6
Zu Hause
Tausende von Jahren vergingen, bevor Jacen wieder die Augen aufschlug.
Er verbrachte diese Jahrtausende in einem endlosen klaustrophobischen Albtraum: Er träumte, dass man ihn gefangen hielt, gefesselt, fest eingehüllt, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Er konnte nicht sehen, weil seine Augen sich nicht öffnen wollten. Er konnte nicht schlucken. Er konnte nicht atmen.
Ein Jahrtausend lang war er erstickt und hilflos.
Dann spürte er an seinem Rücken einen Muskel zucken. Es dauerte ein Jahrhundert, aber er fand diesen Muskel; er stellte fest, dass er ihn dazu bringen konnte, sich zusammenzuziehen, und er konnte ihn veranlassen, sich wieder zu entspannen. Während Jahrzehnte zu einem weiteren Jahrhundert wuchsen, stellte er fest, dass er auch andere Muskeln an seinem Rücken bewegen konnte Dann war er imstande, die Oberschenkel und die Muskeln in seinem Oberarm anzuspannen − und sein Albtraum wurde zu einem Traum, eher voller Möglichkeiten als voller Gefahren.
Während des Traums erwartete er irgendwie immer wieder, dass sein Kokon reißen und er schließlich imstande sein würde, seine neuen Flügel auszubreiten und zu hören, wie seine Flügelflöten in Harmonie erklangen, wenn er in den Himmel mit den vier Monden aufstieg …
Als er schließlich die Augen öffnete und erkannte, dass das nur ein Traum gewesen war, war er ungemein erleichtert: Tatsächlich glaubte er einen Augenblick, alles sei ein Traum gewesen, die Zuchtstation, die Umarmung des Schmerzes, die Voxyn-Königin, Anakin. Duro. Belkadan. Auch Sernpidal.
Entweder war das alles ein Traum gewesen, oder er träumte immer noch, denn er hatte keine Schmerzen mehr.
Er lag auf etwas Weichem, Abgerundetem, wahnsinnig Bequemem; es fühlte sich an wie eine Beschleunigungscouch, die mit lebendem scharlachrotem Moos bezogen war, das nach Blumen und reifem Obst duftete. Insekten summten in der Nähe, waren aber hinter sich sanft bewegenden Farnwedeln verborgen, die zwei Mannshöhen aufragten; durch diese Farne zogen sich Ranken wie fantastische Blütengirlanden, und die Blüten daran waren leuchtend gelb, blau und orange. In der Ferne erklang das lang gezogene, traurige Heulen eines Rudeljägers. Irgendwo über ihm erhob ein Geschöpf, das er nicht sehen konnte, seine Stimme zu einem berauschend lieblichen Lied, ähnlich dem eines Manullian-Vogels, der im Mutterdschungel von Ithor nach seinem Gefährten ruft.
Ithor, dachte er matt und bitter. Er erinnerte sich daran, was die Yuuzhan Vong Ithor angetan hatten.
Wo in allen neun corellianischen Höllen bin ich?
Die Sonne, die rings um ihn her durch das Farnkraut fiel, hatte eine vertraute Farbe: so, wie die Ränder der Schatten mit einem verblassten Rot umgeben waren … ja genau. Das Sonnenlicht hatte genau die gleiche Farbe wie der Fusionsfunke, der die Zuchtanlage beleuchtet hatte.
»Oh«, murmelte er betäubt. »Oh, jetzt verstehe ich.«
Es war nur vernünftig: Die Yuuzhan Vong hatten ihre künstliche Sonne selbstverständlich auf das Spektrum der natürlichen Sonne der Welt eingestellt, auf der die Lebensformen des Saatschiffs wachsen sollten.
Er befand sich auf Yuuzhan’tar.
Dennoch, etwas an der Farbe dieses Lichts bewirkte, dass sich sein Magen zusammenzog. Das Licht in der Zuchtanlage hatte diese Wirkung nicht gehabt, vielleicht wegen des dichten Nebels, der immer über allem gehangen hatte − oder vielleicht war es das tiefe Blauviolett dieses Himmels …
Kein Planet hat wirklich exakt die gleiche Himmelsfarbe wie ein anderer; Himmelsfarbe ist das Ergebnis komplizierter Interaktionen zwischen dem Sonnenspektrum und der Zusammensetzung der Planetenatmosphäre, und er wurde das Gefühl nicht los, diese Farbe schon einmal gesehen zu haben. Oder zumindest eine sehr ähnliche. Die Ähnlichkeit war groß genug, um an seine Erinnerung zu rühren, aber nicht so groß, dass ihm eingefallen wäre, auf welchem Planeten er so etwas schon einmal gesehen hatte.
Er setzte sich hin und musste ein Stöhnen unterdrücken; er war von Kopf bis Fuß zerschlagen, und obwohl seine Rippen hervorragend verbunden waren, führte jede Bewegung zu einem Stechen in der Seite, das langsam − quälend langsam − zu einem dumpfen, bis in den Hals reichenden Ziehen verging.
Also gut. Das hier ist kein Traum.
Langsam und nun vorsichtiger schwang er die Beine von seiner Mooscouch; es tat weh, aber ihm wurde nicht schwindlig oder übel. Nach ein paar Sekunden stand er auf. Ganz in der Nähe lag eine ordentlich gefaltete Gewandhaut. Wer immer seine Rippen verarztet hatte, hatte ihm auch eine Art Lendenschurz umgebunden, der im Augenblick seinem Schamgefühl genügte. Er ließ die Gewandhaut liegen.
Hinter den Farnen, die seine Laube umgaben, fand er eine kurze, steile Wand, die etwa zwei- oder dreimal so groß wie er und dick mit unterschiedlichen Moosen überzogen war. Eine Art Epiphyt klammerte sich mit knorrigen, holzigen Klauen an die Wand und drapierte lange Wurzeln darüber, die so fein waren, dass sie aussahen wie an Haken hängende Perücken. Jacen packte das Moos fest mit beiden Händen und zog daran, um zu sehen, ob es sein Gewicht halten würde, damit er hinaufklettern und sich umsehen konnte, aber das Moos löste sich beinahe ohne jeden Widerstand. Lilafarbener Pflanzensaft, der wie Tee roch, tropfte heraus und hinterließ Flecken auf seinen Fingern.
Und die Oberfläche, auf der das Moos gewachsen war …
Auch wenn es gerissen war und fleckig von den Säften unbekannter Pflanzen, erkannte er dieses Zeug sofort: Seine gesamte Welt hatte daraus bestanden.
Durabeton.
Das hier war keine Klippe, sondern eine Mauer.
»Oh …« Er trat zurück, und seine Arme sackten widerstandslos an seine Seiten. Als hätte der Traum ihn wieder umfangen, schien er plötzlich nicht mehr atmen zu können. »O nein, bitte nicht …«
Er folgte der Mauer ein paar Meter nach links, wo er durch einen weiteren Schirm von Farnen den offenen Himmel sehen konnte. Er teilte die Farnwedel, ging hindurch …
Und sah eine fremde Welt, die sich unter ihm ausbreitete.
Er stand auf einem Sims, einen Schritt von einer steilen Wand entfernt, die mehr als einen Kilometer tief abfiel bis zu einem leuchtend bunten Dschungel aus Farnen wie denen, die seine Laube umgaben. Flecke von hellem Scharlachrot gingen in dunkleres Karmin über, verbanden sich mit anderen Flecken von schimmerndem Schwarz oder Elektrofunkenblau, alles durchzogen von sich windenden Strähnen von etwas Glänzendem, die wie Flüsse aus kostbaren Metallen aussahen, und all das bewegte sich: Es wogte, schlug Wellen, rollte durch ein Regenbogenspektrum und wieder zurück, weil Blätter, Wedel, Zweige und Ranken sich in einem Wind bewegten, den er nicht spüren konnte. Fliegende Geschöpfe flatterten unter ihm von einer Stelle zur anderen, jagten dicht über der Waldkuppel dahin, zu weit entfernt, als dass seine Augen − die an solch gewaltige Räume nicht gewöhnt waren − Einzelheiten erkennen konnten.
Dieser Dschungel wuchs über einer Landschaft, die zu zufällig, zu zerklüftet, zu jung wirkte, um wirklich zu sein; die Täler waren bodenlose, nebelverhangene Schluchten, voneinander getrennt durch spitze Grate, die sich überschnitten und wieder teilten und sich umeinander bogen, alles nach einem Muster, wie es keine ihm bekannte Geologie je produziert hatte. Immense Berge erhoben sich in der Ferne: steil aufragende Türme mit flachen Seiten und Nadelspitzen, als hätte es hier nie Wind oder Regen gegeben, um einen Teil von ihnen abzutragen. Einige dieser Berge hatten Flanken, die selbst für diesen zähen Dschungel aus Moosen und Farnen zu steil waren. Wo ihre Gebeine sichtbar wurden, konnte Jacen seltsam regelmäßige Muster erkennen: Quadrate, Rechtecke, alles Reihe um Reihe arrangiert, horizontal und vertikal präzise ausgerichtet. Er kniff die Augen zusammen, runzelte die Stirn: Diese Muster waren viel zu gleichmäßig, um natürlich zu sein; sie waren mathematisch genau. Er hatte so etwas schon öfter gesehen …
Während er nachdachte, schaute er zufällig nach oben … und vergaß alles andere, denn nun sah er zum ersten Mal die Brücke.
Von einem rasiermesserscharfen Bogen über dem fernen Horizont ging ein wirbelnder, unglaublicher Strom von Farben aus. Jacen legte den Kopf zurück und immer weiter zurück, um ihm mit dem Blick folgen zu können: ein gewaltiges Spektrum, Kaskaden von Himmelblau und fleischfarbenem Rosa, von Silber und Grasgrün waren zu einem unmöglich komplizierten, unmöglich lebhaften Regenbogen verflochten, der ein Drittel des Himmels einnahm, bevor er sich wieder zu einer messerscharfen Kurve verengte und am entgegengesetzten Horizont im violetten Himmel verschwand.
Jacen wusste, um was es sich handelte; mehr als nur ein paar Welten in der Neuen Republik hatten Planetenringe. Und er wusste auch, dass keiner dieser Planeten solche Ringe hatte. Ein Ring wie dieser wäre berühmt gewesen, legendär; für eine solche Aussicht allein wäre eine solche Welt überall in der Galaxis als Touristenattraktion bekannt gewesen. Und wenn es jetzt schon so lebhaft war − und so groß −, wenn die Färben noch vom Tageslicht und dem Lila des Himmels ausgewaschen waren, wie musste es nach Anbruch der Dunkelheit aussehen? Er konnte es sich kaum vorstellen.
Bei diesem Anblick hatte er das Gefühl, etwas an den Yuuzhan Vong zu verstehen, das ihn zuvor immer gewundert hatte. Es war nicht ungewöhnlich für eine primitive Spezies auf einem von Ringen umgebenen Planeten, die Ringe am Himmel für magische Brücken zu halten, die von den Göttern errichtet worden waren; selbst bei Jacen, der sich der physikalischen Phänomene, die hinter diesem Anblick steckten, wohl bewusst war, bewirkte dieser Anblick ein leichtes ehrfürchtiges Schaudern. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es einer Spezies ergehen mochte, die sich unter einem solchen Phänomen entwickelt hatte: Für sie konnte eine Brücke wie diese nur das Werk der Götter sein. Es wäre unmöglich, die Existenz von Göttern zu bezweifeln, wenn man diese Straße durch ihr göttliches Heim stets über sich sah − so offensichtlich magischer Natur, dass ein Geschöpf ihrem Bogen um die ganze Welt folgen konnte und dennoch nie das andere Ende erreichen würde. Es wäre nur zu einfach, sich vorzustellen, wie Götter über diese Brücke wandelten und auf ihre Schöpfung hinabblickten.
Wenn die Götter so nah waren …
Und wenn die Welt dann voller Gewalttätigkeit, Wildheit und Folter war, dann mussten sie es wohl so wollen.
Vieles an den Yuuzhan Vong verstand er nun.
»Großartig, nicht wahr?«
Vergeres Stimme erklang direkt hinter seiner Schulter; er hatte nicht gehört, dass sie näher gekommen war, aber er war auch zu sehr in Staunen und neuem Begreifen versunken, um zu erschrecken. Und er hatte irgendwie ohnehin gewusst, dass sie hier sein würde. Er hatte ihren Schatten auf seinem Tausend-Jahre-Traum gespürt.
Er hatte irgendwie gewusst, dass sie immer noch ein Teil seines Lebens war.
»Weißt du«, murmelte Jacen, der immer noch zum Himmel aufblickte, »genau das hast du auch gesagt, als du mich in die Zuchtstation brachtest. Die gleichen Worte.«
»Tatsächlich?« Ihr Windglockenspiel-Lachen klimperte um ihn her. »Du erinnerst dich an alles, was ich dir sage?«
»An jedes Wort«, antwortete Jacen finster.
»So ein kluges Kind. Ist es ein Wunder, dass ich dich so gern habe?«
Langsam und unter Schmerzen setzte sich Jacen auf das Sims, ließ die Beine über den Rand hängen und seine Füße einen Kilometer oberhalb der Wipfel des Dschungels baumeln. »Ich nehme an, ich war ziemlich fertig. Ziemlich zerschlagen«, sagte er und legte eine Hand auf den Verband, der seine gebrochenen Rippen an Ort und Stelle hielt. »Du hast mich zusammengeflickt. Mit deinen Tränen.«
»Ja.«
Er nickte. Kein Dank, nur Akzeptieren. »Ich hatte nicht erwartet, es zu überleben.«
»Selbstverständlich nicht. Wie hättest du das auch tun können, und dennoch erreichen, was du erreicht hast?«, fragte sie freundlich. »Du hast die Kraft gefunden, die daraus entsteht, dass man ohne Hoffnung handelt … und ohne Angst. Ich war … ich bin sehr stolz auf dich.«
Jacen sah sie an. Er konnte sein eigenes dunkles, verzerrtes Spiegelbild auf der glänzend schwarzen Oberfläche ihrer Augen sehen. »Stolz? All die Leute dort, die wegen mir gestorben sind …«
»All die Leute hier, die wegen dir leben«, unterbrach sie ihn. Sie erzählte ihm kurz, wie die Gestalter gezwungen gewesen waren, dem Dhuryam sofortige Kontrolle über das Saatschiff zu geben, und wie es das Zerbrechen in einzelne Schiffssamen so schnell begonnen hatte, dass keine Zeit geblieben war, die tobenden Sklaven zusammenzutreiben. Das Dhuryam selbst hatte ihre Sklavensamen benutzt, um sie in Sicherheit zu bringen, und damit seinen Teil des Handels mit Jacen erfüllt. »Ja, Hunderte sind im Kampf gestorben − aber Tausende konnten mit den Schiffssamen zur Oberfläche gelangen: Sklaven, die eigentlich zum Höhepunkt des Tizo’pil Yun’tchilat hätten hingerichtet werden sollen. Du warst großartig, Jacen Solo. Ein wahrer Held.«
»Ich fühle mich nicht gerade wie ein Held.«
»Nein?« Ihr Kamm richtete sich auf und nahm eine deutliche Orangefärbung an. »Wie fühlt sich ein Held denn?«
Jacen wandte den Blick ab und schüttelte schweigend den Kopf. Sie setzte sich neben ihn und ließ die Beine baumeln wie ein kleines Mädchen auf einem Stuhl, der zu hoch für es ist.
Nach einem Moment seufzte Jacen, schüttelte den Kopf abermals und zuckte die Achseln. »Ich denke, Helden haben das Gefühl, etwas geleistet zu haben.«
»Und das hast du nicht? Mehrere Tausend Sklaven sind da vielleicht anderer Ansicht.«
»Du verstehst das nicht.« In seinem Kopf sah er wieder die Leiche am Ufer der Stock-Insel, den Mann, der vielleicht ein Sklave gewesen war, vielleicht auch ein Krieger, und der neben der Leiche eines Gestalters verblutet war, der keine Ahnung vom Kampf hatte: ein Gestalter, der nichts anderes gewollt hatte, als seinen eigenen Körper zwischen die jungen Dhuryams und die Mordmaschine zu bringen, zu der Jacen geworden war. »Dort in der Zuchtstation … Sobald ich angefangen hatte zu töten«, sagte er leise, »wollte ich nicht mehr aufhören. So muss die Dunkle Seite sich anfühlen. Ich wollte nie wieder aufhören.«
»Aber du hast aufgehört.«
»Nur, weil du mich aufgehalten hast.«
»Wer hält dich jetzt auf?«
Er starrte sie an.
Sie hob ihre geviertelte Handfläche, als wollte sie ihm eine Süßigkeit anbieten. »Du möchtest töten? Rings um dich her gibt es nichts als Leben, Jacen Solo. Nimm es, wenn du willst. Nimm meins. Meine Spezies hat einen besonders verwundbaren Hals; du brauchst meinen Kopf nur zwischen deine Hände zu nehmen und dann eine schnelle Drehung, so …« Sie riss den Kopf nach oben und zurück, als hätte eine unsichtbare Faust sie gegen den Mund geschlagen. »Dann kannst du dieses dunkle Bedürfnis befriedigen.«
»Ich will dich nicht umbringen, Vergere.« Er bog den Rücken, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und zog sich zusammen, als ducke er sich vor Kälte. »Ich will niemanden umbringen. Ganz im Gegenteil. Ich bin dankbar. Du hast mich gerettet. Ich habe die Beherrschung verloren …«
»Das hast du nicht«, sagte sie scharf. »Hör auf, Ausreden zu finden.«
»Was?«
»Die Beherrschung verlieren ist nur eine Beschönigung für: ›Ich will nicht zugeben, dass ich die Art von Person bin, die so etwas tun würde.‹ Es ist eine Lüge.«
Er bedachte sie mit einem halben Lächeln. »Alles, was ich dir sage, ist eine Lüge.«
Sie nahm diesen Spott mit einem ausdruckslosen Nicken entgegen. »Aber alles, was du dir selbst sagst, sollte die Wahrheit sein − oder der Wahrheit so nahe kommen, wie du kannst. Du hast getan, was du getan hast, weil du bist, wer du bist. Selbstbeherrschung oder der Mangel daran hatten nichts damit zu tun.«
»Selbstbeherrschung hat alles damit zu tun − darum geht es, wenn man ein Jedi ist.«
»Du bist kein Jedi.«
Er wandte den Blick ab. Sich zu erinnern, was sie ihm angetan hatte, entzündete einen Funken in seiner Brust, der zu einer lodernden Flamme rings um sein Herz wuchs. Er bohrte die Finger in das üppige Moos, das das Sims überzog, dann ballte er die Fäuste, riss eine doppelte Hand voll Moos aus, und ein großer Teil von ihm wünschte sich, dieses Moos wäre Vergeres Hals. Aber Jahre der Jedi-Ausbildung hatten ihn gegen den Zorn gerüstet. Als er die Fäuste öffnete und die Moosstücke in den Wind fallen ließ, ließ er seinen Zorn mit ihnen los.
»Ein Jedi zu sein hat nicht nur damit zu tun, die Macht zu benutzen.« Seine Stimme war nun kräftiger; er befand sich auf sicherem Boden. »Es ist eine Verpflichtung, die Dinge auf eine bestimmte Art zu tun, sie auf eine bestimmte Art zu betrachten. Es geht darum, das Leben zu schätzen, nicht es zu vernichten.«
»Genauso ist es für einen Gärtner.«
Er ließ den Kopf hängen, betäubt von Erinnerungen. »Aber ich habe nicht versucht, jemanden zu retten. Sicher, so fing es an − das war es, was ich geplant hatte −, aber als du mich auf der Stock-Insel erreichtest, war das Retten von Leben das Allerletzte in meinem Kopf. Ich wollte nur noch eine Keule, die groß genug war, um die Yuuzhan Vong vollkommen aus dieser Galaxis hinauszuschmettern. Ich wollte ihnen einfach nur wehtun.«
Sie blinzelte. »Und das ist falsch?«
»Für mich schon. Das ist die Dunkle Seite. Es ist ein Bilderbuchbeispiel für die Dunkle Seite. Davor hast du mich gerettet.«
»Ich habe dir das Leben gerettet, Jacen Solo. Das ist alles. Deine Moral ist deine Sache.«
Jacen schüttelte den Kopf. Seine. Familiengeschichte stellte das ultimative Argument dafür dar, dass die Dunkle Seite jedermanns Sache war, aber damit würde er jetzt nicht anfangen. »Du scheinst das nicht zu verstehen.«
»Mag sein«, stimmte sie ihm fröhlich zu. »Es klingt, als wolltest du mir sagen, dass es irrelevant ist, was du tust; dass nur zählt, warum du es tust.«
»Nein, so ist es ganz bestimmt nicht …«
»Nein? Dann verrate mir eins, Jacen Solo: Wenn du das edle Ziel verfolgt hättest, das Leben von Tausenden von Sklaven zu retten, wie es sich für einen wahren Jedi gehört, was hättest du anders gemacht? Oder würdest du dich dann wegen deiner Taten nur anders fühlen?«
Jacen runzelte die Stirn. »Das meinte ich nicht …«
»Wenn du ein Dhuryam für ein edles Ziel tötest, ist es dann weniger tot? Glaubst du, es interessiert diese toten Dhuryams, ob du sie in einem Wutanfall umgebracht hast oder mit kalter, ruhiger Jedi-Distanziertheit?«
»Es zählt für mich«, erklärte Jacen entschlossen.
»Ah, ich verstehe. Du kannst also tun, was du willst, solange du dabei deine Jedi-Ruhe bewahrst? Solange du dir sagen kannst, dass Leben für dich einen Wert hat? Du kannst töten und töten und töten, solange du bloß nicht die Nerven verlierst?« Sie schüttelte erstaunt blinzelnd den Kopf. »Ist das nicht ein bisschen pervers?«
»Keine dieser Fragen ist neu, Vergere. Jedi haben sie sich seit dem Sturz des Imperiums gestellt.«
»Länger als das. Glaube mir.«
»Wir haben keine besonders gute Antwort …«
»Ihr werdet nie eine Antwort finden, Jacen Solo.« Sie beugte sich zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. Ihre Berührung war warm und freundlich, aber ihre Augen hätten auch Sichtluken in den unendlichen Raum sein können. »Aber du kannst eine Antwort sein.«
Er verzog das Gesicht. »Das ergibt keinen Sinn.«
Sie drehte die Handflächen in einer Geste hilfloser Niederlage nach oben. »Was ergibt schon Sinn?«
»Nun ja«, seufzte er, »das habe ich mich auch schon gefragt.«
»Sieh dich um«, sagte sie. »Sieh dir diese Welt an: die Muster des Farnwalds, den rauen Verlauf des Geländes, die geflochtenen Farben der Ringe über uns. Es ist sehr schön, nicht wahr?«
»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete Jacen wahrheitsgemäß.
»Das ist doch eine Art von ›Sinn‹, oder?«
»Ja. Ja, das stimmt. Manchmal, wenn ich zu den Sternen hinaufschaue oder eine wilde Landschaft sehe, habe ich das Gefühl, dass es tatsächlich einen Sinn ergibt − nein, mehr, wie du es gesagt hast: dass es ein Sinn ist. Als wäre es sein eigener Grund.«
»Weißt du, was ich sehe, wenn ich diese Welt betrachte? Ich sehe dich.«
Jacen erstarrte. »Mich?«
»Was du hier rings um dich siehst, ist die Frucht deines Zorns, Jacen Solo. Du hast dafür gesorgt, dass all dies geschehen konnte.«
»Das ist doch lächerlich.«
»Du hast den Gestaltern des Saatschiffs die Entscheidung des Tizo’pil Yun’tchilat abgenommen. Du warst es, der das Dhuryam auswählte, das zum Pazhic Yuuzhan’tar A1’tirrna wurde: zum Gehirn der Welt. Du hast seine Rivalen vernichtet. Du hast ihm die Oberherrschaft über diesen Planeten gegeben. Dieser Planet bezieht seine Gestalt aus den Absichten deines Dhuryam-Freundes, aus seiner Persönlichkeit − und seine Persönlichkeit wurde durch eure Freundschaft geformt. All diese Schönheit existiert in dieser Form, weil du bist, wer du bist.«
Er schüttelte den Kopf. »Das war nicht, was ich geplant hatte …«
»Aber es ist, was du getan hast. Ich dachte, wir wären übereingekommen, dass es nur Jedi interessiert, warum du es getan hast.«
»Ich … du drehst mir immer das Wort im Mund herum«, sagte er. »Du machst es erheblich komplizierter, als es wirklich ist.«
»Im Gegenteil: Ich mache es einfacher. Was du rings um dich her siehst, Jacen Solo, ist eine Reflexion deiner selbst: eine künstliche Einrichtung der Neuen Republik, die von den Yuuzhan Vong in etwas Neues verwandelt wurde − etwas Schöneres, als je zuvor in der Galaxis existierte.«
»Wie meinst du das, eine künstliche Einrichtung?« Die schreckliche Ahnung, die in seinem Magen geronnen war, als er Durabeton unter dem Moos fand, traf ihn nun mit voller Wucht. »Wo sind wir?«
»Auf Yuuzhan’tar«, antwortete sie. »Verstehst du das denn nicht?«
»Nein, ich meinte, welcher Planet war das früher einmal?«
Sie seufzte. »Du siehst, aber du siehst nicht. Du weißt, aber du lässt nicht zu, dass du es weißt. Sieh dich um, und du wirst eine Antwort auf deine Frage finden.«
Er betrachtete stirnrunzelnd den Farnwald unter sich, wo sich nun Bergschatten von der untergehenden Sonne wegstreckten. Inzwischen waren mehr dieser fliegenden Geschöpfe zu sehen, und sie kreisten höher und höher durch die Schatten, als verfolgten sie abendliche Insekten. Ihre Flügel waren breit und ledrig, ihre Körper lang gezogen und spitz zulaufend und endeten in einem geschwungenen Reptilienschwanz …
Dann schoss eins von ihnen direkt vor Jacen hoch und schwebte über ihm in den dunkler werdenden Himmel, und er konnte nicht mehr ignorieren, was sie waren.
Falkenfledermäuse.
Er sagte: »Oh.«
Diese seltsam metrischen Muster der fernen Berge − er wusste jetzt, was dahinter steckte. Und die unmöglich komplizierte Topografie des Dschungels erklärte ebenfalls vieles.
»Oh«, sagte er, diesmal leiser. »O nein.«
Die Muster waren Sichtluken. Die Berge waren Gebäude. Dieser Ort war ein Albtraum-Abbild von Yavin 4: Das Muster der Täler und Bergkämme wurde von Geröllhalden definiert, überzogen mit fremden Lebensformen. Und diesmal war es viel mehr als nur ein alter Tempelkomplex wie der auf dem Mond des Gasriesen − was Jacen hier vor sich hatte, war eine einzige planetenweite Stadt, erst in Trümmer gelegt und dann unter einem Dschungel begraben.
Und alles, was er sagen konnte, war: »Oh.«
Lange nachdem Yuuzhan’tar sich von seiner Sonne abgewandt hatte, saß Jacen immer noch auf dem moosigen Sims oberhalb des Dschungels, der nun in Dunkelheit gehüllt war. Blitze, die von Biolumineszenz ausgingen, jagten einander in blaugrünen und gelben gezackten Linien durch die dunklen Wipfel. Die Brücke war unglaublich hell, unglaublich nahe, als könnte er nach oben greifen, sich festhalten und an einer der geflochtenen Farbkaskaden schaukeln. Die Farben selbst schimmerten und verschoben sich entsprechend den Drehungen einzelner Ringfragmente um sich selbst. Das Licht warf einen Schimmer auf die Landschaft, heller, weicher und diffuser, als jede Konjunktion der Monde von Coruscant das je getan hatte. Das hier war der schönste Ort, den Jacen je gesehen hatte.
Er hasste ihn.
Er hasste jedes einzelne Stück davon.
Selbst die Augen zu schließen half nicht, denn schon das Wissen, dass es da draußen war, ließ ihn vor Zorn beben. Er wollte den ganzen Planeten verbrennen.
Er wusste nun, dass ihm tief in seinem Herzen nichts von diesem Krieg je vollkommen wirklich vorgekommen war; nicht seit Sernpidal. Er hatte, verborgen sogar vor sich selbst, eine geheime Überzeugung genährt, dass eines Tages irgendwie alles wieder in Ordnung sein würde − dass alles wieder so sein würde, wie es gewesen war. Dass Chewbaccas Tod eine Art Missverständnis gewesen war. Dass Jaina nie in die Dunkelheit fallen könnte. Dass die Ehe seiner Eltern stark und sicher war. Dass Onkel Luke stets rechtzeitig auftauchen würde, und dann würden sie alle zusammen darüber lachen können, welche Angst sie gehabt hatten …
Dass der Anakin, den er hatte sterben sehen, vielleicht ein Klon gewesen war. Oder ein als Mensch getarnter Droide, und der echte Anakin befand sich zusammen mit Chewbacca irgendwo auf der anderen Seite der Galaxis, und eines Tages würden sie nach Hause finden, und die ganze Familie könnte wieder beisammen sein.
Deshalb hasste er diese Welt, die sich vor ihm ausbreitete.
Weil sie nie wieder sein Zuhause sein konnte.
Selbst wenn die Neue Republik entgegen allen Erwartungen das Blatt wenden konnte, selbst wenn ein Wunder geschah und sie Coruscant zurückeroberten − was sie erobern würden, würde nicht mehr der Planet sein, den sie verloren hatten.
Die Yuuzhan Vong waren gekommen, und sie würden nie wieder gehen: Selbst wenn Jacen tatsächlich eine Keule gefunden hätte, die groß genug war, um die gesamte Spezies wieder über den galaktischen Horizont zu schmettern, könnte nichts je die Narben verschwinden lassen, die sie zurücklassen würden.
Nichts würde je sein gebrochenes Herz heilen können.
Nichts konnte ihn wieder zu dem Jacen Solo machen, an den er sich erinnerte: der fröhliche, leichtsinnige Jacen, der Zekk durch die unteren Ebenen jagte; der gereizte Jacen, der immer wieder versuchte, Tenel Ka ein Lächeln abzuringen; Jacen, der Jedi-Schüler, geboren für die Macht, aber immer noch voller Ehrfurcht, nicht nur vor seinem legendären Onkel Luke, sondern vor der Kraft, die die Belehrungen seines Onkels in ihm wecken konnte; Jacen, der Teenager, der unter dem strengen Blick seiner Mutter in sich zusammensank, aber seinem Vater und seiner Schwester spitzbübisch zuzwinkerte, sobald Mutter ihnen den Rücken kehrte.
Ich habe so viel Zeit damit verbracht, mir zu wünschen, erwachsen zu werden. Damit zu versuchen, erwachsen zu werden. Zu versuchen, wie ein Erwachsener zu handeln … Jetzt will ich nur noch wieder ein Junge sein. Nur eine kleine Weile. Nur einen Tag.
Nur eine Stunde.
Verbittert dachte Jacen, dass ein großer Teil des Erwachsenwerdens offenbar darin bestand, zu sehen, wie sich alles veränderte, und zu entdecken, dass diese Veränderungen permanent waren. Dass sich nie etwas zurückverwandelte.
Dass es keinen Weg zurück nach Hause gab.
Dies war es, was die fremdartige Schönheit von Yuuzhan’tar ununterbrochen in seinem Hinterkopf flüsterte: Nichts bleibt für immer. Das einzig Dauerhafte ist der Tod.
Brütend saß er da, während die Nacht ihren langen, trägen Lauf nahm.
Unbekannte Zeit später − nach dem Stand der Sterne, der Sternbilder, die über dieser bitterlich fremden Landschaft immer noch spöttisch vertraut wirkten, waren viele Stunden vergangen − fragte er: »Was jetzt?«
Vergere antwortete ihm aus der Dunkelheit der Farnlaube. Obwohl sie seit dem abendlichen Zwielicht nicht mehr miteinander gesprochen hatten, klang ihre Stimme glockenklar und frisch wie immer. »Das habe ich mich auch schon gefragt.«
Jacen schüttelte den Kopf. »Schläfst du eigentlich nie?«
»Vielleicht, wenn du schläfst.«
Er nickte. Er war daran gewöhnt, solche Antworten zu erhalten. Er schwang die Beine wieder auf das Sims, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. »Also, was geschieht jetzt?«
»Sag du es mir.«
»Keine Spielchen, Vergere. Es reicht. Und keine Schattenmottengeschichten, ja?«
»Ist das, was geschehen ist, wirklich ein solches Rätsel für dich?«
»Ich bin kein Idiot. Du bildest mich aus.« Er machte eine gereizte Geste, als würde er etwas Ekelhaftes wegwerfen. »Das hast du von Anfang an getan. Ich lerne mehr Tricks als eine Affeneidechse. Ich weiß nur nicht, wozu du mich ausbildest.«
»Es steht dir frei, zu tun und zu lassen, was du willst. Verstehst du den Unterschied zwischen Training und Belehrung? Ob du lernst, etwas zu tun, oder lernst, etwas zu sein?«
»Wir sind also doch wieder bei der Schattenmottengeschichte.«
»Gibt es eine andere Geschichte, die dir besser gefällt?«
»Ich möchte einfach nur wissen, was du willst. Was du von mir willst. Ich möchte wissen, was ich zu erwarten habe.«
»Ich will nichts von dir. Ich will es nur für dich. ›Erwarten‹ ist Ablenkung. Achte auf das Jetzt.«
»Warum kannst du nicht einfach erklären, was du versuchst, mir beizubringen?«
»Ist es, was der Lehrer lehrt …« Die Dunkelheit selbst schien zu lächeln. »… oder was der Schüler lernt?«
Er erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihn das gefragt hatte. Er erinnerte sich daran, wie die Schmerzen ihn gebrochen hatten. Er erinnerte sich daran, wie Vergere ihn zu einem geistigen Zustand geführt hatte, in dem er sich selbst heilen konnte − und wie ein geheilter Knochen war er jetzt an dieser Bruchstelle stärker.
Er nickte bedächtig, mehr für sich als für sie. Er stand auf und ging zu der moosbedeckten Couch am Rand der schwarzen Schatten, die die Trümmerwände und der Schirm sanft wehender Farne warfen. Er griff nach der ordentlich gefalteten Gewandhaut, sah sie lange Zeit an, dann zuckte er die Schultern und zog sie über den Kopf. »Wie lange, bis die Yuuzhan Vong eintreffen?«
»Sieh dich um. Sie sind bereits hier.«
»Ich meine, wie lange, bis etwas passiert? Wie lange können wir hier bleiben?«
»Das hängt von vielen Dingen ab.« Ein leises Lachen erklang in der Dunkelheit. »Wie durstig bist du?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Man hat mir gesagt, dass ein Mensch drei Standardtage ohne Wasser leben kann − vier oder fünf, wenn er gut auf sich aufpasst. Wäre es dreist von mir, vorzuschlagen, dass wir uns auf die Suche nach Wasser machen, bevor du zu schwach bist, um dich zu bewegen?«
Jacen starrte in die Dunkelheit. »Willst du damit sagen, die Entscheidung liegt bei mir?«
»Hier, sieh dir das an.«
Aus dem Schatten flog ein helleres, unregelmäßiges Ding, das halb so groß war wie Jacens Faust; Vergere hatte es sacht geworfen, und es flog in einem sanften Bogen. Jacen fing es instinktiv auf.
Im klaren Licht, das von der Brücke reflektiert wurde, stellte er fest, dass der Gegenstand eine raue Oberfläche hatte und klumpig war wie ein abgerundeter Brocken Kalkstein. Er hatte mehrere flache Vorsprünge, die von einer schwarzen, kittähnlichen Ausscheidung klebrig waren − vielleicht waren das Stümpfe, wo etwas abgebrochen worden war. Der Gegenstand insgesamt schien die gelblich weiße Farbe von gebleichten Knochen zu haben, aber all seine Risse waren mit etwas Abblätterndem, Dunklem, Bräunlichem verkrustet …
Blut. Getrocknetes Blut.
»Was ist dieses Ding?« Eine Faust umklammerte seine Kehle, denn er wusste es bereits.
Es war ein Sklavensamen. Ein ausgereifter Sklavensamen.
Sein Sklavensamen.
Deshalb hatte er keine Schmerzen mehr.
Er sollte ihn vom Sims werfen: ihn in den Farndschungel einen Kilometer tiefer werfen. Er sollte ihn neben sich auf den Boden legen und mit einem Brocken Durabeton flach hämmern; ihn zu Paste zerdrücken. Er sollte ihn hassen.
Aber das tat er nicht.
Er starrte das Ding an, erstaunt über dieses Gefühl von Leere, von kreischendem Verlust, das in ihm klaffte.
Ohne nachzudenken, zog er die Gewandhaut hoch und schob die Streifen weg, mit denen seine Brust verbunden war. Er spähte darunter. An der Stelle, an der Vergere ihn vor so vielen Wochen mit dem Haken erwischt hatte, gab es nun eine breitere Narbe, so lang wie sein Finger, eine Narbe in dem hellen Rosa von frisch geheilter Haut; sie musste ihn mit ihren Tränen behandelt haben, die ähnlich wie Bacta wirkten.
Er musste sich hinsetzen. Er ließ sich mit einem Seufzen nieder wie eine überladene Landestütze. »Du hast ihn mir rausgeschnitten …«
»Während du schliefst. Du warst eine ganze Weile bewusstlos.« Vergere bewegte sich aus dem Schatten und hockte sich neben ihn. »Geht es dir gut?«
»Ich … ich …« Jacen schüttelte den Kopf. »Äh, danke. Ich denke schon.«
»Wolltest du nicht, dass ich ihn entferne?«
»Selbstverständlich wollte ich … ich meine, ja. Ich habe nur … ich weiß nicht.« Er hielt das Ding in das weiche, sich verändernde Licht. »Er ist tot, nicht wahr?«
Vergere nickte ernst. »Sobald ein Sklavensamen seine Ranken in das Nervensystem seines Wirts entsandt hat, ist er kein unabhängiger Organismus mehr. Er ist innerhalb einer Minute nach der Entfernung gestorben.«
»Ja.« Jacens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich fühle mich einfach nur … ich weiß nicht. Ich habe dieses Ding gehasst. Ich wollte, dass es entfernt wird. Ich wollte, dass es stirbt, aber während es in mir war … war ich Teil von etwas. In der Zuchtstation. Während des Kampfs war es beinahe, als hätte ich die Macht wieder. jetzt …«
»Jetzt fühlst du dich leer«, beendete Vergere den Satz für ihn »Du fühlst dich allein. Einsam. Beinahe ängstlich, aber auch stark, oder?«
Er starrte sie an. »Wie …?«
»Der Name für das, was du fühlst«, sagte Vergere mit einem trägen, sanften Lächeln, »lautet Freiheit.«
Jacen schnaubte. »Schöne Freiheit.«
»Was hattest du erwartet? Du bist frei, Jacen Solo, und das kann sich einsam anfühlen und leer und Furcht erregend. Aber es ist auch machtvoll.«
»Das nennst du Freiheit? Sicher, ich bin frei, aber auf einem in Trümmern liegenden Planeten, der vom Feind besetzt wurde. Keine Freunde, kein Schiff, keine Waffen. Nicht mal mehr die Macht.« Er konnte nicht anders, als zu denken: nicht mal mehr ein Sklavensamen … Er starrte hinauf zu dem bunten Schimmer der Brücke. »Was soll mir Freiheit hier helfen?«
Vergere ließ sich in einer katzenhaften Haltung nieder, Arme und Beine unter sich gefaltet. »Nun«, sagte sie schließlich. »Das ist eine Frage, über die man nachdenken sollte.«
»Oh …« Jacen hielt die Luft an. »Das war es, was du gerade meintest? Als ich dich fragte, was jetzt?«
»Du bist frei«, wiederholte sie. »Geh, wohin du willst. Tu, was du willst. Sei, was du willst.«
»Und was wirst du tun?«
Ihr Lächeln veränderte sich minimal. »Was ich will.«
»Ich kann also gehen? Einfach gehen? Davongehen? Tun, was ich will, und niemand wird mich aufhalten?«
»Ich verspreche dir nichts.«
»Und wie soll ich wissen, was ich tun soll?«
»Ah …« Ihr Lächeln wurde breiter, und ihre Lider senkten sich. »Jetzt kehren wir also zur Erkenntnistheorie zurück.«
Jacen senkte den Kopf. Er hatte jedes Interesse an solchen Spielereien verloren.
Als er dort saß, mit Vergere an seiner Seite, erkannte er, dass dieses Sims hoch oben auf einem zerstörten Gebäude in gewisser Weise der Umarmung des Schmerzes sehr ähnlich war. Er konnte hier sitzen, bis er verfaulte, und sich in seinem Elend suhlen − oder er konnte etwas unternehmen.
Aber was?
Nichts schien wichtig zu sein. Auf diesem zerstörten Planeten war eine Richtung so gut wie die andere. Es gab nichts Nützliches zu tun − nichts innerhalb seiner Reichweite, das für irgendwen außer ihn selbst irgendwelche Auswirkungen haben würde.
Andererseits, wer sagt denn, dass ich nützlich sein muss?
Und dann, als er dort auf dem Sims saß, erkannte er, dass es doch ein Ziel gab, das ihm etwas bedeutete.
Er stand auf.
Vergere öffnete die Augen.
Er schob die Farne auseinander, kehrte in den Nachtschatten unter ihnen zurück und ertastete sich seinen Weg zu den moosbedeckten Wandruinen. Er begann an der Stelle, wo zwei Wände sich trafen. Er ging an der Wand entlang und kratzte dabei mit der Hand einen großen Streifen Moos weg. Die Pflanzen lösten sich leicht, und darunter befand sich schwarzer Durabeton. Jacen schaute über die Schulter zu Vergere, die ihn schweigend durch den Schirm von Farnwedeln beobachtete.
Er zuckte die Achseln, kehrte zu der Ecke zurück und tat das Gleiche an der anderen Wand.
Drei Schritte von der Ecke entfernt stießen seine Finger auf einen vertikalen Riss, lasergerade und mit Metallstreifen an den Rändern; auf der anderen Seite des Risses war die Wand aus Durastahl. Jacen tastete in Taillenhöhe herum, bis seine Finger eine mechanische Sperre spürten. Er löste sie, drückte, und die Durastahltür glitt mit einem erschöpften Ächzen zur Seite.
»Was machst du da?«
Jacen antwortete nicht.
Hinter der Tür befand sich ein Flur, der nach Schimmel roch. Knollenartige, phosphoreszierende Flechten sonderten trübes Licht ab, und der Boden war mit einem heruntergekommenen, von Insekten zerfressenen Teppich bedeckt. Es war Jahre her, seit Jacen zusammen mit Jaina, Lowie, Tenel Ka und Zekk die unteren Ebenen erforscht hatte, aber der Geruch war unmissverständlich. An dem Flur gab es Türen mit Nummern: Das hier war einer der alten Wohnblöcke der mittleren Ebenen gewesen. Am anderen Ende des Flurs gelangte man durch einen Torbogen zu einer Nottreppe.
Jacen nickte und ging auf die Treppe zu, ohne Vergere auch nur einen Blick zu gönnen.
Ihre Stimme hallte durch den Flur. »Wo willst du hin?«
Er war ihr keine Antwort schuldig. Langsam ging er die Treppe hinunter. Die Wände des Treppenhauses bestanden aus alterstrübem transparentem Faserplast, in das dünner Draht eingearbeitet war. Schemenhaft konnte er durch das Netz aus Kratzern, Rissen und Draht tief drunten einen Übergang erkennen, der zu der leeren schwarzfleckigen Wand eines Nachbargebäudes führte.
Auf halbem Weg die erste Treppe hinunter blieb er seufzend stehen.
»Kommst du oder was?«
»Selbstverständlich.« Vergere erschien auf der Treppe hinter ihm und grinste breit im Licht der Brücke. »Ich habe nur darauf gewartet, dass du fragst.«