2. Hart
Ich sitze da und sehe ihnen beim Essen zu, wie sie miteinander reden und über ihre Witze lachen. Wie üblich scheinen sie mein Schweigen auch diesmal nicht wahrzunehmen; und wie immer ist es mir auch egal. Meya hat herausgefunden, wie man Wortspiele macht, und ist damit beschäftigt, eines nach dem anderen zum besten zu geben. Es sind dumme, kindische Wortverdrehungen, die Jes bestimmt zum Kreischen bringen würden, wenn er nicht damit beschäftigt wäre, Raumfahrer zu spielen und durch das All zu hüpfen. Er ist ebenso wertlos wie sie.
Mish redet über die Sprache der Kasiren. Auf Kasiri kann man keine Wortspiele machen, sagt sie. Sie lehnt sich zurück und tätschelt ihren Bauch. Soviel, wie sie vorgibt, hat sie gar nicht gegessen. So platt wie der Bauch ist auch die Frau. Meine Mutter. Mish. Mein Vater hingegen faßt mehrmals nach, stopft sich voll, streicht sich das Haar aus der Stirn und betrachtet meine Mutter über sein Weinglas hinweg. Geilheit. Geilheit! Quilla, meine große Schwester, meine geliebte, liebe Quilla, hat einen Bauch, der sich wie ein aufgeblasener Luftballon gegen die Tischkante drückt. Quilla mit ihrem ungeborenen Balg; sie nippt an ihrem Wein und lächelt. Geheimnisvoll, still. Als würde sie das Rätsel des Universums in ihrem Bauch spazierenführen. Sie redet mit Jason über dies und das, über die Farm, die Transportgesellschaft, die Leute. Sie streckt den Arm nach dem Weinkrug aus. Sie knabbert Käse. Die Schwangerschaft hat sie sinnlich und langsam gemacht, und ihr Gesicht ist ebenmäßiger, und ihre Augen sind klarer als früher. Selbstgefällige Schlampe. Sie hat den Samen einer Made in sich, wird eine Made gebären und plappert von der Bedeutung der Liebe, der Veränderung und des Todes. Nachdem sie Tabor dessen entleert hat, was sie wollte, hat sie ihn ausgespuckt. Sie wird ihn nicht heiraten. Meine Schwester, diese Schlampe, brütet einen Bastard aus. Und Tabor merkt nicht einmal, daß sie ihn nur ausgenutzt hat. Er wird natürlich wiederkommen; er wird immer wiederkommen. Und sie wird weiterhin nur von ihm nehmen, ohne ihm dafür etwas zu geben. (Früher gab sie. Sie gab mir. Liebe und Pflaster. Quilla?) So ist sie, meine ganze Familie. Sie nehmen nur. Sie sind gefräßig. Selbstgefällig und egoistisch. Die Maden haben Blutsauger aus ihnen gemacht, aber sie sind zu blind, um es selbst zu bemerken. Sie sind sogar zu blind, um zu wissen, wie gut ich sie kenne.
Und ich kenne sie, ich kenne sie sehr gut, ich kenne sie in- und auswendig. Und warum auch nicht? Ich kenne mich selbst, und ich bin wie sie. Samen und Ei, Blut von meinem Blut, Oberflächlichkeit, Lüsternheit.
Mim kommt aus der Küche, geht hinter mir her durch den Raum, stellt vor meinem Vater einen Teller ab, geht hinaus. Sie geht mir aus dem Weg. Mim mag mich nicht, und ich mag sie nicht. Mim, die Made. Eine Fremde. Ein hinterhältiges Weib. Sie versucht, Laur gegen mich aufzuhetzen, aber das schafft sie nicht. Laur hat einfach nicht genug Köpfchen, um sich gegen mich aufhetzen zu lassen, und dafür liebe ich sie.
Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich habe meine Sinne beisammen. Ich kann mir das Leben selbst gestalten. Ich lebe es auf meine Weise. Und heute abend werde ich es wieder tun. Ich packe meine Sachen und ziehe aus. Heute abend kann ich es mir erlauben, sie uninteressiert und kalt zu beobachten.
„Hart, Nachtisch?“
Das ist Quilla. Sie beugt sich unbeholfen und lächelnd zu mir herüber und hält mir eine Schüssel mit Sahne und Süßigkeiten hin.
Quilla.
Die nette, alte Laur; sanfte alte Tante. Sie sieht zu, wie Mim abräumt. Laur hat eine Tasse Tee in der Hand und setzt sich neben mich, beäugt meinen Teller, schüttelt den Kopf. Mim sitzt neben meiner gedankenverlorenen, schwangeren Schwester. Sie tuscheln und unterhalten sich – nehme ich an über abstoßende Dinge. Über was kann man sich auch schon mit einer Schwangeren unterhalten? Mutterkuchen, Schließmuskeln, Milchabsonderung, Babyscheiße, Kotze. Ich könnte ihr über jedes dieser Themen mehr erzählen, als sie sich vorstellen kann oder wissen will. Soll ich dir sagen, wie Leben entsteht, fruchtbare Quilla? Nicht durch sich aneinander-pressende Körper und einen Spritzer Schleim, nicht durch ein Zucken in den Lenden und geistige Selbstbefriedigung. Chemikalien und Atome, Quilla. Zellen und Veränderung. Puritanismus, biologische Reinheit, umgeben von Korruption, so unglücklich in soviel menschlichem Fleisch eingebettet. Geheimnisse des Fleisches. Fleisch von meinem Fleisch. Quilla. Hat dein Baby zwei Köpfe?
Ich verlasse den Tisch und den Raum. Natürlich bemerken sie es, aber sie sagen nichts. Mir tut der Kopfweh.
Mein Zimmer ist klein und vollgestopft und riecht nach abgestandener Luft und ungelüfteten Gegenständen. Da ist das Fenster, durch das ich immer kletterte, um mich mit Gren zu treffen. Der schreckenerregende Gren. Wie konnte ich vor diesem zerbrochenen, ängstlichen alten Mann je Angst haben?
Weil ich ein Kind war, das ist alles. Ein kleines Kind. Aber ich wuchs. Ich lernte. Ich lerne immer noch, während die anderen am Tisch sitzen und Informationen austauschen, die so alt und überholt wertlos sind wie ihr Leben.
Meine Familie.
Ich habe meine Sachen schon gepackt. Es ist nur wenig, was ich mitnehmen will. Kleider. Ein paar Schriften. Ein paar Werkzeuge.
Den größten Teil meiner Bücher und Kassettenbänder habe ich ohnehin schon fortgebracht. Und was bleibt zurück?
Eine Decke, die Mish für mich gemacht hat. Es ist lange her. Ein buntes Muster. Sie hat es selbst gemacht, Stück für Stück, im Winter am Kamin. Bevor die Maden kamen.
Eine Trommel, die mein Vater gemacht hat. Jason. Aus gehöhltem Holz, mit Kelvahaut überzogen, Vögel draufgemalt.
Jes’ alte Pfeife, ein schrilles Ding.
Eine Stoffpuppe, hergestellt aus einem von Quillas Hemden.
Ein hölzernes Schiff.
Die Fensterbank reicht mir nur noch an die Hüften. Ich erinnere mich, daß sie mir einst bis zu den Schultern reichte. Ich lehne mich gegen die Scheibe, schaue über das Küchendach und den großen, nach vorne gebeugten Baum. Meine Augen stechen.
„Hart?“
Ich drehe mich so schnell herum, daß mir die Sachen aus den Händen fallen: die Decke, die Trommel, die Pfeife, das ganze Spielzeug. Ich höre das Tappen von Füßen auf dem Flur. Mir ist, als hätte jemand meinen Namen gerufen.
Quilla steht im Türrahmen. Sie sieht verwirrt aus. Sie hätte sich eher bemerkbar machen sollen, diese aus zwei Teilen bestehende Person. Sie hat sich leise hereingeschlichen, um mich zu überraschen. Als sie meinen Namen ausspricht, spielt sie mit dem „r“, das ziemlich weich und schleppend über ihre Lippen dringt.
„Was willst du?“
Hat sie meine Augen gesehen? Ich wage es nicht, die Hand zu heben und mir die Wangen abzuwischen. Das Licht ist hinter mir, es kommt vom Nachttisch. Sie kann meine Augen nicht sehen, nein.
„Nichts“, sagt sie. Sie kommt herein und setzt sich. Ihr Bauch füllt ihren Schoß aus. „Ich sah nur, daß du hinausgingst, und dachte, daß du vielleicht sauer bist.“
„Nein.“
„Was machst du?“
„Ich ziehe aus.“ Ich stopfe noch ein paar Sachen in einen Beutel und schiebe mit einem Tritt alle Spielsachen, Decken, Pfeifen und Erinnerungen unter das Bett. Sie erzeugt ein Unwohlsein in mir.
„Wohin gehst du?“
„Nach Haven. Gren und ich haben dort ein Haus.“
„Gren“, sagt sie. „Hast du Mish oder Jason gefragt?“
„Das brauche ich nicht. In drei Monaten bin ich erwachsen und kann sogar wählen gehen. Ich brauche ihre Erlaubnis dazu nicht.“
Sie faltet die Hände über dem Bauch. In ihr tritt das Kind um sich. Ich sehe, wie ihre Hände auf und nieder wippen. Fleisch.
„Hast du es ihnen wenigstens erzählt?“
„Sie werdend schon noch früh genug erfahren.“
„Das wird ihnen nicht gefallen.“
„Wie schade.“
Sie hebt den Kopf. Ihre Lippen sind zwei schmale Striche. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich kenne diesen Blick.
„Hat dir irgendjemand weh getan, Hart?“
Oh, wie dreckig, wie heimtückisch! Ihre Frage wirft ein Echo, das jahreweit zurückklingt, in eine Zeit, als die Maden noch nicht da waren, bevor ich sie alle verlor. Ihre Frage verengt mir die Kehle. Ich verschließe den Beutel und werfe ihn mir über die Schulter. Ich denke an all die bitteren, beißenden Worte, die ich sagen könnte, aber meine Kehle ist wie ausgedörrt, und ich will es nicht riskieren, einen schlechten Abgang zu machen. Also schweige ich, wende mich ab, gehe auf die Tür zu. Ja. Eisig. Kalt.
Aber plötzlich steht Quilla da und verwehrt mir den Abgang, legt eine Hand auf meine Schulter, legt die andere unter mein Kinn, versucht meinen Kopf anzuheben, damit ich sie anblicke. Ich winde mich los.
„Hart, bitte …“
„Laß mich in Ruhe!“
„Ich versuche doch nur …“
„Laß mich in Ruhe!“ Oh mein Gott. Oh Scheiße. Ich weine. „Geh weg von mir! Geh zu deinen Madenfreunden. Laß mich gehen!“
„Hart …“
„Warum hast du das getan?“ Ich deute mit einem Finger auf ihren Bauch. Sie geht einen Schritt zurück und legt schützend die Hände auf ihren Leib. „Warum waren wir dir nicht gut genug? Warum mußtest du mit … mit ihm gehen, mit diesem Mann? Warum konntet ihr nicht alles so lassen wie es war?“
Wieder greift sie nach mir. Ich stoße sie beiseite und fliehe die Treppe hinunter. Ich höre, wie sie hinfällt. Jason steckt seinen Kopf in den Korridor hinein und sagt etwas, aber ich bleibe nicht stehen. Soll Quilla es doch erklären. Sie wird sich schon etwas Gutes ausdenken.
Am Fuß des Hügels muß ich anhalten. Ich werfe mich ins Gras und ringe nach Luft. Es wird besser.
Gren steht im Eingang des Hauses an der Schulstraße und beobachtet mißtrauisch die umliegenden Gebäude, weil er fürchtet, die neuen Nachbarn könnten ihm seine kostbaren Geheimnisse stehlen. Und kostbar, das sind sie. Ich beherrsche sie alle: die Grundzüge von Biologie, Biomedizin und Chemie. Gren hat mir seit über einem Jahr nichts mehr beibringen können, und das scheint ihm ganz schön unheimlich zu sein, dem irren alten Kerl. Aber er hat auch seine guten Seiten.
Er weiß zum Beispiel, wann man das Maul zu halten hat. Schweigend trägt er meine Sachen in mein Zimmer, schweigend zieht er sich in seine Ecke zurück, und schweigend trifft er seine Vorbereitungen, ins Bett zu gehen. Ich gehe durch das Haus, zünde die Lampen an und sehe nach dem Rechten. Es ist nicht allzu übel hier. Man lebt zurückgezogen, trotz der Nachbarn. Wenn erst der Keller fertig ist, wird es perfekt sein. Rechts und links von uns und auf der gegenüberliegenden Seite leben zwar auch Leute, aber hinter uns gibt es nur die knorrigen Büsche und den Fluß. Ich kann vom Haus ans Wasser gehen, ohne daß mich jemand sieht. Gren versteht noch nicht, wie wichtig das ist.
Ich ziehe mein Hemd aus und bekomme in der kühlen Luft eine Gänsehaut. Die Küchenpumpe versorgt mich mit Wasser. Ich mache es heiß, hole ein paar Eimer und fange an zu schrubben. Ich fange mit dem Vorderraum an. Die Maden, die früher hier gelebt haben, haben ihren üblichen Schmutz zurückgelassen. Alles muß sauber werden. Mish, Jason und Laur werden staunen, wenn sie sehen, wie sauber das Haus ist, in dem Gren und ich leben. Sicher kann nichts Falsches daran sein, einem Jungen zu erlauben, daß er einem alten Mann in seinen letzten Jahren ein wenig zur Hand geht. Nicht in einem so hübschen Haus wie diesem.
Die Küche. Der Korridor. Ausfegen, putzen, trocknen. Ein Akt der Nächstenliebe, der die Kennerins in hellem Glanz dastehen lassen wird. Ja. Und weiter.
Ich lasse jeden herein, außer Quilla. Außer Quilla.
Ich höre auf, stelle die Sachen weg. Ich sehe nach dem Rechten. Ich gehe zu Bett.
Der Kopf tut mir weh.
Ich wollte gar nicht weinen.