Regel Nr. 13: Der frühe Vogel fängt den Wurm
Wenn du einer Beute auflauerst, sorge dafür, dass du immer den ersten Schritt machst. Aktion ist besser als Reaktion.
Als er wieder am Schreibtisch saß, öffnete Mitchell die Nachricht, die Roche an das Team geschickt hatte. Es war eine kurze E-Mail. Im Anhang befand sich ein Ordner mit eingescannten Bildern und einem Dokument. Mitchell öffnete zuerst alles und ordnete die Fenster ordentlich auf dem Bildschirm an, bevor er sich die Nachricht genauer anschaute. Sie lautete:
An: NCCU-Team
Von: D. Roche
Betreff: Weitere Verbindungen – Drax
Ich habe eine Übereinstimmung gefunden zwischen Containernummern, die manuell aus dem Port of Tyne abgemeldet wurden, und Nummern, die mit dem Zug zurückkamen. Sie waren nicht in der Datenbank, nur in den Tordokumenten. Die Container gehören Bacchus. Züge und Lagerhaus werden von Prime verwaltet. Der Zug liefert Biomasse usw. an Drax. Verwendung? Versorgungskette? Verteilernetzwerk?
Mitchell wechselte zwischen den offenen Dokumenten hin und her und schaute sich die Scans der handgeschriebenen Toraufzeichnungen für jeden der Container an, die von den Sicherheitsleuten an den Toren abgezeichnet worden waren. Es war immer dieselbe Containernummer, BCH U 709852 4, und der Container war jedes Mal innerhalb weniger Stunden nach dem Abladen vom Schiff aus dem Hafen transportiert worden.
Mitchell vergrößerte jedes der Dokumente und suchte nach allem, was ihm weiterhelfen konnte. Immer wieder sah er die Buchstaben RS-R3, die in den mit »TYP« markierten Kasten eingetragen worden waren. Er schrieb sie in sein Notizbuch und öffnete ein neues Fenster in seinem Browser. Nach kurzer Suche wusste er, dass mit »RS-R3« Thermalcontainer gemeint waren, die entweder mechanisch gekühlt oder erwärmt wurden. Mitchell schrieb auch diese Information auf seine Liste und wandte sich wieder der Datenbank zu. Alle anderen Container der Lieferung waren als allgemeines Trockengut deklariert.
Warum musste ein einziger Container gekühlt oder erhitzt werden? Mitchell schrieb sich diese Frage auf, sah sich noch einmal die Containerpapiere an und notierte sich die Daten von jedem der eingescannten Dokumente, auch die des neuesten, bei dem der Container den Hafen am letzten Montag in den frühen Morgenstunden verlassen hatte – zwei Tage nach Prince’ Tod und dem Diebstahl der Datenbank. Ihm fiel auf, dass der Container noch nicht wieder in der Datenbank des Hafens auftauchte, was bedeutete, dass er noch unterwegs sein musste.
Nachdem Mitchell die Daten der älteren Dokumente mit der Datenbank verglichen hatte, erkannte er, dass der fragliche Container nie länger als zwei Wochen im Umlauf war und meist innerhalb von zehn Tagen in den Hafen zurückkehrte. Da der Container jetzt erst seit drei Tagen unterwegs war, befand er sich entweder noch im Lagerhaus oder würde bald dorthin gebracht werden. Mitchell war davon überzeugt, dass Roche etwas gefunden hatte – hier gab es eine Verbindung.
Waren Roche und Rebecca nach Verlassen des Kraftwerks zum Lagerhaus gefahren? Hatten sie etwas gefunden, das mit Drax zu tun hatte, und waren dorthin zurückgekehrt, um der Sache auf den Grund zu gehen? Vielleicht hatten sie herausgefunden, dass die Gruppe vorhatte, die Turbinen in die Luft zu sprengen.
Diese Verdachtsmomente reichten jedenfalls aus, um ein Team zum Lagerhaus zu schicken, denn dort ging definitiv irgendetwas vor sich.
Eigentlich hasste Brian Krankenhäuser. Er hasste die Gerüche und Geräusche. Doch heute machte ihm das alles nichts aus, denn er war froh, noch am Leben zu sein. Er hatte schlimme Schmerzen, auch wenn die Ärzte ihm starke Medikamente verabreicht hatten.
Seine Frau hatte die ganze Nacht bei ihm gesessen, seitdem er aus dem OP zurück war. Jetzt war sie in die Cafeteria gegangen, um sich einen Tee zu holen, da sein Zustand stabil war und kein Grund mehr zur Sorge bestand. So hatte Brian ein wenig Ruhe, um darüber nachzudenken, was passiert war.
Die Ärzte hatten ihm mitgeteilt, er habe schwere Verbrennungen im Gesicht und an den Händen davongetragen. Doch die schlimmste Verletzung hatte er am Rücken erlitten, wo die Feuersbrunst über ihn hinweggetobt war. Er lag auf dem Bauch, und sein Gesicht lugte durch ein Loch im Bett. Die Ärzte hatten ihm gesagt, er könne von Glück reden, überhaupt noch am Leben zu sein.
Das Gefühl habe ich auch, ging es Brian durch den Kopf. Er war sicher gewesen, sterben zu müssen. Alles hätte schlagartig vorbei sein können. Dieser Gedanke machte ihn wütend. Sein Gesicht war noch immer bandagiert, seine Augen mit Gaze bedeckt. Die Ärzte hatten ihm mitgeteilt, dass die Netzhäute verletzt seien, aber sie konnten ihm erst in einigen Tagen sagen, wie schwer die Verletzungen wirklich waren.
Denk positiv, sagte er sich.
Es klopfte leise an der Tür. Dann hörte Brian eine Männerstimme.
»Mr Phillips, hier ist Dr. Prosser. Wie fühlen Sie sich?«
»Etwas besser, danke, Doktor«, antwortete Brian mit heiserer Stimme.
»Die Polizei ist hier und würde gern mit Ihnen darüber reden, was passiert ist, falls Sie sich an irgendetwas erinnern. Ich kann den Leuten aber sagen, dass es Ihnen noch nicht gut genug geht, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nein, ist schon okay. Ich erinnere mich zwar nicht an viel, aber ich werde der Polizei helfen, so gut ich kann«, versicherte Brian dem Arzt. Schließlich war es sein Job, für die Sicherheit des Kraftwerks zu sorgen. Er wusste nicht, was passiert war, aber falls das Kraftwerk zerstört worden war, wollte er seinen Teil dazu beitragen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.
Brian hörte Stimmen auf dem Flur. Dann wurde die Tür erneut geöffnet. Er spürte, dass jemand ins Zimmer kam, konnte aber nicht einschätzen, wie viele Personen. Schließlich sprach eine Frau ihn an.
»Danke, dass Sie Zeit für uns haben, Mr Phillips«, sagte sie.
Brian fand, dass sie eine angenehme Stimme hatte. Ein leichter Yorkshire-Akzent und ein sanfter, weicher Tonfall. Vielleicht gaben sie ihm nicht die Schuld für das, was passiert war.
»Ich bin Detective Sergeant Joyce. Detective Constable Stubbs ist ebenfalls hier«, stellte die Frau sich und ihren Kollegen vor und kam ein wenig näher.
»Hallo«, sagte eine Männerstimme, die vermutlich Stubbs gehörte.
»Was ist passiert?«, wollte Brian wissen.
»Es gab eine Explosion im Kraftwerk. Zwei der Turbinen sind in die Luft geflogen«, antwortete Joyce.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Brian. »Wurden dabei viele Menschen verletzt?«
»Es hätte schlimmer kommen können.« Phillips fiel auf, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte. »Die Ärzte sagen, Sie könnten von Glück reden, noch am Leben zu sein.« Brian spürte, wie sie sich auf den Stuhl direkt neben seinem Bett setzte, auf dem seine Frau die ganze Nacht gesessen hatte. Dann hörte er Papier rascheln. Vermutlich blätterte sie in einem Notizbuch.
»Dürfen wir Ihnen ein paar Fragen über den Tag stellen, Mr Phillips?«, fragte sie schließlich. »Vielleicht können Sie sich ja an irgendetwas erinnern, was uns weiterhilft.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr viel«, entgegnete Brian deprimiert. »Es war dunkel. Ich wollte gerade meine Runde drehen, da habe ich ein lautes Geräusch gehört, und dann brach um mich herum auch schon die Hölle los.«
»Verstehe«, erwiderte Joyce. »Nun, das war die eigentliche Explosion. Was ist zuvor an diesem Tag passiert? Erinnern Sie sich an die beiden Besucher von der NCCU?«
»Ja. Zwei Computerexperten. Die Frau war offenbar am Abend zuvor angekommen, aber da waren alle schon weg. Eine nette junge Dame. Höflich. Sie kam ganz früh am Morgen wieder und war bereits da, als meine Schicht begonnen hat, aber ich habe sie während des Tages ein paar Mal gesehen. Hin und wieder kam sie auf den Parkplatz, um frische Luft zu schnappen. Sie war auch draußen, als ihr Freund kam. Der Kerl in dem albernen Auto.«
Wieder hörte er Papier rascheln und vermutete, dass sie seine Angaben mit seinen Besucherlisten verglich.
»Und dieser Agent Roche ist später eingetroffen als die Frau?«
»Ja, genau. Er kam später und hat sich dort mit ihr getroffen. Dann haben sie ein paar Stunden gearbeitet und sind zusammen wieder weggefahren.«
»Zusammen?«
»Ja, sie sind beide in seinem Wagen weggefahren. Sie hat mir beim Abschied noch gedankt. Ein nettes Mädchen, sehr hübsch.«
»Okay, Mr Phillips«, sagte Joyce. »Als der Wagen später noch einmal wiederkam, saßen dann wieder beide drin?«
»Nein, der Mann kam alleine zurück.«
Er hörte, wie die Frau sich vorbeugte.
»Er kam alleine? Sind Sie sicher?« Joyce klang irritiert.
»Ja, und er schien ziemlich schlechte Laune zu haben.«
»Hat er sich erneut angemeldet?«
»Ja, aber ich musste alles für ihn ausfüllen. Er hat nur seinen Namen eingetragen und den Rest frei gelassen, als wäre er zu wichtig, um Formulare auszufüllen.«
»Sie sagten, er hätte schlechte Laune gehabt. Woher wollen Sie das wissen? Hat er etwas zu Ihnen gesagt?« Dieses Mal stellte der Mann ihm die Fragen. Er hatte eine tiefe Stimme, daher ging Brian davon aus, dass er ziemlich groß und schwer war.
»Nein, das ist es ja. Er hat mich nicht mal begrüßt, obwohl er beim Wegfahren ziemlich freundlich gewesen war. Deshalb kam es mir so seltsam vor. Er hatte selbst im Wagen seinen Mantel an und die Kapuze aufgesetzt. Der Bursche sah aus, als wollte er die Sache nur zu Ende bringen und endlich nach Hause fahren. Also habe ich ihn reingelassen und den Rest für ihn ausgefüllt. Schließlich war er ja morgens schon mal da gewesen, sodass ich alles kopieren konnte.« So langsam hatte Brian das Gefühl, dass ihm irgendetwas entgangen war.
»Kam Ihnen an dem Mann sonst noch etwas seltsam vor?« Brian bemerkte, dass auch Stubbs näher gekommen war.
»Eigentlich nicht«, antwortete Brian, dem langsam mulmig wurde, weil er offenbar irgendetwas falsch gemacht hatte, auch wenn er nicht wusste, was das sein könnte. »Das heißt … Augenblick mal, kann schon sein. Ich fand, er sah … Ich weiß nicht, irgendwie massiger aus als vorher. Ich habe das auf den Mantel geschoben. Ich war ohnehin wütend auf ihn, schließlich hatte er an der Stelle geparkt, an der er nicht parken sollte. Direkt neben dem Gebäude. Die Geschäftsleitung mag es nicht, wenn Besucher dort parken. Ich weiß nicht, warum. Aber er war schon die Treppe rauf, bevor ich irgendetwas sagen konnte.«
Einen Moment herrschte Stille. Brian hörte, wie Joyce’ Stift über das Papier kratzte.
»Um welche Uhrzeit ist er wieder gegangen?«, fragte sie dann.
»Er ist nicht wieder gegangen. Er war immer noch da, als …« Brian hielt inne. Er begriff, dass der junge Mann tot sein musste.
»Sind Sie sicher, dass er nicht wieder rausgekommen ist?«, hakte Joyce nach.
»Dann hätte ich ihn auf jeden Fall gesehen. Ich wollte gerade rübergehen, um ihn zu fragen, wie lange er noch bleiben will. Sein Wagen stand immer noch auf dem Parkplatz.«
»Der gelbe Fiat?«, fragte Joyce.
»Ich weiß nicht, was für eine Marke es war, aber er war gelb. Sah aus wie ein Spielzeugauto.«
»Vielen Dank, Mr Phillips. Sie waren wirklich sehr hilfreich.«
Brian war zwar nicht überzeugt davon, freute sich aber über das Lob. Er hörte, wie die beiden Polizisten aufstanden.
»Eine letzte Sache noch, Mr Phillips«, sagte Stubbs. »Gibt es noch ein anderes Tor oder einen anderen Weg, um das Kraftwerk zu verlassen?«
»Nein, nur den Vordereingang. Man könnte natürlich über den Zaun klettern, aber bei dem vielen Stacheldraht dürfte das nicht so einfach sein. Warum fragen Sie? Glauben Sie, dass jemand eingebrochen ist? Da stehen überall Kameras, ich habe sie selbst gesehen.« Jetzt war Brian besorgt. Wenn jemand eingebrochen war, und er hatte es nicht mitbekommen, wäre das alles seine Schuld.
»Nein, wir wollen nur jede Möglichkeit ausschließen, Mr Phillips. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, entgegnete Joyce. »Werden Sie lieber schnell wieder gesund. Danke für Ihre Zeit.«
Aufgrund von Mitchells Erkenntnissen war die Einsatztruppe rings um das Lagerhaus in Bereitschaft. Von der Position am Ende der Straße sah die Vorderseite des Gebäudes ruhig aus. Ein Zug stand seit einer halben Stunde an der Ladeplattform hinter dem Gebäude, doch bislang waren keine Container bewegt worden. Das Gelände verhinderte ein verdecktes Vorrücken, weil das Lagerhaus isoliert stand und nur von Feldern und Straßen umgeben war.
Sie hatten auf jeder Seite des Gebäudes – mit Ausnahme der Gleise – ein Team postiert. Sämtliche Teams waren noch verborgen, konnten aber jederzeit zuschlagen. Der Großteil der Einsatztruppe saß in einem gepanzerten Fahrzeug, das als Minibus der Footballmannschaft einer Schule getarnt war. Der Bus parkte seit einiger Zeit in einer Haltebucht an der Hauptstraße, doch das Team sollte sich noch zurückhalten. Dank der getönten Fenster waren die Beamten nicht zu sehen, konnten das Tor des Geländes jedoch im Auge behalten. Seitdem sie sich dort aufhielten, war es kein einziges Mal geöffnet worden.
Sobald die NCCU Alarm geschlagen hatte, waren die bewaffneten Einheiten ausgerückt. Die Agency hatte einige Dateien ihres verschwundenen Agenten Roche entdeckt, die vermuten ließen, dass Roche und Rebecca MacDonald vom Kraftwerk aus zu diesem Lagerhaus gefahren waren. Der Besucherliste zufolge hatten sie das Kraftwerk verlassen und waren später, nur wenige Stunden vor dem Anschlag, zurückgekehrt. Joyce hatte soeben angerufen und mitgeteilt, der alte Wachmann, der zum Zeitpunkt der Explosion Dienst gehabt hatte, hätte bestätigt, dass Agent Roche und Rebecca MacDonald das Kraftwerksgelände früher am Tag verlassen hatten, und zwar ungefähr zu der Zeit, als sie bei der NCCU angerufen hatten. Der Mann hatte überdies ausgesagt, Roche sei später alleine zum Kraftwerk zurückgekehrt, sodass sie es zumindest mit einer verschwundenen Person zu tun hatten, da seitdem niemand etwas von Rebecca MacDonald gehört hatte. Man ging davon aus, dass Roche unter den Trümmern des Turbinenraums begraben lag.
Die Informationen hatten ausgereicht, um einen Durchsuchungsbefehl zu rechtfertigen und ein Einsatzteam zusammenzustellen. Im Bus war man der allgemeinen Meinung, je länger man dort draußen herumsaß, desto kleiner wäre ihr Vorteil. Die bewaffneten Beamten wollten das Gebäude stürmen und sehen, was darin vor sich ging.
Nach einem statischen Knistern im Funkgerät gab Knox’ Stimme endlich den Einsatzbefehl.
»Team A, langsam vorrücken. Gehen Sie so nah ran, wie Sie können, ohne entdeckt zu werden. Team C, bereit machen, um Flüchtige aufzuhalten. Team B wartet auf mein Kommando.«
Aus dem Inneren des Busses konnten die Beamten sehen, wie ihre Kollegen aus Team A sich langsam der fensterlosen Seite des Lagerhauses näherten. Viel näher würden sie jedoch nicht herankommen, ohne von einer der zahlreichen Sicherheitskameras am Gebäude gesehen zu werden.
Schon nach wenigen Augenblicken trat ein großer Wachmann aus dem Häuschen am Tor und ging auf diese Seite des Gebäudes zu.
»Team B. Los! Los! Los!«
Der Motor des Busses heulte auf, und der Fahrer lenkte den Wagen aus der Haltebucht auf die Straße und raste auf das Tor zu. Sie konnten sehen, wie sich Team A dem Lagerhaus näherte und den Wachmann umzingelte, der die Hände in die Luft reckte. Ein Mitglied des Teams rannte zum Wachhäuschen und öffnete gerade noch rechtzeitig das Tor, als der Bus davor hielt. Die Bustüren wurden aufgerissen, und Team B stürmte durch das offene Tor.
»Kommunikationskanäle offen halten. Waffen sichern. Wir haben keine Ahnung, was dadrin los ist, und wir wollen keine Zivilisten verletzen. Team B rückt bis zur Laderampe vor, Team A bringt den Wachmann dazu, die Seitentür zu öffnen. Team C hält die Position.« Knox koordinierte die Operation per Kamera vom Hauptquartier aus. Die Mitglieder jedes Teams hatten Infrarotkameras und Mikrofone an den Helmen, die alles direkt auf die Bildschirme im Kontrollraum übertrugen. Knox konnte mit jedem Mitglied des Teams einzeln oder auch mit der gesamten Einheit sprechen.
»Ganz ruhig«, sagte der Wachmann zu dem Mann aus Team A, der ihm gerade Handschellen anlegte. Team B schwärmte aus und verteilte sich mit gezückten Waffen auf der Laderampe. Eine Handvoll Männer in fluoreszierenden Jacken, die an einem kleinen Tisch gesessen hatten, sprangen auf und warfen ihre Teetassen um.
»Fesseln Sie diese Leute, und bringen Sie sie da raus«, ordnete Knox an. Die Männer sahen nicht aus, als würden sie eine Gefahr darstellen, aber es konnte immer passieren, dass jemand den Helden spielte. Zwei der Beamten näherten sich ihnen mit gezückten Waffen.
»Runter auf die Knie! Hände über den Kopf!«, brüllte einer von ihnen. Die Männer gehorchten.
Team A war bereits durch die Glastür ins Gebäude eingedrungen und rückte nun durch einen dunklen Flur vor. Das erste Mitglied von Team B näherte sich derselben Position von hinten. Ihre Kameras gingen in den Nachtsichtmodus, um die dunkle Umgebung zu kompensieren. Team A marschierte paarweise durch den Gang und versuchte, jede Tür zu öffnen, trat sie dann jedoch ein, weil sie alle verschlossen waren. Die Männer durchsuchten jeden Raum und meldeten laut, wenn er gesichert war. Aber hier war nichts. Die Räume waren vollkommen leer.
Während sie weitersuchten, konnten sie hören, wie Knox zunehmend frustrierter wurde. »Meldung!«, rief er wütend.
»Hier ist nichts, Chef«, meldete einer seiner Leute. »Alles leer. Es stinkt allerdings gewaltig.«
Als auch die letzte Tür eingetreten worden war, rief ein anderer Mann: »Sauber. Alles gesichert. Hier ist Blut, Sarge.«
Der Sergeant lief zu seinen Männern und schaltete das Licht ein. Die Kamera flackerte, als es heller wurde. Auch der letzte Raum war leer, doch auf dem Boden neben der Tür befand sich eine Blutlache an der Stelle, an der seine Männer standen.
»Ja. Das ist Blut. Sieht noch frisch aus. Wer immer hier drin war, ist noch nicht lange weg. Und er war offenbar in keinem guten Zustand.«
»Okay. Alle raus da«, ordnete Knox an. »Versiegelt das Gebäude, das sollen sich die Forensiker ansehen. Ich komme rüber. Sucht nach Überlebenden. Und haltet diesen Wachmann und die anderen vier Kerle fest.«
Knox nahm sein Headset ab und warf es auf die Konsolen.
»Scheiße!«, brüllte er.
Rebecca war wieder bei Bewusstsein, als man ihr Bett aus dem Zimmer rollte, doch sie bewegte keinen Muskel. Sie wusste, dass sie noch ans Bett gefesselt war und ihren Entführern durch jede Bewegung zu erkennen geben würde, dass sie wach war. Deshalb wollte sie warten, bis sie wieder einen klaren Kopf und Gefühl in den Gliedmaßen hatte, ehe sie etwas unternahm, um herauszufinden, was hier vor sich ging.
Sie hatte einige Zeit regungslos in der Dunkelheit gelegen und verzweifelt versucht, sich auf die Geräusche im Gebäude zu konzentrieren. Um sie her war viel Bewegung, und sie hörte Stimmen, die einander Befehle zuriefen. Hin und wieder wurde eine Tür zugeknallt, oder Metall klirrte. Rebecca ging davon aus, dass sie sich noch im Lagerhaus mit den Containern befand. Wie lange sie wohl schon dort war?
Als sie aufgewacht war, hatte sie Roche nicht mehr gesehen, doch sie erinnerte sich, wie er mit dem Glatzkopf gekämpft hatte. Sie hätte Roche nie als einen Mann eingeschätzt, der um sein Leben kämpft. Jetzt hoffte sie, dass es ihm gut ging.
Sie hatte in der Dunkelheit gelegen und sich gefragt, was sie tun sollte, als die Tür aufging und zwei Männer hereinkamen, die sie nie zuvor gesehen hatte. Stumm überprüften sie, ob ihre Gefangene wach war und noch atmete. Rebecca hatte kurz überlegt, ob sie einen Fluchtversuch wagen sollte, doch ihr war klar, dass sie den beiden Kerlen nicht entkommen konnte. Außerdem ging es ihr viel zu schlecht. Also hatte sie still und mit geschlossenen Augen dagelegen, als die Männer sie mit Lederriemen ans Bett fesselten. Dabei hatte sie unauffällig tief Luft geholt und den Rücken durchgedrückt, um die Fesseln zu lockern. Wenn sie hier rauskommen wollte, würde sie den Platz brauchen.
Dann hatten die Männer sie auf den Gang geschoben. Rebecca hatte jede Unebenheit, jede Bodendelle gespürt, hatte aber die Augen zugekniffen und sich ganz still verhalten. Sie hoffte, dass es auf dem Gang immer noch so schummrig war.
Es wurde kälter, und sie spürte eine frische Brise. Anscheinend waren sie im Freien. Kurz darauf schaukelte das Bett ein wenig, und Rebecca spürte, dass es leicht aufwärtsging. Offenbar wurde sie eine Rampe hinaufgeschoben, denn schon kurz darauf ging es auf ebener Strecke weiter. Die Temperatur änderte sich erneut. Rebecca spürte, dass sie nicht mehr im Freien war.
Erst als sie ein metallisches Klirren hörte und wieder von völliger Dunkelheit umgeben war, öffnete sie die Augen. Sie wusste sofort, dass sie sich in einem Container befand. Vermutlich wollten die Männer sie von hier wegtransportieren, eine andere Erklärung gab es nicht.
Jetzt musste sie sich konzentrieren. Sie musste zu zählen anfangen, sobald sie sich in Bewegung setzten, dann würde sie später wissen, wie viele Minuten sie sich vom Lagerhaus entfernt hatte, falls sie sich befreien konnte und Hilfe fand.
Rebecca fragte sich, ob das Team bei der NCCU sich die Dateien bereits angesehen hatte, die Roche geschickt hatte. Hatte jemand schon die Zeit gefunden, dieselben Verbindungen herzustellen, und war ihnen hierher gefolgt?
Doch es war so oder so zu spät, da sie offensichtlich an einen anderen Ort gebracht wurde. Rebecca zermarterte sich das Hirn, als sie zu begreifen versuchte, was sie in dem Lagerhaus eigentlich entdeckt hatten. Diese Leute hatten jedenfalls keine Skrupel, Gefangene zu nehmen und sie zu betäuben.
Rebecca hatte bereits von mehreren Razzien in ähnlichen Unternehmen in ganz Großbritannien gelesen, bei denen Gruppen illegaler Einwanderer aufgeflogen waren, die unter schrecklichen Bedingungen hausten und für einen Hungerlohn schufteten. Erst vor Kurzem hatte es einen Fall gegeben, bei dem die Behörden eine Fabrik in Hull überprüft und eine Gruppe von Männern entdeckt hatten, die dort seit Jahren als Sklaven gehalten wurden. Es war unfassbar, dass die Verbrecherbanden so lange damit durchkamen, aber wenn die Behörden keinen Grund hatten, die Unternehmen unter die Lupe zu nehmen, fielen solche Dinge nicht so schnell auf.
Rebecca musste daran denken, wie abgelegen das Lagerhaus stand. Es war perfekt für so etwas. Aber warum hatten diese Leute so schnell auf ihre und Roches Ankunft reagiert? Hätten sie irgendetwas Wichtiges, Verräterisches entdecken können? Hatte Roche etwas herausgefunden?
Rebecca musste an ihn denken. In den Augenblicken, bevor sie erneut bewusstlos geworden war, hatte Roche versucht, sie zu retten. Was hatten diese Verbrecher mit ihm gemacht? Befand er sich ebenfalls in diesem Container? War er überhaupt noch am Leben?
Sie verdrängte diese Frage, da sie über die andere Möglichkeit lieber nicht nachdenken wollte.
Kurz darauf hörte sie, wie ein Motor angelassen wurde. Dann war um sie herum ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen. Als sie gerade mit dem Zählen beginnen wollte, drang unvermittelt eine leise Stimme an ihr Ohr.
»Mommy?«
Rebecca erstarrte. In diesem Moment dämmerte ihr die schreckliche Wahrheit. Sie war nicht alleine in dem Container. Hier wurde außer ihr noch ein Kind festgehalten. Dem schmerzvollen Stöhnen nach ein kleines Mädchen.
War es das, was Roche und sie beinahe entdeckt hätten? Stand dieses Lagerhaus mit Prince’ schrecklichem Pädophilennetzwerk in Verbindung?
Rebeccas Herz schlug schneller. Sie hatte sich auf einen Fluchtversuch vorbereitet, aber wenn sich hier ein Kind befand – vielleicht sogar mehrere –, was konnte sie dann tun, um sie zu retten? Wie viel Zeit blieb ihr, bevor sie ihr Ziel erreichten?
»Mommy?«, wiederholte die leise Stimme, als könnte die Dunkelheit ihr antworten.
Rebecca hörte, wie das Motorgeräusch lauter wurde, und spürte, dass sie sich in Bewegung setzten.
»Pssst, ganz ruhig, meine Kleine«, flüsterte sie. »Lieg still. Dir passiert nichts, versprochen.«
Sie hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Dann merkte sie, wie der Wagen das Tor passierte und schneller wurde.
Es wurde Zeit, dass sie sich etwas einfallen ließ.
»Scheiße!«, fluchte Franklin und rammte den Hörer auf die Gabel. »Sie haben sie verpasst. Was immer da gewesen ist, es ist weg. Alles leer. Da waren nur noch ein Wachmann und vier Arbeiter, die den Zug beladen wollten.«
»Womit beladen?«, wollte Miller wissen.
»Offenbar mit leeren Containern«, antwortete Franklin. »Sonst ist da nichts.«
In seinem Magen breitete sich eine schmerzhafte Leere aus. Er konnte spüren, dass sie sehr nah am Ziel gewesen waren, und doch waren sie zu spät gekommen. Wie schafften es diese Leute, ihnen ständig einen Schritt voraus zu sein?
»Ist der verschwundene Container noch da?«, erkundigte sich Mitchell. »Der vom Hafen?«
Franklin schüttelte den Kopf. »Sie suchen noch, aber bis jetzt haben sie ihn nicht gefunden. Willis ist auf dem Weg dorthin, um mit den forensischen Untersuchungen zu beginnen. Wir werden mehr wissen, wenn er fertig ist. Aber wir haben sie verloren. Wir sind wieder ganz am Anfang. Verdammt!«
Frustriert warf er seinen Stift auf den Schreibtisch und starrte sein Team an. Er hatte sich darauf verlassen, dass diese Spur ihnen etwas brachte, denn das konnten sie dringend gebrauchen
Und nun dieser Fehlschlag.
»Wir kommen ihnen näher, Boss«, versicherte ihm Miller. »Wir haben noch immer einige Hinweise, denen wir nachgehen können. Die kriegen wir schon. Wir brauchen nur mehr Zeit.«
Franklin nickte. Miller hatte recht, sie hatten Hinweise, und sie waren offenbar nahe an etwas dran gewesen. Anscheinend stimmte Mitchells Theorie, dass Roche und Rebecca auf einer heißen Spur gewesen waren. Franklin fragte sich, wo Rebecca jetzt sein mochte. Es wurde allgemein angenommen, dass Roche im Kraftwerk ums Leben gekommen war, aber das musste noch von den Rettungsdiensten bestätigt werden. Bislang hatten keine Leichen aus dem zerstörten Gebäude geborgen werden können, aber mehrere Angestellte des Kraftwerks, die vor der Explosion Feierabend gemacht hatten, erinnerten sich, Roche im Turbinenraum gesehen zu haben.
»Okay, Leute, zurück auf Anfang«, sagte Franklin entschlossen. »Besprechung um siebzehn Uhr. Ich will von jedem einen Statusbericht. Ich habe das Gefühl, dass uns hier irgendwas entgeht. Wir müssen jedem noch so kleinen Hinweis nachgehen. Ich will diese Woche keine Überraschungen mehr erleben.«
Während sein Team das Büro verließ, lehnte Franklin sich auf seinem Stuhl zurück und starte den auf stumm gestellten Fernseher an der Wand an. Der Nachrichtensender berichtete seit der Explosion nonstop über das Kraftwerk. Er gab zahlreiche Vermutungen und wilde Spekulationen.
Auf einmal stach ihm der Nachrichtenticker am unteren Bildschirmrand ins Auge:
EILMELDUNG … CYBERTERRORISTEN BESCHULDIGEN NCCU, KRAFTWERK GESPRENGT ZU HABEN …
Franklin beugte sich vor, griff nach der Fernbedienung. Er stellte den Ton ein und hörte, wie der Sprecher mit eindringlicher Stimme sagte:
»… die Anschuldigung wurde vor einiger Zeit als Aufzeichnung an The Sun geschickt.«
Danach war auf dem Bildschirm ein Ausschnitt der Aufnahme zu sehen, auf die sich der Sprecher bezogen hatte. Das verpixelte Schwarz-Weiß-Bild einer Piratenflagge erschien. Eine roboterartige Computerstimme verlas dazu die Nachricht: »Wir sind Black Flag. Alles, was ihr habt, gehört uns. Die NCCU kann euch nicht retten. Sie wollen euch nur kontrollieren. Sie verkaufen euch Furcht und Lügen. Eure Anführer sind korrupt. Eure Beschützer sind korrupt. Black Flag ist die einzige Wahrheit.«
»Dreckskerle«, murmelte Franklin. Dann war wieder der Nachrichtensprecher im Bild.
»Das Video wurde per E-Mail an einen Journalisten dieser Zeitung geschickt, zusammen mit einigen Dokumenten, die den Black-Flag-Leuten zufolge beweisen, dass die Sicherheitsdienste auf höchster Ebene korrupt sind und dass die Inkompetenz der NCCU zur Explosion im Kraftwerk geführt hat. Bis jetzt war die NCCU für einen Kommentar nicht zu erreichen.«
Franklin suchte in der Liste der verpassten Anrufe nach der Nummer des Journalisten von The Sun, da er sich erinnern konnte, dass er diese Nummer an diesem Tag schon gesehen hatte.
Der Nachrichtensprecher wälzte inzwischen dieselben alten Fakten aus, die bereits über Black Flag bekannt waren. Er nannte sie eine kriminelle Elite-Hackergruppe und die führenden Köpfe des organisierten Verbrechens in der finsteren Cyberwelt. Franklin verdrehte die Augen, weil die Medien sich die Sache so leicht machten. Die Black-Flag-Mitglieder waren keine »führenden Köpfe«, sie waren schlicht und einfach Verbrecher.
Endlich fand Franklin die Nummer. Er wollte sie gerade wählen, erstarrte dann aber, als er sein eigenes Gesicht im Fernseher sah.
»In einem Interview an dem Tag, an dem die neue Cyber-Verbrechenseinheit der National Crime Agency die Arbeit aufgenommen hat, hat der damalige stellvertretende Leiter Oscar Franklin geschworen, dem Cyber-Terrorismus in Großbritannien ein Ende zu bereiten.«
Nun wurde Franklins Rede abgespielt. Damals hatte er alle öffentlichen Ankündigungen im Namen der NCCU machen müssen, weil Sheila Davies nicht mit der Presse sprechen wollte. Ihr hatte der Anschluss an die NCA von Anfang an widerstrebt, denn ihre Abteilung dürfe nicht in den Dreck einer »politischen Prahlerei gezogen werden, die rein gar nichts erreicht«, wie sie sich ausgedrückt hatte. Auf diese Weise war Franklin anstelle von Davies das Aushängeschild und das Sprachrohr der NCCU geworden. Jetzt aber wurden ihm seine Worte von damals vorgehalten.
»Der heutige Tag kennzeichnet das Ende des organisierten Cyber-Verbrechens in Großbritannien«, hörte er sich nun sagen. Seine Stimme klang stolz und überzeugt, beinahe überheblich.
Franklin hasste es, Aufzeichnungen von sich selbst zu sehen, und dieses Interview hasste er ganz besonders. Teile davon wurden fast jedes Mal wiederholt, wenn der NCA etwas vorgeworfen wurde. »Ihr Verbrecher da draußen, die ihr euch hinter euren Computern versteckt, wir werden euch finden. Wir werden euch das Handwerk legen. Wir werden euch der Gerechtigkeit zuführen. Niemand ist wirklich anonym.«
Dann war wieder der Ansager zu sehen.
»Nun stellen sich diese Verbrecher als diejenigen heraus, die die Agency anklagen, die sie eigentlich unschädlich machen sollte. Wie auch immer die Wahrheit hinter der heutigen Explosion aussehen mag, es müssen auf jeden Fall Fragen hinsichtlich der Sicherheit unserer nationalen Infrastrukturen gestellt werden. Vor allem stellt sich die Frage, was die National Crime Agency eigentlich tut, um unser Volk zu schützen.«
»Scheiße!«, fluchte Franklin erneut und wählte die Nummer des Journalisten von The Sun.
Black Flag wollte die NCCU zum Narren halten, und es funktionierte. Sie wurden der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen, und alle, die der NCA negativ gegenüberstanden, bekamen die nötige Munition, um gegen die Agency vorzugehen.
Das würde er nicht zulassen.