Regel Nr. 14: Der Schein kann trügen

Urteile niemals voreilig. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.

Willis war in Begleitung mehrerer Forensiker am Lagerhaus eingetroffen. Es hätte viel zu lange gedauert, alles alleine zu durchkämmen, und die Zeit drängte. Wenn das Einsatzteam recht hatte und das Lagerhaus erst vor Kurzem geräumt worden war, blieb ihnen möglicherweise nicht viel Zeit, bevor die Spur wieder kalt wurde. Es war Willis gelungen, ein Team aus zehn Ermittlern zusammenzustellen, die momentan im Lagerhaus nach Hinweisen suchten. Das Gelände war groß, und sie mussten methodisch vorgehen.

Er selbst nahm sich den letzten Raum am Ende des Gangs vor. Da es hier offenbar die meisten Beweise zu sichern gab, wollte er diese Aufgabe selbst übernehmen. Nun hockte Willis auf Händen und Knien auf dem kalten Betonboden und entnahm der Blutlache, die das Einsatzteam entdeckt hatte, eine Probe. Hoffentlich fanden sie auf diese Weise einen Namen heraus. Und zu Namen gehörten meist auch Adressen. Wenn sie definitiv wussten, dass sich eine bestimmte Person in diesem Lagerhaus aufgehalten hatte, wäre das ein guter Anfang.

Willis schob den Abstrich in ein Röhrchen, versiegelte es und verstaute es im Aluminiumkoffer, der neben ihm stand. Dann beugte er sich herunter, so tief er konnte, ohne mit der Wange den Boden zu berühren, und betrachtete die Spur im Blut. Sie schien von einem kleinen Rad zu stammen, das offenbar zur Hälfte mit Blut benetzt war. Die Spur war noch an mehreren anderen Stellen auf dem Boden zu sehen, wurde jedoch deutlich schwächer.

Weiterhin auf dem Betonboden hockend, zog Willis ein Maßband aus der Tasche, maß Breite und Länge der Spur und schrieb sich die beiden Zahlen ins Notizbuch. Dann legte er einen kleinen gelben Plastikmarker neben die Blutlache, platzierte weitere Eimer neben den Reifenspuren und stand auf. Das gelbliche Neonlicht im Raum war nicht stark genug, um bis in den Schatten in den Ecken vorzudringen, daher leuchtete Willis sie mit seiner Taschenlampe aus, während er sich langsam durch den Raum voranbewegte. An der Seitenwand entdeckte er etwas. Er beugte sich vor, hob eine Plastikspritze auf und hielt sie ins Licht. Die Nadel war noch intakt, und in der Spritze befand sich ein klein wenig Flüssigkeit. Willis holte einen Beweisbeutel hervor und steckte die Spritze hinein. Sehr gut! Wer immer hier gewesen war, hatte offenbar hastig aufbrechen müssen.

Schon jetzt war offensichtlich, dass in diesen Räumen Menschen untergebracht gewesen waren oder zumindest geschlafen hatten. Nach seinem Eintreffen hatte das forensische Team eine kleine, aber zweckmäßige Küche entdeckt, in der mehrere benutzte Schüsseln standen, wie man sie aus Industrieküchen kannte. Sie hatten ein paar Fingerabdrücke genommen, die sie später in der Datenbank überprüfen wollten. Vielleicht konnten sie dem unbekannten Koch ja einen Namen zuweisen. Natürlich konnte die Küche auch für die Arbeiter im Lagerhaus gedacht sein, doch die vier Männer, die das Einsatzteam festgenommen hatte, wussten angeblich nichts darüber, was hinter diesen Türen vor sich ging. Aber Willis war überzeugt, dass die Beamten es aus diesen Burschen herausbekommen würden.

Er hatte den Tatort so gut untersucht, wie er konnte. Jetzt klappte er seinen Koffer zu und verließ den Raum. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um und musterte bedächtig jeden Zentimeter. Hatte er etwas übersehen? Nein, vermutlich nicht. Im Raum war nichts mehr zu sehen.

Doch als Willis sich umdrehte, um das Licht auszuschalten, bemerkte er einen kleinen Blutfleck auf der Außenseite des Türrahmens. Er nahm eine Probe, auch wenn er davon ausging, dass das Blut von der gleichen Person stammte wie das Blut auf dem Boden. Dann folgte er der Spur durch den Gang.

Als er an einer der anderen Türen vorbeikam, trat ein Ermittler heraus.

»Das sollten Sie sich ansehen, Sir«, sagte er und deutete hinter sich in den Raum. Willis folgte dem Mann hinein.

Auf dem Boden lag ein schwarzer Plastikmüllsack, der geöffnet worden war und in dem sich offenbar Lumpen befanden. Ein zweiter Ermittler fotografierte alles. Willis wartete, bis der Mann fertig war, bevor er in die Hocke ging und es sich näher ansah.

»Wow«, murmelte er. »Das ist ja großartig.«

Er zog eine Pinzette aus der Brusttasche, hob damit ein Stück Stoff aus dem Sack und hielt es hoch. Es war ein Mädchensommerkleid aus Baumwolle mit einem Erdbeermuster auf der Brust. Willis legte das Kleidungsstück neben den Haufen auf dem Boden. In der Nähe des Rocksaums konnte er ein grinsendes Cartoon-Eichhörnchen erkennen. Mithilfe der Pinzette breitete er das Kleid aus und sah sich das Etikett an.

»Fünf bis sechs Jahre«, sagte er leise.

Dann nahm er ein weiteres Stoffstück aus dem Haufen, ein rotes T-Shirt, und legte es neben das Kleid.

»Etwa sieben Jahre alt«, meinte er und las vor, was auf dem Etikett stand. »Für Jungen.«

Willis blieb neben dem Haufen in der Hocke und schaute zu dem Ermittler auf, der ihn in den Raum gebeten hatte.

»Kinderkleidung«, sagte Willis mit finsterer Miene. »Packen Sie alles ein, und lassen Sie es untersuchen. Wir werden jedes Teil fotografieren. Vielleicht gibt es Übereinstimmungen mit den Berichten über verschwundene Kinder.«

Der Ermittler nickte und zog sich Latexhandschuhe an, während Willis den Raum wieder verließ. Er ging weiter den Korridor entlang und trat durch die Glastür ins Freie, wo er tief die frische Luft einatmete. Man konnte ihn nicht gerade als zimperlichen Mann bezeichnen, aber bei der Kinderkleidung war es ihm eiskalt den Rücken heruntergelaufen. Er hatte selbst zwei kleine Töchter, und seitdem er Vater war, verspürte er in ruhigeren Augenblicken häufig eine panische Angst, die Kinder zu verlieren. Seine Frau behauptete immer, seine Arbeit würde ihn paranoid machen. Vielleicht hatte sie recht. Oder er war sich der Gefahren einfach nur besser bewusst. Wie dem auch sei – Willis’ Töchter mochte das Cartoon-Eichhörnchen ebenfalls sehr. Das Kleid hätte genauso gut einer von ihnen gehören können.

Willis versuchte, diese Gedanken zu verdrängen, denn er musste klaren Kopf bewahren. Anhand der Beweise würden sie schon herausfinden, was passiert war. Aber bevor die Wahrheit ans Licht kam, mussten er und seine Leute sie suchen. Er durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht hatten die Lagerhausarbeiter hier bloß mit ihren Familien gelebt. Doch irgendetwas sagte Willis, dass mehr dahintersteckte. Aber er zwang sich, nur die Fakten zu sehen. Das Blut war ihre beste Spur, ihr würden sie als Erstes nachgehen.

Auf einmal machte sich Unruhe auf den Feldern neben dem Lagerhaus breit, auf denen Männer des Einsatzteams nach Beweisen suchten.

»Wir haben eine Leiche gefunden«, rief einer der Beamten.

Willis lief zu den Männern hinüber. »Nicht anfassen«, rief er, als er näher kam. »Fassen Sie nichts an!«

Vorsichtig näherte er sich der Stelle. Die Beamten, die der Leiche am nächsten waren, standen regungslos da, um den Tatort nicht zu verunreinigen. Das Gesicht des Toten sah aus, als wäre er schrecklich verprügelt worden, und der Schädel war an einer Seite regelrecht pulverisiert, aber Willis erkannte den Mann dennoch auf Anhieb.

»Das ist Agent Roche von der NCCU«, teilte er den Beamten mit. »Er ist einer von uns.«

***

Mitchell hatte noch nie so viel Betriebsamkeit im Schweinestall gesehen wie an diesem Tag. Es war eine Menge los, und er sah viele Gesichter, die er nicht kannte. Die restlichen Mitglieder des NCCU-Teams hielten sich hier auf, mit Ausnahme von Roche. Hinzu kamen Mitglieder anderer Abteilungen, von denen Mitchell wusste, dass sie den Hinweisen nachgingen, die Miller und Squires aus den Black-Flag-Akten bezogen hatten. Einige uniformierte Beamte standen in der Nähe der Kaffeemaschine und unterhielten sich leise. Mitchell sah auch mehrere leitende Direktoren der NCA, die bereits am Tisch saßen und geduldig warteten. Sie alle wollten ihren Beitrag leisten.

Mitchell hatte alles, was er für diese Besprechung brauchte, auf seinen Laptop geladen und setzte sich jetzt wieder neben Miller an den Konferenztisch. Franklin ging am anderen Ende des Raumes auf und ab; er sah fix und fertig aus. Dennoch schien er es kaum abwarten zu können, dass die Besprechung anfing.

»Okay, sind alle da? Wer ist über Telefon zugeschaltet?«, rief er schließlich.

»Hier ist Knox, ich bin noch im Lagerhaus. Willis muss auch irgendwo sein, er wird später dazustoßen«, sagte Knox, dessen Stimme durch den Lautsprecher blechern klang.

»Gut, aber Sie müssen noch einen Moment warten, Knox. Ich möchte das der Reihe nach abhandeln. Hier geht alles drunter und drüber, und ich will nicht, dass wir irgendetwas übersehen. Ich werde erst im Raum herumgehen und mich auf den neuesten Stand bringen lassen, selbst wenn wir dabei bereits bekannte Information wiederholen. Gehen wir alles der Reihe nach durch. Prince’ Unfall. Die Datenbank. Davies’ Unfall. Den Anschlag. Das Lagerhaus. Okay? Ich weiß, dass einige von Ihnen Durchbrüche erzielt haben, die Sie uns nur zu gerne mitteilen möchten, aber wir müssen uns auf das Gesamtbild konzentrieren.«

Franklin blickte einen der leitenden Direktoren an, und der Mann nickte.

»Diese Dummköpfe haben uns heftige Anschuldigungen an den Kopf geworfen. Derzeit wartet alle Welt darauf, wie wir reagieren. Ich möchte eine kurze, knappe und entschiedene Aktion. Wir müssen uns zusammenreißen und dieser verdammten Sache auf den Grund gehen. Miller, teilen Sie uns alles mit, was wir über Prince wissen.«

Miller beugte sich auf seinem Stuhl vor.

»Anthony Prince starb bei einem Flugzeugabsturz, als er am Freitag, den 19. April, seinen eigenen Firmenjet flog. Kommen wir als Erstes auf den Unfall zu sprechen. Die französische Flugsicherung hat die Maschine ohne Zwischenfall an ihre britischen Kollegen übergeben. Laut ihren Aufzeichnungen traf der Flieger zur korrekten Zeit in unserem Luftraum ein und wurde auf seiner Reise entlang der geplanten Flugroute beobachtet. Die Aufzeichnungen besagen auch, dass die Maschine schließlich der Bodenkontrolle in Biggin Hill übergeben wurde. Aber das ist offensichtlich nicht passiert, da Prince’ Flugzeug an den Klippen zerschellt ist. Die britische Flugsicherung weiß jetzt, dass ihre Systeme gehackt wurden und dass sie nicht mit dem Piloten, sondern vermutlich mit dem Hacker kommuniziert hat. Momentan werden die Aufzeichnungen analysiert.«

»Diese Genies«, murmelte Squires. Widerwillige Bewunderung lag in seiner Stimme. Die anderen reagierten überrascht. Mitchell hingegen vernahm es mit Stolz. Es war ein exzellenter Hack gewesen.

»Die Cockpitaufzeichnungen aus Prince’ Flugzeug erzählen eine ganz andere Geschichte«, fuhr Miller fort. »Darin ist zu hören, wie er sich bei den französischen Behörden verabschiedet und bei den britischen anmeldet, aber es ist eine andere Stimme – dieselbe Stimme, die die Briten für die von Prince gehalten haben. Also hat sich der Hacker offenbar dazwischengeschaltet und sich mit beiden Seiten unterhalten. Ein wenig später hören wir, wie Prince einen Notruf abgibt, ihn kurz danach aber wieder zurücknimmt. Er sagte der Flugsicherung: ›Alles okay, alles okay. Habe alles unter Kontrolle.‹« Miller las Prince’ letzte Worte direkt von dem Zettel ab, den er in der Hand hielt. »Dann hören wir eine Antwort des Hackers: ›Gute Nacht, kleiner Prinz.‹ Das kranke Schwein hat sogar noch Witze gemacht.«

Miller musterte seine Kollegen. Offenbar hoffte er, dass sie ebenso angewidert waren wie er selbst. Doch er sah nur leichtes Erstaunen in den Gesichtern.

»Daher wissen wir«, fuhr Miller fort, »dass Prince mit voller Absicht von einem unbekannten Hacker ermordet wurde. Es war nicht gerade leicht, herauszufinden, wie dieser Unbekannte das angestellt hat, aber ich glaube, wir wissen es jetzt. Flughafenmitarbeiter berichten von einem Mechaniker, der Prince’ Flugzeug während seines Aufenthalts in Paris gewartet hat. Doch die dafür zuständige Firma hat an diesem Tag gar keinen Techniker dorthin geschickt, obwohl es geplant gewesen war. Aber der Termin war telefonisch abgesagt worden. Wir gehen davon aus, dass es unser Gesuchter war, der anstelle des Mechanikers am Flughafen aufgetaucht ist. Dabei wurde der Wurm in das GPS-Modul der Maschine eingespeist und hat den Fernzugriff auf das System ermöglicht, was bedeutet, dass das GPS womöglich neu konfiguriert wurde und falsche Angaben angezeigt hat. Vermutlich hat die Nichtübereinstimmung zwischen den Angaben des GPS und des Autopiloten zum Absturz geführt. Das lässt sich unmöglich mit Bestimmtheit sagen, aber genauer werden wir die Absturzursache nicht benennen können. Es war ein riskanter Angriff, aber er wurde perfekt ausgeführt.« Miller klang fast so, als hätte er Respekt vor dem Hacker.

»Fast perfekt«, murmelte Mitchell.

»Wie bitte?« Miller drehte sich aggressiv zu ihm um, da er es nicht mochte, infrage gestellt zu werden, besonders nicht von Mitchell.

»Ich sagte, fast perfekt«, wiederholte Mitchell. »Wäre er perfekt ausgeführt worden, hätten wir das alles nie herausgefunden.«

Miller nickte widerwillig und gab nach. »Da haben Sie recht, zumindest wenn wir davon ausgehen sollten, dass es ein Unfall war.«

»Okay, das ist ja alles gut und schön«, warf Franklin ein und kam wieder zum Thema zurück. »Aber wo führt uns das hin?«

»Nun, wir haben eine Sprachaufzeichnung unseres Hackers, mit der wir weitere Tests durchführen können, und eine Beschreibung des Mechanikers vom Flughafen. Diesen beiden Hinweisen können wir nachgehen.«

Mitchell war erleichtert. Keine der beiden Spuren würde auf ihn hindeuten, da er sich bestens geschützt hatte.

»Vor allem sollten wir uns den Code ansehen, mit dem das GPS-Modul gehackt wurde. Wir können es mit dem vergleichen, den wir online gefunden haben. Vielleicht gibt es Ähnlichkeiten und Korrelationen. Falls schon mal jemand einen ähnlichen Hack gepostet hat, können wir ihn mit unserem Code vergleichen und finden möglicherweise einen Namen. Schließlich stellt der Code gewissermaßen eine Signatur dar.«

Mitchells Erleichterung schwand. Das könnte knifflig werden.

»Gut«, sagte Franklin. »Was noch?«

Squires übernahm von seinem Kollegen. »Ich habe mir Prince’ Bewegungen vor seiner Abreise aus Paris angesehen. Wie Mitchell bereits erwähnte, befindet sich ein Keylogger auf seinem Laptop, der alles aufgezeichnet und in einer Logdatei gespeichert hat. Daher wissen wir, auf welche Dateien er auf seinem Laptop zugegriffen hat. Seltsam ist, dass Lücken zwischen seinen verschiedenen Aktivitäten auftreten. Momentan sind wir uns noch nicht sicher, ob es in dieser Zeit keine Aktivität gab, oder ob Prince oder jemand anderes die fraglichen Dateien gelöscht hat. Wir haben uns auch seine Telefonlisten aus dieser Zeit angesehen. Während zweier dieser ereignislosen Zeitspannen auf seinem Laptop hat er telefoniert, und zwar stets mit einer Voice-over-IP-Nummer. Wir haben versucht, sie aufzuspüren, aber bisher ist es uns noch nicht gelungen.«

»Wie lautet die Nummer?«, wollte Mitchell wissen, der sofort wachsam geworden war. Das konnte genau die Verbindung sein, die er brauchte.

Squires öffnete das Dokument und zeigte es Mitchell.

»Kennen Sie die Nummer?«, wollte Squires wissen.

Mitchell erkannte die Nummer sofort – und genau davon war er auch ausgegangen. Sheila Davies hatte dieselbe Nummer an ihrem letzten Nachmittag im Büro angerufen. Er musste es eigentlich nicht überprüfen, sah aber dennoch in seinen Unterlagen nach.

»Ja, hier steht sie ebenfalls.« Er tat so, als würde er sich vergewissern. »Dieselbe Nummer wurde Montagnachmittag über den Voice-over-IP-Client auf Sheila Davies’ Laptop angerufen. Der Anruf dauerte zehn Minuten. Am Dienstag früh um kurz nach fünf rief sie erneut dort an. Das muss kurz vor Verlassen der Wohnung gewesen sein.«

Franklin blieb abrupt stehen.

»Ist es dieselbe Nummer? Ganz sicher?«, fragte er.

Mitchell und Squires nickten.

»Dann wollen Sie mir also sagen, dass sowohl Prince als auch Davies wenige Stunden vor ihrem Tod diese Nummer angerufen haben? Verdammt, das könnte unser Durchbruch sein! Wir müssen unbedingt herausfinden, wem diese Nummer gehört.«

»Ich hab’s versucht«, erklärte Mitchell. »Sie hat einen Tor-Chat-Client verwendet. Ich habe die Nummer nur entdeckt, weil das Programm nicht richtig runtergefahren worden war. Offensichtlich hatte sie es sehr eilig.«

»Dann bringt sie uns nichts?«, erkundigte sich Franklin. Seine Enttäuschung war nicht zu überhören.

»Nun ja, wir könnten sie einfach anrufen«, erwiderte Miller hoffnungsvoll.

»Nein«, warf Mitchell fast schon zu schnell ein. »Das könnte alles zunichtemachen. Die Nummer ist nicht so wichtig. Was zählt, ist die Tatsache, dass beide sie angerufen haben.« Miller machte ein finsteres Gesicht, als Franklin sich erneut Mitchell zuwandte. Mitchell hatte ihm bereits einen Überblick über die Dateien und Links gegeben, die er auf Sheila Davies’ Laptop gefunden hatte. Er war davon ausgegangen, dass es Franklin den Rest geben würde, aber der hatte die Nachricht erstaunlich optimistisch aufgefasst, beinahe so, als hätte er bereits damit gerechnet.

»Fahren Sie fort, Mitchell«, forderte Franklin ihn auf. »Wir können auch gleich alle Karten auf den Tisch legen.«

»Ich habe leider noch andere Beweise gefunden«, erklärte Mitchell der Gruppe. »Sie bringen Sheila Davies mit Prince und Black Flag in Verbindung. Offenbar wurde Davies direkt nach der Gründung der NCA von Black Flag rekrutiert. Seit über einem Jahr hat sie für diese Hackerbande hier Augen und Ohren offen gehalten.«

Alle Anwesenden waren sichtlich geschockt. Mitchell hatte beschlossen, so viele Informationen über Black Flag weiterzugeben wie nur möglich. Er konnte es sich nicht leisten, etwas vor der NCCU zurückzuhalten, und er durfte keine Spielchen treiben. Black Flag war hinter Strider her, seinem Alter Ego, deshalb war es ihm nur recht, wenn sich möglichst viele Agenten auf die Jagd nach diesen Leuten machten. Manchmal brauchte man einen guten Schlachtruf, um eine Armee zu rekrutieren, und das war Mitchells Plan. Alleine konnte er es nicht mit Black Flag aufnehmen, aber wenn sich die NCCU ebenfalls betrogen und verraten fühlte, würden sie sich wehren, und dann wäre der Kampf gegen Black Flag zu einem gemeinsamen Unternehmen geworden.

»Das sind schreckliche Neuigkeiten. Sobald die Presse Wind davon bekommt, steht uns einiges bevor. Aber es ist gut, dass wir Bescheid wissen«, stellte Franklin fest. »Fassen wir zusammen: Prince wurde dank seiner Vorliebe für Kinderpornografie für Black Flag rekrutiert, und er beginnt, gegen Geld Sicherheitsdaten an Black Flag zu verkaufen, wodurch er eine Vielzahl nationaler Infrastrukturen in Gefahr bringt. Zur selben Zeit wird auch Davies rekrutiert, auch wenn wir nicht genau wissen, wie das vor sich gegangen ist. Aber wir gehen davon aus, dass ebenfalls große Geldsummen im Spiel waren. Mitchells Erkenntnissen zufolge hat Sheila Davies aktiv versucht, alle Ermittlungen, die mit Black Flag zu tun hatten, zu behindern und die NCCU zu untergraben. Daher wissen wir jetzt endlich, wie die Beweise im Teddybär-Fall verschwunden sind.«

Mitchell bemerkte, dass ihm einige Teammitglieder betretene Blicke zuwarfen. Sie hatten ihm die ganze Zeit die Schuld gegeben, auch wenn sie es nicht offen gesagt hatten. Jetzt wurde ihnen ihr Irrtum bewusst. Es war nur ein unbedeutender Sieg für Mitchell, aber er war trotzdem zufrieden.

»Das bedeutet, dass es hier einen massiven Sicherheitsverstoß gegeben hat. Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Ermittlungen seit einiger Zeit von Black Flag überwacht wurden. Innerhalb des Schweinestalls ist alles sicher, doch alles außerhalb – persönliche Handys, Laptops, E-Mails – ist anfällig. In diesem Moment untersucht ein Team unsere Geräte auf Spyware. Sie alle werden noch heute Ersatzgeräte erhalten. Zumindest kann dies teilweise erklären, woher Black Flag wusste, dass wir uns auf potenzielle Angriffe konzentrieren. Aber dazu kommen wir noch.« Franklin war jetzt in Fahrt. »Dann hat Sheila Davies also bereitwillig für Black Flag gearbeitet. Mitchell, würden Sie uns bitte von Ihrer Theorie erzählen?«

»Wie Sie ganz richtig sagen, ist es nur eine Theorie, aber ich vermute, Sheila Davies wollte aus der Sache raus, als sich das Netz um Prince allmählich zuzog. Sie muss irgendwann gemerkt haben, dass sie auffliegen würde oder dass sie zumindest keine Beweise mehr vernichten konnte. Die Anrufe scheinen das zu bestätigen. Wir gehen schon jetzt davon aus, dass Prince umgebracht wurde, weil er nicht mehr mitmachen wollte, und es ist gut möglich, dass Davies diese Anrufe aus demselben Grund gemacht hat. Das ist zwar nur ein Schuss ins Blaue, ergibt aber durchaus Sinn.«

»Außerdem kann Jack Willis beweisen, dass es zumindest einen Zeugen für Davies’ Unfall gibt«, schaltete sich Franklin wieder ein. »Dank verschiedener Überwachungskameras kann er belegen, dass kurz vor Davies’ Wagen ein Motorrad in den Tunnel gefahren ist und ihn einige Zeit später wieder verlassen hat, vermutlich erst nach dem Unfall. Die Nummernschilder waren gefälscht, versteht sich, und es gibt keine weiteren Zeugen, deshalb hilft uns das nicht wirklich dabei weiter, den wahren Mörder zu finden, aber ich gehe ohnehin davon aus, dass es sich um einen Auftragskiller gehandelt hat. Was uns wieder zu der Datenbank, dem Lagerhaus und dem Hier und Jetzt führt.«

Ernst musterte Franklin sein Team. Das wäre der Augenblick gewesen, in dem Roche sie auf den neuesten Stand hätte bringen sollen. Eine Sekunde schwiegen alle, dann ergriff Franklin erneut das Wort.

»Rebecca MacDonald hat eine Verbindung zwischen Prime Logistics – dem Unternehmen, das für den Frachtverkehr zwischen dem Drax-Kraftwerk und dem Port of Tyne zuständig ist -, dem Kraftwerk selbst und den Einzahlungen großer Summen auf Prince’ Konto entdeckt, woraufhin wir das Kraftwerk als potenzielles Ziel eingestuft haben. Ich habe sie dorthin geschickt, um die Sicherheitsmaßnahmen zu verbessern. Roche hat sich ihr später angeschlossen. Wir haben von Roche noch ein Update erhalten, in dem er andeutet, eine weitere Spur entdeckt zu haben. Mitchell?«

Mitchell sah von seinen Notizen auf. »Ja, genau. Roche hatte das SCADA-System am Port of Tyne gesichert. Dabei ist ihm aufgefallen, dass einige Prozesse noch immer manuell dupliziert werden, was wiederum zu unserem Vorteil war, da Black Flag offensichtlich nichts davon wusste. Die Wachleute am Tor führen noch immer eine Liste über alle Lkws, die rein- oder rausfahren. Roche hat eine Anomalie entdeckt, die sich wiederholt. Ein einzelner Container von Bacchus Enterprises, dem Speditionsunternehmen, wird an dem Tag, an dem die Lieferung im Hafen eintrifft, von einem Lkw abgeholt. Die Containernummer verschwindet plötzlich aus der Datenbank, sodass der Container beim Verladen der restlichen Ladung nicht vermisst wird. Sobald er mit dem Zug zurück in den Hafen gebracht wurde, taucht er wieder in der Datenbank auf. Mit diesem Zug werden auch Biomasse und andere Materialien zwischen dem Hafen, dem Drax-Kraftwerk und einem Lagerhaus von Prime Logistics bewegt.«

Mitchell nickte. »Es hat den Anschein, dass Roche und MacDonald sich das Lagerhaus auf dem Rückweg vom Kraftwerk ansehen wollten – und dort haben wir sie verloren. Bisher gehen wir davon aus, dass Roche später am Abend zum Kraftwerk zurückgekehrt ist, aber er war laut Aussage des Wachmanns alleine. Seit der Explosion ist es uns nicht mehr gelungen, ihn oder Rebecca MacDonald zu erreichen. Wenn man sie auf dem Handy anruft, erreicht man nur die Mailbox.«

»Oscar? Hier Jack Willis«, drang unvermittelt die besorgte Stimme des Forensikers aus dem Lautsprecher.

»Was gibt es, Jack?«, erkundigte sich Franklin.

»Roche ist nie ins Kraftwerk zurückgekehrt. Er ist hier im Lagerhaus.«

»Was?«

»Es tut mir leid, Oscar, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Roche tot ist.«

Schweigen breitete sich aus. Mitchell hatte gesehen, wie in Franklin ein Hoffnungsschimmer aufgekeimt war. Nun war er genauso schockiert wie alle anderen.

»Wir sind zu spät gekommen«, fuhr Willis fort. »Was immer sich in diesem Lagerhaus befunden hat, es ist nicht mehr da. Ich glaube, Roche und Rebecca haben etwas entdeckt, das diese Leute dazu bewogen hat, die Zelte dort abzubrechen.«

»Was ist mit Rebecca? Ist sie …?« Franklin konnte die Frage nicht aussprechen.

»Wir wissen nicht, wo sie sich aufhält, aber wir haben noch nicht die gesamte Umgebung abgesucht«, antwortete Willis bedrückt. »In diesem Lagerhaus haben Menschen gehaust, Oscar. Wir müssen die Beweise noch auswerten, aber wir wissen, dass auch Kinder hier gewesen sind. Wir schicken Ihnen gleich Fotos von Kleidungsstücken, die wir gefunden haben. Sie scheinen von Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters zu stammen. Vergleichen Sie sie doch bitte mit den Beschreibungen in der Datenbank der vermissten Kinder. Meiner Ansicht nach könnte dies hier ein Knotenpunkt für irgendeinen Warenhandel gewesen sein. Möglicherweise ein Zwischenlager. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie einige dieser Kleidungsstücke in der Datenbank wiederfinden.«

»Großer Gott.« Franklin stöhnte auf.

»Ich wünschte, ich hätte bessere Neuigkeiten, Oscar. Es wird eine Weile dauern, bis wir alle Beweise durchgegangen sind, die wir gesichert haben, aber ich schicke Ihnen alles, das Ihnen weiterhelfen könnte. Das große Problem ist, dass wir nicht wissen, wie viele Kinder sich hier aufgehalten haben und wohin man sie gebracht hat.«

»Okay, Jack. Danke«, erwiderte Franklin und wollte das Gespräch schon beenden.

»Mir ist da noch etwas eingefallen. Wenn sich Roches Leiche hier befindet, kann er unmöglich zurück zum Kraftwerk gefahren sein. Das ist nur eine vage Vermutung, aber vielleicht finden wir in dem Mietwagen ja noch irgendwelche Spuren. Jemand ist mit diesem Auto dorthin gefahren, hat sich als Roche ausgegeben und das Kraftwerk betreten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es kein Selbstmordattentäter war, daher muss diese Person das Kraftwerk auch wieder verlassen haben. Und sie hat Roches Wagen stehen lassen, um uns auf eine falsche Fährte zu locken. Ich fahre dorthin, wenn ich hier fertig bin. Vielleicht finde ich ja noch irgendetwas heraus.«

»Okay«, sagte Franklin, dem offensichtlich die Befehle ausgegangen waren und der ziemlich erledigt wirkte. »Möchte sonst noch jemand etwas sagen?«

Doch offenbar waren alle Versammelten der Ansicht, dass es nichts mehr zu sagen gab. Sie wirkten wütend und niedergeschlagen.

»Ich würde gern noch etwas sagen …«, begann Mitchell vorsichtig.

Franklin nickte ihm auffordernd zu.

»Davies hat uns verraten, das wissen wir jetzt. Aber Roche hat nur seinen Job gemacht, und zwar gut. Diese Leute haben ihn umgebracht. Sie behaupten, für die Allgemeinheit zu sprechen und gegen die Korruption vorzugehen. Aber ich denke, sie selbst sind die Korruption, und Roche war Teil der Allgemeinheit. Wenn wir diesen Leuten nicht das Handwerk legen, ist Roche umsonst gestorben.« Mitchell war selbst erstaunt über seine leidenschaftlichen Worte. Er sah, dass das Team ihm beipflichtete und dass er Franklin den notwendigen Ansporn gegeben hatte.

»Sie haben recht, Mitchell. Wir haben Hinweise, wir haben Namen, wir haben Zahlen«, sagte Franklin, der jetzt wieder ganz bei der Sache war. »Schnappen wir uns diese Dreckskerle. Vergessen wir nicht, dass Rebecca noch immer irgendwo da draußen ist und unsere Hilfe braucht. Wenn diese Leute einen Kampf wollen, sollen sie ihn verdammt noch mal bekommen!«