4. AUSNAHMEZUSTÄNDE – AUSNAHMESTAATEN? (20. JAHRHUNDERT)

Souveränität und Wohlfahrt

«Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Vergessen Sie all die netten Beschreibungen der Rechtsordnung, behauptete der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt 1921: Über die Souveränität verfügt derjenige, der die Macht besitzt, das Recht beiseite zu schieben.[134] Schmitt meinte freilich nicht einfach nur de facto bestehende Macht: Souveränität stand für ihn über dem Recht und entzog sich den Beschränkungen der Verfassung. Schmitt, der fast 100 Jahre alt wurde und 1985 starb, war niemals frei von dem Wunsch, bürgerliche Normen zu übertreten, und er strebte danach, im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie das Aushängeschild der konterrevolutionären Rechtsund Politiktheorie und später der «Hoftheoretiker» der Nationalsozialisten zu sein. Seine Formel bekam für viele Staaten im 20. Jahrhundert Relevanz, als sie mit Bürgerkrieg, Revolution, Wirtschaftskrise und Krieg zu kämpfen hatten. Der Ausnahmezustand oder Notstand war gegeben, wenn die Rechts- oder gar Verfassungsordnung mitsamt ihrem Schutz der Bürgerrechte einer Bedrohung für die Nation nicht mehr Herr wurde und deshalb aufgehoben werden musste. Das war der Moment, in dem der Herrscher gemäß dem, was seit Machiavelli als raison d’état, als Staatsräson bezeichnet wird, handeln musste, oder ganz einfach der Moment, den Präsident George W. Bush meinte, wenn er von sich selbst – zweifellos ohne je eine Zeile von Schmitt gelesen zu haben – als «dem Entscheider» sprach.[135]

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt von Ausnahmezuständen, und die Staaten, die in diesen Ausnahmezuständen geschaffen wurden, konnten sich in der Tat als exzeptionell in ihren Forderungen und in ihrer Brutalität erweisen. Für Schmitt aber waren sie nicht als solche exzeptionell, denn letztlich musste jeder Staat exzeptionell sein, und Politik spielte sich stets in den Zwischenräumen ab, wo das Gesetz nicht mehr hinreichte – das galt vor allem für die Demokratie. Denn Demokratie hatte – wie er in seinen Schriften betonte, auf die wir weiter unten zurückkommen werden – nichts mit Menschenrechten zu tun oder damit, politische Alternativen durch Diskussion aufzulösen (wie es der Liberalismus propagierte), sondern es ging darum, dass ein Volk seine Identität definierte und schützte, darum, wer zu «uns» gehörte und wer zu «denen». In diesem Sinne finden sich allerorten Erben Schmitts, die zwar nicht mehr der totalitären Versuchung erliegen, aber doch das öffentliche Leben im Wesentlichen durch unüberwindliche ethnische Gegensätze bestimmt sehen, und zwar üblicherweise in Gestalt der Zuwanderung aus Asien, Afrika und (im Falle der USA) aus Lateinamerika. Zwischen den Weltkriegen sprachen sie vom Bürgertum und vom Proletariat, von Kulaken und Kollektiven, von Juden und Deutschen. Und natürlich redeten sie nicht nur. Wo sie sich und ihre Sache von fundamentalen Gegnern im Innern bedroht sahen, machten sie sich daran, diese auszulöschen.

Schmitts Formel macht uns darauf aufmerksam, dass der Staat des 20. Jahrhunderts zwei Agenden verfolgen konnte, die begrifflich getrennt, aber oft miteinander verwoben sind; die eine könnte man als «weich», die andere als «hart» bezeichnen. Die weiche Agenda implizierte eine Ausweitung der politischen Strategien, die mit Foucaults Vorstellung von der «Gouvernementalität» verbunden ist, und die Modernisierung der Gesellschaft, wie wir sie im vorangegangenen Abschnitt skizziert haben. Die Ausweitung der Staatstätigkeit in diesem Sinne sollte zum heutigen «Wohlfahrtsstaat» führen, wie er sich allmählich aus den Arbeitsschutzgesetzen, der Altersvorsorge und der frühen Sozialversicherung entwickelte, die in Europa im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahmen und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutliche Ausweitung erfuhren. In dieser Rolle agierten die Staaten gesellschaftsprägend, indem sie für Bildung sorgten, in die Infrastruktur investierten und die Wirtschaft regulierten. Da die Staaten während des Kalten Krieges international konkurrierten, engagierten sie sich auch in Sachen Modernisierung und Entwicklung. Eine weiche Agenda verzichtete nicht auf große soziale Ziele, und Kritiker von Friedrich A. von Hayek bis James C. Scott haben die Ansicht vertreten, die weiche Agenda könne stillschweigend genauso viel Zwang ausüben wie die brutalere harte Agenda; doch die Tatsache, dass man eine Steuer auf künftige Rentenzahlungen gewärtigen oder Zwangsbeiträge an die Gewerkschaft zahlen muss, lässt sich nicht mit einem Verhör durch die Gestapo vergleichen. Es war gerade die «harte» Agenda, die sich auf den Ausnahmezustand oder den Notstand berief – politische Aktivität als Reaktion auf Krieg, Revolution und Unruhe. Staaten waren nicht einfach nur dazu da, die Entwicklung ihrer Gesellschaften voranzutreiben: Fragen der Souveränität, Identität und Gewalt stellten sich wieder mit neuer Dringlichkeit und wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zentralen Anliegen. Das waren sie auch im 17. Jahrhundert gewesen, sie waren jedoch allmählich von der aufklärerischen Konzentration auf die bürgerliche Gesellschaft verdrängt worden. Schmitt hatte ganz richtig erkannt: Hobbes war wieder da.

Selbst bei Nationen, die normalerweise im eigenen Land liberal waren, machte sich die harte Agenda, das Regime der «Ausnahme» in zwei Arten von Aktivitäten bemerkbar. Das war zum einen, wie wir gesehen haben, die Kolonialverwaltung; zum anderen betraf das den Staat im Krieg. Die Kolonialverwalter und ihre widerspenstigen Untertanen begriffen, dass es in der imperialen Welt vor allem um Souveränität ging und gehen musste: Souveränität über erworbene Untertanen, Souveränität hinsichtlich potentieller Kolonialrivalen. Die Wahrung der Souveränität bedurfte freilich dessen, was die französischen Befürworter des Kolonialismus als «Valorisierung» ihrer «Besitzungen» bezeichneten, das heißt die Modernisierung und Entwicklung ihres wirtschaftlichen Potentials, im Hinblick auf Güter wie auf Arbeitskräfte. Doch auch Intellektuelle und Staatsdiener in den Kolonien glaubten, Modernisierung, das Streben nach Reichtum und Macht seien Voraussetzung, um sich gegen die europäischen Mächte behaupten zu können.

Im Pazifikraum ließen sich aus der japanischen Erfahrung für beide Seiten wichtige Lehren ziehen: Die Meiji-Reformer hatten sich bewusst und erfolgreich für die Modernisierung entschieden, um eine mögliche Quasi-Kolonialisierung zu vermeiden. Doch sie bauten die nationale Selbstständigkeit ausgerechnet zu einer Zeit wieder auf, als die meisten erfolgreichen Staatsmänner der Überzeugung waren, die Kulturen seien geteilt in die dynamischen und in die kraftlosen. Sie betraten eine Staatenwelt «rot an Zähnen und Klauen» (Alfred Tennyson), weshalb sie glaubten, ihre eigenen Zähne und Klauen müssten so scharf sein wie die aller anderen, und machten sich zu diesem Zweck noch in der gleichen Generation daran, rasch ihr eigenes asiatisches Reich zu schaffen. Nach dem japanischen Sieg über China 1895, den die europäischen Mächte in Grenzen zu halten und dann für ihre eigenen Zwecke auszunutzen versuchten, führte die anschließende Rivalität mit Russland um die Vorherrschaft in Korea zum Russisch-japanischen Krieg von 1904/05 und zur ersten großen militärischen Niederlage, die einem europäischen Großreich in der Neuzeit von einer asiatischen Macht zugefügt wurde. Japan zerstörte die russische Flotte, doch die Belagerungen von Port Arthur und Dalian gerieten zum Stellungskrieg, der schließlich durch die Vermittlung von US-Präsident Theodore Roosevelt im fernen Portsmouth, New Hampshire ein Ende fand. Japan erhielt die russischen Rechte über die Häfen der Mandschurei, Sachalin und andere Inseln sowie genügend freie Hand, um Korea 1910 zu annektieren. Tokios neues Imperium beruhte auf harter Machtausübung, aber auch auf einer Entwicklungsagenda für die Mandschurei und – in geringerem Maße – Taiwan und Korea. Chinesische Reformer und Revolutionäre, die in Tokio Zuflucht fanden, lernten in den zehn Jahren nach der Niederlage ihres Heimatlandes jede Menge von den siegreichen Japanern. Angesichts des imperialen Konflikts, der sich eröffnete, als die Schwäche Koreas und der Mandschurei Russland, Japan und indirekt auch die westlichen Mächte mit sich riss, spricht einiges dafür, die internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Konflikt von 1895 beginnen zu lassen.[136]

Werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie sich die Kriege (einschließlich des Kalten Krieges), die fast das gesamte 20. Jahrhundert durchzogen, ganz allgemein auswirkten. Die fiskalischen Erfordernisse der Kriege hatten im 17. und 18. Jahrhundert zur Entstehung des Leviathan 1.0 beigetragen: also des dynastischen Territorialstaats, der auf seiner Souveränität beharrt, der entschlossen ist, sich wenn nötig über lokale Privilegien hinwegzusetzen, und der das Ziel hat, seine ökonomischen Ressourcen und die Infrastruktur zu entwickeln. Die Kriege Mitte des 19. Jahrhunderts waren, wie wir gesehen haben, entscheidend für die territoriale und regierungstechnische Konsolidierung des Leviathan 2.0. Und auch die großen Kriege des 20. Jahrhunderts spielten eine tragende Rolle. Auch wenn sie in hohem Maße der expansionistischen Rolle entsprangen, die der neu erfundene Nationalstaat des 19. Jahrhunderts so verlockend fand, trieben die Weltkriege diese Staaten noch weiter dazu, ihre Volkswirtschaften und Gesellschaften in bislang nicht gekanntem Ausmaß zu mobilisieren. Der Krieg rechtfertigte den Machtzuwachs im Innern und galt den rücksichtsloseren Staatsmännern des neuen Jahrhunderts als Paradigma, diese Macht zu ergreifen und auszuüben. Die Leser dieses Buches werden ihr Leben in Staaten verbracht haben, deren Verfügungsgewalt über das Leben des Einzelnen, deren Bestrebungen, die Wohlfahrt, oftmals auch die Wohnsitze und mitunter sogar den demographischen Fortbestand und die erlaubten öffentlichen Meinungsäußerungen zu regeln, durch die Weltkriege und die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges deutlich verstärkt wurden.

Die Erfahrung der beiden Weltkriege führte denn auch die beiden Agenden von Entwicklung und Souveränität zusammen. Die an diesen langwierigen Konflikten beteiligten Staaten mussten in einem bislang nicht dagewesenen Ausmaß massenhaft Truppen mobilisieren, ihre Industrien, ihre Verkehrswege sowie ihre medizinischen und sozialen Dienste koordinieren und mit ihren Gewerkschaften verhandeln. Die Marktmechanismen, mit deren Hilfe knappe Arbeitskräfte oder Rohstoffe beschafft werden sollten, brachten oft chaotische Resultate und führten zu Inflation, weshalb sie weitgehend durch Zuteilungsausschüsse der betreffenden Bereiche ersetzt wurden. Neue Ministerien für Waffen und Munition zwangen Unternehmer, die sich den Gewerkschaften widersetzt hatten, dazu, trilaterale Verhandlungen zwischen Staatsbeamten und mitunter Generälen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu akzeptieren. So viele Frauen wie noch nie bevölkerten den Bereich der nicht-häuslichen Arbeit. Der kriegführende Staat wurde zu einem Proto-Wohlfahrtsstaat, verfügte jedoch über Zwangsmittel, die in der Tat exzeptionell waren. Der britische Defense of the Realm Act (DORA) verschaffte der Regierung 1914 im Grunde die Macht, alles aus ihrer Sicht Nötige zu tun, um Krieg führen zu können. In Großbritannien herrschten weiterhin hohe unausgesprochene Erwartungen an schickliches und liberales Verhalten, und es galt als ausgemacht, dass eine solche Machtfülle nicht dazu benutzt werden dürfe, um die freie Meinungsäußerung zu behindern, es sei denn, sie stellte die Kriegsanstrengung in Frage. Da die Renten und die medizinische Versorgung verwaltet werden mussten, bestanden viele dieser Institutionen auch nach dem Krieg weiter. Zwar wurden die Eingriffe in Preis- und Marktmechanismen nach dem Ersten Weltkrieg im Allgemeinen wieder rückgängig gemacht, doch die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg machten einige der Innovationen zu dauerhaften Einrichtungen. Definierte man Macht in jedem Staat nach dem, was während des Ausnahmezustands geschah, so waren die Ausnahmezustände nicht mehr so exzeptionell.[137]

Der Aufstieg des kriegführenden Staates: Kanadische Arbeiterinnen in einer Munitionsfabrik, September 1916. Kanada und die Dominions traten 1914 gemeinsam mit dem «Mutterland» in den Krieg ein, und wie in anderen kriegführenden Staaten wurden die Männer zu den Waffen gerufen, während die Frauen traditionelle Männerberufe übernahmen.

Schließlich kam die doppelte Agenda in der außerordentlichen Rolle zum Ausdruck, die das Militär überall auf der Welt weiterhin spielte, mit Sicherheit bis in die 1980er Jahre. Außerhalb der Kolonialwelt war offenkundig die gesetzgebende Versammlung oder das Parlament diejenige Regierungsinstitution, die im Laufe des 19. Jahrhunderts – 1890 kam sie schließlich auch in Japan an, 1905 in Russland, 1912 in China – triumphiert hatte. Doch konservative Kritiker wie Carl Schmitt oder vor ihm Gaetano Mosca wiesen darauf hin, dass sich die Parlamente schwer taten, in ihrer Rolle als Volksversammlungen entschieden zu handeln, und bei ihren Entscheidungen deshalb auf ein Ausschusssystem oder auf die Parteiführer setzten, die Mehrheiten organisierten. Noch 1900 ähnelten die konkurrierenden Parteien eher Clubs als festen Zusammenschlüssen, wenngleich die Parteien zunächst in den USA und dann in Großbritannien, wo im Zuge der Wahlkämpfe in regelmäßigen Abständen über die Parteiführer und die Kandidaten fürs Parlament entschieden wurde, zu dauerhaften Regierungsinstitutionen mit hauptamtlichem Personal und ihnen nahe stehenden Zeitungen wurden. Doch wo diese Auswahlverfahren nur schwach ausgeprägt oder noch recht frisch oder aber gar nicht vorhanden waren, führte die Entwicklung im 20. Jahrhundert stattdessen dazu, dass eine einzige umfassende Partei eine überragende Rolle spielte oder das Militär die Herrschaft übernahm.

Militärherrschaft und Einparteiendiktatur schienen Carl Schmitts harte These zu bestätigen, wonach wahre Autorität nur außerhalb der Verfassung entstehe. Souverän war die Armee oder die autoritäre Partei. Oder stimmte das allenfalls auf kurze Sicht? Eine Militärherrschaft konnte nicht die nationale Einheit und schon gar nicht die innere Befriedung garantieren. In den großen Ländern, in denen schwache nationale Regierungen unter dem Druck imperialistischer Ausbreitung oder wirtschaftlicher Stagnation zusammenbrachen, waren territoriale Zersplitterung und Kriegsherrentum eine immer wiederkehrende Gefahr. Selbst dort, wo ein geeintes Militär das gesamte Staatsgebiet kontrollierte, erschien ihm eine dauerhafte Herrschaft mittels Bajonett frustrierend. Es musste sich zunehmend um die Bedürfnisse der Zivilgesellschaft kümmern und damit in die Welt der politischen Debatte und des Pluralismus eintreten. Einige Militärherrscher versuchten sich mit fortdauernder Gewalt daran, andere, indem sie autoritäre nationale Parteien unterstützten. Jahrzehnte später sollten die Generäle und Diktatoren merken, dass sie nicht imstande waren, mit komplexen Zivilgesellschaften mit ihren konkurrierenden Interessen umzugehen. Sie wussten nicht wirklich, wie sie auf religiöse Sehnsüchte, Konsumentenwünsche und die Technologie des Computerzeitalters reagieren sollten. Sie boten autoritäre Lösungen an, die sich allerdings nur schwer fortsetzen ließen, als das Zeitalter von Eisen und Stahl der Ära von Silizium und Software weichen musste. Doch ihre Demontage ist die Geschichte unserer Epoche, nicht des hier in Rede stehenden Zeitraums.

Krisen der Repräsentation

Nur in den geschützten bürgerlichen Nischen von Wien oder Paris oder in den verschwiegenen Banken und Clubs von London dauerte es bis zum Ersten Weltkrieg, ehe auch dort die douceur de vie des 19. Jahrhunderts zerbrach. Von Mitte der 1890er Jahre an geriet die Staatenwelt – die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits neu strukturiert und dann mit ambitionierten Programmen für Entwicklung zu Hause und Expansion in der Ferne befrachtet worden war – in stürmisches Fahrwasser und unternahm neue Experimente, die schrecklich endeten. In immer schnellerer Abfolge kam es zu immer heftigeren Turbulenzen: Hungersnot in Indien und ein Wiederaufleben der antibritischen Gewalt ab Ende der 1880er Jahre; eine globale Wirtschaftskrise 1893 und eine Mobilisierung von Protestbewegungen in Italien und den USA sowie große Streikaktionen überall in Europa. Hinzu kam ein Krieg nach dem anderen: zwischen China und Japan 1894/1895, zwischen Griechenland und der Türkei 1896/97, zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien 1898, zwischen Großbritannien und den Buren 1899–1902, zwischen Russland und Japan 1904/05, zwischen Italien und den Osmanen 1911, zwischen den Balkanstaaten und den Osmanen 1912 und schließlich zwischen den Balkanstaaten selbst 1913 – Kriege, in denen immer häufiger Massaker an der Zivilbevölkerung verübt wurden: an den Armeniern im Osmanischen Reich 1897, an den Herero in den deutschen Kolonien 1905, an Bosniern und Albanern auf dem Balkan 1911. Während sich die Kriege noch immer «weit entfernt» von Westeuropa und Nordamerika abspielten, erweiterten die Mächte im Zentrum ihr Netzwerk an Schicksalsgemeinschaften und Verpflichtungen: zwischen Franzosen und Russen nach 1894, zwischen Briten und Japanern 1902, zwischen Briten und Franzosen 1904, zwischen Briten und Russen 1907.

Beginnend mit der Konfrontation zwischen Russland und Japan, hat Niall Ferguson eine Chronik dessen erstellt, was er mit Recht als «the war of the world» des 20. Jahrhunderts bezeichnet, den er in erster Linie für das Produkt eines rassischen oder ethnischen Konflikts hält.[138] Ohne Zweifel dienten «Rassenunterschiede» als Rechtfertigung für den Imperialismus und als Freibrief für Gräueltaten. Doch Kriege entstanden nicht immer aus diesen Unterscheidungen, schon gar nicht die verheerendsten Kriege zwischen den europäischen Mächten. Entscheidend waren meiner Ansicht nach vielmehr die politischen Defizite der Imperien und das fortwährende Gefühl der Verwundbarkeit, das diese Defizite bei denen auslösten, welche die Großreiche am glühendsten verteidigten. Konflikte entstanden dort, wo Imperialeliten in der Defensive – Osmanen, Habsburger, Chinesen, Briten – und wo sie selbstgewisser waren – Japaner und Deutsche. Imperien wurden gepriesen als Friedensstifter innerhalb ihrer weit verstreuten und entlegenen Territorien. Tatsächlich konnten sie Gewalt im Innern und sogar Kriege untereinander hinauszögern, aber eben niemals unbegrenzt. Die Rechnungen wurden dann nach 1900 fällig.

Eine Synthese von Kultur, Reichtum und Macht: Die Spielzeiteröffnung der Pariser Oper im Palais Garnier, um 1890–1900. Das prächtige Pariser Opernhaus, das von Charles Garnier entworfen und in den 1860er Jahren im opulenten Beaux-Arts-Stil des Zweiten Kaiserreichs erbaut wurde, diente, wie ähnliche Häuser andernorts auch, als Ort, an dem sich das wohlhabende Bürgertum, das Ende des 19. Jahrhunderts überall in Europa und Amerika eine wichtige Rolle übernahm, öffentlich zeigte.

Wie in allen Revolutionsepochen ging es dabei um Legitimität, oder genauer: Die Legitimität war vielerorts in den 1890er Jahren ziemlich verbraucht. Legitimität impliziert, dass Autorität nicht allein auf Macht beruht; sie fußt auf einer moralischen Grundlage, die ohne fortwährenden Zwang für Respekt und Gehorsam sorgt. Ende des 19. Jahrhunderts mussten legitime Staaten bis zu einem gewissen Grad repräsentativ verfasst sein; sie mussten im Sinne der artikulierten oder vermuteten Interessen dessen agieren, was die Viktorianer als «öffentliche Meinung» bezeichneten. In den USA und Westeuropa hatte das lange Zeit bedeutet, sich einem Parlament zu beugen und die Rechte des Einzelnen zu respektieren. In der US-amerikanischen Demokratie hat Präsident Abraham Lincoln diese Vorstellung am weitesten gefasst: «government of the people, by the people and for the people», Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Zur Jahrhundertwende wurde die Repräsentation der «Gesellschaft» als komplexe Ansammlung von Identitäten und Interessen zur Basis für Legitimität. Es wurde jedoch für Staaten immer schwerer, die oftmals konfligierenden Interessen innerhalb der Gesellschaft adäquat zu repräsentieren.

Das galt nicht nur für autokratische Staaten, sondern auch für Länder, die sich ihrer zivilisatorischen Errungenschaften rühmten, nicht zuletzt der Rolle, die dort eine aufgeklärte öffentliche Meinung spielte. Die Kampagnen für eine Ausweitung des Wahlrechts waren das sichtbarste Zeichen des Bemühens, ein umfassenderes Verständnis von Gesellschaft zu erzeugen. Den europäischen Staaten gelang es Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach, das Wahlrecht für Männer auszudehnen. Konservative Parteien setzten mitunter darauf, durch die Einbeziehung der breiteren Mittelschicht in die Wählerschaft ihre Stellung zu stärken (wie das etwa die britischen Tories 1867 taten); mitunter rechneten Konservative und Reformer damit, dass eine Reform die Gesellschaft insgesamt und ihre jeweilige Position festigen werde (wie in Italien 1912).

In anderen Fällen spekulierten bürokratische Herrscher darauf, mit Hilfe eines breiteren Wahlrechts den Einfluss mächtiger Eliten zu begrenzen; so setzten die habsburgischen Minister in beiden Hälften der k. u. k. Monarchie ein allgemeines Wahlrecht durch. Mitunter gab die politische Führung dem Druck von Massendemonstrationen nach, so etwa in Belgien 1913. Gleichwohl gab es oft auch Widerstand dagegen. In Preußen widersetzten sich Konservative und der Monarch Forderungen, das Wahlrecht für das preußische Parlament von einem Recht für Reiche in ein allgemeineres System des «one man, one vote» zu ändern, bis sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs plötzlich das Bedürfnis verspürten, sich bei der Arbeiterklasse Unterstützung zu holen. In Russland wurde ein allgemeines Wahlrecht für die breite Masse, das im Revolutionsjahr 1905 als Zugeständnis eingeführt worden war, bis zum Sturz der Monarchie 1917 nach und nach wieder zurückgestutzt. Und sowohl Linke als auch Rechte konnten sich den Forderungen neuer Gruppen verweigern (etwa im Falle des Frauenwahlrechts oder des Wahlrechts für Afroamerikaner in den Südstaaten der USA).

Zudem sagt das Wahlrecht als solches noch nichts über die Stärke oder die Defizite demokratischer Institutionen und Kultur aus. Verschiedene Parlamente verfügten über ein unterschiedliches Maß an Macht gegenüber Staatsoberhäuptern, Militär oder Bürokratie. Verortet man die nationalen politischen Institutionen entlang einer Achse, so reicht diese von demokratischer Partizipation (wie in der dritten französischen Republik) bis zu weiterhin bestehendem Einfluss für alte Familien und Bürokraten, der unterschiedlich stark und liberaler oder weniger liberal ausfallen kann, wie in Großbritannien, Deutschland oder Japan. (Lokale und regionale Autorität lässt sich mit Hilfe eines ähnlichen Kontinuums beschreiben, sie konnte jedoch auch an einem ganz anderen Punkt zu Fall kommen.)

Eine einzige einheitliche Skala zur Klassifizierung von Demokratie (wie das etwa im Falle heutiger Regierungen die Organisation Freedom House versucht) ist jedoch für die damalige Zeit wenig sinnvoll. Einige Staaten blieben, was man als konstitutionell segmentiert bezeichnen könnte, ganz unabhängig davon, was ihre geschriebenen Verfassungen vorsahen. Sie waren geteilt in einen Bereich der erwachsenen Bevölkerung, der politische Partizipation ausüben durfte, und in einen oder mehrere Sektoren, die davon ausgeschlossen blieben. In geschlechtsspezifischer Hinsicht waren die meisten Gemeinwesen bis ins 20. Jahrhundert hinein gespalten, doch selbst wenn man von der Benachteiligung von Frauen absieht, waren einige Gesellschaften durch regionale «Rückständigkeit» und den Ausschluss bestimmter Ethnien segmentiert. Der italienische Staat wurde von einer liberalen Parlamentarierklasse regiert, die nördlich von Rom Wahlkämpfe führte, im Süden jedoch von Patronage, Klientelwesen und der Stärke der Großgrundbesitzer abhängig war, was wie eine Art Gegengewicht wirkte, um die destabilisierende Wirkung dieser Rivalitäten im Norden in Grenzen zu halten.

Die amerikanische Politik blieb rassisch gespalten. Die Republikanische Partei beendete in den späten 1870er Jahren ihr kurzzeitiges Bemühen, die frisch beschlossenen politischen Rechte für ehemalige Sklaven durchzusetzen, um das Präsidentenamt zu behalten. Die zweigeteilte Regelung, die im Norden sogar frisch Zugewanderten das (Männern vorbehaltene) Wahlrecht zugestand, während im Süden ein Teil der Bevölkerung aus rassistischen Gründen von den Wahlen ausgeschlossen blieb, ermöglichte dem Land eine sektionale «Versöhnung», allerdings um den Preis, dass Gesetze zur Rassentrennung und lokale Repression durch das inoffizielle Lynchgesetz weiterhin geduldet wurden. In der herrschenden Atmosphäre akzeptierten weiße Amerikaner im Norden wie im Süden schließlich die Sichtweise, wonach die Afroamerikaner noch nicht «bereit» seien für gleiche Bürgerrechte – das entsprach der europäischen Kolonialhaltung gegenüber den asiatischen und afrikanischen Untertanen, und in der Tat lieferte der «Pool» schwarzer Arbeitskräfte die Ressourcen für eine nicht-territoriale Kolonie. Die wieder vereinigten Vereinigten Staaten kamen auch in den Genuss der wichtigen geographischen Ressource der Gebiete im Westen, die als stabilisierendes Ventil für nationale Energie dienten.

Auch der massenhafte Zustrom europäischer Immigranten führte damals dazu, dass man sich auf ethnische Repräsentation mittels politischer «Maschinen» in den einzelnen Staaten und Städten konzentrierte, statt auf der Vorherrschaft auf nationaler Ebene zu beharren. Überdies stellten sie keine «radikalen» Forderungen: Die Arbeiter aus Nord- oder Osteuropa gründeten an einigen Orten zwar Gruppierungen nach dem Muster der gerade entstehenden sozialdemokratischen Parteien in Europa, schlossen sich jedoch überwiegend den bereits vorhandenen Alternativen an, also den Parteiorganisationen der Demokraten in den Städten des Nordens oder den radikaleren Strömungen der Populisten im Westen. Gleichwohl versuchten Reformer aus der städtischen Mittelschicht, die vorwiegend aus Nordeuropa stammten, ihre Stellung in den Städten zu festigen, indem sie den Wahlmaschinen die Regierungsgeschäfte aus der Hand nahmen und professionellen Stadtverwaltern übertrugen. Ende des 19. Jahrhunderts beruhte die Politik in den USA auf der Vereinbarung eines Gleichgewichts: Während die Republikaner üblicherweise eine schwache nationale Regierung stellten, die Schutzzölle verhängte, durften die Demokraten die Politik in den Industriestädten und das Reservoir der weißen Wähler im Süden für sich nutzen. In den 1890er Jahren stellten sich Farmer im Süden und Westen zwar gegen diesen Kompromiss, doch es gelang ihnen nicht, ihn aus den Angeln zu heben.

Rassentrennung herrschte auch in der neuen Südafrikanischen Union, wo die herrschenden Weißen nur eine Minderheit der Bevölkerung stellten. Faktisch endete der Burenkrieg, in dem die Truppen der weißen südafrikanischen Bergbauinteressen mit Unterstützung von mehr als 100.000 britischen Soldaten gegen die agrarisch ausgerichteten Burenrepubliken kämpften, mit einem impliziten Kompromiss, der zwischen 1902 und 1910 ausgearbeitet wurde. Die Afrikaans sprechenden Republiken wurden gezwungen, die Eingliederung in eine britische Südafrikanische Union und eine aktive Politik britischer Kolonialverwaltung unter Alfred Milner zu akzeptieren. Doch die Briten ließen den Burenrepubliken ein hohes Maß an Selbstverwaltung und unternahmen nichts, um das System der politischen oder gar der sozialen Rassentrennung in Frage zu stellen, das diese Republiken aufgebaut hatten. In der Kapkolonie machten die Weißen weniger als ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus, stellten jedoch 85 Prozent der Wahlberechtigten; in Natal, wo die Weißen nur acht Prozent der Bevölkerung in einer einstmals von den Zulu beherrschten Region stellten, lag ihr Anteil an den Wählern sogar bei 99 Prozent. Der Irrglaube, die Buren hätten an einer stabilen Demokratie Interesse, und die Bedeutung Südafrikas für den britischen Krieg gegen die deutschen Kolonialtruppen nach 1914 (sowie die persönliche Rolle, die der Burenführer Jan Smuts spielte) erschwerten es London, den rassistischen Staat der Südafrikaner in Frage zu stellen, nicht zuletzt weil viele Engländer die zugrunde liegenden Prämissen rassischer Minderwertigkeit durchaus teilten.[139]

Segmentierte Regime bildeten einen Typ impliziter Verfassung. Andere Formen impliziter Verfassungsvereinbarungen öffneten Staaten dem umfassenden Einfluss von außen – militärisch, wirtschaftlich, pädagogisch, kulturell. Mit dem Begriff des Semikolonialismus hat man die «Schutzrechte» zu beschreiben versucht, welche die europäischen Mächte in China besaßen, aber diese Autorität konnte auch weniger formal festgelegt sein.[140] In den großen Republiken Lateinamerikas spielte sich der ritualisierte Parteienwettstreit unter den Eliten zwischen denjenigen ab, die Handels- und Finanzbeziehungen zu ausländischen Kreditgebern, insbesondere Großbritannien, befürworteten, und denen, die an der traditionellen Macht von Militär, Kirche und Großgrundbesitzern festhalten wollten. Die Ausweitung von Exportgütern – Kaffee in Brasilien, Rindfleisch und Weizen in Argentinien, Bodenschätze in den Anden – stärkte die Liberalen und ermöglichte eine relativ harmonische Teilung von Macht und Einfluss nach Bürgerkrieg und Gewalt. Die neue Republik Brasilien (und mit ihr die Abschaffung der Sklaverei 1889) profitierte vom Kaffeeboom und davon, dass man sich auf ein hochgradig dezentralisiertes Föderalsystem verständigt hatte. Erst in der Zwischenkriegszeit, als die Preise für die Exportgüter fielen und neue Staatsführer die politische Basis zu verbreitern suchten (ob nun um die Arbeiter oder die indigenen Völker), brach dieses Gleichgewicht unwiderruflich zusammen und Populisten, oftmals aus dem Militär, gelangten als starke Männer nach oben.

Nachdem das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt worden war, wurde die Regulierung der Wirtschaft immer dringlicher. Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeiterklasse waren in den 1870er und 1880er Jahren auf dem europäischen Kontinent, in den USA und in Mexiko politischen Restriktionen ausgesetzt gewesen. Die Erste Internationale hatte sich nach der Niederschlagung der Pariser Kommune gespalten; Bismarck hatte die SPD 1878 verboten; und in vielen Ländern bekamen es streikende Arbeiter mit Soldaten und Richtern zu tun. Doch 1889 gründete sich eine Zweite Internationale; die SPD wurde 1890 wieder zugelassen, die Arbeiterorganisationen wuchsen und intensivierten ihre Tätigkeit. In allen Industrieländern nahm die Streikaktivität zu, und nach 1905 wurde nicht mehr nur für höhere Löhne, sondern auch für größeren politischen Einfluss gestreikt. Die russische Revolution von 1905 trug dazu bei, die Aktivisten in Deutschland und Frankreich aufzurütteln. So manchen Sprechern der Arbeiterbewegung schwebte vor, Organisationen am Arbeitsplatz könnten die gewählten Parlamente und sogar die sozialistischen Parteien ersetzen und zur Basis einer neuen demokratischen Politik werden. Zur Zeit der Revolution von 1905 propagierten die Bolschewistenführer Arbeiterräte (oder Sowjets) als Avantgarde einer proletarischen Ordnung.

Ein solcher Anarchosyndikalismus schien sogar die britischen Gewerkschaften zu erfassen, die sich früher am ehesten mit Forderungen nach besserem Arbeitsschutz und Lohnzuwächsen begnügt hatten. Auf der Linken berauschten sich manche an Visionen von einem Gesellschaftskrieg – man denke nur an Jack Londons reißerische Schilderung des Kampfes um Chicago in seinem Roman The Iron Heel (Die eiserne Ferse, 1908). Umgekehrt jagte diese Aussicht den Konservativen offenkundig Angst ein, von denen viele einen blutigen Aufstand nach Art der Pariser Kommune 1871 befürchteten. Doch es gab noch extremere Positionen: Das bevorstehende Armageddon verschaffte einigen Autoren geradezu einen Adrenalinschub, weil sie glaubten, es werde einer erschöpften und dekadenten Gesellschaftsordnung endlich wieder neue Kraft einhauchen. Georges Sorel, Ingenieur in Paris, und Vilfredo Pareto, italienischer Ökonom, der in Lausanne lehrte, antizipierten die bevorstehenden Zusammenstöße mit Begeisterung, und nicht weniger freute sich die Künstlerbewegung der italienischen Futuristen auf einen reinigenden hygienischen Krieg. Privilegierte französische Studenten waren der Meinung, ein neuer Krieg sei immer noch besser als das «ewige Warten». Der Liberalismus war eine Geisel des ennui ebenso wie der sozialen Spaltungen.[141]

Noch schwerer zu erfüllen als die Forderungen des Proletariats oder die Ungeduld der Intellektuellen mit dem politischen Kompromiss waren die Forderungen nach nationaler Repräsentation in Vielvölkerstaaten. Die Iren, die im frühen 19. Jahrhundert Sitze im britischen Parlament bekommen hatten, also zu einer Zeit, da nur Protestanten (weitgehend Landbesitzer) kandidieren durften, verlangten «home rule» oder nationale Autonomie mit einem irischen Parlament, doch protestantische Loyalisten widersetzten sich diesem Ansinnen und zwangen die konservative Partei sowie das britische Parlament, die Entscheidung darüber zu verschieben. Beide Seiten standen Anfang des 20. Jahrhunderts kurz davor, zu den Waffen zu greifen. Zwar wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs schließlich eine dritte Home Rule Bill verabschiedet, diese wurde jedoch erst einmal auf Eis gelegt, bis die Frage der protestantischen Grafschaften (Ulster) geklärt war. Als dies nicht geschah, kam es Anfang der 1920er Jahre zum nationalen Aufstand der Iren, den die Briten mit Hilfe paramilitärischer Einheiten niederzuschlagen versuchten (Black and Tan War), und ein Teil der nationalistischen Sinn-Féin-Rebellen war bereit, sich in den Friedensgesprächen mit einem «irischen Freistaat» ohne die nördlichen Gebiete in Ulster zu begnügen. Mit viel größeren und vielfältigeren ethnischen Aufständen als die Briten hatten Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zu kämpfen. Im frühen 19. Jahrhundert lösten sich erste nationale Gruppen schrittweise von den Osmanen (Griechenland, Serbien, Rumänien), dann wieder in den 1870er Jahren (Bulgarien) oder sie wurden von konkurrierenden Großreichen übernommen wie in Nordafrika.

Was die größte Kolonie der Welt anbelangt, so reichte die Kontrolle über Britisch-Indien aus, um Rufe nach stärkerer nationaler Repräsentation zum Schweigen zu bringen. Indien wurde natürlich wie ein Imperium regiert, durch eine aus London entsandte Regierung. Es gab dort zwar keine größere weiße Bevölkerung, aber das Erbe vielfältiger staatlicher Strukturen aus der Zeit vor den Briten; das Scheitern des Aufstands von 1857/58 (der nie als wirklich nationale Rebellion propagiert wurde) sorgte jedenfalls dafür, dass die nationale Herausforderung bis in die Zeit nach dem Weltkrieg relativ schwach ausgeprägt blieb. Der Indische Nationalkongress hatte zwar eine langfristige Vision, verfolgte jedoch kurzfristig eine Praxis der Anpassung und der schrittweisen Einbeziehung in lokale Organe, insbesondere im Justizbereich. Es war eine Ironie des Britischen Empire, dass die Krönung eines neuen Monarchen 1910 mit größtem Pomp in Neu-Delhi gefeiert werden konnte, während zu Hause quasi nebenan irische Gruppierungen sich der Gewalt zuwandten.

Repräsentation war überdies an sich schon eine komplexe Angelegenheit, unabhängig davon, einen wie großen Teil der Gesellschaft sie umfasste. Die räumliche Metapher, die davon ausging, «oben» versuche ein Staat auf die Gesellschaft «unten» zu reagieren, war zu simpel und irreführend. Politische Forderungen flossen nicht einfach «aufwärts» von der Gesellschaft zum Staat. Ambitionierte Reformer dachten darüber nach, wie Staaten, die selbst im 19. Jahrhundert transformiert worden waren, ihrerseits nun die Gesellschaft verändern sollten – also sie regulieren, entwickeln, verbessern und neu gestalten sollten. Die im 19. Jahrhundert entstandenen Staaten hatten ein besonderes Verhältnis zur technologischen Moderne; sie benötigten Hinterlader und Schnellfeuergewehre sowie schwerere Kanonen; sie brauchten Schnelligkeit (Eisenbahnen) und rasche Kommunikation (Telegraf, Seekabel, schließlich den Rundfunk). Jenseits ihres Bedarfs für die materielle Infrastruktur mussten Staaten ihren Bürgern eine Ausbildung verschaffen und deren Gesundheit sowie Vitalität verbessern, und sei es durch das neue Konzept der «Eugenik».

Der Staat des späten 19. Jahrhunderts war somit keine Institution, die auf ein statisches Gleichgewicht ausgelegt war, er konnte es auch gar nicht sein. Denn er musste auch für die Entwicklung der zivilen Ökonomie sorgen, nicht nur für die des Militärs. In Großbritannien und später in den USA konnten die Regierungen dabei eher auf die inhärenten Kräfte der Zivilgesellschaft als auf staatliche Lenkung setzen. Die Amerikaner betrachteten ihre Wirtschaftsunternehmen und ihre vielfältigen Vereinigungen als Nutznießer wie als Quelle der Modernisierung. Tatsächlich aber bedeuteten die Schutzzölle und die Landvergabe an Eisenbahngesellschaften und Siedler (die dann Eisenbahnkunden sein würden) eine beträchtliche staatliche Förderung der Wirtschaftsentwicklung. Nicht viel anders sah es in dieser Hinsicht in Kanada aus. Frankreich und später dann Deutschland, Japan und Russland hatten das Gefühl, in höherem Maße eingreifen zu müssen, begannen jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten damit: die Franzosen vor ihrer großen Revolution, die Deutschen und Japaner Mitte des 19. Jahrhunderts, die Russen an dessen Ende – dafür aber rasanter und eindrucksvoller als andere Staaten. Russland, das noch bis 1905 eine Autokratie war, machte sich an den Bau der Transsibirischen Eisenbahn, ein Projekt, dessen Kosten beim Adel auf Widerstand stießen, während es von denjenigen, die den japanischen Einfluss in Korea fürchteten, mit Ungeduld verfolgt wurde. Der Monarch gab dem Druck nach und ließ seinen Finanzminister Witte nur noch eher protokollarische Aufgaben erfüllen (1903 wurde dieser dann endgültig entlassen), berief ihn aber 1905 zum Regierungschef, der die Folgen des Krieges gegen Japan und der revolutionären Agitation nach seiner Entlassung bewältigen sollte. Gelang die Modernisierung nicht, konnte das Territorien kosten und die Souveränität aushöhlen, selbst wenn eine Kolonialisierung im eigentlichen Sinne vermieden wurde, wie sich sehr schön am Beispiel Chinas zeigt: Das Land musste extraterritoriale Stützpunkte gestatten, in denen die westlichen Mächte ihre eigene lokale Rechtsprechung behielten. Ein anderer Fall ist das Osmanische Reich, das gezwungen wurde, Ausländern «Kapitulationen» einzuräumen, also besondere Vorrechte und rechtliche Immunität.

Die Modernisierung provozierte jedoch Widerstand von Seiten der Traditionalisten im eigenen Land und mitunter ein präventives Eingreifen der westlichen Mächte. Als sich chinesische Beamte in den 1860er Jahren nach einem zweiten Krieg, nunmehr gegen Frankreich und Großbritannien, daran machten, innerhalb der erlaubten Parameter konfuzianischer Werte Reformen umzusetzen, wurden sie durch Intrigen am Hof daran gehindert. Vierzig Jahre später stieß ein neuer ernsthafter Versuch, die staatlichen Institutionen zu reformieren, auf den Widerstand der Kaiserinwitwe. Japanische Reformer hatten es da besser. Alarmiert durch die Konzessionen und die Territorien, welche die Briten den Chinesen 1842 abverlangten, und gewarnt durch die eigene Erfahrung, als man 1858 den Amerikanern fünf «Vertragshäfen» öffnen musste, begannen reformorientierte Samurai mit einer nationalistischen Mobilisierung gegen die vermeintliche Schwäche des Tokugawa-Shōgunats. In Japan hatten Konservative bei der Blockade von Reformen weniger Erfolg als in China. Der Hof befand sich nicht in der gleichen Position, um sich persönlich in die Politik einmischen zu können; vielmehr sollte der Kaiser durch die Reform sogar an Einfluss gewinnen. Zudem mischte sich in Japan der Zentralstaat nicht in die Belange der autonomen Fürstentümer (han) der reformorientierten daimyō und ihrer Samurai-Beamten ein, die damit tatsächlich so etwas wie Laboratorien der Rationalisierung waren. Es gab anders als in China kein staatliches Prüfungssystem, das konfuzianische und neokonfuzianische Hierarchiekonzepte zur Zulassungsvoraussetzung für den öffentlichen Dienst gemacht hätte; die militärischen Traditionen Japans waren konservativ, ermöglichten jedoch das Aufgreifen moderner Wissenschaft und Technologie.

Modernisierung um des nationalen Überlebens willen: Chulalongkorn, König von Siam, mit dem Kronprinzen und einigen seiner übrigen 77 Kinder, um 1900. Chulalongkorn, ein Zeitgenosse des reformorientierten Meiji-Kaisers in Japan, schaffte die Sklaverei ab, modernisierte die Regierung, das Militär sowie das Rechts- und Bildungssystem in Thailand und bewahrte seinem Land die Unabhängigkeit angesichts der Briten in Burma im Westen und der Franzosen in Indochina im Osten.

Andere autoritäre Herrscher konnten ihre Länder ebenfalls davor bewahren, zerstückelt oder absorbiert zu werden, wenn sie Institutionen und Infrastruktur geschickt und bereitwillig modernisierten. Dem thailändischen König Chulalongkorn (der als Rama V. von 1868 bis 1910 regierte, also fast genau gleichzeitig mit dem Meiji-Kaiser) gelang es, die Briten in Burma gegen die für ihn bedrohlicheren Franzosen in Indochina auszuspielen. Er richtete ein funktional organisiertes Kabinett ein, reformierte Militär, Fiskal- und nationales Bildungssystem und baute Eisenbahnlinien und Telegraphenleitungen überall im Land aus. Kaiser Menelik II. von Äthiopien (r. 1889–1909/13) regierte ein ärmeres Land, fügte italienischen Truppen jedoch erstaunliche Niederlagen zu und begründete ein Ministerialsystem.[142]

Globale Revolution

Norman Angell hatte den Mut, in seiner 1910 erschienenen Untersuchung über den internationalen Kapitalismus mit dem Titel The Great Illusion (die noch im gleichen Jahr auf Deutsch unter dem Titel Die große Täuschung. Eine Studie über das Verhältnis zwischen Militärmarkt und Wohlstand der Völker vorlag) zu prophezeien, das, was Historiker heute als die erste Globalisierung bezeichnen – das engmaschige und sich rasch weiter verdichtende Netz der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen den Nationen Anfang des 20. Jahrhunderts –, werde einen großen Krieg verhindern. Er hatte bekanntlich Unrecht. Die Globalisierung brachte keinen Frieden mit sich.

Ohne die Zukunft vorhersagen zu müssen, konnte Lenin 1916 davon sprechen, die erste Globalisierung (die er als Imperialismus interpretierte) habe zwangsläufig in einen großen Krieg münden müssen. Wir können nicht sagen, dass er Unrecht gehabt hätte – wir können aber auch nicht bestätigen, dass er Recht hatte.

Durchaus begründen hingegen lässt sich die These, dass die Globalisierung zur Revolution beitrug, als in Mexiko, Eurasien und China Regime zusammenbrachen. Das bedeutete, dass die Revolution nicht die Industriegesellschaften Westeuropas und Nordamerikas traf (es sei denn, eine militärische Niederlage diskreditierte die dortigen Herrscher), sondern die großen, verwundbaren Staaten, auf welche die imperialistischen Rivalen und das sie begleitende Kapital ein Auge geworfen hatten. Die Machenschaften der amerikanischen Zuckerinteressen in der Karibik und auf Hawaii und selbst den kubanischen Aufstand gegen die spanische Herrschaft zu Beginn dieser Phase in den 1890er Jahren wollen wir an dieser Stelle unberücksichtigt lassen und unsere Aufmerksamkeit anderen Ereignissen zuwenden: dem Boxeraufstand in China 1900 und dem Zusammenbruch der Mandschu-Herrschaft 1911, den turbulenten Monaten in Russland 1905 und dann den Regimewechseln 1917, der Konstitutionellen Revolution in Iran 1906–1909, dem Aufstand der Jungtürken 1908 und dem Zerfall des osmanischen Staates zehn Jahre später, schließlich der Abfolge von Rebellionen in Mexiko, die sich über ein Jahrzehnt (1910–1920) erstreckte.

Diese geographisch weit verstreuten Revolutionen hatten jeweils ihre eigenen Ursachen und ihre eigene Geschichte, waren jedoch direkt oder indirekt Produkte sich ausbreitender strategischer Rivalitäten und ausländischer Investoren, die aus lokalen Ressourcen oder Investitionen Profit ziehen wollten und von den Regierungen ihrer Heimatländer wohlwollend begleitet wurden. Abgesehen vom imperialen Russland hatten sich die attackierten Regime offenkundig ausländischer Macht und fremdem Kapital unterworfen. Zweifellos sorgte die Wirtschaftstätigkeit von Ausländern (und damit einhergehend Schulen und Kirchen sowie technisches und finanzielles Know-how) für beträchtliches Wirtschaftswachstum. Das Eisenbahnnetz wuchs um ein Vielfaches; Öl wurde gefördert und neue Banken lenkten Kapital in eine Unmenge von Beteiligungsgesellschaften; Investoren in London, Paris, Berlin, Wien und New York sorgten für lokalen Wohlstand, auch wenn sie selbst beträchtliche Gewinne für ihre Anteilseigner erzielten. Gesellschaftlich nährten sie im Zuge dessen eine Klasse lokaler Mittelsmänner, die sich bereicherten, und riefen auf der Gegenseite Intellektuelle, Journalisten, religiöse Autoritäten und hohe Militärs auf den Plan, die einen Ausverkauf authentischer nationaler oder imperialer Traditionen befürchteten. Somit wuchs rasch ein radikales Ferment heran, das sich in Geheimgesellschaften, aber auch in Kasernen und Klubs organisierte.

Diese Entwicklungen sorgten für die Widersprüche, durch die sich die Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszeichneten: Ressentiments und Frust waren in hohem Maße nationalistisch, weil sie auf das Vordringen des globalen und internationalen Kapitals reagierten. Die Revolutionäre forderten eine Modernisierung nach westlichen Prinzipien, bedienten sich jedoch häufig der primitiven Kraft des religiösen Traditionalismus. Zu Aufständen kam es weniger unter benachteiligten Arbeitern und Bauern, sondern bei nativistischen Eliten, die erzürnt waren über militärische Niederlagen und über Autoritäten, die in ihren Augen eine Mitschuld trugen an nationaler Abhängigkeit oder gar Demütigung.[143] Doch die Eliten, die aufgefordert waren, neue Programme zu organisieren und durchzusetzen – in Mexiko durch umstrittene Wahlen, im Osmanischen Reich durch die zunehmenden Nationalismen auf dem Balkan, in China durch die Demütigungen der Qing –, lösten am Ende massive Aufstände und Bürgerkrieg aus. Mit ihrer nationalistischen Ausrichtung sorgten sie zehn bis zwanzig Jahre lang für regionale Armeen und territoriale Zersplitterung.

Ende des 18. Jahrhunderts hatten Revolutionen als Auseinandersetzungen innerhalb bestimmter Staaten begonnen, die dann ein internationales Eingreifen größerer Mächte auslösten. Diese Konflikte hatten sich in der neuen Sprache der Rechte und Ansprüche artikuliert, wie sie Amerikaner heute aus ihrer Gründungscharta kennen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hingegen entstanden die revolutionären Situationen als Reaktion auf vermeintlichen transnationalen Machtmissbrauch, der daraus erwuchs, dass ausländische Regierungen und Investoren im Zusammenspiel mit lokalen Eliten die Arbeitskräfte im Land ausbeuteten und sich an lokalen Ressourcen bereicherten. Diesen transnationalen Ausrichtungen entsprang die Sprache von Imperialismus und Unterentwicklung.

Damit sich jedoch aus einer Situation voller Antagonismen und Feindseligkeiten tatsächlich Aufstände entwickelten, bedurfte es natürlich des Zusammenspiels von Zufall und Persönlichkeit. Insbesondere die politischen Klassen des jeweiligen Landes verloren zusehends die Geduld mit Herrschern und Familien, die schon lange an der Macht waren und die Rufe nach Reformen offenbar nicht hören wollten. Die Zarin in Russland und die Kaiserinwitwe in China schienen die schwachen Männer, die nominell an der Spitze des Landes standen, in ihrem Sinne zu beeinflussen. In Mexiko und im Osmanischen Reich hatten die alternden Patriarchen, die beide 1876 an die Macht gekommen waren, zwar die wirtschaftliche Entwicklung vorangebracht, sich jedoch zunehmend zu herrschsüchtigen Autokraten entwickelt. Sultan Abdülhamid II., der immer mehr wie ein alternder Despot wirkte und seine Herrschaft vor allem mit Hilfe von Polizeispitzeln sicherte, wurde 1909 nach dreißig Jahren aus dem Amt vertrieben, mit einem Staatsstreich, der sein Reich noch mehr zum Objekt territorialer Zerstückelung machte. Porfirio Díaz musste ein Jahr später abtreten.

Doch diese Autokraten hatten insbesondere die Ausweitung des nationalen Eisenbahnnetzes enorm vorangetrieben, wie das zur gleichen Zeit auch die Beamten in Russland taten. Tatsächlich bildeten die Eisenbahnen die Sehnen und Nervenfasern der Globalisierung: Sie verstärkten die Vorstellung von einem geeinten Territorium; sie ermöglichten die Entwicklung der Märkte im Innern oder den Transport von Soldaten in ferne Gegenden; sie erforderten eine Standardisierung der Zeitzonen. Schon in ihrer Frühzeit in den 1840er und 1850er Jahren hatten Eisenbahnen dazu beigetragen, den revolutionären und nationalen Druck zu erhöhen, ob nun in Preußen, wo zu ihrer Finanzierung ein Parlament einberufen wurde, oder in Illinois, wo sie die Plains für den Weizenanbau erschlossen und die wackligen Kompromisse in Sachen Sklaverei destabilisierten. Jetzt brachten die Eisenbahnen den Veränderungsdruck von globalem Finanzwesen, Investitionen und der Herausbildung von Fernmärkten in die Randzonen der entwickelten Welt. Die Eisenbahnen waren das Gegenstück zu den Grenzen: Die Grenzen zu verteidigen war seit dem 17. Jahrhundert Voraussetzung staatlicher Souveränität – die Grenze war Vorbedingung des Leviathan 1.0. Die Eisenbahn versprach den Binnenraum des Nationalstaats zu einer Einheit zu machen, ökonomisch und gesellschaftlich ebenso wie politisch. Sie war damit das Leitsymbol des Leviathan 2.0. Doch das hatte seinen Preis, und der war oft ein fiskalischer, der schwer auf der Bevölkerung lastete und neue Steuern erforderte wie in Russland oder ausländische Investitionen in völlig neuen Dimensionen wie in Mexiko und im Osmanischen Reich. Und es machte deutlich, dass die Mechanismen der halb entwickelten Staaten, in die die Eisenbahn vordrang, nicht ausreichten, um die Fortschrittsversprechen, mit denen sie warb, zu erfüllen. Schließlich schuf der Eisenbahnbau neue Koalitionen der Privilegierten, bestehend aus neuen und alten Investoren, und neue Koalitionen des Protests, die das Gefühl hatten, von denjenigen, die den monopolisierten Zugang zu Privilegien und Macht kontrollierten, ausgebeutet zu werden.

Ironischerweise jedoch blieben die nationalen Revolutionen, die als Reaktion auf globalen Druck ausbrachen, oftmals regional zersplittert. Die Politik der nationalen Parlamente geriet rasch in den Hintergrund. Die Schauplätze der Revolution waren oft lokaler Natur, und geeinte nationale Bewegungen entstanden erst nach langen und brutalen militärischen Auseinandersetzungen. Die Macht verlagerte sich auf rivalisierende Militärbefehlshaber, die mitunter das ganze Land unter ihre Kontrolle bringen, mitunter aber auch nur ihr persönliches Herrschaftsgebiet errichten wollten. Die Existenz konkurrierender Armeen und lokaler Militärherrschaft (warlordism), die oftmals von mächtigen ausländischen Kräften unterstützt wurden, war eine logische Folge, zumindest für die Dauer einer langen Konfliktphase. Solche regionalen Auseinandersetzungen erwiesen sich häufig als besonders brutal, da die Gefühle von Verrat und Gegenverrat hochkochten. Die Kämpfe entwickelten sich zu lang anhaltenden Fehden. Regionale Kommandeure machten nicht immer Gefangene – was sollten sie mit ihnen tun? –, nahmen allerdings Überläufer in ihre Reihen auf. Die Kriegsgesetze, die in den meisten Fällen nur schwach ausgeprägt waren, zügelten die internen Kämpfe nicht. Die Führer, die lokale Macht erlangten, konnten großzügig, aber auch impulsiv und rachsüchtig sein. In anderen Fällen nahmen neue, rücksichtslose Parteien für sich in Anspruch, sie allein würden die wahren Revolutionskräfte vertreten. Diese Konfrontationen waren oftmals in sich widersprüchlich: Sie mobilisierten Arbeiterklassen, die internationalistisch ausgerichtet waren, und Reformer aus der Mittel- oder Oberschicht, die die Sprache des Nationalismus sprachen. Es handelte sich freilich auch um Revolten in weitgehend ländlich geprägten Staaten, wo auf dem Land noch immer die Grundherren das Sagen hatten, während ihre Pächter die Kontrolle über den Grundbesitz für ihre Familie oder (in Teilen Russlands und in Mexiko) für ihre Dorfgemeinschaft verlangten. Eine verspätete Revolution, so glaubten viele Linke, bedeute eine Bauernrevolution – heroisch und apokalyptisch wie auf einem der Wandgemälde von Diego Rivera oder José Clemente Orozco. Tatsächlich aber konnten die Revolutionäre auf dem Land ihre Forderungen nur durchsetzen, wenn sie sich mit den Leuten in der Stadt, ob Mittelschicht oder Arbeiterklasse, zusammentaten. Ohne die Beteiligung von Intellektuellen und Journalisten, Kaufleuten und Finanzvermittlern oder im Falle Irans von Religionsführern in den Städten bestand kaum Aussicht auf Erfolg. Stadt und Land mussten sich irgendwie verständigen, sollte die Revolution gelingen.

Die russische Revolution von 1905 war im Grunde die letzte der großen europäischen Revolutionen seit 1789, auch wenn sie durch die fiskalischen und sozialen Spannungen ausgelöst wurde, die dem Konflikt mit Japan um die Expansion in Ostasien geschuldet waren. Wie schon nach dem Krimkrieg, als die Obrigkeit die Leibeigenschaft abschaffte, musste Russland Zugeständnisse machen, weil das Imperium überdehnt war. In diesem Fall setzten die Demonstrationen im Februar 1905 und die Schüsse vom Petersburger Blutsonntag eine anhaltende Welle von Protest, Streiks und Parteibildungen in Gang, die am Ende dazu führte, dass sich der Zar im Oktober einverstanden erklärte, ein Parlament – die Duma – einzuberufen. Das konnte nicht wirklich überraschen: Russland war ein Ausnahmefall in der Welt der entwickelten Staaten, weil es theoretisch an einer Autokratie festhielt, was in Wirklichkeit aber die Herrschaft einer aristokratischen Bürokratie bedeutete.

Liberale Beobachter aus Deutschland, die ihr eigenes Land selbst gefällig weitaus fortschrittlicher einschätzten als den «Despotismus» des Zaren, waren erstaunt, dass die Russen auf einen Schlag eine Volksversammlung bekommen hatten, die nicht durch die reaktionären Vorbehaltsrechte behindert wurde, wie sie das ungleiche preußische Wahlsystem ermöglichte. Natürlich ließ sich diese Errungenschaft nur schwer aufrechterhalten; das Wahlrecht wurde denn auch wieder eingeschränkt, und die Dumas wurden nacheinander aufgelöst, selbst als die sozialen Konflikte und die finanziellen Belastungen in Vorbereitung auf einen möglichen europäischen Konflikt zunahmen. Gleichwohl wurde 1905 in Umrissen das Parteienspektrum sichtbar, das den politischen Raum in Russland besetzen sollte: die Bolschewiki, die sozialdemokratischen Menschewiki, die bäuerlichen «Sozialrevolutionäre», die sich vor allem an die Landbevölkerung wandten, Liberale aus der Mittelschicht (die so genannten Kadetten, die zwar eloquent waren, aber auf die professional classes beschränkt blieben) sowie die konservativen «Oktobristen» – bis alle nach der Machtübernahme der Bolschewiki Ende 1917 zum Schweigen gebracht wurden. Die Ereignisse waren zudem Auslöser für ein Jahrzehnt kultureller Innovation, heftiger politischer und gesellschaftlicher Debatten und anhaltender Industrialisierung.

Irans «Konstitutionelle Revolution» von 1905 bis 1908 vollzog sich im Schatten der revolutionären Unruhen, die das benachbarte Russland und das Osmanische Reich und damit auch das internationale Machtgleichgewicht erschütterten. Iran, das stagnierende Überbleibsel eines alten und einstmals prachtvollen Großreichs, wurde von der Kadscharen-Dynastie regiert, die sich in einem Land an die oberste Entscheidungsmacht klammerte, das zu einem Drittel oder mehr von Stämmen bewohnt war und in dem religiöse Autoritäten eine wichtige politische Rolle spielten. Die Kleriker der in Iran dominanten Schia wahrten traditionell stärkere Distanz zu den säkularen Autoritäten als die Sunniten, kritisierten allerdings zunehmend die Familientyrannei der Kadscharen, auch wenn sie den Säkularismus der aufkommenden Intellektuellen ablehnten. Das benachbarte Russland sah seinen eigenen vorrangigen Einfluss als gesichert an, weil es nicht zuletzt dabei geholfen hatte, die Truppen des Schahs auszubilden. Großbritannien, das sich lange Zeit vor allem um die russische Expansion und die daraus erwachsende angebliche Gefahr für Indien Sorgen gemacht hatte, hatte sich schon seit längerem um geschäftliche Vorteile in Iran bemüht, richtete sein Augenmerk seit 1890 aber zunehmend auf Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht. Die Dynastie war hin und her gerissen zwischen Konzessionen an die Briten, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen, und der Abhängigkeit von den Russen als militärischem Stabilitätsanker. Nachdem der Schah dem deutschen Unternehmer Julius Reuter 1872 erfolglos umfassende Privilegien für den Eisenbahnbau gewährt hatte, erlaubte er den Briten in den 1880er Jahren, eine Notenbank (die Imperial Bank of Persia) zu gründen, und räumte britischen Untertanen Anfang der 1890er Jahre ein nationales Tabakmonopol ein – natürlich alles Konzessionen, die vor allem diejenigen reich machten, die dem Hof nahe standen. Tabakanbau und -handel waren jedoch eine weit verbreitete Wirtschaftstätigkeit, und die Konzession führte zu «den ersten erfolgreichen Massenprotesten im modernen Iran, bei denen Geistlichkeit, Modernisierer, Händler und Stadtbevölkerung gemeinsam gegen die Regierungspolitik vorgingen».[144] Der Schah wurde 1896 ermordet, und sein Nachfolger Muzaffar al-Din sah sich gezwungen, 1903 seinen konservativen Premierminister abzulösen. Die russischen Revolutionsereignisse von 1905 schwappten auch nach Iran über: Die Region der Aseri in Aserbaidschan, westlich des Kaspischen Meeres, die zwischen Russland und Iran geteilt war, erwies sich als idealer Ort für die sozialdemokratischen und islamischen Organisationsbemühungen, während Teheran von Protesten in Aufruhr versetzt wurde.

Die britischen und russischen Interessen konvergierten dahingehend, dass beide an einer moderaten Lösung der iranischen Unruhen interessiert waren. Die russische Obrigkeit suchte die Agitation im eigenen Land einzudämmen und fühlte sich wie die britische Seite zunehmend von Deutschland bedroht, nicht zuletzt weil Berlin an militärischem und wirtschaftlichem Einfluss im Osmanischen Reich zu gewinnen schien. Briten wie Russen versuchten, als Schutzherren der islamischen Opposition und ihrer Forderung nach einer Madschlis, einem Parlament, aufzutreten. Der Aufstand von 1905 sorgte dafür, dass die Geistlichen nach Ghom flohen und die Händler ihre Läden und Märkte schlossen. Im August 1906, fast ein Jahr nachdem der Zar eine Duma zugelassen hatte, erklärte sich der Schah bereit, eine Madschlis einzuberufen. Diese Versammlung änderte schon bald ihre Rolle: Aus einem muslimischen Kongress, wie ihn sich die konservativen Kleriker vorgestellt hatten, wurde ein nationales Parlament, in dem die Minderheitenreligionen vertreten sein sollten, auch wenn die Wahlen sicherstellen würden, dass es in den Händen des Klerus und reicher Kaufleute blieb. Mit der Wahl zum Madschlis war der Kampf um eine konstitutionelle Regierung jedoch erst zur Hälfte vorbei; die Frage seiner künftigen Rolle war weiterhin offen. Ein zögerlicher Schah unterzeichnete die grundlegenden Gesetze im Dezember 1906, starb jedoch kurz darauf, und die Parlamentsmitglieder, die in unterschiedliche Gruppierungen gespalten waren, bereiteten sich auf die Auseinandersetzung um die alles entscheidende «Ergänzung» zum Grundgesetz vor, welche die Macht des Premierministers und die offizielle Rolle der Religion festlegen sollte. Verfechter der Gewissensfreiheit, Journalisten und westlich orientierte Aristokraten sprachen sich für mehr Rechte des Parlaments aus, während der neue Schah Muhammad Ali und konservative Geistliche dem religiösen Recht weiterhin eine größere Rolle zugestehen wollten. Als ein vorübergehend amtierender Premierminister im August 1907 ermordet wurde, gab der Schah nach und der Verfassungszusatz wurde im Oktober verabschiedet: Er sah ein Machtgleichgewicht zwischen Exekutive und Parlament vor, wobei ein aus religiösen Würdenträgern bestehender Ausschuss sicherstellen sollte, dass die zivile Gesetzgebung im Einklang mit der Scharia, also dem islamischen Recht, stand.

Solange die russische Obrigkeit, die durch die eigene Revolution gewarnt war, allerdings die liberalen Errungenschaften immer weiter einschränkte, und die Briten an einem Strang zogen, konnten sie den Triumph der gemäßigten Konstitutionalisten in Teheran sicherstellen. Tatsächlich trafen die beiden Großmächte 1907 ein entscheidendes Abkommen, das letztlich die schon lange bestehende Besorgnis Londons über die russischen Imperialambitionen ausräumte. Der Vertrag von St. Petersburg sah vor, dass die territoriale Integrität Irans nominell unangetastet blieb, wobei eine russische Einflusssphäre im Norden und eine britische im Süden festgelegt wurden, wo die Briten ein Jahr später Öl fanden. Die öffentliche Meinung in Iran betrachtete das ganze verständlicherweise als Teilung des Landes. Die Vereinbarung beugte zudem einem Konkurrenzkampf um die Nordwestgrenze Indiens und um die Übernahme Afghanistans vor. Die beiden Mächte legten somit ihre potentiellen Konflikte in Zentralasien bei, was wiederum die Bildung der Triple Entente mit dem französischen Partner erleichterte, die als potentielles Gegengewicht zur deutsch-österreichischen Allianz in Europa und in der Kolonialwelt gedacht war.

Doch nachdem garantiert war, dass Russland Persien nicht teilen und die britische Grenze in Indien nicht bedrohen würde, schien sich London aus der aktiven Politik in Iran zurückzuziehen, während der russische Botschafter den Schah nun zu einer harten Linie drängte, woraufhin dieser mit Hilfe von Einheiten der persischen Kosaken das Parlament auflösen ließ, nachdem es auf den Straßen zu Protesten gekommen war. Die Gegenrevolution war freilich nicht das letzte Wort, und die europäische Politik hatte dabei erneut ihre Hände im Spiel. Die prodeutschen Jungtürken brachen in Konstantinopel eine Revolution vom Zaun; Berlin zwang Russland 1909, die demütigende Annexion Bosniens durch Österreich anzuerkennen, und Russland beschloss, dass angesichts der bedrohlichen internationalen Situation eine Kooperation mit den Briten nötig war. Beide arbeiteten erneut in Iran zusammen und konnten einen Kompromiss in Sachen Verfassung erreichen, der die Madschlis wieder einsetzte. Konservative Kleriker behielten theoretisch das Recht, die Gesetze unter religiösen Gesichtspunkten zu überprüfen, doch diese Klausel wurde nie umgesetzt.

Der Sieg des säkularen Liberalismus blieb jedoch vorläufig und prekär. Als die Iraner den amerikanischen Finanzexperten William Morgan Shuster ins Land holten, der das staatliche Finanzwesen als Schatzkanzler neu organisieren sollte, forderten die Russen seine Entlassung, da der Vertrag von Petersburg den Mächten das letzte Wort bei einer solchen Ernennung einräumte. Als sich die Madschlis dem widersetzte, setzten sie Truppen Richtung Teheran in Marsch. Das Kabinett lenkte ein, entließ Shuster und löste das Parlament im Dezember 1911 auf. Die Verfassung blieb in Kraft, doch bis 1914 gab es keine neuen Wahlen. Russische Truppen und die aserbaidschanischen Revolutionsbewegungen beherrschten den Norden des Landes ab 1914, bis die neu an die Macht gekommenen Bolschewiki entschieden, der Handel mit den Briten sei wichtiger, als auf einer harten Kontrolle in Iran zu beharren. Sie sagten zu, ihre Truppen abzuziehen. Die Briten unterstützten möglicherweise den Putsch von 1921, der vom Militärkommandeur Reza Khan angeführt wurde. Dieser übernahm Ende 1925 als Schah die oberste Macht und läutete damit die Herrschaft der Pahlavi ein, die bis zur Islamischen Revolution 1979 dauern sollte.[145]

Im Vergleich zum Osmanischen Reich war Iran eine arme und rückständige Region, auch wenn iranische Intellektuelle daran erinnerten, dass ihre Reiche einst auf Augenhöhe gegeneinander gekämpft hatten. Der osmanische Sultan Abdülhamid II. setzte die neue Verfassung von Ende 1876 recht bald wieder außer Kraft und löste das zu Beginn seiner Herrschaft eingerichtete Parlament auf. In den folgenden drei Jahrzehnten etablierte der Sultan ein repressives politisches Regime, wobei er gleichzeitig die Modernisierung von Wirtschaft und Militär sowie die Entwicklung der verschlafenen südlichen Provinzen des Reiches anstrebte. Istanbuls Reform ‹von oben› leistete jedoch zwei unvereinbaren ideologischen Programmen zum Erhalt eines Vielvölkerreichs Vorschub: einerseits dem Bemühen, die Eliten der arabischen Muslime zu umwerben, und andererseits den Versuchen, die türkische Nationalbewegung (Komitee für Einheit und Fortschritt oder Jungtürken) zu fördern, die vor allem angesichts des Einflusses von Griechen und Armeniern in Sorge war. Mit dem Schrumpfen der europäischen Gebiete (formelle Abtretung Rumäniens, Serbiens, Bosniens, Bulgariens und Mazedoniens 1856 und 1878) setzte der Sultan immer stärker auf eine Ideologie des Panislamismus. Der Schwachpunkt dabei waren die Finanzen: Die Versuche, in einer Zeit des weltwirtschaftlichen Abschwungs Steuern einzutreiben, hatten 1875 mit zum Aufstand in Bulgarien und dem desaströsen Krieg mit Russland beigetragen. Zu den Vereinbarungen der Berliner Konferenz gehörte eine internationale Überwachung der Schulden, die so genannte «Administration de la Dette Publique Ottomane» (1881).

Die Bemühungen des Sultans, seine Stellung durch die Entwicklung der arabischen Provinzen und eine Betonung seiner muslimischen Rolle zu festigen, sollten jedoch in den verbliebenen europäischen Regionen des Reiches für große Irritationen sorgen, wo lange Zeit die fähigsten Beamten und Soldaten zu finden waren. Rebellion und Morde heizten die Stimmung im ethnisch und religiös gemischten Mazedonien an, wo die benachbarten Balkanstaaten und die Europäer ihre Chance sahen. In Anatolien kam es zu Steuerrevolten. Die Monarchen Großbritanniens und Russlands, deren Länder jüngst erst ihre Interessensphären in Iran abgesteckt hatten, trafen sich im Juni 1908 in Reval, um, so glaubte man, über ein Eingreifen in Mazedonien zu diskutieren. Die demütigende Schwäche Istanbuls führte zu einer nationalistischen Reaktion unter den in Saloniki stationierten jungtürkischen Offizieren, die ein Komitee für Einheit und Fortschritt (KEF) ins Leben riefen und Adülhamid mit einer Meuterei im Sommer 1908 zwangen, die Verfassung wieder in Kraft zu setzen und das Parlament wieder zuzulassen; im Jahr darauf wurde der Sultan dann endgültig abgesetzt.[146] Sein Nachfolger blieb ein Monarch ohne Macht, er ernannte nur noch die Minister, die ihm die Parteien und die Militärs, die am letzten Staatsstreich beteiligt gewesen waren, in den letzten Akten des osmanischen Konstitutionalismus bis Mitte 1913 vorschlugen.

Die Anhänger des KEF verfolgten verschiedene Ziele: An erster Stelle stand vermutlich das Osmanentum oder eine Wiederherstellung der imperialen Kontrolle, wozu auch das verpflichtende Erlernen der türkischen Sprache gehörte; einige Jungtürken sprachen sich für eine Dezentralisierung und vielleicht sogar eine Aufspaltung des Reiches in ethnische Einheiten aus; andere propagierten die Idee einer nationalen Führungsrolle der Türken. Einige waren säkular und westlich orientiert; andere sprachen sich für eine stärkere Verpflichtung auf den Islam aus. Alle aber wünschten sich wieder eine kraftvolle Führung und ein Ende von abwartender Haltung, Korruption und Klientelwesen, die ihrer Ansicht nach das Erbe einer einstmaligen Großmacht zerstörten. Offene Wahlen im gesamten Reich erbrachten ein Parlament, das zur Hälfte aus Nicht-Türken bestand. Es gab dort zwar eine Mehrheit für das KEF, aber auch eine starke liberale Opposition, und die Vorbehalte gegen die Dominanz des Komitees nahmen zu. Nach der Ermordung eines oppositionellen Zeitungsjournalisten kam es Mitte April 1909 zu einem konterrevolutionären Aufstand, und das drohende Debakel für das KEF konnte nur dadurch abgewendet werden, dass Truppen des Komitees von Saloniki aus Richtung Hauptstadt marschierten und die Wiedereinsetzung der jungtürkischen Regierung erzwangen. Diese verlor ihre Macht jedoch rasch an das Militär, während sich die Parlamentsfraktion des KEF spaltete und eine wieder geeinte liberale Opposition bereitzustehen schien, um die Regierung von der Macht zu vertreiben, nicht zuletzt deshalb, weil diese durch die italienische Eroberung Libyens und einen Aufstand albanischer Muslime diskreditiert war. Seine Stärke in den Provinzen erlaubte es dem Komitee allerdings, das Parlament aufzulösen und 1912 einen überwältigenden Wahlsieg zu erringen, doch noch im gleichen Jahr musste die Regierung auf Druck eines Bündnisses von Militärs (der so genannten «Befreiungsoffiziere») zurücktreten. Der Sultan ernannte einen Wesir und einen Armeeminister, die den konservativen Militärs (unterstützt von den Liberalen) wohlgesonnen waren, und löste das vom KEF dominierte Parlament auf.

Zwei Monate später, im Oktober 1912, fielen Bulgaren, Serben, Griechen und Mazedonier über Montenegro her und hätten es beinahe geschafft, die türkischen Truppen (und Flüchtlinge) aus Europa zu vertreiben. Das Zerwürfnis der Mitglieder des Balkanbunds gab dem Emir die Chance, zumindest einen Küstenstreifen an der Ägäis westlich von Edirne zu retten, der bis heute zur Türkei gehört. Bemerkenswerterweise bot ausgerechnet die Krise der Balkankriege dem KEF die Möglichkeit, durch einen Staatsstreich und die Niederschlagung eines Gegenputsches im Frühjahr 1913 wieder an die Macht zu kommen. Die Ermordung des vom Komitee ernannten Großwesirs lieferte den Vorwand, um eine autoritäre Herrschaft zu errichten und die liberale Opposition durch Verhaftungen, Schauprozesse und harte Strafen zu zerschlagen. Die Außenpolitik der KEF-Regierung war bestimmt von der opportunistischen Suche nach einem Verbündeten: Die Briten wiesen die Avancen zurück, während Wilhelm II. darauf einging – weil er davon träumte, das Kalifat würde die muslimischen Untertanen der Briten möglicherweise zur Revolte anstacheln. Generäle des KEF übernahmen das Kriegsministerium sowie die Marine und trieben das Osmanische Reich Ende 1914 in den Krieg und ein Jahr später zu dem berüchtigten Entschluss, die armenische Minderheit zu ermorden. Die Kadetten und Intellektuellen, die sich zehn Jahre zuvor zusammengetan hatten, um das Imperium zu erneuern, hatten es am Ende mit einem Triumvirat zu tun, welches das Osmanische Reich endgültig zerstören sollte.

Es war die militärische Opposition, die der Türkei schließlich Stabilität brachte. Bemerkenswerterweise entwickelte sich die Armee, die während des Balkankriegs 1912 deutliche Auflösungserscheinungen gezeigt hatte – weil sie deutschen Beobachtern zufolge von Sultan Abdülhamid zu lange vernachlässigt worden war –, 1914/15 unter Mithilfe deutscher Militärberater zu einer relativ effizienten Truppe. Doch die Belastungen eines langen Krieges an vier Fronten (an den Dardanellen, im Kaukasus, in Mesopotamien sowie an der Küste Palästinas) forderten ihren Tribut. Das Osmanische Reich war nach dem Ende des Weltkriegs nur noch ein Rumpfstaat: Von einer ruinösen Inflation und Schulden geplagt, verschanzte sich der letzte Sultan kraftlos in Konstantinopel, während Griechen und Briten die Ionische Küste besetzten, die Italiener sich ihr Stück vom Kuchen sicherten, die arabischsprachigen Gebiete in britische und französische Provinzen aufgeteilt wurden, ein armenischer Staat und ein autonomes Kurdistan in Ostanatolien entstanden und die Dardanellen sowie die osmanischen Finanzen internationaler Kontrolle unterstanden.

Angesichts der Demütigung durch den Vertrag von Sèvres konstituierte sich in Ankara ein nationalistisches Parlament – die Große Türkische Nationalversammlung –, das sich im Verlauf der folgenden drei Jahre die Anerkennung durch die Sowjetunion sicherte, armenisches Territorium zurückeroberte und im Westen ernsthafte Herausforderer für die Autorität Kemals ausschaltete. Mit den Franzosen einigte man sich über die syrisch-türkische Grenze, und 1922 besiegte Kemal die griechisch-britischen Truppen und erzwang 1923 den neuen Vertrag von Lausanne. Sultanat und Kalifat wurden getrennt, anschließend wurde verkündet, der Sultan habe sein Amt niedergelegt, weil er während der alliierten Eroberung Istanbuls in der Stadt geblieben sei, und das Sultanat wurde abgeschafft. Im April 1923 gründete Kemal die Volkspartei, die sich ein Jahr später als Republikanische Volkspartei neu organisierte, um der Bildung einer Opposition zuvorzukommen. Das Kalifat existierte nicht mehr lange, ebenso wenig die Religionsschulen.

Die Nationalversammlung erklärte die Türkei offiziell zur Republik und wählte Kemal zum Präsidenten. Das Gesetz zur Vereinheitlichung des Bildungswesens etablierte einen säkularen Staat, auch wenn der Islam zur Staatsreligion erklärt wurde. Konservative und Traditionalisten widersetzten sich jedoch weiterhin den Reformen, die auch die Kleiderordnung und die Stellung der Frauen betrafen; und nachdem für kurze Zeit eine Opposition geduldet worden war, arbeitete Kemal Anfang der 1930er Jahre konzertiert darauf hin, die kemalistische Partei zum ausschließlichen Instrument staatlicher und gesellschaftlicher Veränderung zu machen. 1934 nahm Kemal den Beinamen Atatürk an, Vater der Türken, und im folgenden Jahr verschmolzen Republikanische Volkspartei und Staat theoretisch miteinander. Gleichwohl widerstand Atatürk der Versuchung, dem totalitären Modell zu folgen, das um ihn herum Triumphe feierte, und ließ Freiräume für privatwirtschaftliche Kapitalisten, doch sein Tod 1938 und der nahende Krieg ließen die Türkei in einen wenig stabilen Gleichgewichtszustand zwischen einer halb geduldeten Opposition und einer mächtigen, vom Militär unterstützten Staatspartei geraten.[147]

Vom Imperium zur Nation: Mustafa Kemal im Jahr 1923. Kemal präsentiert sich hier als der erfolgreiche türkische Militärbefehlshaber, der das Ende des osmanischen Sultanats erzwungen und mit Frankreich und Großbritannien den revidierten Vertrag von Lausanne ausgehandelt hat, welcher das Land innerhalb seiner bestehenden Grenzen stabilisierte. Er trägt noch keinen Anzug und Homburg. Der unermüdliche autoritäre Modernisierer und Säkularisierer seines Landes nahm 1934 den Beinamen Atatürk (Vater der Türken) an.

Betrachten wir abschließend die beiden Revolutionen, die sich, vom Herzen Eurasiens aus betrachtet, an den geographischen Extremen vollzogen: in Mexiko und in China – das eine ein Staat, der immer wieder von Europäern und Nordamerikanern bekämpft wurde, das andere ein ausladendes Imperium, das aus Angst vor seinen Reformern bereit schien, sich wie eine Melone zerstückeln zu lassen. Staaten, die sich noch in der Entwicklung befanden, blieben anfällig, denn Wirtschaftswachstum und Modernisierung ließen die Defizite in Sachen Repräsentation deutlicher hervortreten statt sie zu überwinden. So errichtete der mexikanische Präsident Porfirio Díaz nach der langen Ära von Bürgerkrieg und ausländischer Intervention schrittweise ein autoritäres Regime, das einen privilegierten Kreis von Profiteuren begünstigte, darunter regionale Parteiführer, Industrielle, Großgrundbesitzer und Großrancher. Die herrschende Gruppe wurde allgemein unter dem Namen científicos bekannt, und zwar wegen des Wirtschaftswachstums, das unter ihrer Ägide durch die Öffnung des Landes für europäische und amerikanische Investitionen in Industrie, Bergbau und Eisenbahnen zu verzeichnen war. Doch die riesigen Gewinne flossen der begünstigten Elite zu.

Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sorgte dafür, dass eine ganze Reihe von Unzufriedenen ein Mitspracherecht in Regierungsangelegenheiten verlangte: die liberale Mittelschicht, die vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert hatte, eine wachsende Arbeiterklasse in den Industriestädten des Nordens, Verfechter von Gemeinschaftsrechten für die Indios, die seit den liberalen Siegen der 1850er Jahre immer weiter eingeschränkt worden waren, und rivalisierende Generäle. Díaz ging mit aller Härte gegen die Gewerkschaften vor; Unternehmer aus der Mittelschicht wandten sich gegen ausländische Firmen, die ihnen verschlossen blieben, mächtige Familien in den Regionen nahmen Anstoß an der Klientel, die er begünstigte.

Nach dem stetigen Zuwachs bei den Investitionen aus dem Ausland (was zu inflationären Preissprüngen und einem deutlichen Rückgang der Reallöhne im Norden des Landes führte) kam es im Zuge der Panik in den USA 1907 zu einem Wirtschaftsabschwung. Der Oligarchie gelang es, die manipulierten Kongresswahlen 1910 mit befremdlicher Einstimmigkeit zu gewinnen. Doch eine Revolution schien in den Augen der meisten Beobachter ausgeschlossen zu sein – wobei diese Einschätzung am Vorabend großer Aufstände offenbar nichts Ungewöhnliches ist, wie die Geschichte von 1789 über den Umsturz in Osteuropa 1989 bis zur «Arabellion» in Ägypten 2011 gezeigt hat –, bis Ende 1910 in Chihuahua ein lokaler Aufstand losbrach. Der Oppositionsführer Francisco Madero, ein reicher Rancher, der das Regime kritisiert hatte, tat sich mit den Rebellen zusammen und akzeptierte schließlich eine Vereinbarung, wonach der nunmehr allein dastehende Díaz vor der Präsidentschaftswahl im Oktober 1911 zurück treten sollte. Madero triumphierte, doch was folgte, war ein politischer und territorialer Zerfallsprozess – keine kohärente soziale Revolution, sondern, so John Womack, «ein Machtkampf, in dem verschiedene Revolutionsfraktionen nicht nur gegen das alte Regime und ausländische Unternehmen kämpften, sondern öfter noch gegeneinander, und zwar aus Gründen, die so wichtige Dinge wie die Gesellschaftsklassen betrafen, oft aber auch aus ganz banalen Motiven wie purem Neid […].» Betrachtet man, was dabei herauskam, so «gelang es der siegreichen Fraktion, die Bauernbewegungen und die Gewerkschaften zu dominieren und ausgewählte amerikanische und einheimische Geschäftsfelder zu fördern».[148]

Das heißt nicht, dass andere Gruppen nicht ihre eigenen, anders gelagerten Interessen gehabt hätten; tatsächlich wurden diese Interessen so standhaft verteidigt wie überall sonst in diesem turbulenten Jahrzehnt, aber sie blieben zersplittert, konzentrierten sich auf eine oder mehrere der regional verankerten Truppen (die oft lokal ebenfalls wieder zersplittert waren), die sich um die nacheinander nach der Macht strebenden Anführer scharten: Victoriano Huerta, der im Auftrag konservativer Kräfte (unter anderem der Kirche) Madero entmachtete (der nach seinem Sturz ermordet wurde), seinerseits aber Mitte Juli 1915 aufgab, noch vor dem angedrohten Vorstoß der Truppen unter Führung von Venustiano Carranza und Pancho Villa – des begabten Militärbefehlshabers in Chihuahua, der 1913 ein Programm zur Umverteilung von Landbesitz initiiert hatte. Im Oktober trafen sich die Abgesandten von Carranza und Villa auf dem Konvent von Aguascalientes, wo Villa Emiliano Zapata dazu überredete, seine Streitkräfte aus dem Süden ihrem Bündnis zu unterstellen, während er selbst sich im Gegenzug zu weiteren Landreformen verpflichtete, wie sie in Zapatas Plan von Ayala, dem umfassendsten Agrarprogramm der Revolution, skizziert waren. Zapata und Villa trafen sich Ende November 1914 als Revolutionshelden in Mexiko-Stadt, doch die strategisch entscheidende Vereinbarung zwischen Carranza und Villa schlug schon bald in erbitterte Gegnerschaft um. Der Konvent von Aguascalientes hatte beide dazu verpflichtet, ihre Streitkräfte aufzulösen und ihre eigene Kandidatur für das vakante Präsidentenamt zurückzuziehen. Jeder der beiden unterstellte dem jeweils anderen Arglist; 1915 schließlich waren ihre Truppen in die heftigsten Kämpfe des Revolutionsjahrzehnts verwickelt.

Gab es Fragen und Zielsetzungen, in denen Carranza und Villa unterschiedlicher Ansicht waren? Glaubt man dem Villa-Biographen Friedrich Katz, der sich schon lange mit der mexikanischen Revolution beschäftigt, so stritten sie sich vor allem um eine Frage, die schon im Jahrhundert zuvor Zentralisten und Föderalisten entzweit hatte: Carranza sprach sich für eine disziplinierte Herrschaftsstruktur und eine von der Hauptstadt ausgehende Kontrolle aus, während Villa einem improvisierten Regionalismus das Wort redete.[149] Im Jahr 1915 war Villa eher bereit, sich mit den Bemühungen von US-Präsident Wilson zu arrangieren, die Ereignisse in Mexiko zu kontrollieren und die dauerhafte Ölversorgung sicherzustellen. Doch Glück und Bündnisse konnten rasch wechseln. So nahmen Villas freundschaftliche Beziehungen zu den US-Vertretern in Mexiko und sein Schlachtenglück Ende 1915 eine böse Wendung. Obwohl Carranza ein erznationalistischer Gegner von Wilsons Besetzung von Veracruz 1914 gewesen war, unterstützte das Weiße Haus seine Präsidentschaft, nachdem Villa einige Überfälle auf US-Territorium verübt hatte und die USA in den Krieg mit Deutschland eingetreten waren. Auch Zapatas Bündnis mit Villa fand ein Ende, Carranza wurde 1917 zum Präsidenten gewählt und setzte eine Verfassung in Kraft; Ende 1920 dann folgte ihm sein militärischer Verbündeter Alvaro Obregón aus Sonora in diesem Amt und machte sich daran, die hoch verschuldete mexikanische Wirtschaft wieder zu konsolidieren und für eine Phase der Stabilisierung zu sorgen zu einer Zeit, da nach den globalen Turbulenzen der Jahre 1917 bis 1921 auch in Europa und seinen Kolonien allmählich wieder der bürgerliche Normalzustand einkehrte.

Obregón setzte die Verteilung von Hacienda-Land an kleinere Eigentümer oder gemeinschaftliche ejidos fort, allerdings recht selektiv, nachdem sein Programm etwa im Bundesstaat Morelos, der Heimat Zapatas, zu Unruhen geführt hatte. Er unterstützte auch die energischen Bildungsreformen von José Vasconselos, dem spiritus rector des Revolutionsstaats, der durch die Ausweitung der Schulbildung, Wandgemälde und die Mobilisierung populistischer Intellektueller mit dazu beigetragen hatte, den Mythos von der Verschmelzung indianischer und spanischer Kultur zu entwickeln. Obregóns Nachfolger Plutaro Elias Calles startete eine große Kampagne gegen den Klerus, die den Kämpfen ein Jahrhundert zuvor alle Ehre machte, und provozierte damit einen hartnäckigen pro-klerikalen Aufstand, die so genannte Guerra Cristera. Als seine vierjährige Amtszeit endete und durch die Wiederwahl Obregóns (der einen Tag später ermordet wurde) ein Linksruck drohte, gelang es Calles als dem inoffiziellen Oberhaupt des neuen Regimes, das zentrale Vehikel der Stabilisierung zu organisieren, den Partido Nacional Revolucionario (PNR), den Vorläufer der Partei der Institutionellen Revolution, die bis in die 1990er Jahre regieren sollte.[150]

Eine halbe Welt entfernt, in China, stürzte das Kaiserreich 1911 schließlich doch: nach siebzig Jahren voller Niederlagen gegen ausländische Mächte, erschöpfenden Rebellionen und dauerhaften Souveränitätsverletzungen, die in einer ganzen Welle von Rückschlägen in den 1890er Jahren und einer lähmenden Politik des Kaiserhofs gipfelten. Die Niederlage gegen Japan 1895 und der erneute westliche Wettlauf um weitere Territorialzugeständnisse lösten am Ende eine breite, aber umstrittene geistige Öffnung aus; diese wurde jedoch durch einen Gegenputsch der Kaiserinwitwe gegen den jungen Kaiser und seine radikalen Berater gewaltsam erstickt, woraufhin der Hof die nationalistischen Organisationen der «Boxer» unterstützte, die das Botschaftsviertel in Peking belagerten und ein vereintes Eingreifen ausländischer Mächte provozierten. Gleichwohl waren die Jahre von 1898 bis zur endgültigen Abdankung der Qing-Dynastie eine Zeit außerordentlicher Reformbemühungen, die letztlich weder von konservativen Bürokraten noch von den Europäern im Zaum gehalten werden konnten. Das alte Prüfungssystem, das den Zugang der Elite zu den Herrschaftsfunktionen geregelt hatte, wurde 1905 abgeschafft; gleichzeitig verlangten die Reformer die Einrichtung einer Hierarchie lokaler Versammlungen sowie ein nationales Parlament.[151] An die Stelle der konfuzianischen Ideologien, auf die man bei früheren Reformversuchen Bezug genommen hatte, traten Vorstellungen von Modernisierung und einem darwinistischen nationalen Konkurrenzkampf, wie sie viele Chinesen bereits in Japan erfolgreich verwirklicht sahen. Ungeduldige Exilanten (Sun Yatsen) und hochrangige Militärs setzten gemeinsam in Gang, was sich – hundert Jahre nach der Revolution von 1911– als langfristige Entwicklungslinie betrachten lässt, die über die Republik (1912–1949), den verheerenden Krieg und Bürgerkrieg bis zu den enormen Kosten von Maos Revolution und Deng Xiaopings Nachahmung des Kapitalismus führte.[152]

Das in Peking eingerichtete Parlament geriet unter den Einfluss von Yuan Shikai, einem begabten Administrator und Militärführer, der versuchte, den Kaiserthron für sich zu beanspruchen, darüber aber 1916 starb. Auf seinen Tod folgten ein gutes Dutzend Jahre voller Konkurrenzkämpfe und bestimmt vom Aufkommen mächtiger lokaler Generäle oder warlords, die de facto die Regierungskontrolle über ihr Territorium ausübten, «Steuern» eintrieben oder erzwangen, Bauernarmeen aufstellten und sich wechselnden «Cliquen» oder Bündnissen anschlossen; am längsten hielten sie sich in der Mandschurei, wo die Japaner seit ihren Kriegen mit China (1894/95) und Russland (1904/05) wichtige Stützpunkte und Eisenbahnlinien unterhielten. Die Japaner finanzierten den führenden Kriegsherrn im Norden, Zhang Zuolin, weil er sich ihrer Position fügte, doch nach einem gescheiterten Versuch, in Peking wieder eine zentralstaatliche Politik zu installieren, wurde er 1928 ermordet. Die Revolutionstruppen im Süden unter dem ambitionierten Jiang Kaishek errichteten ihre eigene Basis und übertrugen den Absolventen der neuen Militärakademie von Whampoa untergeordnete Machtpositionen. Jiang war mehr als nur ein General: Er erbte Sun Yatsens Guomindang (Nationale Volkspartei, GMD) und holte sich bei den russischen Bolschewiki Unterstützung und Rat, um eine autoritäre Partei aufzubauen. Die Führungsspitze der Bolschewiki in Moskau war heftig zerstritten in der Frage, ob man den Kommunisten in China (der KPCh) Anweisung erteilen sollte, mit Jiang zusammenzuarbeiten oder sich gegen ihn zu stellen. Stalin, der sich zu dieser Zeit zu Hause selbst als Nachfolger ins Spiel bringen wollte und gegen Trotzki und andere mögliche Konkurrenten, welche die KPCh zur Autonomie drängten, wehren musste, beharrte darauf, die Kommunisten sollten der GMD beitreten, was 1926/27 in eine Katastrophe mündete, denn als Jiangs Macht wuchs, stellte er sich gegen seine einstigen Bündnispartner und vernichtete Teile der Partei – der verbliebene Rest zog sich 1927 aus Shanghai zurück und marschierte schließlich in den 1930er Jahren rund 12.000 Kilometer bis ins Hauptquartier der Kommunisten in den Bergen von Shaanxi.

Trotz der Zersplitterung, Gewalt und verwirrenden Ereignisfolge in diesem revolutionären Jahrzehnt bedeuteten die Turbulenzen mehr als nur die endgültige Auflösung einer riesigen staatlichen Struktur, die von ausländischen Mächten vernichtend geschlagen wurde und die immer weniger in der Lage war, eine verknöcherte Ideologie zu überwinden und das enorme Bevölkerungswachstum, ökologische Katastrophen sowie die Verarmung zu bewältigen. Ermöglicht wurde vielmehr auch der verspätete, dafür aber energische Versuch, traditionelle kulturelle Ressourcen mit Entwicklungsmodellen zu verknüpfen, die begeistert von außen übernommen wurden. Die warlords kämpften weiterhin um die Macht, doch Ende der 1920er Jahre schienen Jiangs Armee und Partei – die bald eher auf deutsche als auf russische Berater setzten – bereit zu sein, Peking einzunehmen (was die japanische Militärregierung in der Region dazu veranlasste, 1932 den Marionettenstaat Mandschukuo unter der nominellen Herrschaft des letzten Qing-Kaisers «Henry» Pu Yi einzurichten). Letztlich konnten weder chinesische Armeeführer noch die revolutionären Parteien für sich allein einen deutlichen Erfolg verbuchen, sie mussten ihre Bemühungen zumindest teilweise bündeln, was sich bis heute an der starken Rolle ablesen lässt, welche die Volksbefreiungsarmee im kommunistischen Staat spielt.[153]

Im Allgemeinen gelten Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Entwicklung als wichtige Aspekte auf dem Weg zum politischen Liberalismus. Während des Kalten Krieges hegten die meisten amerikanischen Sozialwissenschaftler keinerlei Zweifel daran, dass beides zusammengehörte. Vielleicht galt das für Zeiten, da Entwicklung «heimische» Wurzeln hatte, doch die ökonomischen und finanziellen Fortschritte zwischen 1895 und 1914 konnten keine liberalen Resultate garantieren, denn sie entfalteten sich im Kontext globaler Ungleichheit, die das Zeitalter des Hochimperialismus bestimmte. Die epochalen Revolutionen in Russland, China, Mexiko, Iran und der Türkei mobilisierten ohne jeden Zweifel massenhaft Bauernfamilien, Arbeiter und Stadtbewohner über alle Klassengrenzen hinweg. Sie erweckten neue nationalistische Strömungen zum Leben und förderten kulturelles Erwachen: Intellektuelle träumten von erwachenden Nationen, ließen sich jedoch gleichzeitig durch genau dieses Erwachen anregen, das sie voranzubringen und zu beeinflussen versuchten.

Doch die Wucht der Masse und die breiten religiösen und sozialen Bewegungen, deren Freiwillige auf der halben Welt von zu Hause auf die Plätze der Städte strömten, ließen sich durch Verfassungs- und Parlamentsdebatten nicht so leicht im Zaum halten. Als sich diese rohen und dynamischen – mitunter gewaltsamen – ideologischen Transformationen über einen Zeitraum von üblicherweise mindestens zwei oder drei Jahrzehnten vollzogen, disziplinierten die entschlossenen Kader engagierter Parteien und aus dem Militär deren mitunter großzügige, oftmals aber auch intolerante Kräfte. Die Welt des 20. Jahrhunderts, die aus dieser Welle globaler Revolution entstand, war eine stärker partizipatorische, aber nicht zwangsläufig eine freiere. Oder genauer: Die Fesseln privater Unterwerfung – unter Lehnsherren, lokale Bosse, Bergwerks- und Fabrikbesitzer – wurden oftmals nicht gegen liberale Werte eingetauscht (die für so viele die privaten Fesseln der Unterwerfung zu verstärken schienen), sondern gegen die Fesseln staatlicher Disziplin. Ironischerweise leisteten ausgerechnet diejenigen Länder, die zu Hause Exponenten des Liberalismus waren, aber auch diejenigen, die von den bürgerlichen Tugenden ökonomischer Expansion überzeugt waren, einen wichtigen Beitrag, die riesigen Länder außerhalb Europas (und seiner Ableger) in die Turbulenzen einer vom Ausland kontrollierten Entwicklung, revolutionären Protests und militärischer sowie Einparteienlösungen zu stürzen. Sechzig oder siebzig Jahre später sollten diese Experimente, die nach ihrer Konsolidierung in den 1920er Jahren immer wieder ihre Dysfunktionalität bewiesen haben, schließlich der Art von Welt weichen, die ihre frühen Vertreter im Auge gehabt hatten.

Politik als Krieg:
Bolschewismus und Faschismus

Niemand kann sagen, wohin diese weit verbreiteten Turbulenzen geführt hätten, wenn nicht 1914 in Europa der Krieg ausgebrochen wäre und sich zu einem so langgezogenen, beispiellosen Konflikt entwickelt hätte. Wo es um Wirtschafts- und Wahlfragen ging, hätte ein schrittweiser Kompromiss vielleicht eine Chance gehabt: Schon vor 1914 hatte es Wahlrechtsformen und Sozialgesetze gegeben. Eine unruhige russische Republik wäre möglicherweise ab 1920 zur Ruhe gekommen. Benachteiligte ethnische Gruppen in den USA und in Südafrika hätten noch lange auf Wahlrecht und Bürgerrechte warten müssen – was dann ja auch tatsächlich so war. Nationalistische Bestrebungen hingegen hätten vermutlich weniger lang gewartet, und es ist nur schwer vorstellbar, wie eine Lösung ohne lokale Gewalt hätte aussehen können – genau das aber war die Situation, die 1914 den allgemeinen Krieg auslöste. Die Habsburger konnten ihre Territorien nicht so einfach in eine Konföderation von Nationalitäten umwandeln. Die Deutschen in der österreichischen Hälfte hätten das vermutlich zugelassen, doch die Ungarn hätten sich dem widersetzt, und ob die Rumänen und Südslawen außerhalb des Habsburgerreichs einen solchen Kompromiss für ihre eigene Irredenta akzeptiert hätten, ist durchaus fraglich. Wäre ohne Krieg eine wiederhergestellte und souveräne polnische Nation entstanden? Betrachtet man die Alternativen, so merkt man, dass lokale Zusammenstöße auch im besten Fall wohl nur schwer zu vermeiden gewesen wären, wenngleich ein besseres Krisenmanagement zumindest die fatale Verwicklung der Großmächte verhindert hätte, die dafür verantwortlich war, dass sich eine neue Balkankrise zum Ersten Weltkrieg auswuchs. Wäre der osmanische Staat – der seit 1908 von einer Partei regiert wurde, die Subversion von Seiten all der nicht-türkischen Völker fürchtete, die sie zu kontrollieren versuchte – von langem Krieg und Zerfall verschont geblieben? Der Kompromiss, den die britische Regierung in Südasien mit Hindus und Muslimen der Oberschicht geschlossen hatte, wäre nach und nach aufgelöst worden, wie das dann ab den 1930er Jahren auch geschah.

Historiker stellen die Entkolonialisierung üblicherweise als Folge des Zweiten Weltkriegs dar, als epochale Transformation, die zum Teil durch die zwischenzeitliche Niederlage und finanzielle Erschöpfung der europäischen Kolonialmächte erzwungen wurde. Tatsächlich finden sich die entscheidenden Wendepunkte schon früher. Ende der 1920er Jahre trat eine neue Generation junger Nationalisten auf den Plan, welche die klientelistischen Vereinbarungen ihrer Älteren mit den europäischen Herrschern satt hatten. Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre brachte ihr Elend dann nicht nur nach Europa und Nordamerika, sondern auch in die Kolonialökonomien. Zu den nationalistischen Gefühlen kamen als weitere potentielle Herausforderung des Kolonialstaats häufige Arbeiterunruhen in Städten und Plantagen. Mitte der 1930er Jahre lauteten die Alternativen: eskalierende Gewalt oder Reformbemühungen, welche letztlich zu mehr Selbstverwaltung führen mussten, als die Reformer selbst zugeben wollten.[154] Natürlich hätte die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit vielleicht nicht solche Ausmaße angenommen, hätte der Krieg von 1914 bis 1918 das internationale Finanzwesen und den internationalen Handel nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen. Historische Ursachen sind immer kumulativ und sequentiell.

Stabilität und Repräsentation ohne Mehrparteiendemokratie wären für viele Staaten von Vorteil gewesen. Eine Einparteienherrschaft, wie sie in Mexiko und später dann in vielen Kolonialstaaten entstand, hätte gespaltenen Gemeinwesen zumindest für eine Übergangsphase Stabilität verliehen. Nicht alle derartigen Einparteiensysteme weisen zwangsläufig repressive Strukturen auf: Einige lassen es zu, dass außenstehende Gruppen andere Meinungen vertreten, und können zumindest für ein oder zwei Generationen verschiedene gesellschaftliche Strömungen und Ideen repräsentieren. Der Erste Weltkrieg schloss solche Entwicklungen nicht aus. Gleichwohl deuteten schon vor dem Krieg radikalere Parteiansprüche in einigen Staaten, die sich in Schwierigkeiten befanden, auf ein andersartiges Resultat hin. Der russische Bolschewist Wladimir Iljitsch Lenin vertrat in seiner 1902 erschienenen Schrift Was tun? (die mit ihrem Titel auf den berühmten, vierzig Jahre zuvor erschienenen Roman eines russischen Radikalen anspielte) die Ansicht, die Revolution erfordere eine zentralisierte politische Partei, die unerschütterliche Disziplin verlange. Die eine Partei sprach angeblich für das Proletariat, vermittelte der Arbeiterklasse revolutionäres Bewusstsein, ja, sie nahm sogar für sich in Anspruch, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu sein, und rief zur revolutionären Diktatur im Namen des Proletariats auf.[155] Später sollte Lenin für kurze Zeit mit der Idee spielen, eine bolschewistische Utopie werde letztlich das Ende des traditionellen Staates bedeuten, doch die in seinem Traktat skizzierte harte Politik blieb der Leitfaden für die absehbare Zukunft. Die bolschewistische Partei sollte die autoritäre Diktatur anführen, die Russland (und sein neu strukturiertes Imperium) vom Bürgerkrieg zwischen 1917 und 1921 über den Tod von Lenins Nachfolger Josef Stalin im März 1953 und dann mit einer sanfteren Mischung aus Überwachung und Bestrafung bis Ende der 1980er Jahre im Griff hatte.

Die französischen Jakobiner hatten unter Robespierre ein Konzept des revolutionären Terrors und der rücksichtslosen Eliminierung der Feinde entworfen, doch sie hatten quasi aus dem Stegreif eine Diktatur errichtet und eine Theorie republikanischer Tugend entwickelt, um die harten Maßnahmen, die sie ergriffen, zu begründen. Auf der Grundlage von Marx’ historischer Dramaturgie des Klassenkampfs verwandelte Lenin die spontanen Rationalisierungen der Jakobiner aus den Jahren 1792 bis 1794 in eine Doktrin der langfristigen Revolution, und zwar lange bevor er überhaupt über Macht verfügte. Noch irritierender als Lenins eigene autoritäre Forderungen war die Zustimmung, die seine Theorie der Parteidiktatur bei vielen westlichen Intellektuellen fand. Nach der Revolution behaupteten die Sympathisanten, die Sowjetunion nach 1917 sei isoliert und belagert und der einzige Ort, an dem die sozialistische Revolution praktisch verwirklicht sei. Jede Infragestellung ihrer Politik müsse hinter ihrem Überleben zurückstehen.

Das Versprechen des Proletariats: Ein Plakat aus dem Jahr 1920, das den russischen Staatsführer Lenin zeigt, wie er sich vor einem industriellen Hintergrund an die Arbeiter wendet, und zwar in einem Augenblick, da die Bolschewiki noch immer die Hoffnung hatten, ihre Revolution könnte sich gen Westen ausbreiten. Der Text am unteren Rand – «Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus» – greift die berühmten Anfangszeilen des Kommunistischen Manifests (1848) von Karl Marx und Friedrich Engels auf.

Die Geschichte der politischen Debatten und Erfahrungen im 20. Jahrhundert lässt sich nicht verstehen, wenn man sich nicht mit dem Problem des kommunistischen Gehorsams befasst. Lechzten die kommunistischen Intellektuellen und die nicht der Partei angehörenden Sympathisanten (oder «Mitläufer») nach Selbstkasteiung, wie später der im Exil lebende Pole Czesław Miłosz mit seiner Fabel von den Wunderpillen behauptete, die sie angeblich fröhlich dem Charme totalitärer Macht erliegen ließen?[156] War es die gnadenlose Logik, die, wie sie glaubten, die ehernen Gesetze der Geschichte vorgaben? Gute Kommunisten waren stolz darauf, einer disziplinierten Vereinigung anzugehören, die Gehorsam verlangte, auch wenn sie ihren Mitgliedern versicherte, sie allein verstünden die unausweichlichen historischen Prozesse und würden diese vorantreiben.

In seiner 1923 erschienenen Essaysammlung Geschichte und Klassenbewusstsein entwarf der kommunistische Philosoph Georg Lukács – der sich nach der jahrzehntelangen stalinistischen Unterdrückung tatsächlich darum bemühen sollte, die Diktatur in Ungarn 1956 in gemäßigte Bahnen zu lenken – die dialektische Logik einer Parteidiktatur, die in Russland bereits Wirklichkeit wurde, als die Bolschewiki andere Parteien verboten, ihre Geheimpolizei Tscheka gründeten und den Kronstädter Matrosenaufstand gewaltsam niederschlugen. «Damit ist es klar geworden, dass die Formen der Freiheit in den bürgerlichen Organisationen nichts mehr sind, als ein ‹falsches Bewusstsein› von der tatsächlichen Unfreiheit […]. Erst mit dieser Einsicht hebt sich die scheinbare Paradoxie unserer früheren Behauptung auf: dass […] das bedingungslose Aufgehen der Gesamtpersönlichkeit in der Praxis der Bewegung, der einzig mögliche Weg zur Verwirklichung der echten Freiheit ist.» Die Praxis bedeutete Disziplin und Gehorsam, freilich gegenüber einer Politik, die langfristig gesehen objektiv richtig sein musste (auch wenn es im Alltag zu Fehlern und Irrtümern kommen konnte). «Die Frage der Disziplin ist also einerseits eine elementar praktische Frage für die Partei, eine unerlässliche Vorbedingung ihres wirklichen Funktionierens […]. Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewusstsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne […]. Gerade der eminent praktische Charakter der kommunistischen Organisation, ihr Wesen als Kampfpartei setzt einerseits die richtige Theorie voraus, da sie sonst sehr bald an den Folgen der falschen Theorie scheitern müsste […].»[157]

Mit solchen Argumenten und solchem Engagement ließ sich vieles rechtfertigen: die Schmähattacken gegen sozialdemokratische Kritiker und Konkurrenten, die Schauprozesse und Hinrichtungen der 1930er und 1950er Jahre, der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der tiefsitzende Hass auf die «bourgeoisen» Privilegien. Gleichwohl reicht es nicht aus, einfach nur die Fälle intellektueller und mitunter moralischer Blindheit und Erniedrigung zu bilanzieren; der Historiker muss auch erklären, inwiefern die kommunistische Berufung so vielen Anhängern so verlockend, ja zwingend erscheinen konnte. Sie schrieben ihre Entscheidung den Katastrophen zu, die der Kapitalismus ihrer Ansicht nach anhäufte, ob das Gemetzel des Ersten Weltkriegs oder die Massenarbeitslosigkeit und das Elend, angesichts derer bürgerliche Staatsmänner so wenig hoffnungsvoll wirkten. Für sie bildete einzig der Kommunismus eine realistische Alternative zur faschistischen Gewalt, der sich keine andere Partei wirksam widersetzte, zur Kolonialherrschaft, welche die westlichen Länder offenbar entschlossen fortsetzen wollten, und in den USA zum tief verwurzelten Rassismus, den keine der politischen Parteien des Mainstreams in Frage stellte.

Die Lebenskonstrukte, die sich tatsächlich in der russischen Gesellschaft, welche die Partei verändern wollte, fanden, waren zugegebenermaßen weitaus vielfältiger und ungeordneter, ausgehandelt in einer Zeit ungeheurer ökonomischer und sozialer Veränderung, dicht gedrängt, gemeinschaftlich und anspruchsvoll, begleitet von verwirrenden Politikwechseln – sie ließen sich nicht so einfach als sauberer dialektischer Vorgang begreifen. Zu der Zeit, als Lukács diese höhere Freiheit forderte, war er sich gleichwohl bewusst, dass die leninistische Partei, welche die sowjetische KP beherrschte, diese von Zehntausenden ihrer frühen Mitglieder «gesäubert» hatte – das hieß damals: sie wurden ausgeschlossen – und alle anderen Parteiorganisationen aufgelöst hatte – das war die Schlussfolgerung, die sie aus ihrer privilegierten Einsicht in die historische Notwendigkeit gezogen hatte. Zu der Zeit, als Stalin seine persönliche Macht festigte, bedeutete «Säuberung» dann für Millionen langjährige Zwangsarbeit im Lager sowie zehntausende Hinrichtungen und massenhaftes Sterben in den Gulags. Die Historiker sind sich uneins, ob der Impuls, die Partei zu säubern, Stalins eigenem fortwährenden Misstrauen gegenüber der revolutionären Bewegung entsprang oder eine Reaktion auf Begeisterung und Ungeduld war, die sich an der Parteibasis bemerkbar machten. Auf jeden Fall galten diese erschütternden Wellen der Zerstörung und Vernichtung von Leben irgendwann als Charakteristikum des Regimes.[158]

Die sowjetische Partei sollte nach 1917 den sowjetischen Staat schaffen und in Osteuropa von 1945 bis Ende der 1980er Jahre verbündete Parteien installieren, auch wenn deren Willfährigkeit unterschiedlich ausgeprägt war. (Jugoslawien wurde zu einer kommunistischen Diktatur, obwohl es 1948 mit dem Sowjetblock gebrochen hatte.) Parteien, welche die gleiche Disziplin einforderten, sollten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über lange Jahre China, Nordkorea, Vietnam und Kambodscha regieren und in vielen anderen Staaten nach der Machtübernahme streben. Selbst dort, wo diese Möglichkeit nur von fern vorhanden war, wie in Großbritannien und den USA, ersuchten sowjetische Parteiemissäre oftmals lokale Mitglieder, als Spione für Moskau tätig zu werden. Nicht einmal die faschistischen Parteien und die NSDAP, die ein ebenso grausames System installiert hatte, machten die Parteimitgliedschaft zu einem dermaßen zentralen Aspekt der völligen Hingabe an die Sache. Und obwohl die Machthaber in Deutschland bei Kriegsausbruch 1939 rund 800 «Konzentrationslager» betrieben, die meisten davon kleine Außenlager der berüchtigten großen KZs wie Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Bergen-Belsen oder Mauthausen, füllten die Nationalsozialisten diese Lager mit gut einer Million Regimegegnern und nicht mit den eigenen Parteimitgliedern. Es gab im Deutschland der NS-Zeit immer wieder Wellen kollektiver Verhaftungen und Bestrafungen, die wir als «Säuberungen» bezeichnen: etwa die Liquidierung der SA-Führung (und anderer potentieller Widersacher) am 30. Juni 1934 sowie die massenhaften Festnahmen und Hinrichtungen von Wehrmachtsangehörigen, Beamten und verbliebenen Demokraten, die in den Attentatsversuch auf Hitler vom 20. Juli 1944 verwickelt waren. Jede dieser Wellen betraf etwa 1000 Personen; die Zahl der Exekutionen lag deutlich darunter. Das soll keineswegs heißen, dass es sich um einen sanftmütigen Staat gehandelt hätte: Zehntausende wurden verhört und verschleppt, Zehntausende von «Behinderten» – so genanntes «lebensunwertes» Leben – wurden in staatlichen Krankenhäusern und Anstalten umgebracht, Zehntausende deutscher Soldaten sollten während des Krieges von der eigenen Truppe hingerichtet werden, und Millionen von Juden, nichtjüdischen Polen, Sinti und Roma, russischen Kriegs gefangenen, gefangenen sowjetischen Parteioffiziellen und anderen wurden im besetzten Europa ermordet.[159]

Für die Bolschewiki blieben Klassenkampf und Klassenkrieg eine lebendige Doktrin; der Begriff bezog sich jedoch üblicherweise auf einen eher unpersönlichen Prozess, der sich über die Kollektivierung der Landwirtschaft von Ende der 1920er Jahre an und der Industrieproduktion in den 1930er Jahren vollzog. Als in der Ukraine nationale Gruppen Widerstand leisteten, nahm der Klassenkampf die Dimensionen eines genozidalen Hungertods an, wie Anfang der 1920er Jahre und dann wieder, noch fürchterlicher, vom Ende des Jahrzehnts bis in die 1930er Jahre hinein. Krieg im Sinne einer militärischen Auseinandersetzung prägte die sowjetische Erfahrung zwischen 1918 und 1921 im Bürgerkrieg und im Polnisch-sowjetischen Krieg sowie nach dem Einmarsch der Deutschen 1941; tatsächlich hatten Marx und Engels die nationalen Einigungskriege Mitte des 19. Jahrhunderts aufmerksam verfolgt. Doch als Dimension menschlicher Erfahrung spielte der Krieg im europäischen Marxismus-Leninismus keine zentrale ideologische Rolle. Das sollte sich mit den antikolonialen Kämpfen in Afrika und Asien nach 1945 ändern, als Kommunistenführer wie Hồ Chí Minh und General Giap oder Mao Zedong die Ansicht vertraten, die Kämpfe der Bauern und der Guerillakrieg seien von zentraler Bedeutung für den historischen Prozess der Arbeiteremanzipation.

Eine andere ideologische Konstellation jedoch, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ergeben hatte, stellte die Erfahrung des Kampfes im Krieg in den Mittelpunkt des persönlichen und privaten Lebens. Die Faschisten waren nicht nur der Meinung, dass der Krieg eine wichtige «Männlichkeitserfahrung» darstellte, sondern auch, dass die Politik im Grunde wie Krieg sein müsse, ja, dass sie tatsächlich eine Form von Krieg sei. Der Krieg brachte demzufolge die wesentlichen Eigenschaften zum Vorschein, die wahre Männlichkeit verlangte: Loyalität und Kameradschaft, Befehl und Gehorsam sowie Mut. Soldaten opferten sich für ihre Nation und für ihre Kameraden. Liberale Politiker seien im Ersten Weltkrieg zu Hause geblieben, vor Gefahren geschützt, und hätten in ihren nutzlosen Parlamenten geschwätzt, während die Jugend ihrer Gesellschaften auf den fernen Schlachtfeldern ihr Leben ließ. Krieg, so hatte der preußische General Carl von Clausewitz geschrieben, sei nichts weiter als Politik – gemeint war das Verfolgen einer rationalen Politik – mit anderen Mitteln. War es also falsch, Politik umgekehrt als Krieg mit anderen Mitteln zu betrachten? Wenn die Ideologien, die wir als faschistisch bezeichnen (und dazu gehört an dieser Stelle auch der Nationalsozialismus), etwas gemeinsam hatten, dann war es diese Überzeugung. Politik musste wie ein Kampf geführt werden, als Streben nach Herrschaft, nicht nur nach Legislation. Politik beruhte auf Gegensätzen und war ein hartes Geschäft, sie verlangte, nicht anders als eine militärische Organisation, Gehorsam gegenüber Partei und Führer, und bei Parteiversammlungen trug man quasi-militärische Uniformen.

Zusammenbruch der deutschen Militärmaschinerie: Ein rasch ausgehobener Schützengraben voller toter Deutscher nach den schweren Kämpfen Ende Juli 1918, als Franzosen und Amerikaner in der zweiten Marneschlacht die Gegend um Soissons zurückeroberten. Die Franzosen verloren 1,3 Millionen Soldaten, die Deutschen 1,8 Millionen in einem Krieg, bei dem die europäische «Zivilisation» des 19. Jahrhunderts unerwartet in militärische Disziplin, massenhaftes Leid, ökonomische Verheerung und Tod mündete.

Es entwickelten sich mehrere Varianten dieser Haltung, die sich in ihren Kernaspekten unterschieden, aber auf dieser gemeinsamen Grundüberzeugung aufbauten. Faschisten und Nationalsozialisten haben gern behauptet, sie würden abstrakte Ideen verachten, doch Intellektuelle wetteiferten darum, ihre Lehren zu entwickeln, und darunter waren durchaus ernsthafte Denker. Der Faschismus bezeichnete sich ursprünglich als revolutionär und in hohem Maße nationalistisch: von Mussolinis Organisation der «Fasci di combattimento», der faschistischen Kampfbünde, im März 1919 über Hitlers Ruf nach einer nationalen Revolution bis zur Überzeugung der französischen Faschisten, man brauche eine Revolution gegen die bürgerliche Moral. Faschisten und Nationalsozialisten wussten gleichermaßen, wogegen sie waren: mit Sicherheit gegen die organisierten Parteien und die Gewerkschaften aus dem Umfeld der Sozialdemokratie und gegen die liberalen demokratischen Parteien, die im 19. Jahrhundert gegründet worden waren. Gegenüber dem organisierten politischen Katholizismus blieben sie offener, in Deutschland verachteten sie ihn, waren jedoch zu Kompromissen bereit, und in Italien umwarb man die Kirche mit Zugeständnissen in Sachen Bildung und Ehe, mit denen man die Ansprüche des früheren liberalen Staates aufgab.

Faschismus und Kommunismus lassen sich nicht einfach als feststehende ideologische Lehrgebäude betrachten. Bevor sie an die Macht kamen, gerierten sie sich als revolutionäre Bewegungen. Im Allgemeinen sahen die Faschisten den Bolschewismus als ihren grundsätzlichsten ideologischen Widersacher, doch mitunter arbeiteten die beiden Gruppierungen aus opportunistischen Gründen zusammen, etwa während der Krise der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre. Beide lehnten die Prämissen des politischen Liberalismus, wie sie seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt worden waren, ab. Beide nahmen für sich in Anspruch, bürgerliches Denken und Empfinden hinter sich zu lassen: die Kommunisten zugunsten eines neuen proletarischen Kollektivismus, die Faschisten für eine widersprüchliche Wertemischung, die im «Boden» der Vorfahren ebenso wurzelte wie in den modernen Forderungen nach technischer Innovation.

Georges Sorel, der französische Theoretiker revolutionärer Gewalt und selbsternannte Verächter des bürgerlichen Humanismus, den er auf die Aufklärung zurückführte, skizzierte vor dem Ersten Weltkrieg eine Regierung von Syndikaten oder Zusammenschlüssen von Produzenten, in denen Kapital und Arbeit in einer Hand vereint waren. Allein der politische Kampf, der nicht zwangsläufig blutig sein müsse und auf dem «Mythos» von Armageddon gründe, könne die Gesellschaft erneuern.[160] In seinen nach dem Krieg veröffentlichten Werken sollte er Lenin preisen; die italienischen Syndikalisten (von denen einige vor dem Ersten Weltkrieg ihre Zeit damit verbrachten, die Arbeiter im Westen der USA als «Wobblies» – so hießen die Mitglieder der weltweiten Gewerkschaft der Industrial Workers of the World – zu organisieren) und die antidemokratische Rechte sollten Sorel lesen. Doch diese gemeinsame Quelle aus der Vorkriegszeit mochte politische Bewegungen stärken: Auf ihrer Basis einen ganzen Staat aufzubauen erforderte, wie wir noch sehen werden, weitere Ideen und repressivere Instrumente.

Faschismus wie Bolschewismus legten besonderen Wert auf die Einheitspartei und ihre Massenorganisationen für die Jugend und bedienten sich kultureller Vereinigungen als Mittel, um Macht zu erlangen und auszuüben. Sobald sie jedoch einmal sicher an der Macht waren, setzten ihre Führer auf die alten Verwaltungsorganisationen, die sie eigentlich hatten zerschlagen wollen; sie sollten überdies ihre Parteien so weit disziplinieren, dass sie als Diktatoren immer mehr persönliche Macht beanspruchten, auch wenn sie diese nur sehr inkonsequent einsetzten. Einmal an die Macht gekommen, versuchten beide Parteien die Zivilgesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen, ja, sie behaupteten sogar, sie wollten einen neuen Menschen schaffen. Phasen «normaler» Autorität und der stolzen «Konsensfindung» wechselten mit heftigen Bemühungen, die ursprüngliche Dynamik wieder zum Leben zu erwecken, ob nun mit Parteisäuberungen wie in der Sowjetunion oder durch Vorbereitungen auf nationale Expansion und Krieg wie in Italien und Deutschland. Beide Systeme verherrlichten das große Unternehmen oder Projekt, das in einigen Fällen bloße hohle Theatralik war (wie Mussolinis Marsch auf Rom) und in anderen Fällen wirkliche Veränderungen brachte – man denke an die Trockenlegung der malariaverseuchten Sümpfe rings um Rom, an die deutschen Autobahnen, an die Industrialisierung des Donezbeckens, an Magnitogorsk und die riesigen Staudämme sowie an die Aufrüstungsprogramme in Deutschland und Russland.[161] Auf solche «Projekte» war man zugegebenermaßen nicht nur in faschistischen und kommunistischen Staaten fixiert – das gab es bei vielen Regimen vor und nach sowie natürlich in den 1930er Jahren; nicht zuletzt gehört dazu auch der New Deal in den USA.

Faschistische und kommunistische Bewegungen entstanden im gleichen historischen Augenblick. Die bolschewistische Machtergreifung verstärkte eine weltweite Explosion radikaler Forderungen – ob von Seiten der Industriearbeiter und der Linken in Europa oder von noch ganz frischen antikolonialen Bewegungen in Asien. Proteste gegen einen Friedensvertrag, der hinter die Wilsonsche Rhetorik zurückzufallen schien, trieben Studenten und Intellektuelle am 4. Mai 1919 auf die Straßen von Peking. In Indien streikten die Arbeiter in den Textilfabriken Panjabs und protestierten damit gegen die Weigerung der Briten, das noch immer bestehende Kriegsrecht zu lockern. Überall in Westeuropa radikalisierten sich die Gewerkschaften. Selbsternannte Kommunisten kamen in Bayern und Ungarn kurzzeitig an die Macht. Doch während die Bolschewiki in Russland aushielten, war der weltweite Moment der Linken nur vorübergehender Natur. In den USA ging man hart gegen radikale Publikationen und sozialistische Zuwanderer vor. In Deutschland gerieten kommunistische Aufstände 1921 und 1923 zu einem Fiasko; die Rechte kehrte nicht nur in autoritärer Form in Ungarn, Italien und Spanien zurück, sondern auch als neu formierte bürgerliche Ordnung, in der Industrie und staatliche Obrigkeit Westeuropa stabilisierten, und vom Nahen Osten bis Südasien stellten die Kolonialmächte ihre Autorität wieder her.[162]

In ihrem ursprünglichen Bemühen, nämlich bei den Wahlen im November 1919 ins Parlament einzuziehen, war Mussolinis kleiner Bewegung kein Erfolg beschieden. Doch es gab eine bessere Möglichkeit, um unter den turbulenten politischen Bedingungen im Norditalien der Nachkriegszeit Anhänger zu gewinnen, nämlich Aktionen außerhalb des Gesetzes. Im öffentlichen Dienst kam es häufig zu Streiks; in den Industriebetrieben von Mailand und Turin gab es immer wieder Arbeitsniederlegungen; die Sozialisten organisierten die Landarbeiter und zwangen den Großgrundbesitzern neue Arbeitsverträge auf, während militante katholische Priester die Kleinbauern dazu ermunterten, sich zusammenzuschließen. Für die Landbesitzer, Anwälte und Industriellen Norditaliens hatte es den Anschein, als würde die Revolution von Grund auf an Dynamik gewinnen. Gleichzeitig hatten zurückkehrende Veteranen das Gefühl, ihr jüngster Kriegsdienst werde nicht wirklich wertgeschätzt. Der nationalistische Dichter Gabriele D’Annunzio trommelte eine Gruppe nationalistischer Soldaten zusammen und besetzte den ehemals habsburgischen Adriahafen Fiume, der, so ihre Befürchtung, von den Allierten an den neuen jugoslawischen Staat übertragen werden könnte. Die Regierung in Rom billigte diese Aktion nicht, fürchtete jedoch die Erschütterungen, die es auslösen könnte, wenn sie d’Annunzio aus Fiume vertrieb.

Mussolini und seine frühen Anhänger konnten beobachten, wie der nationalistische Aktivismus von Graswurzelbewegungen, Vorbehalte gegen die lokale Militanz von Arbeitern und die Schwäche der Polizeigewalt Roms in den Provinzen ihnen die Chance bot, auf der Basis lokaler squadri, welche die lokalen Gewerkschaften und die Büros der sozialistischen Partei mit Gewalt überzogen, den Faschismus zu verankern. Die faschistische Bewegung sicherte sich damit zwischen 1920 und 1922 die wichtige Unterstützung der Agrareliten in der landwirtschaftlich reichen Poebene, als die Squadristen in ihren schwarzen Hemden in die Städte einrückten, um lokale Arbeiterführer zu verprügeln und die Hauptquartiere von Gewerkschaften oder Parteien zu zerstören.

Doch schon bald zertrümmerten die Milizen nicht mehr nur Gewerkschaftsräumlichkeiten, sondern drangen auch in die Rathäuser ein und zwangen die Kabinette in Rom – die unterschiedlicher Ansicht darüber waren, ob man die faschistische Gewalt gegen die Linke für sich nutzen oder Recht und Ordnung wiederherstellen sollte –, sozialistische Stadträte aufzulösen und Kommissare zu ernennen. Bis 1921 hatte Mussolini genügend Kräfte um sich versammelt, um seine Bewegung als National-Faschistische Partei neu zu organisieren und nach den Wahlen, bei denen seine Partei in der neuen Abgeordnetenkammer (dem Unterhaus des Parlaments, in dem seit 1848 die eigentlichen Entscheidungen getroffen wurden) 35 Sitze errang, in der Koalition neben den amorphen liberalen Gruppen einen Platz für sich zu beanspruchen. Im Herbst 1922 schien er zum unverzichtbaren Partner der konservativeren Gruppierungen der lockeren Koalition geworden zu sein, die sich selbst immer noch als «liberal» bezeichnete, und er drohte damit, die gleiche quasi aufständische Bewegung, die seine Gefolgsleute im Norden installiert hatten, auch auf den Süden des Landes auszudehnen.

Mussolini und seine Sympathisanten sorgten mit ihren Vorbereitungen zu einem Marsch der Schwarzhemden auf Rom für eine letzte Krise der liberalen Koalition, in deren Verlauf der König ihn Ende Oktober 1922 zum Ministerpräsidenten ernannte. Zwei Jahre lang regierte er vermeintlich als legaler Regierungschef und ließ im April 1924 Wahlen abhalten, die dank eines geänderten Wahlrechts seinen Anhängern fast zwei Drittel aller Parlamentssitze einbrachten. Doch die inzwischen zur Gewohnheit gewordene revolutionäre Gewalt seiner jugendlichen Truppen ließ sich nicht so leicht disziplinieren, und die jüngeren Radikalen in ihren Reihen befürchteten, Mussolini werde doch nur zu einem weiteren Parteiführer der üblichen Art. Trotz Koalitionsmehrheit drohten die alten Parteien und die Abgeordneten, die ihn unterstützt hatten, damit, das Bündnis aufzukündigen, als enge Gefolgsleute Mussolinis in die Entführung und Ermordung des sozialistischen Oppositionsführers Giacomo Matteotti verwickelt waren, der sich gegen die gewaltsamen Kampagnen ausgesprochen hatte. Als die liberalen Politiker und Journalisten ihn rügten, während seine jungen radikalen Anhänger auf eine «zweite Revolution» drängten, kam Mussolini zu dem Schluss, dass er zwischen seiner Parteibasis oder einer politischen Niederlage wählen musste. Anfang 1925 erließ er Notstandsgesetze, mit denen die Presse kontrolliert und Oppositionsführer inhaftiert werden konnten. Die Dämmerung des Liberalismus von 1922 bis 1924 war beendet.

Im Verlauf der folgenden Jahre richteten die Regimeführer die Institutionen eines faschistischen Staates ein: ein politisches Tribunal, umfassende geheimpolizeiliche Bespitzelung und schließlich Verhaftung der Opposition sowie einen so genannten Großrat, der Funktionäre der faschistischen Partei und Kabinettsminister vereinte und damit vermeintlich den Staat und die einzige Partei mit einander verschmolz. Was Beobachter oftmals als spezifische «Leistung» des faschistischen Staates beschrieben haben (neben seiner angeblichen Fusion mit einer einzigen Partei), war die Ersetzung der funktionalen oder berufsspezifischen Repräsentation im Parlament. Das vollzog sich stufenweise von Mitte der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre. Zwar waren sozialistische und katholische Gewerkschaften marginalisiert, doch gab es eine Tradition faschistischer Gewerkschaften (die wie in Frankreich auch «Syndikate» hießen), die gelegentlich gegen die Arbeitgeber aufbegehrten. Deren Anführer waren aus der syndikalistischen Bewegung der Vorkriegszeit hervorgegangen, wo sie die italienischen Hafenarbeiter organisierten und mitunter in dieser Funktion sogar bis in den Westen der USA gekommen waren, ehe sie mit dem Krieg zurückgekehrt und zu begeisterten Anhängern Mussolinis geworden waren. Ein großer Streik der Stahlarbeiter im Norden erwies sich im Frühjahr 1925 als letzte quasi unabhängige Aktion der Arbeiterschaft unter dem faschistischen Regime. Der Streik wurde beendet; die Arbeitnehmervertreter wurden in einer faschistischen Einheitsgewerkschaft zusammengefasst, deren offizieller Status von den im italienischen Industriellenverband organisierten Arbeitgebern anerkannt werden sollte. Als diese neue Arbeitnehmervereinigung offenbar zu viel Einfluss verlangte, wurde sie drei Jahre später in verschiedene Berufsgruppen aufgespalten. Unterdessen wurden die Vertreter der verschiedenen Industriesektoren sowie der verschiedenen Wirtschaftsbereiche (Dienstleistungen, Medizin, Gastgewerbe, Landwirtschaft und andere) in offiziellen Korporationen organisiert. Diese fusionierten wiederum mit den Vertretern des rechtsgerichteten Nationalistischen Verbandes, die einer juristischen Schule entstammten, welche Konzepte funktionaler Rechtstheorie propagierte. Ihr Vordenker Alfredo Rocco entwarf das politische Tribunal und drängte auf eine Stärkung des Staates.

In vielerlei Hinsicht stand der faschistische Staat in Kontinuität mit den älteren liberalen Institutionen. Mussolinis Titel lautete weiterhin «Regierungschef» (Capo del Governo), auch wenn er inoffiziell als «Duce» firmierte. Der König blieb Staatsoberhaupt und machte schließlich auch von seinem Vorrecht Gebrauch, als er Mussolini im Sommer 1943 entließ, weil die enge Bindung an Hitler im Zweiten Weltkrieg die Gefahr einer verheerenden Invasion der Alliierten heraufbeschwor. Um seine eigene Position in Italien Ende der 1920er Jahre zu festigen, nahm Mussolini allerdings von den säkularen Forderungen des liberalen italienischen Staates Abstand und unterzeichnete 1929 die Lateran-Verträge mit dem Vatikan; sie sahen vor, dass die Kirche wieder die Kontrolle über die Ehe erhielt, dass in den Klassenzimmern Kruzifixe zu hängen hatten und dass der Vatikan als souveräner Kleinstaat anerkannt wurde. In den 1930er Jahren konnte Mussolini mit einigem Stolz darauf verweisen, zu Hause einen gewissen «Konsens» erreicht zu haben. Politische Gegner gingen ins Exil oder mussten, wenn sie zu Hause verhaftet wurden, zur Strafe in entlegenen Dörfern im Süden residieren («confino» oder Verbannung). Es gab lediglich eine Handvoll Hinrichtungen, die weitgehend wegen versuchten Mordes verhängt wurden. Die meiste Gewalt – Schlägereien, manche mit tödlichem Ausgang, Rizinusöl, die Verwüstung der Büros von Sozialisten und Gewerkschaften – fand in den inoffiziellen Zusammenstößen auf dem Weg zur Macht statt. Francos Militärdiktatur nach der Machtergreifung, später die argentinischen Generäle und General Pinochet in Chile sollten eine weitaus blutigere Spur hinterlassen mit Verhaftungen, Folter und Morden, die in die Zehntausende gingen.

Doch diese Maßnahmen wurden als notstandsbedingte Eingriffe dargestellt. Die Faschisten behaupteten, ihre Mission sei es nicht nur, die Kommunisten zu besiegen, sondern auch als Verwalter einer ganzen historischen Epoche zu regieren: Die Nationalsozialisten sprachen vom angeblich Tausendjährigen Reich. Der Faschismus sollte gewissermaßen die Menschheitsgeschichte erfüllen, und zwar auf eine Weise, wie das liberaler Individualismus und Parteienpluralismus niemals vermochten. Der Faschismus, so ließ der Rechtsphilosoph Alfredo Rocco wissen, korrigiere die fürchterlich falsche Wendung, welche die Geschichte 1789 genommen habe, als die Französische Revolution die Menschen- und Bürgerrechte verankerte. Doch er lehnte die Demokratie nicht einfach nur im Namen der Tradition und der Monarchie ab, wie das etwa rechte autoritäre Gruppierungen wie die Action Française in Frankreich taten. Der Faschismus war nicht bloß reaktionär, sondern auch dazu gedacht, ein neues historisches Stadium einzuläuten, das Mussolini – mit einem Begriff, den er von seinen Kritikern Anfang der 1920er Jahre übernahm – zu einem besonderen Verdienst erklärte: Es sollte «totalitär» sein.

Die faschistische Doktrin hatte sich seit Mussolinis Forderung nach einer revolutionären Erneuerung 1919 deutlich weiterentwickelt: Jetzt präsentierte sich der Faschismus als Regime, das wieder einen Staat etablierte, der über individuellen oder gar gruppenspezifischen Interessen stand. Inwiefern unterscheidet sich der faschistische vom liberalen Staat, fragte Rocco rhetorisch: «Der faschistische Staat ist der Staat, der die Macht und den Zusammenhalt der rechtlichen Organisation von Gesellschaft so weit wie nur möglich verwirklicht. Und Gesellschaft ist nach faschistischer Vorstellung nicht nur die Summe Einzelner, sondern ein Organismus mit eigenem Leben und Zielen, die über diejenigen der Individuen hinausgehen, ein Organismus, der einen eigenen geistigen und historischen Wert besitzt. Auch der Staat […] ist ein Organismus, der sich von den Bürgern unterscheidet, aus denen er sich in jedem Moment zusammensetzt. Er besitzt sein eigenes Leben und seine eigene Zielsetzungen, die denen der einzelnen Menschen überlegen sind und denen alle anderen Ziele untergeordnet werden müssen.» Mussolini formulierte das in einem Beitrag für die maßgebliche Enciclopedia Treccani 1932 so: «Für den Faschisten ist alles im Staat vorhanden, und außerhalb des Staates gibt es nichts Menschliches oder Geistiges – oder kann gar einen Wert haben.»[163]

Männer und Frauen verwirklichten ihr Potential nicht als Individuen mit unveräußerlichen Rechten, sondern als Angehörige einer Nation und als Untertanen eines Staates mit Verpflichtungen und Aufgaben, zu denen auch der Dienst in der Armee gehörte. Politik war eine Form von Krieg, aber dazu gedacht, auf den Krieg vorzubereiten: lieber für einen Tag ein Löwe als ein Jahr lang ein Schakal. Mussolini präsentierte sich immer wieder gern als Mann des Friedens, doch die Ideologie war eng mit militärischen Tugenden verknüpft. Er griff im Streit mit Griechenland um die Inselgruppe Dodekanes zur Gewalt und brach 1935/36 einen Krieg mit Abessinien vom Zaun, in dem er Luftangriffe und Giftgas einsetzte. Er ließ 1937 gegenüber Albanien die Muskeln spielen und erklärte, nachdem er sich auf die Seite Hitlers geschlagen hatte, mit der Besetzung von Nizza 1940 Frankreich den Krieg.

In der Praxis war der Staat keineswegs totalitär im Sinne einer unablässigen, durchdringenden Kontrolle mittels Terror, wie sie spätere Forscher als wesentliches Merkmal des Totalitarismus postulierten. Die Kirche war weiter mit offizieller Erlaubnis präsent – mit Kruzifixen in jedem Klassenzimmer –, auch wenn die Partei ihre Jugendorganisation, die Azione Cattolica, zu untergraben versuchte. Die Familie wurde glorifiziert, und die Partei forderte dazu auf, dem Duce Kinder zu gebären, doch die Familie war auch ein Hort des Widerstands gegen staatliche Ansprüche.

Spätere Apologeten machten sich über die Heuchelei des Duce und seines Regimes lustig, indem sie den Faschismus als eine Art opera buffa darstellten, die zwar geschmacklos, aber nicht wirklich ernst zu nehmen gewesen sei. Eine solche Sicht unterschätzt jedoch die Neuartigkeit des Faschismus, seine Brutalität auf dem Weg zur Macht, seine Entschlossenheit, all jene zum Schweigen zu bringen, die anderer Meinung waren. Wie bei den prächtigen Barockbauten Roms war auch für die faschistische Politik die Fassade entscheidend – doch wie im Falle der Gebäude hatte auch der faschistische Bombast etwas Authentisches an sich.[164]

Das italienische Modell war einflussreich und sollte Nachahmer finden. 1923 setzte der spanische Monarch General Miguel Primo de Rivera als Diktator ein und nannte ihn «meinen Mussolini», doch stand er eher in der Tradition der starken Männer des 19. Jahrhunderts, denen jegliche ideologische Ambition fehlte. In Argentinien übernahm das Militär 1930 die Macht, und der dortige starke Mann der Armee, General José Félix Uriburu, kam den faschistischen Forderungen nach einer transzendenten Führerschaft und nach einer autoritär-nationalistischen Bewegung schon näher.[165] Dauerhafter war die Macht, die der zivile politische Führer Getúlio Vargas im gleichen Jahr in Brasilien errang. Er schuf einen «neuen Staat» mit autoritär-korporatistischen Institutionen, ehe er 1945 aus dem Amt vertrieben wurde, als der Faschismus überall auf der Welt am Ende zu sein schien; doch 1950 wurde er zum Präsidenten gewählt und regierte bis 1954 als nationalistischer Diktator. Als sein Sturz drohte, nahm er sich das Leben. António de Oliveira Salazar übernahm die portugiesische Republik als Diktator und stand bis 1968 an der Spitze seines «neuen Staates», der einen katholischen autoritären Korporatismus pflegte, hartnäckig an den Kolonien des Landes festhielt und Mitglied der NATO wurde.

Die Spielart des Faschismus, die in Deutschland an die Macht kam, unterschied sich in entscheidenden Aspekten. Hitler verstand, welche Art von Macht Mussolini im Sinn hatte, und übernahm wie er die paramilitärische Uniform – die Stiefel, die farbigen Hemden – und die paramilitärische Organisation. Aus seinem gescheiterten Putschversuch 1923 hatte er gelernt: So zerrissen die Weimarer Republik auch sein mochte, solange die Armee das Recht durchsetzte, konnte er nicht gewaltsam an die Macht kommen. In den Jahren der wirtschaftlichen Stabilisierung von 1924 bis 1929 schien seine Bewegung dazu bestimmt, von der Bildfläche zu verschwinden, doch die ökonomischen Schwierigkeiten (und die Hetzkampagne Ende der 1920er Jahre gegen einen revidierten Reparationsplan, den so genannten Young-Plan) sorgten dafür, dass die Stimmenzahl für die Nationalsozialisten lokal anwuchs, noch ehe die Weltwirtschaftskrise 1929/30 Wirkung zeigte. Wie Mussolini wetterte Hitler gegen das System und höhnte über die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien, die nur zu schwerfälligen Kompromissen in der Sozial-, Außen- und Rüstungspolitik führten. Das Verhältniswahlrecht brachte es mit sich, dass das italienische Nachkriegsparlament und der Weimarer Reichstag parteipolitisch völlig zersplittert waren, was es schwer machte, stabile Mehrheiten zu bilden.

Als die Weltwirtschaftskrise 1930 die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen ließ, fand sich keine Mehrheit für die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, sodass Reichspräsident und Reichskanzler auf das in der Weimarer Verfassung festgelegte Notverordnungsrecht (Artikel 48) zurückgreifen mussten, um den Haushalt zu verabschieden. In dieser Situation konnten die Kommunisten auf der Linken und Hitlers Nationalsozialisten auf der Rechten (auch wenn dieser Begriff ihrem Radikalismus nicht wirklich gerecht wird) gegen «das System» hetzen. Sie konnten stets heftige Kritik an den im Versailler Vertrag festgelegten Reparationszahlungen üben und sogar an den verringerten Forderungen, wie sie im Dawes-Plan von 1924 und dem Young-Plan von 1930 vorgesehen waren. Sie konnten fordern, die Nachkriegsgrenzen im Osten (und der polnische Korridor, der Ostpreußen vom Rest Deutschlands trennte) müssten wieder korrigiert werden.

Und anders als die italienischen Faschisten (zumindest bis 1938) konnten sie gegen die Minderheit der Juden hetzen, die für diese Übel verantwortlich und überhaupt den deutschen Interessen gegenüber feindselig eingestellt seien. Auch wenn einige NS-Anhänger und Propagandisten genug attackieren konnten, ohne speziell auf das «jüdische Unglück» Deutschlands zu verweisen, blieb der Antisemitismus ein Kernelement der Bewegung, wie er auch den Diskurs anderer Parteien befallen hatte – er war so etwas wie die politische lingua franca der Rechten in Mittel- und Osteuropa. Angeblich kontrollierten die Juden Banken und Medien, infiltrierten Universitäten und Theater, beuteten die Bauern aus und besudelten auch noch das Blut der nicht-jüdischen Frauen, mit denen sie schliefen.

Nach zwei Jahren parlamentarischer Lähmung und Wahlen 1930, im Juli 1932 sowie im November 1932, nach denen die NSDAP im Reichstag fast vierzig Prozent der Abgeordneten stellte (und in einigen wichtigen Ländern an Regierungskoalitionen beteiligt war), brach das politische System der Weimarer Republik zusammen. Rivalisierende Kanzlerkandidaten torpedierten einander und drängten hohe Militärs zu der Behauptung, das Land sei möglicherweise nicht mehr verteidigungsbereit. Die paramilitärischen Abteilungen der Parteien lieferten sich an den Wochenenden Saalschlachten in den Städten, sodass viele einen Bürgerkrieg befürchteten. Die Clique um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg war der Ansicht, allein die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler könne für Stabilität sorgen, er werde, einmal an der Macht, von den traditionellen konservativen Kreisen aus Wirtschaft und Militär schon kontrolliert werden. Sie unterschätzten Hitlers Fähigkeiten und den dynamischen Populismus des «Führers». Hitler agierte viel schneller, als Mussolini das getan hatte, wenngleich er vom faschistischen Modell profitierte. Nachdem er am 30. Januar 1933 zum Kanzler einer rechtsgerichteten Koalition ernannt worden war, löste er den Reichstag auf und rief Neuwahlen aus, bei denen die Nationalsozialisten nach einem Monat sich überstürzender politischer Ereignisse 43 Prozent der Stimmen (aber keine absolute Mehrheit) bekommen sollten. Die Partei nutzte den Brandanschlag auf den Reichstag Ende Februar (die Nazis beschuldigten zunächst die Kommunisten, dafür verantwortlich zu sein; die Linke außerhalb Deutschlands hielt das Ganze für eine Provokation der Nationalsozialisten, doch es war mit hoher Wahrscheinlichkeit das Werk eines niederländischen Anarchisten) als Vorwand, um kommunistische Abgeordnete zu verhaften und die Presse zu knebeln. Hitler wollte eine verfassungsändernde Mehrheit für ein Gesetz, das ihm weit reichende Vollmachten übertrug, und traf, nachdem er die kommunistischen Abgeordneten aus dem Reichstag entfernt hatte, eine Vereinbarung mit dem katholischen Zentrum und dem Vatikan. Als Gegenleistung für ein Konkordat mit Berlin, das die religiöse Präsenz der katholischen Kirche garantierte, enthielt sich das Zentrum bei der Abstimmung über das entscheidende «Ermächtigungsgesetz», sodass nur die Sozialdemokraten dagegen stimmten und die nötige Zweidrittelmehrheit im Reichstag gesichert war.

Zur gleichen Zeit richtete das Regime außerhalb von München und Berlin die beiden ersten Konzentrationslager (Dachau und Oranienburg) ein, wo politische Gefangene ohne Gerichtsverfahren festgehalten wurden. Die SA organisierte einen offiziellen reichsweiten Boykott gegen jüdische Geschäfte. Im Verlauf der nächsten Monate sollte die Regierung die Kontrolle über die Presse verschärfen, den Beamtenapparat «reformieren», wobei alle Juden vom Staatsdient ausgeschlossen wurden, die politischen Parteien dazu drängen, sich selbst aufzulösen – die Führungsspitze der SPD ging ins Exil –, und einen Einparteienstaat ausrufen, gewählte Parlamentarier durch ernannte Bevollmächtigte ersetzen und die so genannte Einheit von Partei und Staat verkünden. Nachdem das geschafft war, machte Hitler sich wie Mussolini in den 1920er Jahren tatsächlich daran, die Autonomie der Partei einzuschränken. Die Hoffnungen radikaler Nationalsozialisten, gestützt auf die SA eine zweite Revolution in Gang zu setzen – ein Ansinnen, das die Reichswehr mit Abscheu und gehöriger Sorge betrachtete –, fanden am 30. Juni 1934 ein abruptes Ende, als die SA-Führung, ein paar NS-Dissidenten und mehrere ehemalige Spitzenpolitiker ermordet wurden. Die Reichswehr zeigte sich im August erkenntlich, als Reichspräsident Hindenburg starb und Hitler die Zustimmung der Armee erhielt, die Ämter des Staatsoberhaupts und des Regierungschefs miteinander zu verschmelzen; er trug fortan den Titel «Führer und Reichskanzler» und verfügte damit über eine Machtfülle, die Mussolini nie erlangte. Soldaten mussten von jetzt an einen Eid auf persönlichen Gehorsam gegenüber Adolf Hitler leisten.[166]

Diktatur und Verherrlichung: Adolf Hitler wird von seinen Anhängern auf einer Parteiveranstaltung 1938 begeistert empfangen. Zu dieser Zeit, als der «Führer» auf dem Höhepunkt seiner charismatischen Popularität angelangt war, rüsteten die Deutschen rasant auf, sie hatten das Rheinland remilitarisiert, Österreich annektiert und standen kurz davor, der Tschechoslowakei das Sudetenland zu entreißen. Die Verherrlichung ging einher mit absoluter Macht: Zehntausende, die ihre Gegnerschaft zum Regime zum Ausdruck gebracht hatten, saßen bereits in Konzentrationslagern; die deutschen Juden wurden systematisch entrechtet und enteignet.

Die Konsolidierung bis dato beispielloser Macht vor dem Hintergrund rassistischer, immer wieder in Gewalt umschlagender Hetzparolen und die Abschaffung bürgerlicher Freiheitsrechte verhalfen dem Regime offenkundig zu immer größerer Beliebtheit. Hitler verließ im Herbst 1933 die festgefahrene Abrüstungskonferenz in Genf und hielt eine Volksabstimmung über diese Entscheidung und allgemein über seinen außenpolitischen Kurs ab, bei der er erstmals eine Zustimmung von fast 97 Prozent erhielt. Die Arbeitslosigkeit sank, und die Unternehmer investierten wieder, weil sie wussten, dass sie von der offiziellen Deutschen Arbeitsfront keinen wirklichen Widerstand zu gewärtigen hatten. 1935 votierte das Saarland nach fünfzehn Jahren erzwungener Trennung für die Rückgliederung ins Reich. Im gleichen Jahr kündigte Hitler einseitig die militärischen Bedingungen des Versailler Friedensvertrags auf, verkündete die Wiedereinführung der Wehrpflicht und den Aufbau einer deutschen Luftstreitmacht, und im März 1936 besetzten Truppen die entmilitarisierten Zonen im Rheinland – alles Schritte, die gegen die Vereinbarungen des Friedensvertrags von 1919 verstießen, welche die militärische Sicherheit von Deutschlands Nachbarn garantieren sollten. 1936 konnte Hitler die Olympischen Spiele in Deutschland eröffnen; 1938 gelang es ihm, die aristokratische Domäne des Auswärtigen Amtes durch Ämterneubesetzungen unter direktere Kontrolle zu bringen, ebenso die Wehrmacht, bei der er die alte Führung entließ und ihm ergebene Generäle einsetzte. Durch die auf dem Reichsparteitag 1935 in Nürnberg verkündeten Gesetze waren Juden zu einer separaten Gruppe innerhalb des Reiches erklärt worden – sie waren noch immer Rechtssubjekte eines deutschen Staates, der sie demütigte und drangsalierte, aber nicht mehr der deutschen «Volksgemeinschaft».

Der «Führer» setzte sich über Vorbehalte seines Wirtschaftsministers hinweg und erließ einen Vierjahresplan, der mittels einer massiven Aufrüstung die Grundlage für einen Krieg schaffen sollte. Österreich wurde annektiert, die Regierungen in London und Paris wurden dazu veranlasst, Druck auf die Tschechoslowakei auszuüben, damit diese das mehrheitlich von Deutschen bewohnte Sudetenland abtrat (was dann Ende September 1938 auf der Münchener Konferenz auch geschah), im März 1939 besetzten deutsche Truppen Böhmen und Mähren, im August versicherte man sich schließlich der Neutralität der Sowjetunion, und am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Nun reichte es sogar der Regierung von Neville Chamberlain, sie entschied, sich Hitler zu widersetzen, und erklärte gemeinsam mit Frankreich Deutschland den Krieg. Anfang 1939 freilich hatte Hitler noch in unheilschwangeren Worten kundgetan, wenn es zum Krieg komme, so sei das allein die Schuld der Juden und es müsse unweigerlich zu deren Vernichtung führen. Doch Großbritannien und Frankreich verfügten über keine effektive Strategie, um in Ost- oder Westeuropa eine Offensive gegen die Deutschen zu starten, und erlitten verheerende Nieder lagen, als die deutschen Truppen Mitte 1940 Norwegen und Dänemark, die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich angriffen.

Hitlers Regierung war unverkennbar faschistisch mit ihrer uniformierten Partei, die angeblich mit Staatsämtern verschmolzen war, mit dem paramilitärischen Drumherum, der noch rücksichtsloseren und schnelleren Ausschaltung jeder legalen Opposition und der Abschaffung formal unabhängiger Arbeiterorganisationen – auch wenn, wie in Italien, die regierungsamtlichen Gewerkschaften gelegentlich gegen die Arbeitgeber aufzubegehren versuchten. Organisatorisch war das Regime ziemlich komplex strukturiert; Hitler war kein Freund klarer Kompetenzabgrenzungen, und verschiedene Organisationen buhlten um seine Gunst. Die etablierten Ministerien betrieben weiterhin die Geschäfte der deutschen Bürokratie. Doch die Polizeiaufgaben, die normalerweise bei den Länderregierungen angesiedelt waren, wurden schon bald mit verwirrender, sich überlappender Rechtsprechung bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) versammelt, die Hermann Göring in seiner Eigenschaft als preußischer Ministerpräsident leitete, und dann im von Reinhard Heydrich geleiteten Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengeführt, das zur zentralen Behörde für die polizeilichen und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten der neuen Schutzstaffel (SS) unter dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler wurde. Die SS wiederum war letztlich in drei Abteilungen aufgeteilt: in den Geheimdient (SD), in die militärischen Einheiten, die während des Krieges auf feindlichem Terrain kämpften (Waffen-SS), sowie in die Allgemeine SS, also jene Einheiten, welche die Konzentrations- und die neuen Vernichtungslager betrieben, die auf polnischem Territorium errichtet worden waren (Chełmno, das erste, wurde Ende 1941 gebaut, dann folgten Bełzec, Treblinka, Sobibór, Majdanek sowie Auschwitz, das zunächst ein Arbeitslager der I. G. Farben war, dann aber im angrenzenden Birkenau zum Vernichtungslager ausgebaut wurde). Mehrere Millionen sowjetische Kriegsgefangene, Gegner aus den europäischen Widerstandsbewegungen, Sinti und Roma, Homosexuelle und Millionen Juden, die systematisch aus Westeuropa, dem Mittelmeerraum, dem besetzten Polen und Ungarn deportiert wurden, wurden ausgebeutet, missbraucht und ermordet.

Hitler ersetzte den altgedienten Karrierediplomaten Konstantin von Neurath als Außenminister 1938 durch den überzeugten Nationalsozialisten Joachim von Ribbentrop, und das einst elitäre Auswärtige Amt stellte sich schließlich in den Dienst nationalsozialistischer Ziele, ob es nun darum ging, die Staaten Mitteleuropas zu liquidieren oder die Judenverfolgung zu erleichtern. Hitler entfernte die obersten Heeresoffiziere unter dem Vorwand eines angeblichen Homosexualitätsskandals, setzte einen weitaus gefügigeren Chef des Oberkommandos der Wehrmacht ein und machte sich selbst zum Reichskriegsminister. Göring wurde, neben seinen Aufgaben als Reichsminister für Luftfahrt und Oberbefehlshaber der neuen Luftwaffe, Beauftragter für den Vierjahresplan. Als Teil der Rüstungsanstrengungen richtete Hitler eine spezielle Organisation ein, die nach ihrem Leiter Fritz Todt benannt war; sie erhielt während des Krieges immer mehr Befugnisse und wurde, nachdem Todt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, vom ambitionierten Architekten Albert Speer übernommen, der ab 1942 zum Wirtschaftszar wurde. Der Krieg bedeutete auch, dass man für die sechs bis acht Millionen «Fremdarbeiter», die entweder angeworben oder gezwungen wurden, in deutschen Fabriken zu arbeiten, eine riesige Verwaltungsstruktur benötigte. Das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels hatte die Medienlandschaft sowie die Welt von Kunst und Musik fest unter Kontrolle.

Karte 3: NS-Konzentrations- und Vernichtungslager in Deutschland und den besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs. Die wichtigsten Vernichtungslager sind kursiv gesetzt.

Natürlich mussten diese Institutionen, an deren Spitze ambitionierte Männer standen, die keinerlei Skrupel hatten, Millionen von Ausländern zwangsweise zu rekrutieren und die Juden erst auszurauben und dann zu ermorden, zwangsläufig in Konflikte geraten. Goebbels und Göring sowie später dann Göring, Goebbels, Martin Bormann als Leiter der Partei-Kanzlei und Speer beäugten sich und die Befugnisse des jeweils anderen mit höchstem Misstrauen. Hitler war bemüht, eine klare Positionierung auf der einen oder anderen Seite zu vermeiden; nur wenige seiner Weisungen waren von unzweifelhafter Eindeutigkeit; er wusste, dass die eifrigen Satrapen seine allgemeinen Intentionen antizipieren würden. Oberste Machtautorität ließ sich durchaus mit einer quasi-anarchischen Regierungs- und Verwaltungspraxis vereinbaren. Dieses Paradoxon veranlasste so manchen Historiker zu der Einschätzung, Hitler sei ein «schwacher Diktator» gewesen, doch dieser Begriff wird dem nicht gerecht, worum es ging. Die Diktatur mochte unsystematisch erscheinen; sie ermöglichte es, dass Beamte eine Unmenge an persönlichem Einfluss anhäuften, und sie erlaubte auch Zwischenräume, in denen geistiges, religiöses und künstlerisches Leben weitgehend ungestört weitergehen konnte, solange sich Regimegegner nicht dazu animiert fühlten, öffentlich für Wirbel zu sorgen. Nimmt man beispielsweise die seit langem vorhandenen kulturellen Errungenschaften der Deutschen im Bereich der Musik, so war die Kontrolle der Musikprogramme und der Musikberichterstattung natürlich ein potentiell bedeutsames Feld der Patronage und der Ideologisierung; doch nach einer Weile gab die Regierung im Grunde alle größeren Ambitionen auf und konzentrierte sich darauf, «Unterhaltungsmusik» zu bieten. Goebbels geißelte den Jazz als «Negermusik», doch in Untergrundbars wurde er weiterhin gespielt, und eine halb entfremdete Jugend tanzte zu Swingmusik.[167]

Ein letztes Gefecht des Faschismus: Scheinwerfer der Flugabwehr erleuchten den nächtlichen Himmel über Algier während eines deutschen Luftangriffs im Winter 1943. Algerien als Besitzung des französischen Vichy-Regimes war im Zuge der ersten großen Landungsaktion der Alliierten im November 1942 in die Hände von angloamerikanischen Truppen und Soldaten des freien Frankreich gefallen; weiter östlich behielten deutsche und italienische Truppen bis zum Frühjahr 1943 die Kontrolle über Libyen und Tunesien.

Das Paradoxon aus gewichtigen übergeordneten Zielen und administrativer Schludrigkeit war nicht auf Deutschland oder auf faschistische Diktaturen beschränkt. Der New Deal in den USA wies eine ganz ähnliche Rivalität mächtiger Personen auf, die in verschiedenen und oftmals konkurrierenden Behörden saßen: neu geschaffenen Bundesbehörden wie der National Recovery Administration (NRA), der Works Progress Administration (WPA), der Public Works Administration (PWA) usw., die allgemein als «Buchstabensuppe» bekannt waren. Angesichts heftig verteidigter politischer Alternativen zog es Franklin D. Roosevelt ähnlich wie Hitler vor, klare Entscheidungen zu vermeiden und stattdessen Kompromisslösungen zu suchen. Entscheidend dabei ist: Die Weltwirtschaftskrise und dann der Weltkrieg (mitsamt den ihm vorausgehenden Rüstungsanstrengungen) stellten große und mächtige Staaten vor ungeheure neue Herausforderungen, denen man mit politischen Ad-hoc-Reaktionen begegnete. Die Gesinnung, die hinter Franklin D. Roosevelts Tun stand, dem in dieser Zeit herausragenden Anführer der demokratischen Welt, der üblicherweise heiter und generös war, und die Motive Adolf Hitlers mit seiner kruden Agenda aus Eroberung und Vernichtung waren grundverschieden, aber ihre administrative Reaktion auf schwierige Problemlagen wies durchaus gewisse Ähnlichkeiten auf.

Wer in Deutschland als Beamter oder im Privatsektor Einfluss gewinnen wollte, der musste Parteimitglied werden, so wie man in Italien der faschistischen Partei beitreten musste. Neben den verschiedenen staatlichen Behörden gab es die der NSDAP: die mächtige Reichsleitung und die regionalen Gauleiter. In Deutschland wie in Italien schwankte der Einfluss der Partei. Die Verschmelzung von Partei und Staat war für beide Regime eine zentrale Parole, doch Mussolini und Hitler waren schon früh darum bemüht, ihre jeweiligen Parteien wirklichen Einflusses zu berauben und sie stattdessen zu effektiven Transmissionsriemen für die von ihnen etablierte Macht zu entwickeln. Keiner der beiden «Führer» war bereit, eine «zweite» Revolution zu dulden, bei der die Armee durch die Parteimiliz ersetzt worden wäre. Es gab jedoch viele parallele Ämter, und als Deutschland den Krieg, dessen Erfordernisse man nicht völlig vorausberechnet hatte, ausweitete und intensivierte, setzte die Regierung verstärkt auf die Gauleiter und andere Vertreter der Partei, um auch weiterhin soziale Funktionen und die Zivilverteidigung zu gewährleisten. Als Leiter der Partei-Kanzlei wurde Martin Bormann damit zu einer einflussreichen Person. Die Kriegsvorbereitungen und die Kriegszeit selbst vergrößerten die Fülle an Organisationen noch weiter.

Zwar lernten die Nationalsozialisten von den Italienern, und bis weit in den Krieg hinein bewahrte sich Hitler einen gewissen Respekt vor Mussolini als einer Art ideologischem Paten, doch die beiden Faschismen wiesen auch deutliche Unterschiede auf – und zwar nicht nur im Hinblick auf die zentrale antisemitische Fixierung des deutschen Regimes. Im Gegensatz zur faschistischen Ideologie in Italien, die vor allem auf die absolute Autorität des Staates und eine unerbittliche Rechtsordnung abhob, betonten Hitlers Rechtsgelehrte die persönliche Willkürmacht des «Führers» als Ausdruck der (nationalen, aber auch «rassischen») «Volksgemeinschaft» und sprachen den so genannten Führererlassen, selbst wenn sie eher beiläufigen Charakter hatten, oberste rechtliche Autorität zu. Man könnte das als eine Theorie des rechtlichen «Vitalismus» bezeichnen, als Versuch, die allerwillkürlichste Macht einem lebenden Führer zuzuschreiben, der den Willen der nationalen Gemeinschaft verkörperte, und sie nicht innerhalb irgendeines unabhängigen Rechtsrahmens mit seinen Beschränkungen festzulegen.

Der bedeutendste deutsche Denker, dessen Ideen stark zu einer solchen Theorie beitrugen (auch wenn er sie niemals formal ausarbeiten sollte), war der schon zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Carl Schmitt. Schmitt war ein einflussreicher Rechtsgelehrter, der sich in der Weimarer Republik in den Debatten über das Wesen des Rechts, den Parlamentarismus und die Demokratie schon früh einen Namen gemacht hatte. Eine seiner Kernthesen lautete: Politik, insbesondere demokratische Politik, müsse sich auszeichnen durch den Antagonismus zwischen einem Volk und seinen Gegnern. Schmitt war unerhört klug und von großer Überzeugungskraft, er kannte die Klassiker und stand in der Tradition der katholisch-autoritären Denker des 19. Jahrhunderts, Joseph de Maistre, Louis de Bonald und Juan Donoso Cortés, die der Ansicht waren, mit der Revolution von 1789 habe die gefallene Menschheit noch einmal den Aufstand des Teufels gegen Gott wiederholt. Schmitt hegte durchaus Hoffnungen, von den Nationalsozialisten als deren offizieller Vordenker anerkannt zu werden, doch letztlich war er intellektuell zu arrogant, um sich kopfüber in deren krude Auseinandersetzungen zu stürzen.

Die in seinen Augen grundlegende politische Einheit war nicht der Staat, den viele Konservative in Deutschland und Faschisten in Italien hoch hielten, sondern die Gemeinschaft – einst die Polis, nunmehr die Nation –, die sich im Gegensatz und in Opposition zu ihren Widersachern vereinte. In der Politik ging es deshalb um die Unterscheidung von wir und sie, von Freund und Feind. Wahre Demokratie habe nichts mit dem «ewigen Gespräch» zu tun, den endlosen Debatten, die der parlamentarische Liberalismus so sehr pries, sondern war das Regime, das aus der grundsätzlichen Identität eines Volkes resultierte. Tatsächlich, so behauptete Schmitt, fungierten die Parlamente nicht mehr als Schauplätze freier und rationaler Diskussion, wie dies der frühe britische Liberalismus postuliert hatte, sondern dienten nur noch der Repräsentation konkreter Interessen, die schon feststünden, noch ehe die Debatte überhaupt begonnen habe.[168] Die Weimarer Verfassung war in seinen Augen eine defizitäre Mischung aus liberalen und demokratischen Elementen, und er sah seine Diagnose bestätigt durch die Lähmung des Weimarer Parlaments Anfang der 1930er Jahre, als er nach einem demokratischen Diktator rief.

Solche Ansichten brachten Schmitt natürlich in Gegensatz zu den liberalen Theoretikern, die der Ansicht waren, der Wesenskern des Rechts bestehe in seiner allgemeinen Anwendbarkeit sowie in der Rationalität und den Werten, die ihm zugrunde lagen. Doch Schmitt lehnte auch die deutsche Schule des Rechtspositivismus ab, die der Ansicht war, die Macht, Recht zu setzen, erübrige jede Diskussion über die ihm innewohnende normative Legitimität. Er vertrat zudem die Auffassung, alle Vorstellungen von einem internationalen Recht bzw. Völkerrecht, das auf universellen Werten und Verträgen basiere, seien utopisch. Als angesichts der alliierten Bombenangriffe allmählich klar wurde, dass das «Dritte Reich» dem Untergang geweiht war und seine Ideen in Misskredit geraten würden, behauptete Schmitt in der ihm eigenen beißenden Art, das Völkerrecht sei eine Lehre, welche die Europäer entwickelt hätten, um Streit untereinander zu vermeiden, als sie die Territorien der nicht-europäischen Welt unter sich aufteilten. Diese Art internationaler Doktrin, so seine These, sei realistisch; sie gehe von einer Geopolitik großer, aber begrenzter Territorialreiche aus und rechtfertige damit die «Großraumpolitik» der Nationalsozialisten. Gleichzeitig jedoch schließe sie die Wilsonsche Behauptung angeblich universeller Werte ebenso aus wie die frühere britische Verpflichtung auf einen Marktliberalismus; beides seien globale Ambitionen, die in seinen Augen weitaus unverhohlener imperialistisch waren als die deutschen Ansprüche in Europa.[169]

Es war erschreckend, aber nicht wirklich ungewöhnlich, dass der Faschismus scheinbar über privilegierte Erkenntnisse in Sachen Zukunft verfügte, als die Weltwirtschaftskrise immer länger dauerte und immer verheerendere Wirkungen zeitigte und als der Rahmen des Versailler Friedensvertrags Stück für Stück aufgegeben wurde. Das galt vor allem in Mittel- und Osteuropa, wo Briten und Franzosen nicht mehr darauf erpicht zu sein schienen, den kleineren Ländern – die ihrerseits mitunter wie besessen mit nationalen Fragen beschäftigt waren – dabei zu helfen, von ihren großen autoritären Nachbarn unabhängig zu bleiben.[170]

Österreich, das deutschsprachige Überbleibsel des Habsburgerreichs (wenn man einmal von den Deutschen im Sudetenland absieht), war ideologisch gespalten zwischen den Sozialisten, die vor allem in Wien und im industriellen Oberösterreich ihre Hochburgen hatten, und der tiefkatholischen, konservativen Landbevölkerung, die in der Christlichsozialen Partei organisiert war. Anfang der 1930er Jahre entstand eine quasi-faschistische «Vaterländische Front» als politische Kraft, und in den Straßen kam es zu Zusammenstößen zwischen den paramilitärischen Organisationen der konkurrierenden Parteien. Als Reaktion auf die Vaterländische Front versuchten die älteren Christlichsozialen, die Hegemonie auf der Rechten zu behalten, und verwandelten das Parlament in eine Ständekammer ähnlich dem Faschismus. Die Sozialisten befürchteten, die österreichische Rechte werde auch noch die letzten Reste des Liberalismus liquidieren, und starteten im Februar 1934 auf eigene Faust eine Revolte, die jedoch gewaltsam niedergeschlagen wurde; wer nicht ins Exil nach Prag floh, wurde inhaftiert. In den folgenden vier Jahren waren die Christlichsozialen bestrebt, einen autoritären Staat nach dem Vorbild Mussolinis aufzubauen. Ungeduldige österreichische Nationalsozialisten und Bewunderer Hitlers versuchten sich im Juli 1934 an die Macht zu putschen und ermordeten den Kanzler. Sie scheiterten jedoch, nicht zuletzt deshalb, weil Mussolini deutlich machte, dass er ein Großdeutschland an seiner Nordgrenze in den Alpen nicht dulden werde. Doch im Lauf der nächsten Jahre verlor das halb unabhängige und semi-faschistische Österreich den Schutz des «Duce». 1936 beschloss der italienische Diktator aus Wut darüber, dass sich der Westen seiner Invasion in Äthiopien widersetzte, sich mit den Deutschen zur so genannten Achse zusammenzuschließen. Dieser Schritt sorgte dafür, dass Hitler nach und nach immer stärkeren Druck auf Österreich ausübte, bis es schließlich im März 1938 zum «Anschluss» kam.

In der Zwischenzeit verwandelte das polnische Militär die dortige Republik Schritt für Schritt in eine Militärregierung; in den baltischen Staaten übernahmen Diktatoren die Macht. Ungarn, das seit der Gegenrevolution von 1919 als autoritärer Staat mit allerdings weiter bestehendem Parlament und einem gewissen Maß an offener Debatte regiert worden war, schwankte zwischen den Anhängern Frankreichs oder Englands, die darauf hofften, eine semi-offene Regierung mitsamt öffentlicher Diskussion zu behalten (solange das Establishment nicht ernsthaft bedroht war), und den offenen Bewunderern von Hitler-Deutschland. Der griechische König übertrug General Ioannis Metaxas 1936 diktatorische Vollmachten. Die Tschechoslowakei blieb ein parlamentarisches Regime unter dem verehrten Tomáš Masaryk, doch nach seinem Tod führten die inneren Spannungen und Belastungen zu schweren Krisen, und die drei Millionen Sudetendeutschen gerieten zunehmend unter die demagogische Führung eines nationalsozialistischen Politikers, der ihnen suggerierte, ihre Situation sei unerträglich. 1938 war Hitler entschlossen, die «Tschechei» zu zerschlagen, und die Krise, die er und die Sudetendeutschen heraufbeschworen, veranlasste die englischen Tories zu der Annahme, die einzige Lösung bestehe darin, den Deutschen dieses Gebiet zu überlassen.

Die spanische Republik, die im Zuge antimonarchischer Gemeindewahlen 1931 ins Leben gerufen worden war, polarisierte zunehmend. Die konservativen Kräfte, die von 1934 bis 1936 regierten, versuchten die Maßnahmen zur Säkularisierung der Bildung und zur Autonomie der Regionen rückgängig zu machen, welche die Linke in den Jahren zwischen 1931 und 1933 umgesetzt hatte. Ein schlecht geplanter sozialistischer Aufstand (der auf ähnlichen strategischen Fehleinschätzungen beruhte wie der Aufstand in Wien ein halbes Jahr zuvor) wurde von rechten Kräften niedergeschlagen, doch daraufhin bildeten sich in Frankreich wie in Spanien Volksfronten (denen Kommunisten ebenso angehörten wie sozialistische und linksliberale Parlamentskandidaten), die die Macht übernahmen, was dann in Spanien im Juli 1936 zum Militärputsch führte. Der anschließende Bürgerkrieg zerstörte die Republik und brachte eine autoritäre Koalition aus Monarchisten, Generälen und den in der Falange organisierten Faschisten an die Macht. In Großbritannien, Frankreich, Skandinavien und den Benelux-Staaten konnte sich die Demokratie halten. Doch es sah zunehmend so aus, als wären die entscheidenden politischen Kräfte der Zeit diejenigen, die für disziplinierte Kollektive plädierten, die den Krieg verherrlichten oder Krieg führten und die keinerlei Hemmungen hatten, Andersdenkende einzusperren oder gar umzubringen.

Die Tatsache, dass auf der anderen Seite des Globus japanische Truppen dem System kollektiver Sicherheit unter dem Dach des Völkerbundes im September 1931 den ersten schweren Schlag versetzt hatten, machte den Aufstieg eines nationalistischen Autoritarismus umso bedrohlicher. Für das japanische Militär waren die Stützpunkte auf der Halbinsel Liaodong der Schlüssel für die Kontrolle über die Mandschurei, und diese wiederum war von zentraler Bedeutung, um die koreanische Kolonie abzusichern sowie Sowjetrussland in Schach und China gefügig zu halten. Umso dringlicher war es in den Augen der Japaner, dass die lokalen Truppeneinheiten ihren Brückenkopf auf die gesamte Mandschurei ausdehnten, nicht zuletzt deshalb, weil Jiang Kaishek im Norden des historischen China zunehmend die Kontrolle übernahm. Sorgfältige Planung führte zu seinem inszenierten Sprengstoffanschlag auf die von den Japanern betriebene Südmandschurische Eisenbahn und zu einer entschlossenen Reaktion: der militärischen Besetzung der südlichen Mandschurei. Der so genannte Mukden-Zwischenfall, der vom Kriegsminister in Tokio rasch aufgegriffen wurde, war auch ein Angriff auf die gemäßigten Kräfte in Japan, und das Kabinett akzeptierte den fait accompli. Diejenigen Parteien und Politiker, die in den 1920er Jahren bereit gewesen waren, am Aufbau einer kooperativen internationalen Ordnung mitzuwirken, unter ihnen auch gemäßigte Minister aus dem Militär, verloren an Einfluss gegenüber ungeduldigen Radikalen aus den Reihen der Armee und mitunter auch ihr Leben. Im Verlauf des Jahres 1932 beschloss ein eingeschüchtertes Kabinett in Tokio, die Mandschurei in den angeblich souveränen Staat Mandschukuo umzuwandeln und als Marionette an dessen Spitze den letzten Mandschu-Kaiser Pu Yi einzusetzen. Als der Völkerbund Japans Vorgehen verurteilte, trat das Land im März 1933 aus der Weltorganisation aus; neun Monate später folgte ihm Berlin, wo man angeblich verärgert war über die französisch-britische Weigerung auf der Abrüstungskonferenz des Völkerbundes, die eigenen Streitkräfte auf das Niveau Deutschlands zu reduzieren.

Ungenügende Bravour? Jiang Kaishek spricht auf einer Parteiveranstaltung in Hankou 1938. Der General, Erbe von Sun Yatsens nationalistischer Guomindang-Partei, nutzte den Rundfunk, der in den 1930er Jahren, einer Zeit der Massenpolitik, das entscheidende Medium politischer Führer war. Chinas autoritäre Nationalistenregierung führte einen verzweifelten Krieg gegen die großangelegte Invasion der Japaner, die im Jahr zuvor begonnen hatte.

Darüber, ob Japan in den 1930er Jahren zu einem faschistischen Staat wurde oder nicht, ist immer wieder diskutiert worden. Im streng formalen Sinne – wenn ein Kriterium also ist, dass eine faschistische Partei die Macht übernimmt und den Staat nach ihren Vorstellungen verändert – war das Regime vielleicht nicht faschistisch, aber seine Herrscher installierten nach und nach ein sehr repressives, militarisiertes Regime, das den Kaiser, den Staat und imperiale Eroberungen glorifizierte. Zu Hause in Japan wurde der Einfluss des Militärs auf die Regierung immer stärker: Das kurze Zwischenspiel, während dessen es noch so etwas wie eine parlamentarische Politik gab – die so genannte Taishō-Demokratie, benannt nach der Herrschaft des Taishō-Kaisers von 1912 bis 1926 –, fand mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise ein Ende. Junge Offiziere aus ländlichen Regionen, in denen unter den Bauern große Armut herrschte, und expansionistische Hardliner kritisierten – ganz ähnlich wie die Nationalsozialisten in Deutschland – den dekadenten bürgerlichen Liberalismus, die lebendige urbane Kultur und die politische Debatte der 1920er Jahre. Die Nationalisten strebten nach einer «Shōwa-Restauration», bei der Macht und Eigentum von den Politikern und den korrupten Kapitalisten auf den neuen, jungen Shōwa-Kaiser Hirohito übergehen sollten. Putschversuche radikalnationalistischer Offiziere, bei denen Politiker ermordet wurden (am 15. Mai 1932 und am 26. Februar 1936) trieben gespaltene Kabinette noch weiter in Richtung einer nationalistischen und autoritären Politik. Zwar wurden die Putschisten (und ihr Chefideologe Kita Ikki) hingerichtet, doch die gemäßigten Kräfte schwiegen ängstlich oder wurden inhaftiert. Die wichtigsten politischen Parteien wurden aufgelöst, während die Herrschenden zu ihrer Unterstützung statt einer formalen Partei eine nationale Bewegung organisierten. Die Taisei Yokusankai («Vereinigung zur Unterstützung des kaiserlichen Systems») brachte der Jugend militärische «Tugenden» bei (dazu gehörte auch der gnadenlose Umgang mit dem Feind), propagierte den Shintoismus als Staatsreligion, die den Kaiser verherrlichte, und behauptete eine «rassische» Überlegenheit der Asiaten.

Die neuen Regierungen der 1930er Jahren schienen gespalten, auf der einen Seite standen die zurückhaltenderen Nationalisten, allen voran Prinz Konoe Fumimaro, der eine schrittweise Expansion in Asien für klug hielt, um Briten und Amerikaner nicht zu beunruhigen, auf der anderen die Militärs, die davon überzeugt waren, dass ein größerer Krieg mit dem Westen und der wieder aufstrebenden chinesischen Republik nur eine Frage der Zeit sei. Unter den Letztgenannten war es vor allem General Ishiwara Kanji – einer der Hauptplaner des «Zwischenfalls» in der Mandschurei –, der einer immer weiter gehenden Kriegsführung das Wort redete, während Tōjō Hideki als militärischer Führer auf den Plan trat, in dessen Regierungszeit als Premierminister die verhängnisvolle Ausweitung der japanischen Feindseligkeiten auf Großbritannien und die USA im Dezember 1941 fiel.[171]

Dieser Schritt jedoch war nur der Höhepunkt der sich selbst erfüllenden Logik dauerhafter Aggression, mit der die bereits erfolgte Expansion gesichert werden sollte: Krieg zog zwangsläufig Krieg nach sich. Weil die Japaner in Sorge waren angesichts von Jiang Kaisheks Bemühungen, die Republik China, die auf ähnlichen nationalen Überzeugungen beruhte, zu modernisieren, starteten sie 1937 einen Angriff auf die historischen chinesischen Provinzen. 1940 verkündete Tokio seinen Beitritt zur «Achse Rom-Berlin» und später zum deutsch-italienischen «Stahlpakt» und wartete ab, wie der Krieg in Europa ausgehen würde, um zu entscheiden, ob man, wie das einige Militärplaner wünschten, von der Mandschurei aus Richtung Norden gegen die Sowjetunion vorstoßen würde oder – und diese Strategie wurde dann am Ende auch verfolgt – im Süden die europäischen Kolonialgebiete in Südostasien angreifen sollte. Die Tatsache, dass Moskau aufgrund des Nichtangriffspakts mit Deutschland freie Hand hatte, dazu die evidente Stärke der sowjetischen Truppen, die sie bei einigen größeren Grenzzwischenfällen mit Japan bereits unter Beweis gestellt hatten, und die Schwäche der ressourcenreichen niederländischen und französischen Kolonialbesitzungen (deren Regierungen in Europa im Frühjahr 1940 schwere Niederlagen erlitten hatten) ließen die «südliche Variante» umso verlockender erscheinen. Als Amerika darauf beharrte, Japan müsse sich nicht nur von den von den Franzosen erbeuteten Stützpunkten in Vietnam zurückziehen, sondern auch aus China, schien das eine grundsätzliche Entscheidung zwischen Demütigung und der Bereitschaft zu einem größeren Krieg zu erzwingen.

Zweiter Weltkrieg in Asien: Japanische Panzer, leicht und von primitiver Bauart, rücken rasch vor, als Japan 1937 und 1938 von der Mandschurei aus ins südliche China einfällt. Der Zweite Weltkrieg nahm seinen Anfang in Asien; als er in Europa begann, kontrollierte Japan einen breiten Küstenstreifen Chinas, während sich die chinesischen Nationalisten in Chongqing am Oberlauf des Yangzi und die kommunistischen Truppen in Yan’an im Nordwesten verschanzten.

Auch die Tatsache, dass Niederländisch-Ostindien Ölressourcen versprach, die das Militär dringend benötigte, nachdem die USA alle Exporte nach Japan ausgesetzt hatten, ließ die Option einer Ausweitung des Krieges durchaus naheliegend erscheinen. Zu Tokios Pech erforderte die Expansion gen Süden Präventivschläge gegen britische und amerikanische Stützpunkte – auch in diesem Fall also erzwang ein Krieg den anderen. Aus der Perspektive Anfang der 1940er Jahre erwies sich China für die japanische Führung als das, was Russland für Hitler war: eine riesige Gesellschaft, deren Eroberung, so glaubte man, Voraussetzung für die Führerschaft auf dem Kontinent war, deren Widerspenstigkeit jedoch die Bemühungen kostspieliger werden ließ als gedacht und letztlich einen Gegner in Übersee in den Krieg hineinzog, der über weitaus größere Ressourcen verfügte, als man selbst zur Verfügung hatte.

Doch schon Mitte der 1930er Jahre waren die Entwicklungen unheilvoll genug, um in den Augen vieler Intellektueller nur eine schreckliche Wahl zu lassen: entweder dem Faschismus zu unterliegen oder gemeinsam mit den Kommunisten Widerstand zu leisten. Die amerikanische Demokratie schien zu weit weg zu sein und zu wenig Interesse an der ferneren Welt zu haben, zumal sie selbst mit massenhafter Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte. Glücklicherweise widerstand die öffentliche Meinung im Westen überwiegend solch apokalyptischem Denken, auch wenn man vielleicht zu lange glaubte, sich irgendwie «durchwursteln» zu können, und sich den Hoffnungen auf ein, wie der Dichter W. H. Auden es nannte, «erbärmliches, verlogenes Jahrzehnt» hingab; stattdessen hielt sie sich verständlicherweise an Staaten, die der völligen Politisierung des Privatlebens widerstanden und mitunter sogar Experimente mit fortschrittlicher Sozialgesetzgebung wagten.

Die Sowjetunion, die sich im politischen Spektrum selbst als völligen Gegensatz zum Faschismus verortete, ihrerseits aber eine genauso umfassende und repressive soziale Kontrolle entwickelte, war vermutlich die Diktatur, die gründlicher als alle anderen Denken und Gesellschaft durchdrang. Der Romancier André Gide, der mit der Linken sympathisierte, reiste 1936 nach Russland und kam zu der Erkenntnis, nirgendwo würden Denken und Freiheit stärker kontrolliert – nicht einmal in NS-Deutschland. Und George Orwell erkannte im Spanischen Bürgerkrieg, wie rücksichtslos Stalins Sowjetunion die Kontrolle über die Linke an sich reißen wollte.[172] Gleichwohl konnten westliche Kommunisten und ihre Anhänger nach wie vor behaupten (wie das Jean-Paul Sartre nach dem Krieg tun sollte), die Sowjetunion verkörpere die Hoffnungen und Bestrebungen des weltweiten Proletariats und müsse deshalb unterstützt werden. Sie war aber auch eine erklärte Diktatur (laut Verfassung von 1936 angeblich allerdings in Gestalt einer vollkommenen Demokratie).

Noch umfassender als in Italien und Deutschland wurden die Institutionen des russischen Staates der Partei unterworfen, die ganz offen als Diktatur des (oder zumindest im Sinne des) Proletariats agierte. Bis zu den Reformen Michail Gorbatschows in den 1980er Jahren fungierte das sowjetische Staatsoberhaupt auch als Generalsekretär der KPdSU. Wie im Falle Italiens und Deutschlands häufte der Diktator selbst ein ungeheures Maß an persönlicher Macht an, doch Stalin hätte es nie gewagt, die organisatorische Parteiführung einem anderen Genossen anzuvertrauen, wie das sowohl Hitler als auch Mussolini taten. Der deutsche und der italienische Staatsapparat bewahrten eine gewisse Autonomie und Tradition; schwieriger gestaltete sich das in Russland nach dem Bürgerkrieg und den 1920er Jahren, als das Regime noch immer ältere Beamte rekrutierte, die bereit waren, dem bolschewistischen Regime zu dienen. In der Armee dienten während des Zweiten Weltkriegs neben den befehlshabenden Offizieren auch Parteivertreter, denen oftmals Ablehnung entgegenschlug und die nicht selten hingerichtet wurden, wenn sie in Gefangenschaft gerieten. Potentielle Konkurrenz für den Generalsekretär drohte ebenfalls von Parteiämtern: In den 1920er Jahren war es für eine Weile die Führung der Kommunistischen Internationale, die als Rivale des Volkskommissariats für Auswärtiges auftrat, und später dann zunehmend die Führung der Staatssicherheitsbehörden: der Tscheka, dann der OGPU, des MWD und des NKWD. Das Amt des sowjetischen Staatspräsidenten war eher zeremonieller Natur. Ein parlamentarisches Organ als solches gab es nicht mehr; in der Theorie waren die konstituierende Versammlung und die Duma Teil eines bourgeoisen Staates gewesen, der abgelöst worden war. Gesetzgebende Organe blieben der Parteikongress der KPdSU, das kleinere Zentralkomitee sowie das regierende Politbüro. Die Zusammensetzung des Parteikongresses, der der Papierform nach das höchste Organ war, in Wirklichkeit aber nur die Entscheidungen von Politbüro und Zentralkomitee absegnen sollte, wurde qua Wahl unter den Parteimitgliedern bestimmt. Es erscheint paradox, doch die kommunistischen Staaten schenkten nicht-kompetitiven Wahlen stets große Aufmerksamkeit, denn sie dienten nicht dazu, zwischen alternativen Persönlichkeiten oder politischen Vorstellungen zu entscheiden, sondern die überzeugten Anhänger zu mobilisieren und zu bestärken.

Historiker unterscheiden gern zwischen der leninistischen Phase (1917–1923) sowie den anschließenden Jahren wechselnder rivalisierender «Triumvirate» (1924–1929) einerseits und der terroristischen Willkürherrschaft Stalins andererseits, der sich 1930/31 die uneingeschränkte Kontrolle sicherte. Doch obwohl Stalin überall finstere Verschwörungen witterte und der staatliche Terrorapparat Mitte bis Ende der 1930er Jahre beispiellose Dimensionen annahm, hatte sich das autoritäre, oder genauer: das totalitäre Potential des Staates schon früh manifestiert. Gleichwohl war die Frühphase des Regimes geprägt von der Situation des Bürgerkriegs und der Feindseligkeit Großbritanniens, Frankreichs und der USA. Wohlwollende Betrachter konnten Lenins Regime als eines des «Ausnahmezustands» betrachten, den Carl Schmitt als entscheidendes Souveränitätsmerkmal definiert hatte. Als Lenin, nach einem Schlaganfall schon seit längerem gelähmt, 1924 starb, waren die Truppen der «Weißen» besiegt und die Regierung hatte sich vom ruinösen Wirtschaftskollektivismus abgewandt, der unter den Bedingungen des Bürgerkriegs betrieben worden war, und stattdessen die Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeführt (mit der teilweise Marktbedingungen und Auslandsinvestitionen wieder erlaubt wurden). In den 1920er Jahren waren Moskau und Petrograd für kurze Zeit Heimstatt experimentellen Theaters und futuristischer Kunst. Die Sowjetunion zog westliche Intellektuelle an, und das umso mehr, als die Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre die kapitalistische Welt im Würgegriff hielt.

Doch ein derartiges Gleichgewicht, das es der Sowjetunion ähnlich wie Mexiko ermöglicht hätte, die allgemeine Umwälzung unter dem «großen Zelt» eines Einparteienregimes zu stabilisieren, welches die Machtpositionen dauerhaft besetzte, ohne aber einen Polizeistaat zu errichten, stellte sich nicht ein. Dies hatte historische, personenspezifische und gesellschaftliche Gründe. Die von einem gesundheitlich schwer angeschlagenen Lenin hinterlassene Unübersichtlichkeit der Machtverhältnisse hatte zur Folge, dass sich vor allem zwischen Trotzki und Stalin eine giftige Konkurrenz entwickelte. Trotzki war Jude, viel gereist und ein Theoretiker der Revolution. Stalin war bodenständig, ein begabter Machtkämpfer mit intellektuellen Ambitionen, der seine Genossen als Rivalen und potentielle Verschwörer betrachtete. Ab Ende der 1920er Jahre häufte er ein Maß an Macht an, das sogar die institutionelle Vorrangstellung überstieg, welche die Parteiführung (und damit auch die des Staates) hätte verleihen sollen. Er war gefürchtet und wurde verehrt. Die Macht aller totalitären Herrscher wies eine ausgeprägte persönliche Komponente auf. Hitler und Mussolini hielten es für nötig, direkt zu kommunizieren, Stalin hingegen blieb eher auf Distanz und im Hintergrund, hatte aber wie eine wachsame patriarchale Gottheit alles sorgfältig im Blick.

Auch im Bereich der Institutionen gab es Unterschiede. Von allen autoritären Staaten – das Regime der Republik China nicht mitgerechnet – verfügte Russland über die kürzeste Erfahrung mit repräsentativen Institutionen. Italien hatte seit 1860 eine parlamentarische Regierung, Deutschland seit 1871. Die russische Duma hingegen war nur zwischen 1905 und 1917 zusammengetreten, und das Wahlrecht wurde immer weiter eingeschränkt. In Deutschland und Italien gab es eine starke lokale Selbstverwaltung. Zudem hatte die Sowjetunion eine Gesellschaftsstruktur geerbt, welche die Bolschewiki von Anfang an frustrierte: eine riesige Bauernschaft, die sie als feindselig und rückständig betrachteten. Eine der programmatischen Parolen der Bolschewiki während der Interimsrepublik von März bis November 1917 war das Versprechen an die Bauern gewesen, sie dürften das von ihnen bestellte Land als eigenen Besitz übernehmen. Doch individueller Landbesitz war nicht die endgültige Eigentumsform, die sie im Blick hatten, und die kleinen Bauernhöfe versprachen auch nicht gerade große Produktivität. Ökonomische Hauptaufgabe war es in den Augen der Bolschewiki, die Produktivität des Agrarsektors zu steigern und die «freigesetzten» Arbeitskräfte in den Städten für die industrielle Entwicklung zu nutzen. Überdies sollten die bäuerlichen Landbesitzer für die Bolschewiki dauerhaft eine massive und missmutige Opposition darstellen. Einige Bolschewiki, allen voran Nikolai Bucharin, befürworteten zumindest eine lange Übergangszeit, in der die Bauern ihre Erzeugnisse auf einem privaten Markt verkaufen und ihre Besitzungen behalten durften.

Stalin, dem es in erster Linie darum zu tun war, seine heimische Vormachtstellung zu sichern, wandte sich Ende der 1920er Jahre gegen jede schrittweise Politik. Nachdem er die internationalistische Linke 1928 attackiert hatte, ging er gegen die Führer der «rechten Abweichung» vor und erklärte, mit Sozialdemokraten sei in Europa keine Zusammenarbeit möglich, eine Politik, die vor allem für die deutsche Demokratie katastrophale Folgen hatte. Als Nebenfolge oder auch aus doktrinärer Überzeugung kündigte Stalin überdies die ökonomischen Kompromisse der frühen 1920er Jahre wieder auf und verfolgte auf dem Land eine Politik der Kollektivierung. Bauernwirtschaften wurden zu Kollektiven zusammengelegt, welche die Kontrolle über Traktoren und Arbeitsgerät behielten. Mehr als ein Jahr lang peitschten die Kommunisten eine verheerende Revolution auf dem Land durch, ehe sie einen Gang zurückschalten mussten. Insbesondere in der Ukraine gab es heftigen Widerstand, und Stalin verhängte schließlich 1931/32 eine Blockade über die Provinz, um den Widerstand der Bewohner mittels massenhafter Hungersnot zu brechen.[173] Im gleichen Zeitraum legte er den ersten Fünfjahresplan auf, der die Industrie verstaatlichte und die Privatwirtschaft beendete, während die Regierung im Donezbecken riesige Industrialisierungsprojekte startete. Arbeiter wurden zwangsverpflichtet und mussten unter grauenvollen Bedingungen Stahlfabriken und Wasserkraftwerke errichten. Die jungen Leute mussten im Rahmen der kommunistischen Jugendbewegungen beim Bau der Moskauer Metro mithelfen, und die extremste Form von Zwangsarbeit hatten politische Gefangene zu verrichten, die zum Bau des Weißmeerkanals in den eisigen Norden geschickt wurden.

Während des ersten Fünfjahresplans 1932 bis 1937 erlebte die sowjetische Industrie ein rasantes Wachstum, während diese Phase für die kapitalistischen Volkswirtschaften, die mit der Weltwirtschaftskrise zu kämpfen hatten, eine eher düstere Zeit war. Diese Entwicklung hielt auch während des zweiten Fünfjahresplans an, der von 1937 bis 1942 gelten sollte, zu einer Zeit, als die Sowjets zahlreiche Industrieanlagen aus Westrussland hinter den Ural verlegten, wo sie besser vor einem deutschen Angriff geschützt waren. Ende der 1930er Jahre stand Wirtschaftsplanung auch bei vielen nichtkommunistischen Linken im Westen hoch im Kurs. Umstritten war, ob die Qualität des sowjetischen Produktionsoutputs mit den quantitativen Indikatoren Schritt hielt; der landwirtschaftliche Sektor machte mit Sicherheit keine Fortschritte, er blieb ein hochgradig unproduktiver und vermutlich feindseliger, wenn auch stillgestellter Sektor des Landes. Der Lebensstandard war weit niedriger als in Mitteleuropa.

Überdies jedoch beschwor das Regime heftigen Aufruhr unter den eigenen Gefolgsleuten herauf – nämlich durch die Säuberung der großen KP (mit mehreren Millionen Mitgliedern), bei der Tausende von Funktionsträgern ihre Posten verloren, Zehn- oder gar Hunderttausende unter fürchterlichen Bedingungen im Lager ihr Leben fristeten und das Ganze in Schauprozessen gipfelte, in denen Stalins alte Genossen und gut die Hälfte seines Generalstabs zu entwürdigenden und absurden Geständnissen gezwungen und dann zum Tode oder zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt wurden. Und doch konnten dieses Regime und sein Diktator, die Hitlers Ansichten 1941 so falsch interpretiert hatten, ein unfassbares Maß an nationaler Loyalität – wenn schon nicht gegenüber dem Kommunismus, so zumindest gegenüber Russland – mobilisieren, mit dem das Land dem massiven deutschen Angriff widerstand und riesige Gebietsverluste verkraftete, ungeheure Opfer unter Soldaten und Zivilisten erbrachte und schließlich den deutschen Militärapparat besiegte. Ohne die sowjetischen Kriegsanstrengungen hätten die Nationalsozialisten den europäischen Kontinent mit einiger Wahrscheinlichkeit weitaus länger beherrscht, als das tatsächlich der Fall war. Die Briten und die USA hätten nach 1945 vermutlich Atombomben gegen Deutschland einsetzen müssen, wollten sie nicht für Jahrzehnte ausländische Gegenspieler bleiben, und die Demokratie wäre wohl noch stärker in Bedrängnis geraten. Die Menschen in Osteuropa mussten über Jahrzehnte, von 1945 bis in die 1980er Jahre, ihren eigenen hohen Preis für diesen Sieg zahlen, doch Ende der 1930er Jahre gab es keine wirklich brauchbaren Alternativen.

Die Schätzungen der sowjetischen Opfer schwanken – sie reichen von den offiziell verzeichneten 700.000, die exekutiert oder in Arbeitslager deportiert wurden, wo jedes Jahr etwa ein Drittel der Häftlinge starb, bis zu mehreren Millionen, die zugrunde gingen, als ganze Bevölkerungsgruppen in den Hunger getrieben oder zwangsweise umgesiedelt wurden. Erst der katastrophale deutsche Überfall und der Krieg mit seinen noch einmal mehr als 20 Millionen Opfern haben den Krieg, den Stalin im Innern führte, abflauen lassen. Die Historiker sind sich uneins, ob er mit seinem Vorgehen auf besonders enthusiastische Parteigenossen reagierte, die eine große Umwälzung in welcher Form auch immer wollten, oder ob er die Säuberungen ganz bewusst arrangiert hat. Aber das spielt vielleicht auch gar keine Rolle. Wie Boris Pasternak am Schluss seines Romans Doktor Schiwago schildert, hofften einige nach dem Krieg auf ein normaleres Leben inmitten all der Zerstörung, die beseitigt werden musste, und einige Jahre sah es auch so aus, als sei der schlimmste Terror überstanden. Doch 1947 und 1948 kam der gleiche Mechanismus von Denunzierung und Schauprozess auch in denjenigen Ländern Osteuropas zur Anwendung, in denen die Russen kommunistische Regime installiert hatten. Als Marschall Tito in Jugoslawien – mit Sicherheit ein ebenso «reinrassiger» Marxist-Leninist wie die sowjetischen Führer – beschloss, die «Disziplin» der Kominform nicht zu akzeptieren, also sich nicht dem neuen internationalen «Informationsbüro» der kommunistischen Parteien anzuschließen, das die Sowjetunion 1947 als Ersatz für die während des Krieges aufgelöste Kommunistische Internationale einrichtete, wurde er von den Sowjets als Verräter beschimpft. Der Titoismus galt als genauso schlimm wie der Trotzkismus, als Abweichung im Verbund mit dem amerikanischen Kapitalismus, so wie Trotzki angeblich mit dem deutschen Faschismus gemeinsame Sache gemacht hatte. 1952 schien sich Stalins noch immer bestehender Antisemitismus zu einer Säuberungsaktion gegen die drei Millionen Juden in der Sowjetunion auszuwachsen, die den Mordkommandos der Nationalsozialisten entkommen waren; er plante offenbar, sie alle in ein jüdisches «homeland» in der Sowjetunion zu deportieren. Seine jüdischen Ärzte, so wurde kolportiert, hätten sich verschworen, um ihn zu vergiften.

Allein der Tod des Diktators, der angeblich natürliche Ursachen hatte, verhinderte diese drohende Säuberung und mögliche Zwangsumsiedlung. Seine Nachfolger – die vor den jeweils anderen Angst hatten, sich aber doch zusammentaten, um den Leiter des Geheimdienstes zu liquidieren, den sie alle am meisten fürchteten – machten den schlimmsten Exzessen ein Ende, nicht aber dem Parteistaat. Erst Nikita Chruschtschow wagte es 1956 in seiner «Geheimrede» auf dem XX. Parteitag der KPdSU, dem großen Führer paranoide Wahnvorstellungen und einige bedauerliche politische Entscheidungen zu attestieren. Chruschtschow, der selbst wie auch seine überlebenden Genossen an der rücksichtslosen Politik der 1930er Jahre beteiligt gewesen war, hatte zumindest teilweise die Absicht, die Partei, die weiterregieren sollte, zu exkulpieren. Es war jedoch das erste echte Beben in einer ganzen Reihe von Erschütterungen, die im Verlauf der nächsten 35 Jahre allmählich offenbaren sollten, wie brüchig das Regime geworden war.

Politische Pathologie

Als westliche Politikbeobachter und Kommentatoren sich mit dem menschlichen Trümmerhaufen konfrontiert sahen, den das deutsche und das sowjetische Regime angerichtet hatten, versuchten sie, diesen Orgien bürgerlicher Zerstörung zumindest intellektuell einen Sinn zu geben. Marxistische Theoretiker und Historiker waren bestrebt, eine klare Unterscheidung zu treffen: Die Regime in Deutschland und Italien seien terroristisch und brutal gewesen und sie hätten die kapitalistische Ordnung im Wesentlichen unangetastet gelassen, während die Russen den Sozialismus verwirklicht hätten, und wenn es dabei zu Exzessen gekommen sei, so sei das allein der Tatsache geschuldet, dass sie die Macht in einem rückständigen Land übernommen hätten. Glaubt man den «Vulgärtheorien», wie sie von der Dritten Internationale (also von den Marxisten, die sich um das Sowjetregime geschart hatten) verbreitet wurden, so war der Faschismus schlicht und einfach die brutalste Strategie des «Monopolkapitals», um an der Macht zu bleiben. Marxistische Dissidenten behaupteten deutlich subtiler, die Faschisten seien politisch autonom: Sie seien als «bonapartistische» Regime entstanden, als die verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie durch Rivalitäten gelähmt gewesen seien.[174] Gleichwohl galten Faschisten und Nationalsozialisten als «falsche» Revolutionäre, weil sie die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft unverändert beibehalten hätten. Später kamen Untersuchungen zur faschistischen Ökonomie im Krieg zu dem Schluss, in Wirklichkeit habe das Regime die Investitionsmöglichkeiten der Unternehmer kontrolliert und damit deren Entscheidungsfreiheit so sehr eingeschränkt, dass man eher von schwerwiegenden Eingriffen in den Kapitalismus sprechen müsse. In den 1930er und 1940er Jahren versuchten marxistische Kritiker wie Franz Neumann und Herbert Marcuse nachzuweisen, dass es sich beim «Dritten Reich» in Wirklichkeit gar nicht um einen Staat handle – es sei nichts weiter als Ausdruck der stärksten nackten Interessen innerhalb Deutschlands, ob nun Industrie, Parteibosse oder Militär, und möglicherweise bilde sich ein Machtgleichgewicht heraus. Diese Analyse kam nicht nur von Marxisten. Eine Zeitlang waren Franklin D. Roosevelt und der New Deal der gleichen Ansicht: Ende der 1930er Jahre behauptete die US-Regierung, der Faschismus laufe auf uneingeschränkte private Monopolmacht hinaus.[175] Richtig war, dass die Faschisten die Industrien nur selten verstaatlichen wollten, es sei denn, man musste ihnen aus der Klemme helfen oder eine neue Produktion aufbauen. Die nationalsozialistische Führung pries Industriekapitalismus, Ingenieurkunst und Innovation, während sie sich über das Finanzwesen abfällig äußerte, es galt ihr als ausbeuterisch und häufig von jüdischen Interessen dominiert. Doch das NS-Regime war nicht einfach nur eine Marionette in den Händen von Monopolkapitalisten. Es regierte ohne Zweifel einen Staat.

Gleichfalls widerspricht es der gängigen Sichtweise, wenn man darauf beharrt, dass ein deutsches Regime, das sogleich Parteien verbot, diktatorische Macht erlangte, der jüdischen Bevölkerung rechtliche Einschränkungen auferlegte, wie man es seit vornapoleonischen Zeiten nicht mehr erlebt hatte, und seine Gegner ohne Gerichtsverfahren in brutalen Einrichtungen internierte oder sie nach einem Prozess hinrichtete, keineswegs revolutionär war. Jenseits der staatlichen Stellen, die Tausende von Konzentrationslagern und KZ-Außenlagern errichteten, glaubten viele Deutsche tatsächlich, sie hätten nun wieder eine glückliche Gesellschaft mitsamt Vollbeschäftigung, das wärmende Gefühl einer funktionierenden «Volksgemeinschaft», in der man an Weihnachten für die Bedürftigen spendete («Winterhilfe») oder sich gelegentlich in allen Haushalten auf ein einfaches Mahl beschränkte («Eintopfsonntag»), in der es als Zeichen der Solidarität zwischen den Klassen Kreuzfahrten und andere gut organisierte Freizeitaktivitäten für die arbeitende Bevölkerung gab («Kraft durch Freude», in Italien hieß das «dopolavoro»).

Eine der gravierendsten Leistungen der Partei bestand darin, dass Deutsche über die Brutalität des Regimes hinwegsahen, über die Demütigung und dann das Verschwinden der Oppositionsparteien und der Juden. Deutschland erwachte und schüttelte das angebliche «Joch von Versailles» ab; die willigen oder allenfalls vorsichtig grummelnden Bürger mussten die eine oder andere gesetzliche Einschränkung hinnehmen, aber gab es nicht auch in den USA eine Rassentrennung, die bestimmte Orte wie Parks oder Freizeiteinrichtungen allein den Weißen vorbehielt? Die «Reichskristallnacht» – das organisierte In-Brandsetzen und Zerstören von Synagogen überall in Deutschland am 9. November 1938 – sorgte für Aufsehen unter der Bevölkerung; in den großen und kleinen Städten ihres zivilisierten Landes kam es deutlich sichtbar zu offener Brandstiftung, Gewalt und Mord. Doch zu dieser Zeit war der Antisemitismus schon zu einem Grundpfeiler der nationalen Ideologie geworden: Der Jude war der Feind der Deutschen, und jeder isolierte Dissens von dieser Politik konnte gefährlich werden. Selbst kirchliche Würdenträger hielten, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, still. Das Regime arbeitete weiter eifrig daran, so viele deutsche Juden wie möglich zu demütigen, auszurauben und zur Emigration zu zwingen, die Verbliebenen und die Juden in all den Ländern, in die man einmarschierte, dann zu verhaften und in die im besetzten Polen errichteten Vernichtungslager zu deportieren und zu ermorden, nachdem man zuvor oft noch ihre Arbeitskraft ausgebeutet hatte. Hatten die deutschen Politstrategen eine Zeitlang lediglich daran gedacht, die Juden aus Westpolen in Ghettos zu pferchen, wo sie unter einer schlechten Versorgungslage zu leiden hätten und die Natur ihren Lauf nehmen würde, so beschlossen sie mit den Eroberungen von 1941, aktiver vorzugehen, zuerst durch Massenerschießungen und dann durch Vernichtungslager.

Die Perversion des Leviathan: Numerierte Säcke mit den Haaren weiblicher Gefangener, die nach Deutschland transportiert werden sollten und von sowjetischen Soldaten bei der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 entdeckt wurden. Den Häftlingen wurden die Haare abrasiert: mitunter bei der Ankunft im Lager, mitunter, wie in Treblinka, vor der Vergasung, mitunter erst, wenn sie schon tot waren. Verwendet wurden die Haare zur Herstellung von Kleidung und Seilen, als Füllmaterial für Matratzen, als Isolierung für Schuhe und anderes.

Für viele Intellektuelle schien das etwas ganz anderes zu sein als die sowjetische Erfahrung. Zwar herrschte in Russland und Polen ohne Zweifel noch immer ein gewisser Antisemitismus, doch die Russen verurteilten ihn als bürgerlich-nationalistische Ideologie. Immerhin gab es alte jüdische Kommunisten, und viele der Kommunistenführer in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, die in Moskau oder anderswo Zuflucht fanden, wurden von ihren Landsleuten, die ihre Rolle bei der Verankerung des Kommunismus 1946/47 hassten, als Juden identifiziert. Der Nationalsozialismus war geradezu besessen von dieser beinahe atavistischen Ideologie, die tatsächlich lange Zeit ein zentraler Aspekt rechtsgerichteter Kräfte überall in Mittel- und Osteuropa gewesen war, die gegen Kapitalismus, Sozialismus und Liberalismus waren. Der Kommunismus war als Ideologie ebenfalls «internationalistisch»: Er strebte nach proletarischen oder marxistischen Revolutionen überall auf der Welt, sobald die Verhältnisse reif dafür waren, doch Krieg aus nationalistischen Gründen lehnte er ab. Der Nationalsozialismus – und vielleicht auch der italienische Faschismus – war so eng mit der Verherrlichung kriegerischer Tugenden verbunden, dass ihm der Krieg als Erfüllung erschien, während es eine entsprechende sowjetische Eschatologie nicht gab. (Was Stalin freilich nicht daran hinderte, eine beeindruckende Luftwaffe und ein beachtliches Panzerkorps aufzubauen.)

Aber ging es wirklich um Ideologie? Vielleicht lässt sich das Verhalten linker Intellektueller damit entschuldigen, dass sie nicht begriffen, dass der Hunger in der Ukraine mit seinen Millionen von Opfern verursacht war durch Moskaus Entscheidung, die Nahrungsmittelimporte zu stoppen.[176] Politische Denker würden sicherlich besonderes Augenmerk auf die dogmatischen Unterschiede zwischen den Ideologien legen, so wie einst Kirchenführer in Auseinandersetzungen um die reale Anwesenheit Jesu in der Eucharistie oder um die Frage, ob Gottvater und Gottessohn wesensgleich oder wesensähnlich seien, überall sofort Häresie witterten. Doch im Lauf der stalinistischen Jahre und dann mit Beginn des Kalten Krieges wurde immer deutlicher: Die praktischen Gemeinsamkeiten der Regime einten sie ebenso signifikant, wie die ideologische Feindschaft sie trennte. Faschismus wie Kommunismus beruhten auf dem Anspruch einer einzigen Partei, die Macht zu ergreifen und sie auszuüben (im nachrevolutionären Russland war das möglicherweise noch umfassender der Fall als in Deutschland und Italien, wo bürokratische Institutionen relativ immun blieben). Ihre Anhänger neigten in beiden Fällen dazu, den einen Führer zu verehren, seinen Verkündigungen Gesetzesrang zuzugestehen und sogar zu antizipieren, welche weiteren «Gleichschaltungsmaßnahmen» er wünschen könnte, noch bevor er sich explizit dazu geäußert hatte.[177]

Natürlich waren nicht nur totalitäre Staaten intolerant gegenüber Opposition jeglicher Art und folgten der Vorstellung, diese müsse durch Zensur und Bestrafung unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden. Es gab und sollte auch weiterhin jede Menge ganz gewöhnlicher Tyranneien und noch brutalerer Despotien geben. Idi Amin stand in den 1970er Jahren in Uganda an der Spitze eines mörderischen Regimes; Mohammad Reza Schah Pahlavi regierte mit Hilfe einer diensteifrigen Geheimpolizei; das argentinische Militär sollte Tausende von Studenten und von potentiellen Oppositionellen ermorden. Das Besondere am totalitären Staat war, dass er vermeintlich auf ein kollektives Instrument der Veränderung setzte. Der Parteistaat verfolgte angeblich großangelegte Projekte, ob nun die physische Infrastruktur der Umerziehung oder die Umgestaltung der Nation als ethnische Einheit (wie in Deutschland), als Erbe eines Imperiums (wie in Italien) oder als Heimstatt eines historisch unausweichlichen Veränderungsprozesses (wie in der Sowjetunion). Der Staat machte nicht einfach nur die Macht, diese Projekte umzusetzen, gegenüber individuellen Rechten geltend (die er in Wirklichkeit zu schützen behauptete), sondern tat das, indem er die Geheimpolizei zu einem Kernelement der Herrschaft machte. Die Russen gründeten schon zu Beginn der Revolution die Tscheka als Schwert und Schild der Revolution. Sie verwandelte sich in immer weiter ausgreifende Geheimdienst- und Polizeibehörden, die fortwährend neu in Kommissariate und Ministerien organisiert wurden: Aus der OGPU wurde in den 1930er Jahren der NKWD, der sich dann in den 1950er Jahren in MWD und KGB aufspaltete. Diese riesigen Unternehmen betrieben den großen «Archipel Gulag» in Russland oder die Vielzahl an Konzentrationslagern in Deutschland, die unterschiedlich streng mit den Gefangenen verfuhren und noch vor den Arbeits- und Vernichtungslagern im besetzten Polen errichtet wurden.

Es gab dabei jedoch einen bedeutsamen Unterschied: Der deutsche Staat definierte offen, wen er als Feind betrachtete: diejenigen, die sich kritisch äußerten, diejenigen, die mit Worten oder auf Flugblättern ihren Widerstand kundtaten, und schließlich alle, die Juden waren. Der «gewöhnliche» Bürger, der seine Meinung für sich behielt, war bis zum Ausbruch des Krieges relativ sicher. In der Sowjetunion hingegen erfolgten Verhaftungen oft scheinbar willkürlich und nach dem Zufallsprinzip. So wie später dann im China Maos oder in Kambodscha unter Pol Pot erfand der Staat Schuldkategorien: Wohlstand als Bauer, familiäre Herkunft und Beziehungen, politische Zurückhaltung, sodass die Zuschauer, die den Verdachtskategorien entgingen, zu Ritualen der Denunziation, der Komplizenschaft und der Identifikation mit dem Regime animiert wurden. Bei der Betrachtung dieser Alptraumlandschaften des Terrors, dieses «univers concentrationnaire», wie es ein französischer Autor kurz nach dem Krieg genannt hat, muss der Historiker des Staates sich unweigerlich fragen: War dies der perverse Kulminationspunkt eines jahrhundertelangen Pochens auf staatliche Souveränität, oder statt dessen die dunkle Kloake «privater» Brutalität, in die Ideen öffentlicher Vernunft, bis dahin ein unterstelltes Element moderner Staatlichkeit, niemals vorgedrungen sind – oder vielleicht die Koexistenz von Gesetz und totaler Willkür, die der deutsche Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel mit einem treffenden Begriff als «Doppelstaat» bezeichnet hat?[178]

Im Westen fand das öffentliche Bewusstsein dafür, was Diktatur im 20. Jahrhundert bedeutete, seinen Höhepunkt im Kalten Krieg vor Stalins Tod. In den 1950er Jahren wirkten Beobachter, welche die Ähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus hervorhoben, überzeugender als diejenigen, welche die «Idee» des Sowjetsozialismus retten wollten und zu diesem Zweck die theoretischen Unterschiede betonten. Die Verteidiger beharrten darauf, der Staatssozialismus (ich verwende lieber diesen Begriff, als bloß vom Sozialismus zu sprechen) werde sich letztlich wandeln und die liberalen Staaten, die als Kolonialmächte fungierten, müssten die Verantwortung für die gleichermaßen schweren Sünden des Kolonialismus und Rassismus übernehmen. Zur Not brachten sie überdies vor, einzig die Sowjetunion habe die Niederlage von Hitler-Deutschland möglich gemacht. Wer mit Opferzahlen und nicht mit Ideen argumentierte, behauptete, tatsächlich habe das 20. Jahrhundert ein neues Paradigma von Politik und Staat geschaffen – das Paradigma des totalitären Parteistaates mit fürchterlichen Ambitionen und der Bereitschaft, für die eigene Sache Millionen von Individuen zu opfern.

Einige Beobachter taten sich dadurch hervor, dass sie die subjektive Erfahrung des überzeugten Kommunisten schilderten – die sich angloamerikanischen oder kontinentaleuropäischen Lesern leichter vermitteln ließ, weil so viele Prämissen dieser Ideologie einem gemeinsamen Aufklärungsliberalismus zu entspringen schienen. Von den Autoren, welche die institutionelle Erfahrung zu analysieren versuchten, ist Hannah Arendt bis heute am überzeugendsten und originellsten. Jenseits all der spezifischen Vergleiche oder der unterstellten Ursprünge, über die sich streiten lässt, begriff Arendt, welch zentrale Bedeutung die imperialistische Erfahrung für die Ideologien der Entmenschlichung hatte und wie wichtig der Antisemitismus für die mitteleuropäischen Doktrinen war. Sie arbeitete heraus, welche Rolle Partei und Terror spielten, und versuchte die totalitäre Gesellschaft als eine der isolierten Atomisierung zu analysieren, welche die Solidaritäten außerhalb des Staates zerstörte. Sie attestierte den Regimen vermutlich zu viel Effizienz, wenn es darum ging, Männer und Frauen auf isolierte Wesen zu reduzieren – es gab nach wie vor soziale Netzwerke, die all diese Regime in Frage stellten, denn Letztere erschütterten und zerstörten das Gemeinschaftsleben weniger, als dass sie es durchsetzten und unterwanderten.[179]

Das Totalitarismus-Etikett hat zu einer ganzen Reihe von Kontroversen geführt, die zum Teil bis heute andauern. Waren die Staaten wirklich so «total»? Immerhin gelang es ihnen nicht, das Wesen der Menschen zu verändern. Als die Jahrzehnte härtester Repression vorbei waren, sehnten sich die Russen noch immer nach der Kirche, und den Chinesen war die Familie nach wie vor heilig. Ein Nicht-Jude konnte sich in Hitler-Deutschland seine Ironie und sein Misstrauen bewahren, solange er nicht darauf beharrte, beides öffentlich zu bekunden. Waren die Menschen von den harschen Praktiken der Diktatur befreit, schienen sie ängstlich darauf bedacht zu sein, die Erfahrungen abzustreifen; die Zahl der Neonazis, der erklärten Faschisten und derjenigen, die Russland oder China wieder in einen Zustand ungehinderter Gewalt zurückbefördern wollten, war gering. Und doch manifestierte sich im Begriff des Totalitarismus – so schwierig und problematisch er auch war, ganz besonders im Hinblick auf die erschöpften spätsozialistischen Regime der 1970er und 1980er Jahre – der Versuch, eine grundlegende staatliche Erfahrung begreifbar zu machen, nämlich die des Hyperstaates oder, um Carl Schmitts Dezisionismus zu bemühen, des Staates im Ausnahmezustand. Der totalitäre Staat – der mit dem kriegführenden und dem revolutionären Staat verwandt ist, die beide üblicherweise als zeitlich begrenzte Phänomene galten – war die extremste Erscheinungsform einer Instrumentalität, die in den 1860er und 1870er Jahren neu mobilisiert worden war, um mittels neuer Kommunikationsformen geschlossene nationale Gemeinschaften oder Überseeimperien zu schaffen. Er stand für den Wunsch, über eine mächtige Veränderungsagenda zu verfügen – also mit Hilfe von Regierungsmacht positive Projekte in Angriff zu nehmen und das Gemeinwesen nicht einfach nur still zu verwalten. Er entsprang jedoch auch der weit verbreiteten Überzeugung, in einer Welt voller Feinde, die einen entmutigen, wenn nicht gar töten wollten, bedürfe es der Mobilisierung von Regierung und sozialem Wandel. Erneut war Politik Krieg, ja, sie hatte gar keine andere Wahl, als Krieg zu sein.

Die Weltkriege – und dann die langen Kämpfe in der kolonialen Welt, bei denen es darum ging, entweder die Kolonien zu behalten oder die Kolonialmächte abzuschütteln – ließen diese Projekte der Machtvergrößerung noch plausibler erscheinen. Denn in Kriegszeiten nehmen Staaten zahlreiche Merkmale an, die man in Friedenszeiten als an der Schwelle zur Tyrannei betrachten würde: die Abkommandierung junger Menschen zu gefährlicher Arbeit, Restriktionen für Unternehmer, damit sie produzierten, was für den nationalen Kampf nötig war, das Befeuern öffentlicher und patriotischer Loyalitätsbekundungen, die Verfolgung all jener, die von dieser Politik abwichen, und selbst in liberalen Gesellschaften der erneute Rückgriff auf das Mittel massenhafter Inhaftierung. Kriegsstaaten wurden aufgelöst, wenn die Rechtfertigungen dafür nicht mehr gegeben waren – aber sie waren Teil des 20. Jahrhunderts, denn sie machten auch Liberale und Demokraten glauben, Staaten könnten legitimerweise eine besondere Entscheidungsmacht für sich beanspruchen. All das hatte sich in früheren Situationen bereits angekündigt: in den Kriegen der französischen Revolutionäre gegen die Monarchen zwischen 1792 und 1802; im totalen Krieg in Paraguay 1864–1870; im berserkerhaften Königreich der Taiping; in den türkischen Massakern an Griechen und Armeniern. Das Repertoire für den Militäreinsatz war vorhanden, insofern überrascht es nicht, dass man darauf zurückgreifen konnte, wenn die Kriege abflauten oder wieder vorbei waren. Waren die Staaten im Ausnahmezustand also nichts weiter als Kriegsstaaten auf dauerhafter Basis? War ihr Umgang mit Widerstand, der als rassisch andersartig, als Kolonie innerhalb der eigenen Grenzen behandelt wurde, um keinen Deut anders als die Art und Weise, wie sie die Kolonialsubjekte behandelten?

Tatsächlich waren sie absoluter. Massaker und Völkermord in den Kolonien folgten auf das, was in den Augen lokaler Siedler und Soldaten Widerstand war. Sie waren das Bemühen, ein unterjochtes Volk mittels Terror zu regieren. Einige der Arbeitspraktiken in den Kolonien beruhten auf der Bereitschaft, unmenschliche Disziplin aufzuzwingen; das hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, wie das nationalsozialistische Deutschland mit den zwangsrekrutierten oder aus anderen Ländern verschleppten «Sklavenarbeitern» verfuhr. Doch die Hyper-Regime zu Hause gründeten auf der Vorstellung, diese Form der Herrschaft, der absoluten Hegemonie, der Aufhebung liberaler Regeln, der Glorifizierung von Dezision und Entwertung jeglicher Diskussion entspreche der Art und Weise, wie Männer und Frauen ihr gesamtes Leben zubringen sollten. Sie weiteten die Vorstellung von einem unterschiedlichen «Menschsein», das Rasse und Krieg im Zuge der Konfrontation mit anderen zu etwas «Naturgegebenem» machten, auf die eigene Nation aus. Sie führten vor Augen, dass die Praktiken, die sich aus «natürlichen» Situationen ergaben – aus der Konfrontation mit farbigen Menschen, aus der Konfrontation mit Invasoren –, nicht nur in Rassenunterschieden oder dem Exzeptionalismus des kriegsbedingten Antagonismus gründeten, sondern in einem schlummernden Projekt der inneren Reinigung.[180] Mit diesen Projekten erreichte die Geschichte einen Anspruch des Staates, der exzeptionell war. Oder um die titelgebende Metaphorik noch einmal aufzugreifen: Das war nicht mehr der Leviathan 2.0, sondern ein Leviathan irgendwo zwischen 2.1 und 2.9. Abschließend werde ich kurz skizzieren, wie der Leviathan 3.0 aussehen könnte. Doch zunächst sei kurz daran erinnert, dass nicht jeder Staat des 20. Jahrhunderts ein Staat im Ausnahmezustand war.

Tatsächlich machte ausgerechnet der Zweite Weltkrieg deutlich, dass die Staaten des Ausnahmezustands rückblickend als exzeptionelle Staaten erscheinen können. Die kommunistische Herrschaft sollte durch die sowjetischen Truppen vorangetrieben werden; die Auseinandersetzungen in den Kolonien sollten sich verstärken, doch der Krieg führte auch Möglichkeiten demokratischer Erneuerung vor Augen. Franklin D. Roosevelt verkündete Kriegsziele, wie sie in den «vier Freiheiten» und der nach dem Treffen mit Winston Churchill im August 1941 proklamierten Atlantik-Charta formuliert waren, die auf die Wiederherstellung der Demokratie, Menschenrechte und sogar ein Mindestmaß an materiellem Wohlergehen ausgerichtet waren. Die Widerstandskämpfer in den besetzten Ländern veröffentlichten Chartas, in denen ähnlich lautende Bestrebungen nach politischer und ökonomischer Demokratie zu lesen waren. Sie forderten zudem eine Erneuerung ihrer Nationen als Emanzipationsgemeinschaften, und zwar in einer Sprache, wie sie seit den Zeiten Mazzinis nicht mehr zu vernehmen gewesen war. Zwei der wichtigsten europäischen Führungspersönlichkeiten, die ohne Krieg lediglich wie archaische Nationalisten gewirkt hätten, sorgten für genau die Inspiration, die man brauchte, um sich gegen Deutschland zu erheben: Churchill als britischer Premierminister von 1940 bis 1945 und Charles de Gaulle, der als Anführer des Widerstands bis zur Befreiung Frankreichs im britischen Exil lebte. Ihre Sturheit sorgte dafür, dass sie einander nicht wirklich leiden konnten, doch gemeinsam vermittelten sie (wie christdemokratische Konservative auf dem Kontinent wie Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi) das Gefühl, dass nach dem Krieg ein respektabler Konservatismus wiedererstehen könnte. Weder Churchill noch de Gaulle waren willens und bereit, ihr jeweiliges Imperium aufzugeben; gleichwohl waren auch ihre antikolonialen Gegner der Ansicht, sie seien reif für demokratische nationale Unabhängigkeit. Zweifellos versuchten prosowjetische Kommunistenführer, den Widerstandskampf für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. (Wie das auch die autoritären Monarchisten taten, allerdings mit weniger Erfolg.) Die «Volksdemokratie» wurde zum Schlagwort Moskaus für willfährige Nachkriegsregime. Gleichwohl lockten neue Möglichkeiten der politischen Zusammenarbeit und des politischen Diskurses, die in Westeuropa (darunter auch in Westdeutschland und in Italien) sowie in Japan binnen weniger Jahre, in Osteuropa aber erst nach einem halben Jahrhundert verwirklicht waren.

Ein Blick voraus: Vom Staat des
Ausnahmezustands zum renormalisierten Staat

Der faschistische Parteistaat endete mit dem Krieg, den er ohne Erfolg vom Zaun gebrochen hatte. In Spanien und Portugal blieb der autoritär-militaristische Ableger weiter an der Macht, und er sollte sich in späteren Jahrzehnten in Lateinamerika, in Teilen Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens sowie für kurze Zeit in Griechenland behaupten. Der kommunistische Parteistaat in Russland und Osteuropa sollte an Härte verlieren, aber weiter bis in die 1980er Jahre nach uneingeschränkter Kontrolle streben. In den 1960er Jahren freilich war das vorherrschende Regime in Europa, Nordamerika und Japan der Wohlfahrts- oder Sozialstaat. Er unterschied sich nicht grundlegend von der Ausweitung des europäischen liberalen oder auch konservativen Regimes des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, verfügte jedoch über ein umfassenderes System der sozialen Sicherung und war oftmals Eigentümer der wichtigsten Infrastrukturunternehmen. Seine Vorläufer lassen sich bis zu kirchlichen und städtischen Einrichtungen für Waisenkinder und alte Menschen zurückverfolgen. Im 19. Jahrhundert kamen dann Maßnahmen zur Sicherheit am Arbeitsplatz hinzu sowie Gesetze, welche die schlimmsten Missstände der frühen Fabrikarbeit beheben und ein Mindestalter dafür festsetzen sollten. Das Anwachsen der Industriestädte ließ das Elend deutlicher sichtbar werden, als dies in ländlichen Haushalten der Fall gewesen war. Es ließ zudem sozialistische Vorschläge für eine kollektive Versicherung plausibler (und für Europas Konservative bedrohlicher) erscheinen, was oftmals neue sozialstaatliche Reaktionen provozierte. Bismarck kommt das Verdienst zu, gesetzliche Regelungen zur staatlichen Alters- und Invaliditätsversicherung eingeführt zu haben. Beamte entwickelten Systeme der Eigenversicherung. Einige Staaten wie etwa Preußen übernahmen eine aktivere Rolle; andere überließen die Unterstützung den Familien, den Kirchen und verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen. Der Amerikanische Bürgerkrieg und der Erste Weltkrieg hinterließen so viele invalide Veteranen und Witwen, dass nationale Reaktionen auf deren soziale Bedürfnisse zwingend geboten waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die reformistische Linke in Europa versucht, diesen Projekten ihren Stempel aufzudrücken, ob im Programm der britischen Liberalen zwischen 1906 und 1914, in der Politik der sozialdemokratischen Koalitionen im Schweden der 1930er Jahre oder in den Maßnahmen auf nationaler – also landesweiter und nicht bundesstaatlicher – Ebene, die ein Kernstück des amerikanischen New Deal waren.

Ausgehend von diesem Stückwerk war es ein Leichtes, sich Staaten vorzustellen, die in umfassendem Maße Mindeststandards in Sachen Einkommen und Versicherungsschutz gegen die sozialen Risiken von Arbeitslosigkeit, Alter und (zumindest außerhalb der USA) Krankheit garantierten. Von dieser Agenda war der Bericht geprägt, den der Sozialreformer William Beveridge während des Zweiten Weltkriegs vorlegte und der ein Konzept der Unterstützung «von der Wiege bis zur Bahre» entwarf, welches die Armut überwinden und den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sicherstellen sollte. Aus diesen Erfahrungen sollte dann der Sozialstaat entstehen: die allgemein anerkannte Mischung aus Privateigentum in der Wirtschaft und sozialen Garantien, welche die Politik bestimmte, nachdem der Frieden 1945 nach Europa zurückgekehrt war.

Im Laufe seiner Entwicklung konvergierte der Sozialstaat tendenziell mit anderen Gegenmitteln gegen die wirtschaftliche Not und vielleicht auch die wirtschaftliche Ungleichheit, die mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre akut geworden waren. Er sollte Sozialvereinbarungen zwischen den Gewerkschaften und den Vertretern der Industrie überwachen – diese Initiative hatte während des Ersten Weltkriegs Gestalt angenommen, war durch die faschistischen Regierungen und die Besatzungsregime im Zweiten Weltkrieg verbindlich geworden und entwickelte sich nun zu einer ganz normalen politischen Aktivität. Ideen nationaler Wirtschaftsplanung waren in den 1930er Jahren bei der Linken populär geworden und hatten sich während des Krieges im Bereich der Industrie zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt, bei den Briten oder Amerikanern nicht anders als bei den Deutschen. Nach dem Krieg richtete Frankreich das «Commissariat au plan» ein, ein Planungsamt, an dessen Spitze Jean Monnet stand. Es war nicht im Besitz der betreffenden Firmen, sondern entwickelte Modernisierungsprogramme für die Wirtschaft, die vor allem auf strategische Kapitalanreize setzten. Der Staat, so forderte die demokratische und sozialdemokratische Linke in Westeuropa, solle die Schlüsselindustrien selbst betreiben: mit Sicherheit die Notenbanken, wahrscheinlich auch die Eisenbahnen (die französische Volksfront hatte das Eisenbahnnetz des Landes verstaatlicht) und vielleicht den Bergbau. In Punkt IV ihres Parteiprogramms von 1918 hatte die britische Labour Party gefordert, der Staat müsse die «Kommandohöhen der Wirtschaft» besetzen; als sie dann 1945 an die Macht kam, verstaatlichte sie die Stahlindustrie, das Eisenbahnsystem, das Transportwesen sowie die Kohlegruben und richtete 1948 einen National Health Service ein.

All diese Maßnahmen verbanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg am ehesten mit der demokratischen und sozialdemokratischen Linken. Gewerkschaften und linke Parteien hatten durch den moralischen und kämpferischen Beitrag, den sie zum Sieg über den Faschismus geleistet hatten, ein entscheidendes Mitspracherecht in politischen Dingen erlangt. Konservative Widersacher waren aufgrund ihrer Rolle in kollaborierenden Regimen oftmals an den Rand gedrängt. Doch auch Konservative betrieben oder erbten nicht selten eine ganz ähnliche Politik und verfolgten eine paternalistische Ideologie des sozialen Schutzes. Die führende französische Sozialstaatsinitiative in Sachen Unterstützung für Familien war aus Konzepten der katholischen Kirche und der Arbeitgeber für regionale oder berufsspezifische «caisses» hervorgegangen. Die deutschen Christdemokraten vertraten ordoliberale Konzepte, die vorsahen, wettbewerbsorientierte Industrien und Branchen in eine allgemeinere Sozialordnung einzubetten, welche umfassende sozialstaatliche Leistungen beinhaltete und insgesamt für eine hochgradig strukturierte und gesetzlich regulierte Ökonomie («soziale Marktwirtschaft») sorgte. Ein ganz ähnliches System entwickelte sich nach dem Krieg in Japan. In Italien erbten die Christdemokraten eine umfangreiche staatliche Holdinggesellschaft namens Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI), welche die Faschisten gegründet hatten, als sie massenhaft Anteile an italienischen Kohle-, Stahl- und Chemieunternehmen sowie an der italienischen Ölindustrie übernahmen, um diese Firmen zu retten. Es entstand eine neue Elite aus staatlichen Planern und Technokraten, die über das italienische «Wirtschaftswunder» der 1950er und 1960er Jahre wachten.[181]

Der Wohlfahrtsstaat und die mixed economies schienen eine Generation lang politischer Konsens zu sein, doch von den 1970er Jahren an wurden sie zum Ziel von Kritik und Deregulierungsmaßnahmen. Das ist freilich eine ganz andere Geschichte. Der vielleicht aussagekräftigste Einzelindikator für die Rolle des renormalisierten Staates war die so genannte Staatsquote, also der Anteil an den nationalen Ausgaben (am Volkseinkommen oder, aus Produktionssicht, am Bruttoinlandsprodukt), der von der Regierung getätigt wurde, ob für Investitionen in die Infrastruktur, Militärausgaben, Transferzahlungen oder Förderprogramme. Schätzungen zufolge gab das französische Ancien Régime Ende des 18. Jahrhunderts bis zu 25 Prozent des Volkseinkommens für die Streitkräfte, für Straßen und Kanäle, für die Aufwendungen des königlichen Hofes sowie für die Zinszahlungen an Anleihenbesitzer aus. Die Wohlfahrt überließ man weitgehend kirchlichen Einrichtungen. Im 19. Jahrhundert hingegen war Regieren in Westeuropa eine weitgehend kostengünstige Angelegenheit. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs belief sich die Staatsquote in Großbritannien und Deutschland auf rund zwölf bis 15 Prozent des BIP und verteilte sich auf Rüstung, Infrastruktur, Bildung und den nationalen Schuldendienst. Mit dem Ersten Weltkrieg stiegen die Staatsausgaben drastisch an: auf gut 40 Prozent in Frankreich (obwohl vieles durch ausländische Kredite abgedeckt war) und auf 45 bis 50 Prozent in Großbritannien und Deutschland. Diese enorme Ausweitung staatlicher Ansprüche ließ sich nur zum Teil über Steuereinnahmen abdecken; überwiegend wurde das Geld in Form von Krediten aufgenommen, ob direkt bei den Bürgern oder, häufiger noch, über die Zentralbank – was wir heute als Ausweitung der Geldmenge bezeichnen –, was zu steigenden Preisen und einem Kaufkraftverlust durch Inflation führte.

Nach dem Krieg gingen die staatlichen Ansprüche wieder zurück, sanken aber nie mehr auf ihr früheres Niveau, da viele verzögerte, langfristige Versorgungsansprüche für invalide Soldaten oder die Familien Gefallener bestehen blieben. Die Weltwirtschaftskrise erzwang die Ausweitung der Arbeitslosenunterstützung, sodass die westlichen Staaten Ende der 1930er Jahre vermutlich ein Viertel des BIP ausgaben, und als Deutschland 1936 dramatisch aufzurüsten begann, Japan vielleicht sogar noch ein wenig früher, Frankreich und Großbritannien 1938 und die USA 1940, stieg dieser Anteil weiter an. Etwa Mitte des Zweiten Weltkriegs gaben die USA vermutlich 45 Prozent aus, Russland und Deutschland sogar über 50 Prozent, und davon floss der größte Teil in Militär- und kriegsbedingte Ausgaben. Nach Kriegsende sank der Staatsanteil wieder, auch wenn Großbritannien die Kriege in den Kolonien teuer zu stehen kamen. Die USA halfen bei der Finanzierung der französischen Kämpfe, doch Ende der 1960er und in den 1970er Jahren ließen die Ausweitung von Sozialprogrammen und Wohlfahrtsstaaten sowie eine breitere Universitätsbildung die Anteile ein drittes Mal ansteigen, auf bis zu 50 Prozent oder leicht darüber in Westdeutschland, den Niederlanden und Skandinavien. Nunmehr wurde das Geld allerdings in erster Linie für soziale Wohlfahrt und Transferzahlungen ausgegeben, während der Anteil des Militärs an den nationalen Haushalten in den meisten Ländern auf unter fünf Prozent sank. Gewisse Ausgabenkürzungen haben in den 1980er Jahren dafür gesorgt, dass sich die Staatsquote auf einem Niveau zwischen 40 und 50 Prozent eingependelt hat. Die USA mit einem kleineren staatlichen Sektor geben auf allen Regierungsebenen zusammen vermutlich ein Drittel ihres Volkseinkommens aus. Der renormalisierte Wohlfahrtsstaat bleibt somit ein aktiver Bestandteil im Leben der Bürger.

Doch der Wohlfahrtsstaat in seiner nordamerikanischen, westeuropäischen, auch im British Dominion gültigen Variante war nur einer von drei vorherrschenden Staatstypen. So bildete die «sozialistische Welt», in der fast das gesamte BIP durch staatliche Hände ging (ausgenommen waren mitunter lokaler Anbau im Garten oder Handwerkstätigkeiten), in den 1950er und 1960er Jahren ein alternatives und offenkundig noch immer lebensfähiges Modell. Der Staatssozialismus setzte weniger auf Terror, auch wenn Dissidenten nicht wirklich geduldet waren. Die Staaten wurden zusehends bürokratischer, und die wirtschaftlichen Energien, über die sie verfügten, flossen weitgehend in militärische Neuerungen. Doch die Sowjetunion benötigte einen gut doppelt so hohen staatlichen Ausgabenanteil (etwa 40 Prozent des Budgets und bis zu 20 Prozent des BIP) wie die USA, um eine gefürchtete Atommacht zu bleiben. Die Krise dieses Systems ist ebenfalls Teil einer späteren Geschichte. Die Staaten der so genannten «Dritten Welt», die nach Entwicklung strebten, verfolgten unterschiedliche Strategien. Für Indien blieb das Modell des Staatssozialismus durchaus attraktiv (auch wenn man dort die dörfliche Autonomie bewunderte, die Mahatma Gandhi so sehr gepriesen hatte). Andere Staaten bedienten sich nicht konsequent bei fremden Modellen, doch in den meisten von ihnen stellten wichtige Industriesektoren in Staatsbesitz bis in die 1970er Jahre eine attraktive Variante dar, etwa im Bereich des Erdöls im Falle Mexikos, Brasiliens sowie des Nahen und Mittleren Ostens. Japan hingegen – und zwei Jahrzehnte später auch andere ostasiatische Staaten – setzte darauf, ungeheuer viel Arbeit in technisch fortgeschrittene Konsumwaren zu stecken, vor allem Autos und später Elektronikartikel. Familiennetzwerke waren dort weiterhin wichtig als eine Art Bindegewebe zwischen den am weitesten entwickelten Allianzen von Banken und Produzenten.

Was den politischen Apparat angeht, so blieb als drittes Staatsmodell, das neben dem renormalisierten Wohlfahrtsstaat westlicher Provenienz und dem scheinbar stabilen Einparteienstaat der sozialistischen Welt gedieh, weiterhin die Militärherrschaft. Überall in Asien, Afrika und Lateinamerika kam es häufig und immer wieder zu Regierungen der Generäle. Seit der Antike waren Soldatenherrscher eine verbreitete Regierungsform, ob mit oder ohne Imperium, und gerechtfertigt wurde sie stets damit, dass ein Notstand das Eingreifen des Militärs erfordere. Wie wir gesehen haben, waren Armeen oft die logischen Gewinner eines Revolutionsprozesses, wenn die Zivilisten sich nicht einigen konnten. War die zivile Führung korrupt oder gelähmt, dann musste die Armee als bester und engagiertester Kern der Gemeinschaft eingreifen. Militärische Organisationen waren ihrem Wesen nach nicht-demokratisch, sie beruhten auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, unterstanden mitunter ziviler Kontrolle, waren jedoch oft der Ansicht, sie dienten Staat und Nation besser als die korrupten Zivilisten, die sie aus dem Amt jagten (oder einsperrten oder gelegentlich auch exekutierten). Mitunter griffen die Generäle oder Offiziere ein und gaben die Macht dann wieder an eine zivile Führung ab, doch war es einmal passiert, so stand eine erneute Intervention stets als Drohung im Raum. Die Entstehung des pakistanischen Staates durch Teilung 1947 sollte die militärischen Kasten aus dem Nordwesten des Raj versammeln und ihnen ein eigenes Gebiet verschaffen – das vom stammesgeprägten Hochland bis zu pulsierenden Städten an der Küste oder am Indus reichte –, in dem sie wiederholt intervenierten.

Eines der überzeugendsten Modelle dieser Herrschaftsform hat Atatürk mit seiner säkularen und sich modernisierenden Republik in den 1920er und 1930er Jahren geschaffen. Und obwohl die türkische Armee nach seinem Tod die Kontrolle über das Land abgab, griff sie doch in den 1960er Jahren verschiedentlich ein, wenn sie die Prinzipien seines säkularen nationalistischen Staates (und die eigene Rolle darin) gefährdet sah. In Osteuropa übernahm das Militär in den 1930er Jahren in Polen, Griechenland, Rumänien und im Baltikum die Macht. Der thailändische Monarch legte sein Schicksal 1932 in die Hände der rettenden Militärs, und die Armee des Landes mischte sich auch später häufig in Regierungsangelegenheiten ein. General Franco regierte Spanien nach seinem Staatsstreich und dem Sieg im Bürgerkrieg Ende der 1930er Jahre fast vierzig Jahre lang. Das unabhängige Ägypten geriet 1952 unter die Kontrolle des Militärs.

Das argentinische Militär schuf sich seinen eigenen Staat im Staate, man war stolz auf das riesige Territorium, hatte den Segen katholischer Bischöfe und war wütend auf den ultraeuropäischen Kosmopolitismus der Hauptstadt. General José Félix Uriburu übernahm 1930 die Macht, und die autoritären Hardliner des Militärs blieben sogar gegenüber dem eigenen begnadeten Demagogen skeptisch, nämlich Juan Perón, der wusste, wie man sich die Loyalität der breiten Masse sicherte und damit den dauerhaften Einfluss des Militärs festigte. Als Perón ihnen nicht mehr dienlich zu sein schien, intervenierten sie in den 1970er Jahren brutaler als je zuvor. Das brasilianische Militär stand dem kaum nach und übernahm Ende der 1960er Jahre die Macht, das Militär in Uruguay sollte mit Terror gegen städtische Guerillagruppen vorgehen, und in Chile vertrieb die Armee 1973 Salvador Allende von der Macht. Das indonesische Militär schritt Mitte der 1960er Jahre prophylaktisch gegen einen befürchteten kommunistischen Aufstand ein und massakrierte in den folgenden Jahrzehnten vermutlich mehrere hunderttausend angebliche Regierungsgegner. Da Washington während des Kalten Krieges seine nationalen Interessen verfolgte, tolerierten – und teilweise auch unterstützten – die USA diese autoritären Regime.

Auch in den USA blieben Generäle attraktive Kandidaten für zivile Positionen, und in der Nachkriegszeit spielten drei hochrangige Militärs des Zweiten Weltkriegs eine Schlüsselrolle: Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, fungierte in den 1950er Jahren als überaus ziviler Präsident, und General George C. Marshall, während des Krieges Chef des Generalstabs, als ausgesprochen ziviler Verteidigungs- und Außenminister. Der dritte hingegen, General Douglas MacArthur, stellte durch seine öffentlich bekundete Kritik an der Politik im Koreakrieg erstmals den Primat des Zivilen in Frage, wurde jedoch von Präsident Truman entschieden in die Schranken gewiesen und entlassen.

Ende des 20. Jahrhunderts kam es vor allem in zwei Milieus zu Militärregierungen. In den postkolonialen Staaten spielten sie vor allem in Nigeria, Indonesien und Pakistan eine Rolle und putschten sich wie gesehen an die Macht, wenn eine radikale Linke als bedrohlich erschien (Indonesien). Auch in Europa fehlten sie nicht (Spanien, Griechenland), standen dort jedoch offenbar vor dem endgültigen Aus. Militärregime ließen sich als relativ gutartige Eingriffe betrachten, wenn normale Staaten die Kontrolle verloren hatten und Gemeinwesen in Bürgerkrieg und Kreisläufe aus Vergeltung und Gegenvergeltung abrutschten, die sich nicht mehr stoppen ließen. Die «schmutzigen Kriege» der 1970er Jahre sorgten für ein Ausmaß an interner Brutalität, das es mit den formelleren faschistischen Regimen durchaus aufnehmen konnte. Und mitunter erwiesen sich Militärdiktatoren als paranoid, was dazu führte, dass selbst die ideologisch motivierte Rücksichtslosigkeit noch übertroffen wurde (wie beispielsweise im Irak, in Uganda, Libyen oder Sierra Leone).[182]

Es wäre freilich historisch falsch, mit solchen Beispielen deformierter Staatlichkeit zu enden. In den 1990er Jahren wurden Staaten empfänglicher für Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschenrechten. So wie die Globalisierung achtzig Jahre zuvor zur Revolution beigetragen hatte, setzte sie auch Maßstäbe in Sachen Fortschrittlichkeit, die sich in den 1990er Jahren nicht so einfach bestreiten ließen. Die Idee, Tyrannen vor ein internationales Gericht zu stellen, kam voran, ebenso wie das Gefühl, Staaten müssten ihre finsteren und repressiven Phasen in der Vergangenheit durch so genannte Wahrheitskommissionen aufarbeiten. Gleiches galt für die Überzeugung, modern zu sein bedeute nicht, in Massenformationen zu marschieren, sondern zu reisen, zu diskutieren, internationale Beobachter zuzulassen und neue Strukturen grenzüberschreitender Politik zu entwickeln. Und schließlich verhieß die Tatsache, dass einige Staatsführer wie etwa Nelson Mandela die wahrlich heldenhafte Bereitschaft zeigten, auf eine Versöhnung hinzuarbeiten, Hoffnung und verdiente höchste Anerkennung. Das alles zeigte jedoch auch, dass Staaten wieder im Fluss waren: Staatlichkeit schien am Ende des 20. Jahrhunderts ein beinahe universelles Phänomen zu sein, doch gleichzeitig beanspruchten Staaten auch weniger exklusive Macht für sich, da regionale Zusammenschlüsse entstanden, und Nichtregierungs-Akteure übernahmen Funktionen transnationaler Steuerung oder Governance. Gleichwohl kann es keinen Schlusspunkt für ein endgültiges Resümee geben; das lange Jahrhundert moderner Staatlichkeit fügt sich zum fortlaufenden Protokoll einer altehrwürdigen und dauerhaften Institution, die mitunter repressiv, mitunter emanzipatorisch, aber stets umkämpft und in Veränderung begriffen ist.

Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege
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