Der gute Samariter

Rebecca hatte recht behalten. Es dauerte eine Weile, bis die Männer den Lkw entladen hatten. Der Motor war bestimmt schon vor einer Stunde abgestellt worden, und noch war nichts passiert. Rebecca hatte sich flüsternd mit Sofiya unterhalten und jedes Mal geschwiegen, wenn draußen Stimmen näher kamen. Auch wenn sie davon überzeugt war, dass man sie nicht hören konnte, wollte sie dem Mädchen eintrichtern, dass es mitspielen musste. Im Kopf war Rebecca verschiedene Fluchtszenarien durchgegangen, aber sobald sie Sofiya in ihre Pläne mit einbezog, wurde alles sehr viel komplizierter. Aber sie wusste, dass sie das Mädchen nicht zurücklassen konnte.

Zwar gehörte Rebecca nicht zur NCCU und hatte nicht jeden Tag mit diesen kriminellen Machenschaften zu tun, aber sie war klug genug, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Roche und sie waren direkt in ein Zwischenlager von Menschenhändlern hineingeplatzt. Rebecca hatte in letzter Zeit so viel über den Menschenhandel gelesen, dass sie gar nicht daran denken mochte, was man mit ihr vorhatte.

Natürlich war ihr klar, dass man sie nur gefangen genommen hatte, weil Roche und sie unangemeldet aufgetaucht waren, aber Sofiya und vermutlich noch viele andere Kinder waren mit einer ganz bestimmten Absicht entführt worden.

Rebecca wusste nicht, wie groß die Organisation war, die dahintersteckte, aber sie verfügte offenbar über genug Geldmittel, um bei den ersten Anzeichen von Gefahr alles an einen anderen Ort verlegen zu können, einschließlich der Kinder. Inzwischen bedauerte sie ihr Verhalten. Sie hätte sich gegen Roche durchsetzen und ihm erklären sollen, dass es dumm war, das Lagerhaus auf eigene Faust unter die Lupe zu nehmen. Hätte sie das getan, wären sie jetzt beide in London und in Sicherheit. Andererseits wären sie so klug wie zuvor. Deshalb konnte sie es Roche nicht verdenken, dass er es versucht hatte. Sie selbst war ja ebenfalls neugierig gewesen. Jetzt musste sie darauf hoffen, dass es Roche gut ging, auch wenn sie nicht wirklich daran glauben konnte.

Rebecca erstarrte, als Metall klirrte und der Container geöffnet wurde.

»Was auch passiert, lieg ruhig und bleib leise«, flüsterte sie Sofiya in der Dunkelheit zu. »Ich komme zu dir und rette dich, versprochen.«

»Okay«, kam die leise Antwort einer verängstigten Stimme. Sie durfte das kleine Mädchen nicht enttäuschen.

Rebecca schloss die Augen, spürte jedoch, dass helles Licht in den Container fiel, als die Tür geöffnet wurde. Dieses Mal würde sie sich konzentrieren. Sie hörte, wie das erste Bett vom Container abgeladen wurde. Dann war das Knirschen von Kies zu hören, bevor das Bett wieder über glatten Asphalt rollte. Kurz darauf wurden auch das zweite und das dritte Bett ausgeladen.

Insgesamt verließen sechs Betten den Container, bevor Rebecca an der Reihe war. Sie spürte, wie die Räder ihres Betts zuerst über den Kies, dann wieder über Asphalt rollten. Da diese Leute auf keinen Fall merken sollten, dass sie wach war, hielt sie die Augen fest geschlossen und entspannte Hände und Körper. Vielleicht war das ihre einzige Möglichkeit zur Flucht.

Sie spürte, wie sich die Luft veränderte, als man sie in ein anderes Gebäude schob, aber zumindest roch es hier besser als in dem Lagerhaus. Sie versuchte herauszufinden, in welche Richtung man sie bewegte, und konzentrierte sich darauf, wie oft sie um eine Ecke geschoben wurde. Schließlich würde sie diesen Weg später schnell zurücklegen müssen.

Rebecca wartete geduldig, bis die Männer, die das Bett schoben, endlich stehen blieben. Jemand arretierte die Räder. Dann spürte sie zwei Finger an der Pulsader an ihrem Hals. Hoffentlich wollten diese Leute sich nur vergewissern, dass sie noch am Leben war, und merkten nicht, wie ihr Herz raste. Ihr Entführer schien zufrieden zu sein, dass sie noch atmete, und ging davon. Dann wurde das Licht ausgeschaltet. Rebecca spürte, wie es um sie herum dunkel wurde, als sich die Tür schloss. Sie hörte jedoch nicht, dass abgeschlossen wurde.

Vorsichtig schlug sie die Augen auf. Durch einen Schlitz unter der Tür fiel spärliches Licht in den Raum, sodass sie ein wenig erkennen konnte. Sie war noch immer auf die Trage gefesselt, hatte sich durch ihre Zappelei jedoch ein wenig Freiraum verschaffen können, sodass sie sich ein bisschen bewegen konnte. Während sie weiterhin so tat, als würde sie schlafen, bewegte sie vorsichtig Arme, Beine und Oberkörper und lauschte, ob die Fahrradklingel ihre Entführer alarmierte. Aber es war nichts zu hören, daher wagte es Rebecca, die Arme und Hände ein bisschen mehr zu bewegen. Immer noch kein Klingeln.

Da sie jetzt wusste, dass sie auf diese Weise keinen Alarm auslöste, begann sie, die Fesseln an ihrer Taille zu bearbeiten, indem sie die Hände in dem schmalen Zwischenraum zwischen den Gurten und ihrem Körper bewegte. Sie zog den Bauch ein und streckte die Finger, um die Schnalle zu lösen. Dabei verbog sie die Hand in einem fast unmöglichen Winkel, aber sie konnte spüren, wie sich die Schnalle bewegte. Sobald sie sich gelockert hatte, wurde die Sache leichter, und bald war die erste Fessel gelöst. Da ihre Unterarme nun frei waren, ließ die Schnalle auf ihrer Brust sich einfacher öffnen. Dann war Rebecca endlich frei und setzte sich vorsichtig auf. Sie hatte so lange Zeit gelegen und nichts gegessen, dass ihr vermutlich schwindlig wurde, wenn sie zu schnell aufstand.

Auf der Bettkante sitzend lauschte sie. In der Nähe war nichts zu hören, also glitt sie vom Bett. Der Betonboden fühlte sich unter ihren nackten Füßen kalt an, und sie erschauderte. Sie fragte sich, was diese Leute mit ihrer Kleidung getan hatten. Im Moment trug sie nur noch ihre Unterwäsche und ein Baumwoll-T-Shirt. Aber das war jetzt ihre geringste Sorge – sie musste hier raus.

Langsam ging sie durch den Raum auf den Lichtschlitz zu und drückte das Ohr an die Tür. In der Ferne waren Bewegungen zu hören. Jetzt wurde es gefährlich. Doch sie durfte auf keinen Fall hier bleiben und diesen Leuten Zeit geben, sich neu zu organisieren, denn schon bald hätten sie alle wieder verdrahtet und würden sie überwachen. Jetzt bot sich ihr die einzige und vermutlich letzte Chance.

Rebecca drückte den Türgriff ganz vorsichtig herunter und öffnete die Tür einen Spalt weit. Im Flur war es schummrig, aber sie hatte so lange im Dunkeln gelegen, dass sie dennoch die Augen zusammenkniff. Behutsam zog sie die Tür ein Stück weiter auf. Draußen war nichts zu sehen. Sie versuchte, sich ein Bild von ihrer Umgebung zu machen.

An der Wand hing ein kleiner grüner Sticker, der zum nächsten Notausgang wies; vermutlich hatte man sie auf diesem Weg hier hereingebracht. Der Flur war kürzer und breiter als der im Lagerhaus, besser beleuchtet und sauber. Rebecca hatte keine Ahnung, in welchem Zimmer Sofiya festgehalten wurde, und sie konnte es nicht riskieren, jede Tür zu öffnen, da ihre Entführer sich in einem der Räume aufhalten mussten. Sie würde hinausschlüpfen, Hilfe holen und die Kinder auf diese Weise befreien. In dieser Nacht würde man sie wohl kaum ein zweites Mal verlegen. So konnte sie ihr Versprechen dennoch halten.

Niemand war zu sehen.

Jetzt oder nie, dachte sie.

Rebecca rannte über den Flur und auf die erste Biegung zu, wo sie sich gegen die kalte Wand presste und um die Ecke spähte. Auch dieser Gang war leer; die Feuertür am Ende stand offen. Sie konnte draußen Stimmen hören. Kamen sie gerade rein?

Rebecca überlegte, ob sie umkehren und sich einen anderen Weg aus dem Gebäude suchen sollte, als auf einmal eine Tür im Gang hinter ihr geöffnet wurde. Wenn sie hier stehen blieb, würde man sie sofort entdecken. Also rannte sie um die Ecke und auf die offene Feuertür zu. Falls da draußen jemand stand, musste sie darauf hoffen, dank des Überraschungsmoments genügend Zeit zur Flucht zu bekommen.

Sie konnte sich nicht überwinden, über die Schulter zu schauen, rechnete aber damit, jeden Augenblick eine Stimme hinter sich zu hören. Aber das geschah nicht.

Rebecca rannte durch die offene Tür in die Nacht hinaus – und blieb abrupt stehen, presste den Rücken gegen die Wand neben dem Notausgang und hielt die Luft an. In etwa zehn Metern Entfernung standen zwei Männer mit dem Rücken zur Tür und rauchten. Rebecca blickte nach rechts und stellte erleichtert fest, dass in der Nähe mehrere Container aufgestapelt waren. Langsam und vorsichtig schlüpfte sie in der Dunkelheit hinter diesen Stapel.

Sie hatte es fast geschafft. Das Schlimmste hatte sie hinter sich.

Sie ging um die Container herum und wartete, während sie versuchte, den schnellsten Weg in die Sicherheit zu finden. Dieses Gebäude lag nicht so abgelegen wie das Lagerhaus; es war von zwei identischen Bauwerken umgeben. Aber sie befanden sich dennoch mitten im Nichts. Hinter dem Drahtzaun konnte Rebecca eine unbeleuchtete Straße erkennen, auf der sich mehrere Lastwagen langsam vom Gelände entfernten. Sie versuchte, eine Lücke im Zaun zu entdecken. In regelmäßigen Abständen wurde er von Pfosten gestüzt, doch man würde sie sofort entdecken, wenn sie versuchte, darüberzuklettern, und sie hatte nichts, womit sie den Zaun durchschneiden konnte.

Als sie schon in die andere Richtung blicken wollte, fielen ihr zwei Pfosten auf, die dicht nebeneinanderstanden. Aus der Entfernung und in der Dunkelheit war es schlecht zu erkennen, aber Rebecca hatte den Eindruck, dass zwischen den beiden Pfosten eine Lücke war. Ob sie hindurchpasste? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Geduckt huschte sie über die freie Fläche auf den Zaun zu. Die beiden Männer rührten sich nicht.

Rebecca jubelte innerlich. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ohne entdeckt zu werden! Jetzt schützte sie die Dunkelheit. Zum ersten Mal glaubte sie wirklich daran, entkommen zu können.

Sie hatte recht behalten: Zwischen den Pfosten gab es tatsächlich eine Lücke. Rebecca drehte sich seitlich und versuchte, sich hindurchzuquetschen. Es war sehr eng, und sie biss die Zähne zusammen, als der Stacheldraht sich in ihre Schulter bohrte, aber schließlich war sie auf der anderen Seite und lief auf die Straße zu, auch wenn sie sich auf dem rauen Boden die nackten Füße aufschnitt.

Sie war entkommen!

Jetzt würde sie einen Wagen anhalten und Hilfe holen. Alles würde wieder gut werden.

Die Straße war verlassen. Als Rebecca sie erreichte, hielt sie sich rechts, da sie glaubte, in dieser Richtung Licht zu erkennen. Während sie weiterlief, stellte sie sich vor, wie ihre Entführer bemerkten, dass sie entkommen war, und einen Suchtrupp zusammenstellten.

Sie musste zusehen, dass sie von hier wegkam!

In einiger Entfernung bog ein Wagen auf die Straße ein. Gott sei Dank. Rebecca blieb stehen, wedelte mit den Armen. Da der Wagen nicht langsamer wurde, machte sie einen Schritt auf die Straße. Vielleicht hatte der Fahrer sie nicht gesehen. Tatsächlich schien der Wagen ein wenig langsamer zu werden.

»Hilfe!«, rief Rebecca und winkte noch heftiger. »Bitte bleiben Sie stehen!«

Der Fahrer verlangsamte das Tempo noch mehr, rollte jedoch an ihr vorbei. Der junge Mann hinter dem Lenkrad schaute sie im Vorbeifahren verwundert an, blieb aber nicht stehen.

»Nein!«, rief Rebecca, drehte sich um und rannte hinter dem Wagen her. »Bitte, halten Sie an!«

Einen Augenblick später leuchteten die Bremslichter auf. Dann legte der Mann den Rückwärtsgang ein.

Rebecca fiel ein Stein vom Herzen.

Der Wagen fuhr langsam zurück und bremste. Rebecca ging mit müden Schritten darauf zu.

Der Fahrer beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür.

»Vielen Dank«, sagte Rebecca erschöpft, nachdem sie sich gesetzt hatte. »Ich brauche Hilfe. Wir müssen die Polizei rufen.«

Sie blickte den jungen Mann flehentlich an. Der wirkte mit einem Mal besorgt. »Was ist denn passiert?«, wollte er wissen.

»Man hat mich gefangen gehalten. Sie halten dort auch Kinder fest. Wir müssen Hilfe holen. Bitte!«

Der Mann nickte mitfühlend.

Dann schmetterte er Rebecca die Faust gegen die Schläfe.

Augenblicklich verlor sie das Bewusstsein.

Fortsetzung folgt

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