Regel Nr. 12: Arzt, heile dich selbst
Wenn du dich selbst heilen willst, richte deinen ganzen Zorn auf die Person, die dich verletzt hat.
Die Schallwelle der Explosion im Kraftwerk raste wie Donnergrollen über die nächtlichen Felder von Yorkshire. Nightshade beobachtete, wie die Sprengung den Nachthimmel erhellte. Selbst aus dieser Entfernung sah das Lichterspiel wunderschön aus. Er war stolz auf sich. Die Idee, das Drax-Kraftwerk anzugreifen, war ihm dank einer Inspiration gekommen, die er binnen kurzer Zeit in die Tat umgesetzt hatte.
Wäre Miguel, dieser Blödmann, vorsichtiger gewesen, hätte er den NCCU-Agenten am Lagerhaus unter irgendeinem Vorwand weggeschickt. Schließlich war die National Cyber Crime Unit, die sich dem Kampf gegen Computerkriminalität verschrieben hatte, ein gefährlicher Gegner. Aber Miguel war nun mal ein Dummkopf und hatte überstürzt gehandelt. Deshalb hatten sie jetzt zwei neue Gefangene und mussten zwei weitere vermisste Personen vor der Welt verstecken. Erst der Anblick des NCCU-Agenten, der auf dem Stuhl zusammengesunken war, nachdem Miguel ihm das Betäubungsmittel verabreicht hatte, hatte Nightshade überhaupt auf diesen Gedanken gebracht. Die Tatsache, dass die NCCU bereits zum Lagerhaus gekommen war und dort herumschnüffelte, bedeutete, dass er schnell handeln musste. Offensichtlich wusste die NCCU bereits von der Operation. Und da Roche, ihr Agent, und seine Begleiterin und Helferin Rebecca MacDonald, eine Computer-Sicherheitsexpertin, verschwunden waren, würde die NCCU bald misstrauisch werden.
Er, Nightshade, musste Black Flag mehr Zeit verschaffen. Ihm war klar, dass er die Aufmerksamkeit der NCCU vom Lagerhaus und den Kindern ablenken musste, und er wusste auch dank einer speziellen Spyware, dass Agent Roche im Kraftwerk versucht hatte, die Anlage gegen potenzielle Risiken zu schützen. Offensichtlich hatte Rebecca MacDonald ihm dabei geholfen.
Nun, da Miguel die beiden gefangen genommen hatte, sah Nightshade sich gezwungen, MacDonald und Roche verschwinden zu lassen. Eine verheerende Explosion bot eine gute Möglichkeit, die Sache zu verschleiern. Wenn er der Öffentlichkeit weismachen konnte, dass die beiden sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Gebäude befunden hatten, würde es weniger Fragen geben.
Black Flag hatte nie vorgehabt, das Kraftwerk anzugreifen. Schließlich konnten sie dadurch nichts gewinnen. Allerdings verschaffte es einem stets Genugtuung, anderen zu beweisen, wie leicht man sich Zugriff verschaffen konnte, insbesondere, wenn man dadurch einen weiteren Nagel in den Sarg der NCCU schlagen konnte.
Diese Lösung hatte Nightshade einige Optionen eröffnet, und er hatte nicht lange gebraucht, um den Salesman, den rätselhaften Mentor vieler junger, talentierter Hacker, davon zu überzeugen, dass dies angesichts der Umstände die beste Vorgehensweise war. Die NCCU rechnete bereits mit einem Angriff auf das Kraftwerk, sonst hätte man keine Agenten dorthin geschickt, um den ganzen Tag Firewalls zu installieren und die Cryptos-Software auf den neuesten Stand zu bringen. Doch wie immer waren solche Verteidigungsmaßnahmen nur dann effizient, solange niemand aus dem Innern heraus versuchte, ebendiese Abwehr zu schwächen oder zu schädigen.
Normalerweise war der schwierigste Teil eines Hacks dieser Größenordnung der Zugang, aber in diesem Fall war es dank Miguels Unfähigkeit sehr einfach gewesen: Nightshade hatte sich Roches Kleidung verschafft, dazu seinen NCCU-Ausweis und seinen Wagen. Natürlich konnte der Wachmann trotz allem bemerken, dass er einen Anderen vor sich hatte, aber Nightshade bezweifelte es. Er und Roche ähnelten sich vom Körperbau und der Hautfarbe. Hinzu kam, dass Roches Kleidung deutlich auffälliger war als sein Gesicht. Außerdem war sein Auto unverkennbar. Solange niemand genauer hinsah und das Foto auf dem Ausweis näher in Augenschein nahm, müsste er sich leicht Einlass verschaffen können, insbesondere zu dieser späten Stunde.
Nightshade hatte sich die Baupläne des Kraftwerks besorgt, um sicherzustellen, dass er nach seiner Ankunft an den richtigen Ort gelangte. Außerdem musste er einen Weg wählen, auf dem er seinen geborgten Ausweis nicht allzu oft vorzeigen musste. Nun, so etwas konnten seine Kollegen problemlos herausfinden und auf sein Handy weiterleiten. Das war das Schöne daran, wenn man es mit Geräten und Maschinen zu tun hatte, die von SCADA-Systemen kontrolliert wurden, erst recht, wenn es sich um so alte Versionen handelte. Black Flag hatte schon mal einen ähnlichen Hack durchgeführt, um im Auftrag eines Klienten in Norwegen die Turbinengeneratoren eines Kraftwerks so zu manipulieren, dass sie sich immer schneller gedreht hatten, bis sie explodiert waren.
Nightshades Kollegen hatten ihm den Code geschickt, den er im Drax-Kraftwerk eingeben musste, um die Kontrolle an sich reißen zu können. Sie hatten nicht genug Zeit, um sämtliche Turbinen auszuschalten, aber ein Angriff dieser Größenordnung war auch gar nicht geplant. Wenn sie nur einen oder zwei Generatoren zerstörten, wären die Auswirkungen auf die nationale Stromversorgung dramatisch genug.
Aber damit gab Nightshade sich nicht zufrieden. Die Öffentlichkeit sollte glauben, dass die NCCU versagt und die Explosion verursacht hätte. Auf diese Weise konnte er ihre Fähigkeiten infrage stellen und gleichzeitig den Terroralarm ansteigen lassen. Es war schlichtweg perfekt.
Nightshade war geradewegs in den Kontrollraum der des Drax-Kraftwerks marschiert, ohne den Mantel auszuziehen oder die Kapuze abzusetzen. Als er den Typen an den Schreibtischen seinen Ausweis gezeigt hatte, waren diese vor Ehrfurcht erstarrt.
»Da ist nicht mehr viel zu machen«, hatte er ihnen erklärt und dabei den leichten Süd-Londoner Akzent nachgeahmt, mit dem er Roche am Telefon hatte sprechen hören. Nightshade bezweifelte, dass Roche im Laufe des Tages den Turbinenkontrollraum betreten hatte. Soweit er wusste, hatten Roche und MacDonald sich meist im Materialversorgungsbereich aufgehalten. Das war das Schöne an Miguels Drogen: Wenn der Patient nicht zu stark sediert war, konnte man sich noch einigermaßen mit ihm unterhalten, auch wenn er sich später an nichts mehr erinnerte. Nightshade hatte Roche alles gefragt, was er über ihren Tagesablauf wissen musste. Außerdem hatte er zu seiner Zufriedenheit festgestellt, dass sie das gesamte Ausmaß der Operation bei Weitem nicht kannten und dass niemand bei der NCCU wusste, dass Roche und MacDonald jetzt im Lagerhaus festgehalten wurden.
Nach der notwendigen Code-Eingabe hatte er eine kleine Anpassung an der Firewall vorgenommen, die ihre Server schützte, sodass seine Kollegen aus der Ferne darauf zugreifen konnten. Anschließend hatte er kurz telefoniert und sich von den Angestellten in dem Raum verabschiedet. Nur wenige Minuten nach Betreten des Kraftwerks hatte er es wieder durch den Notausgang verlassen und war in der Dunkelheit verschwunden. Niemand sah, wie der Mann im dunklen Mantel das Gelände verließ, deshalb würde man – so hoffte Nightshade jedenfalls – auch davon ausgehen, dass Roche sich während der Explosion im Gebäude aufgehalten hatte. Roches auffälliger Mietwagen parkte günstigerweise direkt vor dem Turbinengebäude, was diese Annahme erhärtete.
Nightshade hatte dafür gesorgt, dass einer von Miguels Männern ihn nicht weit vom Kraftwerk entfernt in einer Nebenstraße abholte; dort hatten sie die Explosion abgewartet. Lächelnd stellte er fest, dass er ganze Arbeit geleistet hatte. Zwar musste er in dieser Nacht noch eine Menge erledigen, aber diesen Sieg konnte er schon mal feiern.
Kurz darauf jagte das erste Löschfahrzeug mit heulenden Sirenen an ihnen vorbei.
Nightshade signalisierte seinem Fahrer, dass es losgehen konnte.
Rebecca erwachte in einem dunklen Raum, in dem es nach Benzin und schaler Luft stank. Ihr Kopf tat weh, ihr Mund war trocken, und ihr Körper fühlte sich taub und schwer an. Sie lag reglos da und versuchte verzweifelt, sich an das zu erinnern, was passiert war. Langsam stiegen die Erinnerungen aus den hintersten Winkeln ihres Verstandes empor, schlimmer als jeder Kater, den sie erlebt hatte. Ihr fiel wieder ein, wie der hässliche, glatzköpfige Mann sie gepackt und ins Lagerhaus geschleift hatte. Sie sah vor ihrem inneren Auge den Gang und erinnerte sich an den Geruch des Gebäudes, der nun von dem widerlichen Benzingestank überlagert wurde. Doch sosehr sie sich anstrengte, mehr wollte ihr nicht einfallen.
Sie versuchte, klaren Kopf zu bekommen – da musste doch noch mehr sein …
Ja, sie hatte Roche gesehen, der auf zwei Stühlen an der Wand zusammengesunken war. Seine Nase hatte geblutet, und Rebecca wusste noch, dass sie bei seinem Anblick geschrien hatte. Der Mann hatte sie auf das Bett gestoßen, und sie hatte in dem schwachen Licht beobachtet, wie er irgendetwas von einem Tisch genommen hatte. Als sie die Nadel in seiner Hand gesehen hatte, hatte sie sich aufgebäumt und noch lauter geschrien, aber er hatte sie überwältigt und unter Drogen gesetzt. Darum fühlte sie sich jetzt so benommen.
Was zum Teufel geht hier vor sich?, fragte sie sich, blickte in die Dunkelheit und suchte nach Hinweisen darauf, dass auch Roche sich noch in diesem Raum aufhielt.
»Roche?«, flüsterte sie mit heiserer Stimme, hielt den Atem an, lauschte. Konnte sie da nicht jemanden atmen hören? Also war Roche noch hier.
»Roche?«, versuchte sie es noch einmal.
Sie bewegte sich ein wenig und versuchte, ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen, als sie erneut die Fahrradklingel in der Ferne hörte, oder was immer das sein mochte. Als sie sich aufsetzen wollte, klingelte es erneut. Doch sie war zu schwach, um auch nur den Kopf zu heben, daher legte sie sich wieder hin und schloss die Augen. In ihrem Zustand konnte sie ohnehin nirgendwohin.
Sie schluckte schwer und versuchte, ihre Kehle zu befeuchten. Ihre Zunge fühlte sich dick und pelzig an, deshalb konzentrierte sie sich darauf, durch den Mund zu atmen, um so den üblen Gestank auszublenden. Sie wusste, dass sie sich noch im Lagerhaus aufhielt, da ihr dieser Geruch schon vorher aufgefallen war – der Geruch von zu vielen Menschen, die auf zu engem Raum zusammenlebten.
Es gelang Rebecca nicht, einen klaren Kopf zu bekommen. Auf Bitten ihres Vaters hatte sie in der freien Zeit zwischen Schule und Ausbildungsbeginn ein Verhaltens- und Gefahrentraining absolviert. Dort hatte sie gelernt, was man tun muss, wenn man als Geisel genommen oder fälschlich verhaftet wird. Damals war ihr das alles weit hergeholt vorgekommen, doch wenn sie alleine verreist war, hatte sie häufig auf diese Kenntnisse zurückgegriffen. Was hatte man ihr damals gleich beigebracht …? Lausche auf Geräusche aus der Außenwelt. Versuche herauszufinden, wo du bist. Schon ihr Leben lang hielt Rebecca Ausschau nach Mustern, und jetzt erkannte sie eins: dieses sich wiederholende Geräusch einer Fahrradklingel.
Sie lauschte angestrengt, versuchte, noch andere Klänge wahrzunehmen, und glaubte, durch die Wand hinter ihrem Kopf jemanden weinen zu hören. Es klang leise, hörte sich aber nach einer Frau oder einem Mädchen an. So weinte man, wenn man alleine war, nicht weil man Aufmerksamkeit erregen wollte. Kurz darauf wurde eine Tür zugeknallt. Eine Männerstimme sagte etwas, das Rebecca nicht verstehen konnte. Das Weinen verstummte. Erneut versuchte Rebecca, sich aufzusetzen. Sofort war wieder die Fahrradklingel zu hören. Jetzt stellten die Synapsen in ihrem Gehirn eine Verbindung her, und sie erkannte den Zusammenhang. Sie bewegte den Arm. Die Klingel ertönte. Sie hob den Kopf. Die Klingel ertönte. Sie wedelte mit Armen und Beinen. Die Klingel hörte gar nicht mehr auf. Dann lag sie regungslos – und sofort verstummte die Klingel.
Dafür hörte sie jetzt, wie Roche auf der anderen Seite des Raumes leise stöhnte. In der Dunkelheit konnte sie allerdings nichts erkennen.
»Roche?«, flüsterte sie noch einmal, doch auch diesmal bekam sie keine Antwort.
Draußen wurde eine Tür zugeknallt. Rebecca erstarrte. Schritte näherten sich. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
»Roche! Wachen Sie auf«, rief sie und hörte ihn erneut stöhnen. Sie versuchte, sich aufzusetzen, und ignorierte die verdammte Fahrradklingel, aber sie war zu schwach. Außerdem war es bereits zu spät. Die Tür wurde aufgerissen, und der glatzköpfige Mann stürmte herein. Er schaltete das Licht ein. Rebecca kniff die Augen zu, als es gleißend hell wurde.
»Liegen Sie still«, knurrte der Mann.
Rebecca öffnete die Lider einen Spalt weit und sah, dass der Glatzkopf eine Spritze in der Hand hielt. Doch sie wollte nicht schon wieder unter Drogen gesetzt werden.
»Nein, bitte nicht!«, flehte sie inständig, als er auf sie zukam. Der Mann reagierte nicht. »Bitte«, sagte sie noch einmal und versuchte, ruhiger zu klingen, als sie war. »Sie können uns noch immer gehen lassen. Wir können uns doch einigen.«
Noch einmal versuchte sie, sich auf dem Bett aufzusetzen, und ihr Verstand zwang ihren Körper, auf die Kampf- oder Fluchtinstinkte zu reagieren, die sich in ihr regten. Sie sah Roche, der auf dem Stuhl zusammengesunken war und jetzt langsam die Augen öffnete. Er wirkte benommen und schien nicht ganz bei sich zu sein.
Der Glatzköpfige stand jetzt direkt neben Rebecca, legte eine kräftige Hand auf ihre Brust und drückte sie wieder aufs Bett. Er hielt sie mit dem Ellenbogen fest und bereitete die Spritze vor, um ihr deren Inhalt zu injizieren. Rebecca schrie, so laut sie konnte, und versuchte den Mann abzuwehren. Doch sie war nicht stark genug. Einen Augenblick später spürte sie, wie die Nadel in ihre Haut eindrang.
In diesem Moment sah sie, dass Roche auf unsicheren Beinen vorwärtsstürzte. Er streckte die gefesselten Hände vor sich aus und legte diese um den Hals des Mannes. Der unerwartete Angriff überrumpelte den Glatzkopf. Er ließ die Nadel fallen und packte Roches Hände.
Roche versuchte ihn abzuschütteln, konnte sich aber nicht wirkungsvoll wehren. Während Rebecca spürte, wie das Betäubungsmittel allmählich Wirkung zeigte, sah sie, dass der Mann Roche an dessen gefesselten Händen über die Schulter nach vorn zerrte. Nach einem heftigen Schlag ging Roche zu Boden, doch der Mann drosch weiter auf ihn ein, auch als Roche längst auf dem Steinboden lag.
Dann wurde um Rebecca herum alles schwarz. Wieder verlor sie das Bewusstsein.
Oscar Franklin, technischer Leiter der NCCU, goss sich ein großes Glas Scotch ein und ließ sich in seinen Lieblingsarmsessel sinken. Er war froh, nach Hause gefahren zu sein – er musste eine Weile aus dem Büro verschwinden, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Die Ereignisse der letzten Woche hatten ihm ziemlich zugesetzt, und er hatte schon den ganzen Nachmittag das Bedürfnis verspürt, sich zurückzulehnen und über alles nachzudenken. Seitdem sie die Nachricht über den tödlichen Unfall von Anthony Prince, Chef einer der leitenden Sicherheitsfirmen des Landes, und den Diebstahl der Datenbank erhalten hatten, hatte er Vollgas gegeben. Nun musste er dringend ein bisschen zur Ruhe kommen.
Er hatte noch nie an Zufälle geglaubt, und in dieser Woche hatte es einfach zu viele gegeben. Jack Willis, der Forensiker, war der Ansicht, dass alles miteinander zu tun hatte, auf welche Weise auch immer – und Franklin war mehr und mehr geneigt, ihm zuzustimmen. Seit dem Augenblick, in dem er das Spiegelbild des Motorradfahrers im Rückfenster von Sheila Davies’ Wagen gesehen hatte, nagte das Gefühl an ihm, dass ihr Unfall irgendwie mit ihren Ermittlungen gegen Prince zu tun haben musste. Er hatte nur keine Ahnung, wie alles miteinander zusammenhing. Vielleicht hatte Sheila etwas darüber herausgefunden, was Black Flag vorhatte. Aber warum hatte sie es dann nicht gemeldet? Sheila Davies war keine Agentin, die auf eigene Faust ermittelte.
Widerstrebend hatte Franklin seinen verhassten Kollegen Scott Mitchell, Sonderberater der NCCU, auf den Fall angesetzt, denn er war der Einzige aus dem Team, bei dem Franklin davon ausgehen konnte, dass er seine Zeit nicht mit Klatsch und Tratsch verbrachte und weder mit Kollegen noch mit der Presse darüber sprach. Als Franklin das Büro verlassen hatte, war Mitchell längst in seine Arbeit vertieft gewesen. Franklin konnte ihn zwar nicht besonders leiden, musste ihm aber zugestehen, dass er ein fleißiger Bursche war. Sie waren übereingekommen, dass Mitchell nur Franklin Bericht erstatten und sich sofort melden würde, wenn er Verbindungen zwischen Davies und Prince entdeckte oder etwas Neues über Black Flag herausfand. Sie konnten sich keine Skandale leisten, doch Franklin hatte das ungute Gefühl, dass ihnen genau das bevorstand.
Es war eine schreckliche Woche für die NCCU gewesen, und nach Davies’ Tod musste Franklin das Team durch diese turbulenten Zeiten lenken. Obwohl er sich seit langer Zeit nach einer Beförderung gesehnt hatte, fand er diese Position momentan nicht gerade erstrebenswert. Die ganze Abteilung war in Aufruhr, denn streng vertrauliche Informationen waren von der kriminellen Hackergruppe Black Flag gestohlen worden, und Franklins Team wusste noch immer nicht genau, welche Gefahr diese Bande eigentlich darstellte. Darüber hinaus hatte Anthony Prince Informationen mit dem Feind ausgetauscht. Jetzt war Prince tot, augenscheinlich ermordet. Es war schon schlimm genug, dass mit Sheila Davies die Leiterin der NCCU bei einem Unfall ums Leben gekommen war, doch wenn sich jetzt herausstellte, dass auch sie ins Visier von Black Flag geraten war, würde die Öffentlichkeit schockiert reagieren.
Viel schlechtere Presse konnte diese Woche allerdings nicht mehr bringen. Es gab schon mehr als genug Leute, von Politikern bis hin zu Beamten, die nur darauf warteten, dass die National Crime Agency, der die NCCU als Unterabteilung angehörte, bei der Verbrechensbekämpfung versagte. Bei ihrer Gründung hatte die Presse die Agency als das »FBI Großbritanniens« bezeichnet und dabei auch alle negativen Assoziationen mit einbezogen. Franklin mochte diese Beschreibung nicht, aber irgendwie war sie hängengeblieben, und nun wurde jede ihrer Aktionen mit Argusaugen verfolgt, als würde man sie für korrupt oder unfähig halten.
Er hatte Sheila Davies nie besonders nahegestanden, und ihre Überheblichkeit hatte er stets verabscheut. Franklin war von jeher der Ansicht gewesen, dass Davies eher aus politischen als aus professionellen Gründen befördert worden war, und das hatte ihn stets gewurmt. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass er ihr den Tod gewünscht hätte. Gleiches galt für die Mitarbeiter der NCCU. Sie hatten Davies gemocht. Und das Letzte, was Franklin jetzt gebrauchen konnte, war eine trauernde Abteilung. Stattdessen mussten die Agenten wachsam und konzentriert bleiben, wenn sie es mit Black Flag aufnehmen wollten. Dennoch: Er durfte die emotionalen Auswirkungen von Sheila Davies’ Tod nicht außer Acht lassen.
Auch wenn er zuerst irritiert gewesen war, als Willis ihm eröffnet hatte, dass er nicht an einen Unfall glaube, musste Franklin nun einräumen, dass es eigentlich ein viel zu großer Zufall gewesen wäre. Als sie den Motorradfahrer im Fenster entdeckt hatten, zweifelte er nicht daran, dass er irgendwie in die Geschichte verwickelt war. Natürlich konnte es dennoch ein Unfall gewesen sein, aber sie mussten der Sache nachgehen. Er wusste, dass es jetzt nur auf Fakten ankam. Die National Crime Agency hatte den Ruf, Verbrecher zur Strecke zu bringen, die ihren Opfern in der Cyber-Unterwelt auflauerten. Franklin durfte nicht zulassen, dass dieser Ruf litt, solange er das Sagen hatte. Deshalb hatte er den Großteil des Tages damit zugebracht, seine nervösen Bosse bei der NCA zu beruhigen.
Er nahm die Fernbedienung in die Hand, ließ seinen Scotch im Glas kreisen, damit er das Eis benetzte, und schaltete den Fernseher ein. Die Zehnuhrnachrichten fingen gerade an. Es war eine Wohltat, mal einen Augenblick still zu sitzen und sich anzuschauen, was in der Welt so vor sich ging. Doch dieses angenehme Gefühl verflog rasch. Das erste Bild, das Franklin sah, zeigte das Drax-Kraftwerk, aus dem Rauch aufstieg. Ein besorgter Reporter stand vor dem dramatischen Hintergrund und sprach mit ebenso besorgter wie eindringlicher Stimme:
»Noch ist nicht bekannt, wie viele Personen sich zum Zeitpunkt der Explosion in dem Gebäude aufgehalten haben, aber erste Berichte lassen vermuten, dass der fragliche Bereich nahezu unbesetzt war. Es ist zu früh, um genaue Aussagen darüber zu machen, wodurch die Explosion in einem der Turbinengeneratoren verursacht wurde, und bislang haben wir noch keinen Mitarbeiter sprechen können.«
»Heilige Scheiße!«, rief Franklin, stellte sein Glas lautstark vor sich auf dem Tisch ab und starrte ungläubig auf den Fernseher.
Wie aus heiterem Himmel war die Lage noch sehr viel schlimmer geworden.
Mitchell glaubte, die Situation weitaus besser unter Kontrolle zu haben als noch an diesem Morgen. Alles lief nach Plan. Er hatte gute Fortschritte gemacht und Verbindungen zwischen Prince, Davies und Black Flag offengelegt. Bis zum Morgen würde er einen beachtlichen Ordner voller Beweise für Franklin zusammengestellt haben, aber er hatte noch nichts entdeckt, was es erforderlich machte, den Mann zu Hause anzurufen. Außerdem arbeitete Mitchell ohnehin lieber alleine und genoss es, noch im Büro zu sein, während fast alle anderen längst nach Hause gefahren waren. Gut, unten hielten sich immer ein paar Sicherheitsleute auf, aber Mitchell war der Einzige auf diesem Stockwerk, und die Ruhe war eine angenehme Abwechslung zu der aufgeladenen Atmosphäre, die den ganzen Tag über im Büro geherrscht hatte.
Er öffnete den nächsten Energydrink und genoss den süßlichen Geruch, der ihm in die Nase stieg. Ihm war klar, dass das Zeug nicht gesund war, aber er brauchte das Koffein und musste konzentriert bleiben. Er hatte Prince’ Laptop aus dem Käfig im »Schweinestall« geholt, wie man den kleinen Konferenzraum, in dem die Besprechungen der NCCU stattfanden, liebevoll-ironisch nannte. Von dort hatte er den Laptop mit in Sheila Davies’ Büro genommen und seinen eigenen Rechner daran angeschlossen, sodass Prince’ Computer jetzt als externe Festplatte fungierte. Neben den beiden Laptops stand Sheila Davies’ Desktopcomputer, den Mitchell ebenfalls hochgefahren hatte. Außerdem befand sich hier noch ein vierter Rechner – der Laptop, der aus Davies’ Wagen geborgen worden war. Mitchell hatte mehr als eine Stunde benötigt, um ihr Passwort zu knacken. Das war ziemlich beeindruckend, auch wenn es nicht anders zu erwarten gewesen war. Doch es hatte sich gelohnt, denn auf diese Weise hatte Mitchell Aufschluss über Davies’ letzte Aktivitäten erhalten. Wenn er geschickt vorging, konnte er ihre Verbindungen zu Black Flag enthüllen und der Gruppe auch Davies’ Unfall anhängen. Der Salesman würde es noch bedauern, ihn unterschätzt zu haben.
Es war Mitchell ganz recht, dass Willis und Franklin bereits der Ansicht waren, etwas oder jemand hätte Davies’ Unfall verursacht. Noch konnten sie zwar keine Verbindung zwischen Davies’ und Prince’ Tod herstellen, aber Mitchell wusste, dass er letzten Endes genug Beweise dafür finden würde und Black Flag auch für Davies’ Unfall verantwortlich machen konnte. Wenn es ihm gelang, genügend Informationen über die Aktivitäten von Black Flag unter den Agenten bei der NCCU zu verbreiten, konnte die Agency tatsächlich einige von ihnen zur Strecke bringen. Die Notwendigkeit dafür war jedenfalls gegeben.
Aber er musste sich dennoch vorsehen, denn Nightshade und der Salesman gehörten ihm allein. Um diese beiden wollte Mitchell sich persönlich kümmern. Jetzt hieß es, er gegen sie, und er hatte die Absicht, ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen, während er sie jagte.
Das Team, das den Diebstahl der Datenbank bearbeitete, hatte an diesem Tag bereits ein Update von Roche erhalten, der die Arbeit im Kraftwerk zusammen mit Rebecca so gut wie abgeschlossen hatte und dann mit ihr zusammen zurückkehren würde. Mitchell hatte einen kurzen Blick darauf geworfen, aber nichts Alarmierendes gefunden. Die daran angehängten Dokumente wollte er später durchsehen. Aber er konnte auch genauso gut damit warten, bis er am nächsten Tag ihren Bericht hörte, denn dadurch wurde alles, was er im Laufe der Nacht fand, noch unterstützt. Hätten sie bereits etwas Konkretes entdeckt, wäre es in diesem Update enthalten gewesen.
Mitchell leerte den Energydrink und warf die Dose in den Abfalleimer neben dem Schreibtisch. Er hatte das Gefühl, langsam, aber stetig Fortschritte zu machen. Die Onlinetelefonate über Sheila Davies’ Internettelefonnummer waren faszinierend. Sie hatte einen anonymen Voice-over-IP-Service benutzt und diesen offen gelassen, als sie den Laptop, offensichtlich in Eile, geschlossen hatte.
Mitchell machte sich daran, so viele Informationen wie möglich über ihre Kontakte herauszufinden. Die meisten Onlinetelefondienste zeichneten die Zeit und Dauer der Gespräche auf, und das war auch hier nicht anders. Allerdings sollte der Cache geleert werden, sobald der Dienst geschlossen wurde, um so alle Spuren des Anrufs zu löschen. Doch zu seiner Freude stellte Mitchell fest, dass Sheila Davies die Nummer, die sie um 5:13 Uhr angerufen hatte, bereits früher am Tag schon einmal gewählt hatte. Sie musste während des ersten Anrufs noch im Büro gewesen sein. Mitchell vermutete, dass dieser Anruf ungefähr zu der Zeit getätigt worden war, als er sich am gestrigen Nachmittag mit Prince’ Laptop beschäftigt hatte.
Hatte Sheila Davies hier, direkt vor ihrer Nase, mit Black Flag kommuniziert? Einen Moment lang fragte sich Mitchell, ob er die Nummer des Salesman vor sich hatte. Er schrieb sie auf eine Liste, die er erstellte, um Querverweise zu den Telefonnummern herzustellen, die Prince vor seiner Abreise aus Paris angerufen hatte. Sein Finger schwebte über der Maustaste, und er hätte nur zu gern sofort dort angerufen. Was sollte er sagen? Würde alles auffliegen, wenn er den Kontakt jetzt herstellte?
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Mitchell sprang erschrocken auf. Vor ihm stand Oscar Franklin. Er sah schrecklich aus.
»Sie sind noch da, Mitchell. Sehr gut. Kommen Sie sofort mit. Die Kacke ist so richtig am Dampfen.«
Mitchell hatte noch gar nicht begriffen, was los war, da stürmte Franklin bereits durch den Flur. Mitchell war so in seine Arbeit vertieft gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie jemand ins Gebäude gekommen war. Rasch klappte er die Laptops zu und stapelte sie aufeinander, um alle drei mit zum Schweinestall zu nehmen. Er würde sie auf keinen Fall unbewacht hier stehen lassen.
Als er auf den Gang trat, sah er den NCCU-Agenten Miller auf sich zukommen. Miller sah aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen.
»Was ist los?«, erkundigte sich Mitchell.
»Das Kraftwerk. Eine schlimme Explosion, vor ungefähr zwei Stunden. Die anderen sind ebenfalls unterwegs.«
Mitchell ging neben Miller in Richtung Schweinestall, aber der NCCU-Mann sagte nichts mehr.
Mitchell stieß die Tür auf und war überrascht, dass es im Besprechungsraum bereits von Leuten wimmelte. Wann waren die alle hergekommen? Da waren uniformierte Polizisten, Agenten der NCCU und höherrangige Mitarbeiter der NCA. Franklin saß am Kopfende des Konferenztisches zwischen zwei sehr wichtig aussehenden Männern. Sie wandten den anderen den Rücken zu und schienen in eine Unterhaltung vertieft zu sein.
Mitchell schloss Prince’ und Davies’ Laptops wieder in den Käfig ein und setzte sich neben Miller an den Konferenztisch. Dort klappte er seinen eigenen Laptop auf und loggte sich ein. Die beiden Männer bei Franklin setzten sich. Alle anderen Anwesenden suchten sich ebenfalls einen Sitzplatz.
Franklin ließ den Blick über die Versammelten schweifen. »Danke, dass Sie alle so schnell gekommen sind. Für diejenigen unter Ihnen, die es noch nicht gehört haben: Das Drax-Kraftwerk wurde heute Nacht angegriffen. Laut einer ersten Diagnose gab es ein Problem mit den Turbinengeneratoren, woraufhin zwei der Turbinen explodiert sind. Da wir bereits der Möglichkeit eines Angriffs auf das Kraftwerk nachgegangen sind und einen Agenten vor Ort hatten, müssen wir davon ausgehen, dass es sich um einen terroristischen Akt handelt. Unsere Hauptverdächtigen sind natürlich die kriminellen Hacker von Black Flag. Bis jetzt hat noch niemand die Verantwortung für den Anschlag übernommen, und bis wir mehr wissen über das, was dort passiert ist, müssen wir mit weiteren Angriffen auf denselben oder andere Orte rechnen. Bis jetzt konnte ich Agent Roche und Rebecca MacDonald noch nicht erreichen. Als wir zuletzt von den beiden gehört haben, hielten sie sich noch im Kraftwerk auf. Leider sind wir uns nicht sicher, ob sie zum Zeitpunkt der Explosion noch dort waren.«
Erschrockenes Gemurmel ging durch den Raum. Franklin sah aus, als könnte er jeden Moment unter dem Druck zusammenbrechen.
»Das ist Officer Knox von der Abteilung für das organisierte Verbrechen«, sagte er. Der Mann zu seiner Rechten hob die Hand, als er vorgestellt wurde. »Er wird diesen Teil der Ermittlungen leiten und sich um alle taktischen Teams kümmern.« Knox war ein schlanker, athletischer Mann Ende vierzig mit kurzem dunklem Haar und kantigem Kinn.
»Für genau so etwas wurde die NCA gegründet, Leute«, fuhr Franklin fort. »Wir sind sicher, dass der Angriff noch viel schlimmer verlaufen wäre, hätten unsere Agenten nicht bereits einige Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Natürlich werden jetzt alle Abteilungen der Agency zusammenarbeiten, um die Angreifer festzunehmen. Das NCCU-Team erstattet weiterhin mir Bericht, und ich gebe die Informationen weiter. Unsere Kollegen von der Polizei werden weiterhin Sheila Davies’ Unfall und Anthony Prince’ Flugzeugabsturz unter die Lupe nehmen, da es Verbindungen zwischen diesen beiden Fällen geben könnte. Mir ist klar, dass wir im Moment sehr viel zu tun haben, und ich weiß, dass Sie alle wegen der Ereignisse der vergangenen Tage schockiert und erschöpft sind, aber ich muss Sie dennoch bitten, Ihr Bestes zu geben.«
»Wollen Sie damit sagen, Davies’ Unfall hängt mit alldem zusammen?«, hakte NCCU-Agent Squires nach.
»Offiziell sage ich gar nichts. Es sind allerdings Beweise ans Licht gekommen, die uns vermuten lassen, dass noch jemand anders in den Unfall verwickelt war. Doch bis jetzt gibt es außer dem schlechten Timing nichts, das den Unfall mit den anderen Ereignissen in Verbindung bringt. Ich wollte Sie nur darüber informieren, dass wir in diese Richtung ermitteln und möglicherweise auch Ihre Ressourcen benötigen werden. Mitchell geht bereits die Daten auf Prince’ Laptop durch, und er wird Willis bei der forensischen Untersuchung von Davies’ Computern unterstützen, wenn er damit fertig ist. Mitchell, benötigen Sie dabei Unterstützung?«
»Nein, ich komme zurecht. Ich kann Ihnen schon jetzt einige Dateien für eine weitere Spurensuche weiterleiten. Wie Sie wissen, war auf Prince’ Laptop ein Keylogger installiert. In den Logdateien sind Gespräche mit Personen enthalten, bei denen es sich möglicherweise um Mitglieder von Black Flag handelt. Vielleicht wurden sogar einige der Header verändert, sodass Sie mit deren Überprüfung beginnen könnten.«
Bei einer Onlinekommunikation ließ sich der Standort eines Benutzers häufig im Header ablesen, der darüber Aufschluss gab, woher die Datenpakete stammten. Ein Header ließ sich natürlich fälschen, und oft wurden die Daten über so viele Proxies umgeleitet, dass sich nicht mehr herausfinden ließ, woher die Nachrichten kamen, doch Mitchell waren Dateien aufgefallen, die Prince aufgehoben und auf die er geantwortet hatte, deren Header ihm bekannt vorkamen. Diesen Spuren nachzugehen, konnte er Miller oder Squires überlassen.
»Übermitteln Sie uns alles, was uns zu einem Mitglied von Black Flag führen könnte«, fuhr Franklin fort. »Wir brauchen schnell ein paar Treffer. Wie viele von Ihnen haben einen aktiven Alias, der noch nicht aufgeflogen ist?«
Franklin musterte die Mitglieder seines Teams hoffnungsvoll. Einige Agenten hoben zögernd die Hände, Mitchell jedoch nicht. Die meisten Agenten der NCCU verfügten über wenigstens einen Alias, den sie als Undercover-Persönlichkeit entwickelt hatten und mit dem sie sich im Deep Web bewegen, mit anderen Usern chatten, Deals abschließen und versuchen konnten, die Rädelsführer ausfindig zu machen. Allerdings waren viele Agenten nicht gerade gründlich dabei gewesen, ihren Alias aktiv zu halten und sich täglich darum zu kümmern, sodass sie rasch aufflogen, wenn sie online gingen, um Fragen zu stellen. Mitchell war immer sehr vorsichtig, wenn er einen Alias verwendete. Er hatte zahlreiche solcher Undercover-Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Leidenschaften und Interessen. Einige davon waren sogar noch älter als Strider. Bei vielen handelte es sich lediglich um Beobachter, die nie irgendeinen Streit in einem Forum angefangen hatten. Doch Mitchell hatte nicht vor, einen davon zu opfern, damit er im Auftrag der NCCU vernichtet werden konnte. Außerdem schien Franklin mit seinen Freiwilligen bereits zufrieden zu sein.
»Okay, dann gehen Sie online und sehen sich um«, sagte er. »Aber seien Sie vorsichtig, denn Sie müssen davon ausgehen, dass viel Unsinn geredet wird. Ich möchte wissen, was man so sagt. Jedes Detail, und mag es noch so unbedeutend erscheinen, könnte der wichtige Hinweis sein, den wir brauchen. Mitchell, geben Sie alle Informationen weiter, die Sie für bedeutsam halten, und machen Sie dann mit Ihrer Arbeit weiter. Falls es eine Verbindung gibt, möchte ich sie finden, bevor der Morgen anbricht. Die Nachrichten werden viele Menschen in Angst und Schrecken versetzen, und die Zeitungen werden sich in Spekulationen ergehen. Wir brauchen Antworten. Wer sind diese Leute? Was wollen sie? Und warum greifen sie uns auf eigenem Boden an? Bis wir Antworten auf eine dieser Fragen haben, reden wir mit niemandem. Ich wiederhole: mit niemandem. Die Presseleute rufen uns schon an, aber wir werden keinen Kommentar abgeben. Haben wir uns verstanden?«
Er schaute sich um.
»Habt ihr das verstanden?«, rief er. Sofort nickten alle.
»Gut. Ihnen werden ein paar neue Gesichter aufgefallen sein. Jeder hier hat die volle Sicherheitsfreigabe, und wir alle sind im selben Team. Ich möchte, dass wir zusammenarbeiten. Okay? Wir arbeiten alle auf dasselbe Ziel hin und sollten einander helfen. Sämtliche Daten werden auf den gemeinsamen Festplatten gespeichert, und Sie wissen, wie Sie wichtige Informationen markieren müssen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir keinen Bock schießen. Also los, an die Arbeit.«
Einige Agenten entfernten sich, begierig, mit der Arbeit zu beginnen. Mitchell sah, wie die beiden Männer bei Franklin aufstanden und sich mit ernster Miene leise mit ihm unterhielten. Sie schüttelten sich die Hand. Mitchell beobachtete, wie Franklins Schultern einsanken, als er die Männer zur Tür begleitete. Zum ersten Mal tat er Mitchell leid. Er hatte das Bedürfnis, Franklin Informationen zu geben, damit er das Gefühl bekam, sie würden Fortschritte machen, aber er war noch nicht bereit, seine Geheimnisse preiszugeben.
Mitchell war davon überzeugt, dass sie noch mehr von Black Flag hören würden, falls sie wirklich hinter diesem Anschlag steckten. Irgendwie ergab es für ihn keinen Sinn, dass Black Flag das Kraftwerk genau an dem Tag angegriffen hatte, an dem Roche und Rebecca sich dort aufhielten. Entweder war die Hackerbande ein großes Risiko eingegangen, oder sie zeigte der NCCU den Mittelfinger. Mitchell hatte eine Ahnung, was von beidem zutraf. Vielleicht hatten sie wegen der Dinge, die Roche und Rebecca herausgefunden hatten, schnell handeln müssen.
»Franklin«, rief Mitchell, bevor dieser den Raum verlassen konnte. »Warten Sie bitte kurz.« Schnell klappte er seinen Laptop zu und ging zur Tür, wo Franklin ungeduldig auf ihn wartete.
»Können wir uns kurz unterhalten?«, fragte Mitchell.
»Ja, sicher.« Franklin nickte. »Was gibt es denn?«
»Es geht um Roche und Rebecca MacDonald.«
»Wir wissen nicht, ob sie sich noch im Gebäude aufgehalten haben, Mitchell. Tut mir leid. Ich weiß auch nicht mehr als Sie.«
»Darum geht es nicht. Ich hatte an die Nachricht gedacht, die Roche gestern geschickt hat – sein Update. Ich habe sie mir nur kurz angesehen, aber er hat neue Hinweise erwähnt, die mit dem Kraftwerk zu tun haben. Ist dem jemand nachgegangen?«
»Nein, bisher nicht«, entgegnete Franklin.
»Kommt Ihnen der Zeitpunkt des Angriffs denn nicht seltsam vor?«
»Wieso? Black Flag hat die Datenbank vor Tagen gestohlen. Dank der Informationen, die an die Presse durchgesickert sind, wusste die Bande, dass uns bekannt ist, dass sie die Datenbank haben. Vermutlich hielten sie es für klüger, die Daten zu nutzen, bevor wir alle Löcher stopfen.«
»Das kann schon sein, aber es passt nicht zu ihnen. Ich kenne diese Leute, zumindest ein bisschen. Wäre die Mission in irgendeiner Weise gefährdet gewesen, hätten sie die Sache eher abgebrochen, statt übereilt zu handeln. Wir sind seit Jahren hinter ihnen her, und es ist uns nicht mal ansatzweise gelungen, ihnen gefährlich zu werden. Mir kommt das eher wie eine Kurzschlussreaktion vor, mit der sie auf etwas Größeres reagieren. Was meinen Sie?«
»Könnte sein«, erwiderte Franklin. »Fahren Sie fort.«
»Wenn wir die Theorie weiterverfolgen, dass Prince versucht hat, aus dem Deal mit Black Flag auszusteigen, können wir davon ausgehen, dass Black Flag auf dem falschen Fuß erwischt wurde, als sie versucht haben, die Datenbank zu stehlen. Dass sie durch die Hintertür eindringen mussten, hat ihnen ja schon gezeigt, dass wir Bescheid wussten. Das war ihr großes Problem. Danach haben wir begonnen, alle Löcher zu stopfen, und es ihnen dadurch fast unmöglich gemacht, einen effektiven Angriff zu führen. Mit dem Anschlag auf das Kraftwerk können sie nichts erreichen, erst recht nicht, wenn sie nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Das ist eine Nummer zu klein für sie. In Roches Update klang es für mich eher so, als wären er und Rebecca mit der Arbeit im Kraftwerk fertig und wollten gerade aufbrechen.«
»Ja, stimmt, aber Roches Mietwagen stand noch auf dem Parkplatz, als die Turbine in die Luft flog. Die Polizei sagte, der Wagen sei etwa eine Stunde vor der Explosion wieder aufs Gelände gekommen. Vielleicht hatten sie noch etwas gefunden und haben versucht, es zu reparieren, als alles in die Luft geflogen ist.«
»Aber warum hat Roche dann nicht angerufen? Er hätte sich doch gemeldet, wenn er etwas Großes entdeckt hätte, oder nicht?«
Franklin blieb stehen und schaute ihn an, als würde er ihn zum ersten Mal richtig wahrnehmen.
»Ja«, antwortete er, als er sich plötzlich erinnerte. »Er hat mich angerufen, aber schon gegen Mittag. Er sagte, sie wären mit der Arbeit fertig und wollten aufbrechen. Dann wollte er mir noch erzählen, dass sie sich unterwegs irgendetwas genauer anschauen wollten, aber ich habe ihn unterbrochen und ihn über Sheilas Unfall informiert. Daraufhin sagte er, sie kämen sofort zurück. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
»Ich finde, wir sollten uns die Sachen, die er geschickt hat, näher ansehen. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Angriff auf das Kraftwerk weder groß noch kontrolliert genug ist, um den Aufwand zu rechtfertigen, den Black Flag bei der Beschaffung der Datenbank betrieben hat. Mir kommt es eher wie ein Ablenkungsmanöver vor. Vielleicht hat das, was Roche herausgefunden hat, Black Flag irgendwie zum Handeln gezwungen. Ich vermute, dass er auf etwas gestoßen ist, auf das sie schnell reagieren mussten.«
»Nicht groß genug?«, meinte Franklin ungläubig. »Mir kommt es verdammt groß vor, Mitchell. Sie haben ein ganzes Kraftwerk in die Luft gejagt.«
»Ich weiß, aber wenn sie das schon die ganze Zeit vorgehabt hätten, dann hätten sie alles gesprengt. Alle sechs Turbinen, meine ich.«
»Vielleicht haben wir einfach nur Glück gehabt«, mutmaßte Franklin. »Oder Roche und Rebecca ist es gelungen, einen Teil ihres großen Plans zu verhindern.«
»Oder sie haben noch rasch auf ein kniffliges Problem reagiert. Auf jeden Fall wussten sie, wie sie uns beschäftigen können. Mir kommt das Ganze merkwürdig vor.«
Mitchell bemerkte, dass seine Argumente bei Franklin auf fruchtbaren Boden fielen.
»Sie könnten recht haben, Mitchell. Diese ganze Woche verläuft schon sehr seltsam. Also gut, gehen Sie durch, was Roche geschickt hat, und informieren Sie mich über alles, was Sie finden. Danach besorgen Sie mir aber bitte ein paar Antworten über Sheila Davies. Die hohen Tiere scharren schon ungeduldig mit den Hufen.« Sie hatten Franklins Bürotür erreicht. Er nickte Mitchell kurz zu, bevor er öffnete. »Gut mitgedacht, Mitchell. Sehr gut.«
Mitchell stellte fest, dass Franklin ihm soeben zum ersten Mal für etwas gedankt hatte. Der Mann musste unter verdammt großem Druck stehen.