsmacht. Stiftungen, Universitätseliten, Sozialwissenschaftler, gutmeinende Männer und Frauen liebten diese Idee der Governance – sie versprach eine transparente und sich selbst legitimierende Administration ohne Staatlichkeit und ohne Tränen.[183] Governance war die Utopie der akademischen Verwaltungselite.
Kein Historiker kann die Zukunft (ob im Singular oder im Plural) vorhersehen. Im Wettstreit liegende Nationen und Imperien – zu denen nun unter anderem auch die asiatischen Mächte gehören – lassen vielleicht alte Rivalitätsmuster wieder aufleben, die eine Stärkung staatlicher Strukturen bedeuten. Regionalen Zusammenschlüssen wie der Europäischen Union könnte eine größere Rolle zukommen. Gegenwärtig haben Staaten offenbar keinen besonders guten Ruf. Die Verantwortlichen an ihrer Spitze, ob nun Tyrannen oder Zwangsbürokraten, halten es für nötig, zu klassifizieren, zu quantifizieren und zu kontrollieren. Doch wie Hobbes und Hannah Arendt auf je unterschiedliche Weise betont haben, bedeutete Staatenlosigkeit oft das schlimmere Schicksal: Staaten schützten verwundbare Individuen und Gemeinschaften. Sie boten den rechtlichen Rückenpanzer für die menschlichen Geschöpfe mit ihren weichen Körpern, die den Grausamen und den Räuberischen oder einfach nur den Profitgierigen oder Eifernden schutzlos ausgesetzt waren. Macht und Gewalt verschwinden nicht, wenn Staaten kraftlos sind; sie werden vielmehr ohne gesetzliche Beschränkungen ausgeübt. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Gaza oder in Darfur staatenlos zu sein war alles andere als eine beneidenswerte Situation.
Zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich Staaten auf vielfache Weise neu organisiert und strukturiert: Sie hatten um ein zusammenhängendes Territorium gekämpft, sich die Mittelschicht verpflichtet, das Staatsgebiet konsolidiert, «Nomadenvölker» oder Stämme unterjocht und sich in beispiellosen Kriegen gegenseitig bekämpft. Sie hatten mit revolutionären Parteien experimentiert, deren Mitglieder von Visionen gewaltsamer Veränderung vergiftet waren und faktisch die brutalsten Führer verehrt hatten; und schließlich waren sie bestrebt gewesen, Normalität und ein prekäres Gleichgewicht zu den immer mächtiger werdenden Kräften der Ökonomie herzustellen. Natürlich waren Staaten die ererbten «Geschöpfe» von Individuen, Gemeinschaften und Parteien, durchsetzt von Ideen, Interessen und vielleicht auch Instinkten. Sie agierten mit Hilfe von politischen Strategien und Instrumenten, die sie nicht vollständig unter Kontrolle hatten. Wir können tatsächlich daran arbeiten, ihre Beschränkungen oder ihre Bevormundung zu verringern. Aber die Bedürfnisse und Bestrebungen, aus denen sie hervorgingen, werden in irgendwelchen Händen bleiben, und bestimmte Fragen werden nicht verschwinden. Nicht nur die Hobbessche Frage wird bleiben: Wie sieht das Leben ohne den Staat aus? Sondern auch die aristotelische Frage: Wollen wir, dass einer, viele oder einige wenige den Staat kontrollieren? Und nicht zuletzt die Frage, die sich die Gründerväter der USA stellten: Wie können wir den Staat zum Wohle aller regieren?