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„Geh noch nicht.“

Quilla drehte sich um. Tabor legte einen Arm um ihre Hüfte. Da es noch dunkel im Zimmer war, konnte sie nicht sehen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren.

„Es wird gleich hell“, sagte sie.

„Das dauert noch was. Bleib noch eine halbe Stunde.“

„Ich werde mich verspäten.“ Die Herbstnacht hatte den Raum abkühlen lassen. Quilla zog sich die Decke bis ans Kinn. Tabor, der neben ihr lag, fühlte sich warm und angenehm an. Sie drückte das Gesicht gegen seine Schultern und schloß die Augen.

Sie waren die ganze Nacht über wach geblieben und hatten sich ununterbrochen geliebt. Ihr beiderseitiges Verlangen war nun nur noch eine kleine, müde brennende Flamme, das eine zärtliche Umarmung befriedigen konnte. Quilla dachte kurz an den vor ihr liegenden Tag: Als erstes mußte sie den Stall reinigen. Am Nachmittag stand dann die Dorfgemeinschaftsversammlung an und am Abend das Ernte- und Rettungsfest. Bis dahin würden auch Mish und Jason zurück sein. Sie kuschelte sich tiefer in die Decken. Tabors Wange ruhte an ihrer Stirn. Sein Atem wärmte ihr Ohr.

„Ich bin froh, daß du einfach ausgerissen bist“, flüsterte er. „Ich wünschte, ich wäre selbst daraufgekommen.“

„Es ist drei Jahre her“, sagte Quilla. „Reden wir nicht mehr darüber.“

„Warum nicht?“ Er löste sich etwas von ihr. Es war schon etwas heller geworden, und Quilla konnte seine sich über sie beugende Silhouette ausmachen. Sie berührte seine Lippen mit der Spitze ihres Zeigefingers.

„Weil es nicht wichtig ist“, sagte sie und zog seinen Kopf wieder zu sich hinunter. „Aber ich freue mich darüber, daß du dich freust.“

Tabor küßte ihre Schulter. Sie fragte sich, ob er das Thema erneut zur Sprache bringen würde. Sie hatte keine Lust, darüber zu sprechen, weil die Sache sie daran erinnerte, wie jung sie damals gewesen war. Und auch jetzt noch. Vor drei Jahren noch war Aerie ihr vorgekommen wie eine Welt, in der alles wuchs und die Leute einander liebten und sich alles veränderte, während sie, die große, knochige Quilla Kennerin nichts anderes kannte, als diesem Wechsel zuzusehen. Mit der Ankunft der Flüchtlinge war ihre Kindheit zu Ende gegangen, und während ihre Eltern sich um die Leute gekümmert hatten, hatte ihre Arbeit darin bestanden, auf der Farm zu helfen. Als Meya zur Welt gekommen war, hatte Quilla sie in ihre Obhut genommen und aufgezogen. Die Pflanzung hatte Jason und Mish der Farm beinahe ganz entzogen, und im Alter von siebzehn Jahren war es Quillas Pflicht gewesen, sich um die Salate und Früchte zu kümmern, die die Familie am Leben erhielten. Des weiteren hatte sie sich mit dem Vieh und den zwanzig bis dreißig Kasiren befaßt, die auf der Farm arbeiteten und die Herde hüteten. Sie war nicht mit den Flüchtlingskindern zur Schule gegangen, denn ihre Eltern hatten gesagt, sie wisse bereits genug, und außerdem werde sie zu Hause gebraucht. Sie hatte einfach keine Zeit gehabt, die Schule zu besuchen. Mit dem Herumstromern, den Ausflügen und Festen war es ebenfalls vorbei gewesen. Irgend etwas war immer für sie zu tun gewesen. Hart hielt sich stets abseits von der Familie. Er vergrub sich in seinen Studien. Jes unterdrückte sein Verlangen, an Bord von Hetchs Sternenschiff Abenteuer zu erleben. Meya trieb sich überall herum. Wenn sie nicht im Haus war, hielt sie sich bei den Aeriten oder Kasiren auf. Sie war ein flinkes, beliebtes Kind, ein Püppchen, das jedermann liebte, während ihre dürre, häßliche Schwester immer nur das fünfte Rad am Wagen war und sich fragte, ob es auch jemanden gab, der etwas für sie empfand. Aber es sah nie so aus.

Tabor schlief wieder ein. Sie versuchte, langsam von ihm wegzurücken, aber sobald sie sich bewegte, bewegte sich auch sein Arm und hielt sie fest. Schließlich drehte sie sich so, daß ihr Rücken seinen Bauch berührte. Er murmelte etwas vor sich hin und wurde wieder still.

Man hatte ihr einmal versprochen, sie nach Kroeber zu schicken. Es war ihr immer als ein normaler Teil des Universums erschienen, daß sie größer wurde, die Sonne aufging, das Getreide reifte und man sie an ihrem achtzehnten Geburtstag durch den Greifer und den Tau-Raum zur Universität schicken würde. Man hatte das Versprechen nicht gehalten. Die Familie hatte kein Geld dafür.

Außerdem hatte man keine Zeit. Wenn die Flüchtlinge nicht gekommen wären, hätte sie selbstverständlich gehen können, denn aus Kindern wurden Frauen und Männer, die wiederum Männer und Frauen brauchten, und auf Aerie hatte es außer den Kasiren nur eine Familie gegeben. Aber jetzt war Aerie bevölkert – nicht einmal einen Kilometer entfernt gab es ein ganzes Dorf voller Menschen. Es gab also keinen Grund, von hier wegzugehen. Außerdem gab es viel zu tun.

Die Erinnerung an das erträumte Abenteuer machte sie immer noch wütend. Sie hatte einen ganz und gar un-Quillahaften Tobsuchtsanfall bekommen und sich tagelang in ihrem Zimmer eingeschlossen. Als die Aeriten und Kasiren mit dem Einfahren der Ernte beschäftigt gewesen waren, hatte sie ein paar Sachen zusammengepackt, eine Karte von To’an Cault eingesteckt und war nach Süden marschiert. Niemand schien ihr gefolgt zu sein. Sie hatte den breiten Inselrücken überquert, sich der Stille des von Vögeln bevölkerten Graslandes hingegeben und sich nach und nach wieder beruhigt. Mit ihrem Zorn schwand auch das Selbstmitleid. Sie war schweigsam durch eine große Leere gegangen, ohne auf die Zeit zu achten und hatte schließlich die friedlich daliegenden südlichen Berge von Cault Tereth erreicht.

Tabor hatte sie an einem Gebirgspaß erwartet. Er hatte sie mitgenommen in sein Tal, sein Heim und sein Bett. Er wußte auch, daß man sie während ihres ganzen Weges keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Die Kasiren hatten nicht nur den Kennerins, sondern auch ihm Berichte geliefert. Die Selbstsicherheit, die sich in ihr breitgemacht hatte, war daraufhin wieder vergangen: Nun fühlte sie sich wie ein Mittelding zwischen der unglücklichen Heranwachsenden aus dem Haus der Kennerins und der Erwachsenen, die die große, unbewohnte Ebene überwunden hatte. Die bewegungslose Stille war nun nicht mehr so einfach zu erreichen. Die Worte überwältigten die Einsamkeit. Quilla hatte sich dem Naheliegendsten ergeben: Tabor und der Liebe.

Aber die Liebe, so schien es, machte auch nicht alles wieder gut. Entweder mußte sie in den Süden gehen – oder Tabor zu ihr in den Norden kommen. Wenn sie ihn nicht sah, verzweifelte sie; waren sie jedoch zusammen, spürte sie eine Leere, die sie mit Worten und Gesten auszufüllen versuchte. Dennoch ließ die Leere sich nicht vertreiben.

Als sie sich diesmal bewegte, ließ er sie gehen. Quilla schwang die Beine aus der Wärme in die kalte Luft und zog sich rasch an. Sie hatte gehört, daß die Kasiren sich bereits im Stall am Fuß des Hügels versammelten. Blasses Licht drang durch die Vorhänge. Sie nahm auf dem Bettrand Platz, um ihre Stiefel anzuziehen, und Tabor wandte sich um und packte ihren Arm.

„Heirate mich, Quilla.“

Sie sah ihn überrascht an.

„Ich meine es ernst. So kann es doch nicht weitergehen. Im Winter sehe ich dich einen Monat lang und dann im Sommer. Das genügt mir nicht. Quilla? Wir würden gut miteinander auskommen. Unsere Leiber mögen sich jedenfalls.“

„Bist du extra von Cault hierhergekommen, um mich das zu fragen?“ Sie lächelte nervös. Plötzlich fühlte sich ihre Haut feucht an.

„Du hast dich nicht gefreut, mich zu sehen?“

„Natürlich habe ich mich gefreut.“ Sie starrte auf ihre Stiefel.

„Deine Eltern würden sich freuen, wenn wir heirateten. Ich mag nicht gerne von dir getrennt sein. Wenn du willst, könnten wir auch hier wohnen. Ich muß nicht unbedingt im Süden sein.“

„Du hörst dich an, als würdest du mir den Hof machen.“

„Ich habe darüber nachgedacht.“ Sein Finger streichelte ihren Arm. „Ich liebe dich.“

„Quilla!“ rief Laur von der Küche her. Quilla sprang auf und prallte mit dem Schienbein gegen einen Stuhl.

„Später“, sagte sie. „Ich bin zu spät dran.“

Sie floh beinahe aus dem Zimmer. Ihr Schienbein schmerzte.

 

Meya verschüttete den Rest ihrer Milch auf der Tischplatte, patschte mit den Fingern darin herum und zeichnete die Umrisse vierflügeliger Vögel und schwangerer Luftblüten. Quilla verfolgte ihr Tun mit einem melancholischen Blick.

„Nicht übel“, sagte sie. „Der Flügel hier könnte aber etwas höher stehen.“

„Quilla, hör damit auf“, sagte Laur. Die alte Frau schwenkte drohend einen Löffel. „Meya soll so was nicht tun, also hör gefälligst auf, sie noch dazu zu ermuntern, verstanden? Jes, iß gefälligst dein Frühstück auf.“

„Jawoll, mein Kapitän“, sagte Jes. Laur runzelte finster die Stirn und ging in die Küche zurück. Jes zwinkerte Quilla zu; sie lächelte zurück.

„Was machst du heute?“ fragte sie.

„Nichts Besonderes. Ich habe Dene versprochen, ihr bei dem neuen Kom-System zu helfen. Ved behauptet, daß es ständig vor sich hinsummt, aber wir können den verdammten Fehler nicht finden.“ Er schob sich das letzte Stück Wurst in den Mund. „Kann ich davon noch was haben, Laur? Danke.“

„Beim Essen spricht man nicht“, sagte Laur.

„Und da hab ich mir gedacht, ich könnte ihr ein wenig zur Hand gehen. Jetzt, wo die Ernte eingefahren und Tabor da ist, können wir vielleicht mal ein Duett spielen. Ist er schon aufgestanden?“

„Er kommt wohl bald runter. Meya, du ißt schön weiter, ja?“ Quilla schüttete sich und Jes noch eine Tasse Tee ein. „Hat Ved dich gefragt, ob du heute abend eine Rede hältst?“

„Ja, denn Hetch wird nicht da sein. Ved ist übrigens der einzige, den ich kenne, der eine Rede hält, um einen dazu zu überreden, selbst eine zu halten. Dabei weiß ich gar nicht, was ich sagen soll.“

„Ganz einfach.“ Quilla schwenkte ihre Tasse. „Du sagst, wie geehrt du dich fühlst, das Objekt ihrer Verehrung zu sein und daß es an sich ’ne Kleinigkeit war, wenngleich es natürlich einen gewissen Mumm und eine gehörige Portion Cleverness erfordert hat; daß dir Aeries Heiligenschein über alles geht und man nun aber das Tanzbein schwingen und ein Bierchen kippen solle.“

Jes lachte, dann schüttelte er den Kopf. „Ich hab so was Ähnliches schon vor ein paar Monaten mal verlauten lassen, Quil; darauf hat man mich das Fürchten gelehrt. Beinahe wäre nicht mehr viel von mir übriggeblieben.“ Er aß noch ein Stück Wurst. „Ich wäre froh, wenn Hetch hier wäre.“

„Noch drei Tage, Jes. Kommst du heute nachmittag zur Versammlung? Meya, trink deine Milch.“

„Nur, wenn Dene mich dort braucht. Ich hatte eigentlich vor, mal zum Haus der Glents zu gehen und mir ihr neues Baby anzusehen. Ich habe sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Es heißt, sie sei sehr hübsch.“

„Das habe ich auch gehört. Meya, wenn du jetzt deine Milch nicht austrinkst und einen Schritt zulegst, wirst du zu spät zur Schule kommen.“

Jes beugte sich zu seiner kleinen Schwester hinab. „Dann wird Simit dir den Hintern versohlen. Ich weiß es; ich hab es schließlich am eigenen Leibe erfahren!“

Meya schnaubte. „Du bist ein verdammter Lügner, Jes Kennerin. Außerdem willst du das neue Baby nur deswegen sehen, weil Taine darauf aufpaßt und du eine Eidechse in der Hose hast.“

„Meya Kennerin!“ sagte Laur. Meya trank ihre Milch aus und floh in die Küche, während ihre Geschwister lachend zu Boden sahen.

„Daran seid ihr schuld“, sagte Laur. „Warum müßt ihr auch solche Reden führen, wenn die Kleine in der Nähe ist!“ Die alte Frau sah sie finster an. „Wenn eure Eltern jetzt hier wären …“

„Jason und Mish reden nicht anders als wir“, sagte Jes, aber Quilla gab ihm mit einem Wink zu verstehen, er solle schweigen.

„Ist ja in Ordnung, Laur. Tut mir leid. Manchmal vergesse ich einfach, daß sie da ist. Demnächst passen wir besser auf, nicht wahr, Jes?“

Als sie ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein trat, jaulte er auf. Dann nickte er.

„Klar, versprochen“, meinte er. „Ist noch ’n Würstchen da?“

Quilla hörte das dreifache Tapsen von Tabors Schritten auf der Treppe. Sie trank schnell ihren Tee und stand auf.

„Spät heute“, sagte sie. Beim Hinausgehen gab sie Laur einen Kuß auf die Stirn und kniff Jes in die Schulter. „Mish und Jason müßten heute nachmittag zurück sein. Ich werde dann zur Versammlung kommen. Schickt mir jemanden, der mir Bescheid sagt, ja?“

Laur gab grummelnd ihr Einverständnis. Dann ging Quilla mit schnellen Schritten den Abhang hinunter und näherte sich dem Stall. Die Kasiren lungerten am Tor in der Sonne herum. Ihr Arbeitsgerät lag auf einem Stapel. Irgend jemand hatte das Vieh bereits auf die Weiden getrieben; das Muhen der geklonten Kühe, die mit den vierflügeligen Vögeln um die Wette lärmten, war un-überhörbar. Im Gehen band sie sich ein Kopftuch um. Palen rief ihr auf Kasiri einen Gruß zu. Quilla grüßte zurück und betrat durch das sperrangelweit geöffnete Tor das Stallgebäude.

Gegen Mittag fiel die Helligkeit durch die Oberlichter in den Stall. Die Luft auf der Tenne war warm und durchdrungen vom süßen Duft des gehärteten Zimanis-Safts und dem Geruch frischgemähten Heus. Quilla schwang ihre Heugabel mit Elan, und jedesmal, nachdem sie sie mit Stroh gefüllt hatte, gab es anschließend, wenn es hinunterfiel, auf dem Stallboden einen dumpfen Plumps. Auf der anderen Seite des Heubergs arbeitete Palen. Sie bediente sich ihres Arbeitsinstruments mit einer Eleganz, die auszuführen man auch vier Arme nötig hatte.

„Das reicht“, rief jemand auf Kasiri. Quilla stützte sich auf ihre Gabel, wischte sich den Schweiß von der Stirn und langte nach der Kanne, die Palen ihr reichte. Das Kaeagetränk war zwar warm, aber erfrischend. Sie gab Palen die Kanne zurück und sah über das Geländer nach unten. Ein paar kasirische Arbeiter verstreuten das Heu auf dem frisch gereinigten Boden.

„Noch ein bißchen mehr an die Wände“, rief Quilla.

„Dann wirf noch etwas runter.“

Sie ließ eine große Ladung über das Geländer fallen. Der Eingeborene, der gerufen hatte, bekam sie auf den Kopf und fing wild an zu spucken. Palen lachte. Quilla setzte sich hin und streckte die Beine aus. Palen umrundete den Heuhaufen und nahm neben ihr Platz.

„Heute abend wird der Tag gefeiert, an dem der Greifer explodierte“, sagte sie.

Quilla nickte und legte sich ins Heu zurück. „Und die Einfahrt der Ernte. Da geht’s heiß her. Da wird gefuttert und getrunken. Es werden Reden gehalten. Es wird auch getanzt. Gehst du auch hin?“

Palen fabrizierte ein kasirisches Achselzucken, das darin bestand, daß sie mit dem unteren Schulternpaar das obere anhob. „Wir kommen, wie immer. Wir schauen zu und sehen uns eure neuen Leute an, die sich nach außen hin freundlich geben, innerlich aber unfreundlich über uns denken. Und dann gehen wir wieder. Es wird immer monotoner.“

Quilla lachte. „Du langweilst dich aber schnell, Palen.“

„Es hat nichts mit Langeweile zu tun. Es ist eher so, daß wir merken, daß die Leute uns nicht mögen. Wir fühlen uns unwohl und merken, daß man uns nicht traut. Es liegt nicht an der Langeweile. Wir können das nicht ertragen.“

„Sie werden euch doch nichts tun.“

Palen zog einen Fuß in ihren Schoß und untersuchte die Sohle. „Bist du sicher?“

„Ich weiß nicht. Sie sind mir genauso fremd wie dir.“

„Aber sie gehören zu deinem Volk.“

„Bedeutet das etwas?“ Quilla rollte sich auf die Seite und berührte Palens Fuß. „Hast du dich geschnitten?“

„Nein, ich bin auf irgendwas getreten. Ich kann nichts erkennen.“

„Zeig mal her. Und sitz still.“ Quilla legte Palens Fuß in ihren Schoß. Die Eingeborene legte sich ins Heu zurück und verschränkte ein paar ihrer Arme hinter dem Kopf.

„Es ist Mittag, Quilla“, rief jemand von unten.

„Prima. Machen wir eine Stunde Pause. Nach dem Essen kommen dann die beiden letzten Felder dran. Die Bewässerungskanäle müssen gereinigt werden. Wenn ich es schaffe, werde ich mich am Nachmittag darum kümmern.“

Die Eingeborenen marschierten hinaus. Quilla beugte sich über Palens Fuß. Staubflocken tanzten im Sonnenlicht.

„Du bist nicht recht bei der Sache“, sagte Palen.

Quilla sah sie an. Die violetten Augen der Eingeborenen waren geschlossen. Das schnauzenähnliche Gesicht Palens ließ nicht erkennen, woran sie dachte.

„Ja.“ Quilla zog erneut an ihrem Fuß. Zwischen Sohle und Ferse hatte sich etwas eingedrückt. Sie kratzte mit dem Fingernagel daran herum.

„Willst du wieder auf Wanderschaft gehen?“

„Ich weiß nicht.“ Quilla zog ein kleines Taschenmesser hervor und klappte es auf. Sie lachte. „Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung? Als wir einander zu ertränken versuchten?“

„Du hast einen komischen Humor, Albiana“, erwiderte Palen brummig. „Schneid mir bloß nicht den ganzen Fuß ab.“

Sie waren sich zwei Tage nach Quillas Aufbruch von Cault nach Haven begegnet, und Quilla hatte angenommen, daß man ihr die große, junge Eingeborene nachgeschickt hatte, um sie auszuspionieren, für sie zu sorgen und zurückzuführen. Es hatte Quilla wütend gemacht, und Palen, die sich aufgrund eigener Probleme auf die Wanderschaft begeben hatte, stand ihr in nichts nach. Obwohl sie sich nicht hatten leiden können, waren sie zusammen weitermarschiert, hatten sich auf Kasiri über die kleinsten Kleinigkeiten gestritten und waren schließlich in einem der vielen Seen To’an Caults aufeinander losgegangen. Als sie nach Haven gekommen waren, hatten sie einander Blutsbrüderschaft geschworen. Palen behauptete, Quilla sei das einzige Lebewesen, das weniger Grips besäße als ein Vogel. Quilla war der Meinung, daß Palens Schweigen mehr aussage als ihre Worte. Wenn sie Probleme hatten, wanderten sie zusammen über die Insel. In den letzten drei Jahren waren sie nur selten voneinander getrennt gewesen.

„Willst du wandern gehen?“ fragte Palen erneut.

„Ich weiß nicht. Ich weiß es noch nicht.“ Quilla schob die Messerspitze unter den Stein. „Tabor will, daß ich ihn heirate.“

„Ist das diese Albiana-Sache? Wo man sich aneinander bindet?“

„Wie du es sagst, klingt es schrecklich. Hier, der Stein ist draußen.“

Palen setzte sich und musterte ihren Fuß. „Danke. Es ist schrecklich. Was ihr macht, ergibt überhaupt keinen Sinn. Blute ich?“

„Mit solchen Füßen? Komm, ich habe Hunger.“

Quilla nahm die beiden Heugabeln, stellte sie in eine Ecke und kletterte an der Strickleiter zum Boden hinunter. Palen folgte ihr etwas langsamer. Sie benutzte gleichzeitig alle vier Arme, um nach unten zu gelangen. Sie murmelte vor sich hin. Die Kühle der Nacht war völlig vergangen; nun war es heiß. Die Luft schien stillzustehen.

„Und wirst du es tun?“ fragte Palen, als sie an der Außenwand des Stallgebäudes saßen. Vor ihnen streckten sich die geordneten Felder der Farm aus. Dahinter lagen die dunklen, grünschwarzen Zimania-Gärten. Palen entnahm ihrem Beutel etwas zu essen und gab einen Teil davon Quilla.

„Ich weiß es nicht. Man erwartet einfach, daß man sich verheiratet, weiß du? Meine Eltern sind es auch.“

„Das beantwortet nicht meine Frage.“

„Ich kann sie dir jetzt noch nicht beantworten.“ Quilla lehnte sich gegen das warme Holz und schloß die Augen. Unter ihren Lidern färbte sich die Welt rot. „Ich weiß nicht … Vielleicht sollten wir bald wieder auf die Wanderschaft gehen …“

Palen wechselte neben ihr die Stellung. Schweigend verzehrten sie ihre Mahlzeit.

 

Da er an der Nachmittagsversammlung teilnehmen wollte, schloß Simit an diesem Tag früh die Schule, und bald darauf wimmelte es auf den Straßen der Ortschaft von Kindern. In einer Ecke des Marktplatzes hatte sich eine aus menschlichen und kasirischen Kindern gemischte Gruppe versammelt und spielte ein langes, kompliziertes Spiel. Inmitten des Getümmels rannte Meya umher und brüllte Befehle, denn nun war sie ein Commander in den Diensten des Galaktischen Imperiums. Sie führte ihre Soldaten in Kampfpositionen, unterwanderte den Feind mit einem Heer von Spionen, tüftelte Kampagnen gegen die Konföderation der Freien Welten aus, provozierte schnelle und blutige Schlachten zwischen den leeren Gemüse- und Fischbuden und stritt sich mit ihren Stabsoffizieren herum. Sie war gerade damit beschäftigt, eine Attacke gegen die gegnerische Festung zu fliegen, als sie am anderen Ende des Marktplatzes ihre Schwester sah, die sich auf dem Weg zum Gemeinschaftshaus befand. Auf der Stelle griff Meya sich an die Brust und ließ sich in äußerst dramatischer Form zu Boden fallen. „Mich hat’s erwischt!“ schrie sie auf. „Aber ihr müßt um jeden Preis weiterkämpfen, Jungs! Denkt daran: Das Recht ist auf unserer Seite!“ Sie ließ den Kopf sinken und streckte alle viere von sich. „Es hat überhaupt keiner auf dich geschossen! Das ist unfair!“

„Ein Commander darf erst in der allerletzten Schlacht sterben!“ „Du kannst doch nicht einfach die Regeln ändern!“

„Tut mir leid“, sagte Meya, stand auf und klopfte sich den Straßenstaub von der Hose. „Aber ich bin nun mal tot. Bis später.“ Eilig ließ sie die Marktstraße hinter sich und lief die Straße hinauf.

Quilla stand auf der Treppe des Gemeinschaftshauses und unterhielt sich mit Ved Hirem, Havens neuem, einzigem und selbsternanntem Richter. Stirnrunzelnd drückte sich Meya in einen Torweg. Ved roch komisch und redete immer in ausnehmend langen Sätzen. Jason sagte, daß sein Geruch von einer Salbe herrührte, mit der er seine Gelenke einrieb. Und er redete so komisch, weil er Anwalt war und Anwälte nun einmal so redeten. Er war mit Jason befreundet. Meya konnte sich über den Geschmack ihres Vaters nur wundern. Sie ging dem gestelzt redenden alten Mann meistens aus dem Weg.

„Aber wir müssen die Gesetze kodifizieren“, sagte Ved gerade. „Die Hauptstütze einer jeden Zivilisation liegt in der Struktur ihrer gesetzmäßigen und moralischen Überschaubarkeit der Gesellschaft, und ohne eine solche Struktur ist es unmöglich, möglicherweise sogar gefährlich, weiter zu expandieren, weil dies schließlich und unausweichlich in ein zunehmend chaotischer werdendes Stadium führen muß, soweit es die Bürger und den Staat betrifft. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?“

„Was Sie meinen“, erwiderte Quilla, „ist, daß Sie kein Richter sein können, wenn es keine Gesetze und Anwälte gibt, mit denen Sie sich über deren Auslegung streiten können. Wir haben das doch alles schon durchgekaut, Ved. In Haven leben dreihundertsechzig Menschen. Jeder kennt jeden, die Erwachsenen nehmen ausnahmslos an den Versammlungen teil, und größere Meinungsverschiedenheiten hat es noch nie gegeben. Wir brauchen noch keine Gesetzbücher; sie würden die Dinge nur komplizierter machen. Was du nicht willst, das man dir tu\ das füg’ auch keinem anderen zu, wie Hoku es auszudrücken pflegt.“

Ved verzog das Gesicht. „Niemand soll einen anderen verletzen oder betrügen oder von einem anderen verletzt oder betrogen werden.“

„Genau. Und wer dagegen verstößt, muß sich vor der Gemeinde verantworten. Mehr brauchen wir nicht.“

Ved zupfte an den Aufschlägen seiner Jacke. „Ich werde mit deinen Eltern darüber sprechen“, sagte er und ging in das Gemeinschaftshaus. Quilla schien nicht sonderlich gut aufgelegt zu sein. Meya verließ ihr Versteck und kletterte die Treppenstufen hinauf.

„Was machst du denn hier?“ fragte Quilla. Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich.

„Ich will mir die Versammlung ansehen.“ Meya griff nach der Hand ihrer Schwester.

„Es wird dich nur langweilen.“

„Bestimmt nicht! Ich verspreche, daß ich mich nicht langweilen werde. Ich will auch gar nichts sagen, nur zuhören.“

„Na schön. Aber setz dich nach hinten und bleib in der Nähe der Tür, ja? Wenn du doch gehen willst, kannst du wenigstens verschwinden, ohne die anderen zu stören.“

Meya nickte. Zusammen betraten sie den überfüllten Raum. Ein Auf und Ab von Stimmen herrschte im Inneren des Gemeinschaftshauses.

Die Aeriten standen in Gruppen beieinander und teilten sich gegenseitig lautstark ihre Ansichten mit. Die Delegierten aus der Kasirensiedlung lehnten an der Wand, hatten die Arme vor der Brust verschränkt oder um die Schultern ihrer Nachbarn gelegt. Ein Junges steckte seinen Kopf aus einem Beutel, sah sich um, plapperte etwas vor sich hin und verschwand wieder, um sich mit einer unsichtbaren Brustwarze zu beschäftigen. Meya fand in der Nähe der Tür einen leeren Stuhl. Quilla durchquerte den Raum und bestieg das Podium. Ved hatte seinen Platz bereits eingenommen; er wandte Quilla den Rücken zu. Die alte Ärztin Dr. Hoku nahm an der anderen Seite Platz, lächelte Quilla an und sagte etwas. Quilla lächelte kurz und nahm den Hammer in die Hand. Sie schlug ein paarmal auf den Tisch. Die Leute nahmen Platz und stellten ihre Gespräche ein.

„Die Tagesordnung“, sagte Quilla. „Es sprechen: Dene Beletes über das Kom-System und die Windvögel, Hoku über das Hospital, Simit über die Schule und Ved über die Gerichtsbarkeit. Des weiteren: ein Bericht von den Kasiren. Anschließend offene Diskussion, Rede- und Gegenrede. Dene?“

„Wo sind Jason und Mish?“ rief jemand aus dem Publikum.

„Sie sind noch nicht zurück. Ich erwarte sie aber am Spätnachmittag. Dene?“

„Laßt uns auf sie warten.“

Quilla verschränkte die Arme. Eine Haarlocke rutschte unter ihrem Kopftuch hervor und fiel ihr ins Gesicht. Meya tastete nach einem Büschel ihres eigenen Haars und fing an, daran herumzunagen.

„Die Dorfversammlung hat pünktlich angefangen“, sagte Quilla. „Wir haben heute abend eine Feier, an der, wie ich annehme, jeder von uns teilnehmen will. Sollte die Versammlung trotz der Tatsache, daß es verdammt spät werden wird, wenn wir auf Jason und Mish warten, der Meinung sein, das Fest mit Verspätung beginnen zu lassen, so möge sie dies deutlich machen. Sollte das nicht der Fall sein, können wir vielleicht fortfahren.“

Da niemand Einwände erhob, nahm Dene Beletes ihre Zeichnungen und Karten und ging nach vorne.

„Die kleine Schlampe“, sagte eine Frau, die vor Meya saß. Meya trat heftig gegen ihren Stuhl, und als die Frau sich herumdrehte, streckte sie ihr die Zunge heraus. Die Frau sah sie wütend an, wandte sich dann aber wortlos wieder um. Plötzlich nahm Jes neben Meya Platz.

„Wo ist Tabor?“ fragte sie.

„Pssst! Ich will hören, was Dene sagt.“

Dene sprach über den steigenden Bedarf an Windvögeln und ging dann auf die Generatoren ein. Sie hatte einen Plan aufgestellt, der vorsah, an der Peripherie Havens Windmühlen aufzustellen und legte allerlei Zeichnungen vor, auf denen es von Linien nur so wimmelte. Jes schaute ihr fasziniert zu. Als Meya sich die bunten Windmühlen auf den Feldern vorstellte, stellte sie fest, daß der Gedanke ihr gefiel. Dann sprach Dene über das Kom-System. Ved widersprach ihrer Versicherung, daß die Leitungen sauber funktionierten und keinerlei statische Störungen aufwiesen, mit Vehemenz. Nachdem er den gleichen Einwand zum vierten Mal angebracht hatte, brach Quilla die Diskussion ab. Die Kasiren wollten noch etwas über die Windmühlen wissen, woraufhin Quilla in fließendem Kasiri Denes Vorschläge wiederholte, was sie zu befriedigen schien. Schließlich faltete Dene ihre Papiere zusammen und ging wieder nach unten. Dr. Hoku beugte sich vor, drückte ihr drahtiges Haar über den Ohren glatt und gewährte den Leuten einen Einblick in die Annehmlichkeiten, die ihnen das Hospital bieten würde, das sie plante. Sie malte das grimmige Bild eines von epidemischen Pestseuchen heimgesuchten Haven, wies daraufhin, welche Konsequenzen es haben könne, wenn man gegen dergleichen Fälle nicht gewappnet sei und nicht das nötige Personal zur Verfügung stünde. Keine Frage, daß sie jedem der Anwesenden einen gehörigen Schrecken einjagte.

„Und Sie werden, nehme ich an, die ganze Sache unter Ihre Fittiche nehmen?“ fragte Ved.

Hoku nagelte ihn mit einem kalten Blick fest. „Sehen Sie noch irgendwelche anderen Ärzte auf diesem Gesteinsklümpchen, Richter? Sie sollten die Fragen der Medizin besser den Leuten überlassen, die wirklich dazu in der Lage sind, eine Arthritis von Senilität zu unterscheiden.“

Die Leute lachten. Ved biß die Zähne zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Jemand schlug vor, daß man Hokus Hospital in den nächsten Etat aufnehmen solle. Quilla änderte den Vorschlag dahingehend ab, daß er als Empfehlung an die Direktion der Kennerin-Plantagen weitergegeben werden sollte. Die Versammlung war damit einverstanden. Hoku rückte ihren Stuhl nach hinten und schlief ein.

„Wo ist Tabor?“ fragte Meya noch einmal. „Du wolltest doch mit ihm üben, oder?“

„Konnte ihn nicht finden“, gab Jes ebenso leise zurück. „Hast du was zu futtern?“

Meya griff in ihre Gürteltasche und förderte einen klebrigen Keks zu Tage. Jes musterte ihn mißtrauisch, dann schob er ihn sich in den Mund.

„Ich wette, daß Taine ganz schön einsam ist, wenn sie immer nur das Baby um sich hat“, sagte Meya. „Mögen Säuglinge überhaupt Flötenmusik?“

„Taine ist mir wurscht“, sagte Jes.

„Ha. Ha. Ha.“

„Halt die Klappe“, sagte die Frau, die vor Meya saß. Meya streckte ihr noch einmal die Zunge heraus und trat gegen ihren Stuhl. Simit erzählte mit lauter Stimme von den Fortschritten in der Ausbildung seiner Schüler und erinnerte die Eltern noch einmal daran, daß mindestens die Hälfte der Erziehung und Bildung zu Hause stattfinden müsse. Damit auch die Kasiren seine Worte verstanden, ließ er sie von Quilla übersetzen. Er schloß mit einem Antrag auf Gewährung von mehr Mitteln für Bücher und Kassettenbänder. Auch dies sollte im nächsten Etat berücksichtigt werden. Als Quilla eine Pause ankündigte, verließ Meya das Gemeinschaftshaus und ging zum Marktplatz zurück. Die anderen Kinder waren gegangen. Das Sonnenlicht bleichte die Markisen der einzelnen Buden. Es herrschte eine wahre Sommerhitze; eine Brise war nirgendwo in Sicht. Meya sah die Marktstraße hinunter, dann ging sie über den Schulweg an den Fluß.

So still, wie das Schulgebäude jetzt dalag, wirkte es beinahe unheimlich. Meya strich mit ihren Fingern über den Holzzaun und zog sich einen Splitter ein. Sie sah sich schnell um, sagte mit Nachdruck „Scheiße!“, zog den Splitter heraus und fing an, an dem verletzten Finger zu lutschen. Als sie den Zaun umrundet hatte, entdeckte sie Hart. Er war auf dem Dach von Grens Hütte und hatte ein paar Nägel im Mund.

„He, was machst du da oben?“ rief sie.

Hart wandte sich überrascht um und ließ die Schindel, die er in der Hand hielt, fallen. „Nichts, was dich angeht. Schau mal, was du jetzt angerichtet hast.“

„Ich habe überhaupt nichts angerichtet.“ Meya legte die flache Hand vor die Stirn, um besser sehen zu können. Hart war im vergangenen Jahr stark gewachsen. Obwohl er seinen Hosen die Beine abgeschnitten hatte, war der Rest auch noch zu eng für ihn. Sein dunkles Haar leuchtete im Sonnenlicht. „Warum hilfst du dem verrückten alten Gren überhaupt?“

„Hau ab. Lern irgendwas. Ich hab zu tun.“

Meya zuckte die Achseln und überlegte sich, wie es wohl aussehen würde, wenn Hart jetzt vom Dach herunterfiele. Ein gutgepolsteres Hinterteil hatte er ja, und abgesehen davon war es nicht sehr tief.

„Kann ich dir helfen?“

„Das letzte, was ich gebrauchen könnte, wäre ein naseweises Kind. Willst du nicht endlich verschwinden?“ Mit lauten Hammerschlägen trieb er einen Nagel in das Dach.

Meya schnitt eine Grimasse und lief zum Fluß hinunter. Sie hoffte, daß Hart auf die Nase fiel. Manchmal war er wie Mish, kurz angebunden und zurückhaltend. Sie fragte sich, warum Hart und ihre Mutter einander nicht stärker zugetan waren. Möglicherweise konnten sie niemanden ausstehen. O nein, das war nicht fair. Mish liebte Jason, darüber war Meya sich sicher. Mish liebte Quilla und Jes. Sie liebte Hart möglicherweise auch – und vielleicht sogar sie, Meya. Aber ganz sicher war sie sich nicht. Ihre Mutter nannte sie ihr „Winterkind“, wenn sie zusammen waren. Meya mochte es nicht, wenn sie so bezeichnet wurde. Ihr war, als hätte dieses Wort eine tiefere Bedeutung. Aber Hart war eigentlich nie mit jemandem zusammen außer mit dem alten Gren, auch wenn sie sich oft stritten.

Meya zuckte die Achseln und sprang in den seichten Fluß. Zu spät fiel ihr ein, daß Laur einen Anfall bekommen würde, wenn sie mit verschlammtem Schuhwerk heimkam. Erwachsene waren wirklich schwer zu verstehen.

Ein Stück flußabwärts hörte sie Stimmengemurmel und schlich sich näher heran. Die Kinder spielten Sumpfpiraten, und die Kasiren hatten – wie üblich – den Part der Ratten übernommen. Die Piraten durften sie nie sein, denn sie waren zu gut im Spurenlesen; da wäre das Spiel stets zu schnell zu Ende gewesen. Meya zog ihre Schuhe aus, versteckte sie zwischen ein paar Baumwurzeln, schob sich das glatte, schwarze Haar hinter die Ohren und pirschte auf das Stimmengemurmel zu. Zeonea, die Superratte, war bereit zum Zuschlagen!

 

„Jes.“

Er wandte sich um, ohne sicher zu sein, daß ihn in dem herrschenden Tumult tatsächlich jemand angesprochen hatte. Quilla lehnte am Podium, trank aus einem Wasserbecher und hörte der Unterhaltung einer Menschen- und Kasirengruppe zu. Hoku sagte etwas zu Ved Hirem, der daraufhin einen finsteren Blick aufsetzte und sich anderswo hinstellte. Hoku lächelte. Die Leute drängten sich in die Nähe der Tür. Sie lechzten nach frischer Luft. Jes machte ihnen Platz.

„Jes!“

Dene Beletes berührte seinen Arm und deutete mit dem Kopf auf eine freie Ecke. Jes folgte ihr durch die Reihen der durcheinandergebrachten Stühle.

„Ist ganz gut gegangen, nicht?“ meinte sie. „Glaubst du, es hat geklappt? Hat es sie interessiert?“

Jes nickte. „Es ist ein guter Plan“, sagte er.

„Es ist nichts Besonderes. Windmühlen sind ein alter Hut. Glaubst du, daß die Idee deinem Vater gefallen wird? Der Plan ist gar nicht so viel wert; das Neue ist nur, wie er durchgeführt werden soll. Wie man ihn den hiesigen Verhältnissen anpaßt. Wie man den Seewind ausnutzt. Haben die Leute zugehört, als ich über die Luftströmungen sprach?“

„Ja.“

Dene legte ihre Zeichnungen ab und fuhr sich mit den narbigen Fingern durch das rote Haar. Dann zuckte sie die Achseln. „Die Entscheidung muß dein Vater fällen. Wirst du ihm von der Sache erzählen?“

„Ich glaube, es wäre besser, wenn du zu uns hinaufkommen und es ihm selber erzählen würdest. Außerdem wird Quilla ihn davon in Kenntnis setzen, wenn sie ihm über die Versammlung erzählt.“

„Vielleicht. Vielleicht.“ Dene grinste plötzlich. „Hoku hat es Ved mal wieder mächtig gegeben, nicht? Ich wünschte, ich hätte ihren Mumm.“

Jes nickte. Dene legte abrupt ihre Zeichnungen zusammen und ging auf das Podium zu. „Quilla soll sie mitnehmen“, sagte sie über ihre Schulter hinweg. „Sieh zu, daß dein Vater sie morgen zu Gesicht bekommt. Dann können wir darüber reden.“

Jes sah, daß sie sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Gasse bahnte, dann ging er zur Tür. Als er die Treppe hinunterstieg, hörte er, daß Quilla ihren Hammer schwang und die Fortsetzung der Versammlung bekanntgab. Er zögerte, doch dann ging er die Marktstraße hinunter.

Das Haus der Glents gehörte zu den neueren Gebäuden von Haven. Man hatte es vor etwa einem Jahr errichtet, nachdem das junge Paar sich geweigert hatte, weiterhin mit seinen Eltern und Schwiegereltern zusammenzuleben. Jes hatte ihnen bei den Bauarbeiten geholfen und sich dabei seine ersten Kenntnisse als Maurer, Dachdecker und Zimmermann angeeignet. Es war seine Idee gewesen, die Kolonnade rund um den Halaeabaum zu errichten. Der Anblick des ebenmäßigen, hellen Baumes, der die Decke durchstieß, erfreute ihn. Wenn er sich einst selbst ein Haus baute, sollten Bäume in seinem Inneren wachsen. Die Wurzeln konnte er als Fundament verwenden, die Äste konnten das Dach bilden. Er malte sich ein solches Haus vor seinem geistigen Auge aus und stellte sich vor, wie er heimkam: Hinter ihm der Raumhafen; er trug eine enganliegende, grüne Uniform, und Taine erwartete ihn lächelnd am Eingang. Das Bild löste sich wieder auf; ganz so perfekt war es doch nicht gewesen. Jes schüttelte den Kopf und ging über den schmalen Weg auf das Haus zu.

Bevor er anklopfen konnte, öffnete Taine die Tür und legte einen Finger auf ihre Lippen. „Das Baby schläft“, sagte sie und kam auf die Veranda hinaus.

Jes errötete. „Deswegen bin ich gekommen. Ich wollte mir das Baby ansehen. Ich habe es noch nicht …“

„Nicht es – sie. Es ist ein Mädchen.“

„Oh. Ja, natürlich.“ Jes starrte auf die Dielenbretter der Veranda. „Na ja, ich dachte, ich sollte sie mir mal ansehen. Ich kann aber auch später noch mal wiederkommen.“

Er hob rasch den Kopf und sah, daß Taines Lippen sich zu einem leichten Lächeln verzogen. Er machte Anstalten, wieder zu gehen.

„Nein, das ist schon in Ordnung“, sagte sie und legte eine Hand auf seinen Arm. „Du kannst sie dir auch jetzt ansehen.“ Sie deutete auf die Tür. „Na, dann komm.“

Jes schob seinen Daumen hinter den Gürtel und folgte ihr in das kühle Zwielicht des Hauses hinein.

Das Baby war pummelig, glatzköpfig und sonnengebräunt. Es lag nackt und auf dem Bauch in einer Wiege. Jes musterte es. Dann berührte er die Schulter der Kleinen mit der Fingerspitze.

„Ist die winzig“, flüsterte er.

„Nicht winziger als die meisten“, erwiderte Taine. „Aber bald wird sie so groß sein wie ihre Mutter.“

Jes dachte darüber nach, aber es schien ihm unmöglich zu sein, daß dieses winzige Baby einmal so groß werden sollte wie Kala Glent. Er schüttelte den Kopf und folgte Taine wieder hinaus.

„Möchtest du was zu trinken?“ fragte sie, bevor er auch nur daran denken konnte, wie er es am besten anstellte, noch ein wenig hierzubleiben. Er nickte dankbar, und Taine führte ihn in die Küche. Sie öffnete einen dickwandigen Steinkühler und förderte einen Krug mit Saft zutage.

„Die Versammlung ist immer noch nicht zu Ende“, sagte Jes, als sie ihm einen Becher vollschenkte.

„Gerede“, sagte Taine abschätzig.

Sie schenkte sich selbst einen Becher voll und nahm gegenüber von Jes auf der anderen Seite des Tisches Platz. „Man könnte beinahe annehmen, daß die Leute nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wüßten.“

„Aber es ist wichtig“, sagte Jes ernsthaft. „Schließlich geht es darum, daß alles richtig läuft. Sonst …“

„Ich weiß.“ Taine schüttelte ihr Haar. Es fiel ihr ins Gesicht, ein rotbrauner Vorhang, der das Licht zurückwarf. Jes biß sich auf die Unterlippe, dann trank er seinen Saft. Taine starrte aus dem Fenster.

„Wohnst du jetzt hier?“ fragte er, um die Stille zu durchbrechen.

„Ja. Bald werde ich einen Monat lang bei Medi sein. Danach werde ich einige Zeit bei Hoku verbringen.“

„Bei Hoku?“ Jes sah überrascht auf.

„Nun, eher in ihrer Praxis. Bis dahin werden zwei oder drei Babys erwartet, das von Tham mitgerechnet.“

„Dann hat er drei“, sagte Jes. Er dachte an Tham, der nun Überstunden klopfte, um seine Familie zu unterstützen. „Er ist ganz schön fleißig, was?“

Taine lachte, und Jes wurde rot; erst jetzt wurde ihm klar, daß man diesen Satz auch mißverstehen konnte. Er nahm einen hastigen Schluck. Taine sah ihn amüsiert an.

„Warum kann ich eigentlich mit jedem außer mit dir reden?“ sagte er, in seinen Becher starrend.

Taine stand auf und stellte den Krug weg. Als sie sich zu dem Kühler hinunterbeugte, fiel ihr erneut das Haar ins Gesicht.

„Vielleicht, weil du dir zuviel Mühe gibst“, sagte sie.

Das Baby fing an zu weinen. Sie ging hinaus. Jes blieb an der Tür stehen, bis sie mit dem Kind auf dem Arm zurückkehrte. Sie legte es im Wohnzimmer auf ein Sofa und fing an, es zu wickeln.

„Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man immer nur in den Häusern anderer lebt?“ fragte Jes.

Taine zuckte die Achseln. Sie hatte den Mund voller Klemmen, umwickelte das kleine Hinterteil des Babys fachmännisch mit einer weißen Windel und befestigte sie.

„Das kommt darauf an“, erwiderte sie und nahm das Baby auf. „Es ist besser, als in gar keinem Haus zu leben.“

„Ist das die einzige Alternative?“

Sie sah ihn an, dann gingen sie auf die Veranda hinaus. Jes hielt das Baby auf dem Schoß. Es krabbelte herum, plapperte vor sich hin und besabberte sein Hemd. Taine saß auf dem Geländer.

„Meine Familie war ziemlich wohlhabend“, sagte sie schließlich in einem Tonfall, als führe sie ein Selbstgespräch. „Du kannst es dir sicher vorstellen: Privatunterricht, jede Menge Kleider und Lakaien, die für alles sorgen. Ich glaube, ich habe mir vorgestellt, es müsse immer so weitergehen: daß ich nur das tun würde, was mir Spaß macht, daß ich alles bekäme, nach dem mir der Sinn steht, und daß immer irgendwelche Leute da sind, die meinen Anweisungen Folge leisten. Und dann fingen die Schwierigkeiten an. Mein Vater verschwand. Kurz darauf wurden meine Mutter und ich in ein Lager gebracht. Zwei Wochen später wurde auch mein Vater dort eingeliefert.“ Sie drehte eine Haarsträhne um ihren Finger und sah Jes unverwandt an. „Meine Mutter war ziemlich hübsch. Am zweiten Tag nahmen sie sie mit. Obwohl mir niemand sagte, wo sie war, konnte ich es mir gut vorstellen. Zu viele hübsche Frauen gab es dort nämlich nicht. Entweder brachte man sie schnell weg, oder sie wurden sehr schnell häßlich. Ich nehme an, daß meine Mutter Glück gehabt hat. Zumindest erfuhr ich, daß die Pro … die hübschen Frauen genug zu essen bekamen.“

Das Baby grapschte nach Jes’ Hand. Er kitzelte die Kleine am Bauch und sah dann Taine an. Ihre plötzliche Offenheit irritierte ihn. Sie schob plötzlich die Schultern zurück und legte eine Hand auf ihre Hüfte.

„In dem Lager war eine alte Frau. Sie brachte mich dazu, mir das Gesicht mit Dreck vollzuschmieren, und klebte etwas auf meine Zähne, damit sie häßlich aussahen. Sie sagte, ich solle mich nicht waschen und machte einen Knoten in mein Haar. Ich glaube, ich habe ziemlich abscheulich ausgesehen und auch sicher nicht gut gerochen. Auf jeden Fall ließen sie mich in Ruhe. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern. Ich glaube, ich habe überhaupt nicht viel darüber nachgedacht. Ich weiß es sogar. Jason sagt, er hat mich anbrüllen müssen. Als ich mich nicht von der Stelle rührte, hat er mich hochgerissen und getragen, bis ich von selber anfing zu laufen. Ich wußte nicht einmal, warum ich überhaupt rannte. Ich bin einfach hinter den anderen hergelaufen.“

Ihr Gesicht sah angespannt und ausdruckslos aus, wie eine Maske. Jes sprach sie an, aber sie wandte den Kopf nur noch mehr zu Seite.

„Auf dem Schiff gab mir jemand ein bißchen Unterwäsche und brachte mir eine Decke. Und da kam ich zu dem Schluß, daß der Alptraum vorbei sei und nun wieder alles so werden würde wie zuvor. Ich hielt mich wieder für die Prinzessin Taine, der die Welt gehörte. Aber auch das stimmte nicht.“

Das Baby fing an zu plärren. Jes legte die Kleine gegen seine Schulter und tätschelte ihren Rücken. Sie beruhigte sich murmelnd.

„Du machst das sehr gut“, sagte Taine und nahm die Kleine wieder an sich. „Wie ich. Damit schlage ich mich auf eurem Planeten durch. Etwas anderes kann ich nicht.“

„Macht es dir keinen Spaß?“

„Ich glaube doch. Ich mag Kinder“, erwiderte sie mit einem zärtlichen Gesichtsausdruck.

Jes befeuchtete seine Lippen und fragte sich, wie weit er wohl gehen konnte. „Du gehst ganz anders mit Kindern um“, sagte er tastend. „Du bist nicht … so …“

Taine sah ihn an. Ihre Augenbrauen bewegten sich und ließen einen sarkastischen Eindruck zurück.

„Ved will mich heiraten.“

„Ved Hirem?“ Jes sprang erschreckt auf. „Aber du kannst doch nicht … Er ist viel zu alt!“

Taine musterte ihn.

„Wirst du sein Angebot annehmen?“

Sie zuckte die Achseln und brachte das Baby ins Haus zurück. Jes blieb auf der Veranda sitzen und zog die Flöte aus seinem Gürtel. Unglücklich blies er ein paar Töne vor sich hin.

Taine kam an die Tür. „Nein“, sagte sie und ging wieder hinein.

Jes spielte planlos weiter. Ihm war nach Weinen zumute.

Ved war gerade dabei, den Leuten die Herrlichkeiten geschriebener Gesetze klarzumachen, als das Kasirenkind auf das Podium kletterte und Quilla etwas ins Ohr flüsterte. Sie gab dem Kleinen eine leise Antwort. Nachdem er wieder gegangen war, wachte Hoku auf.

„Mish und Jason sind zu Hause. Können Sie die Leitung der Versammlung übernehmen?“

Hoku nickte. Quilla ging hinaus. Hoku würde mit jedem Schachzug, den Ved nach ihrem Abgang zu landen versuchte, bestens fertig werden, denn die aufbrausende Ärztin konnte den Windbeutel von einem Anwalt um nichts in der Welt ausstehen. Es war noch wärmer geworden. Quilla zog ihr Hemd aus und sehnte sich nach einer Brise, aber daraus wurde nichts. Als sie die Marktstraße hinunterging, hörte sie das Flötenspiel ihres Bruders und sah ihn auf der Veranda der Glents sitzen. Taine, die das Baby auf dem Arm trug, stand am Fenster. Sie sah teilnahmslos aus. Quilla seufzte und schüttelte den Kopf.

Sie hatte gehofft, daß Jes’ Gefühle für sie nur von zeitweiliger Bedeutung waren, aber sie schienen noch zuzunehmen. Die gerissene, gutaussehende, egoistische Taine schien sich wohl einen Spaß daraus zu machen.

Wir scheinen mit der Liebe wenig Glück zu haben, dachte Quilla. Sie ließ das letzte Gebäude hinter sich und lief den Hügel zu ihrem Anwesen hinauf. Jes und Taine, Tabor und ich. Sogar Mish und Jason haben ihre Probleme, und das seit Jahren. Sie versuchen damit fertig zu werden, indem sie im Sommer zusammen fortgehen, über die Insel wandern und versuchen, einander besser verstehen zu lernen. Was sie angeht, scheint es zu funktionieren. Vielleicht tragen wir alle unsere Emotionen in den Füßen.

Mish und Jason befanden sich bereits hinter dem Haus im Bad. Quilla nahm sich ein Bier aus der Küche und ging auf das umzäunte Badehaus zu.

„Habt ihr noch Platz für ein Bier?“ fragte sie.

„Quilla? Komm doch rein.“

Jason und Mish lagen in dem heißen Wasser. Sie hatten Schweißtropfen auf der Stirn. Quilla reichte Mish das Bier und küßte sie. Jason küßte sie ebenfalls; gleichzeitig grapschte er nach dem Getränk.

„Ihr seid beide verrückt“, sagte Quilla und zog sich an die Tür zurück. „Ein heißes Bad bei einem solchen Wetter?“

„Ich versuche nur, meine Muskeln zu entkrampfen“, sagte Jason. „Denn deine Mutter ist der Ansicht, ein Spaziergang könne nur dann ein echtes Vergnügen sein, wenn man pro Tag achtzig Kilometer zurücklegt. Bergauf.“

„Lügner“, sagte Mish wohlig.

„Wie war es denn?“ sagte Quilla.

„Gut. Weit. Heiß. Nett.“

„Das sagt wohl alles“, meinte Jason.

Quilla lachte.

„Und wie war es hier?“

Quilla trank einen Schluck Bier und informierte sie über das, was inzwischen auf der Farm, im Dorf und auf den Pflanzungen geschehen war.

„Ved hat mir ziemlich zugesetzt, aber das überrascht wohl niemanden“, sagte sie abschließend. „Er reitet ewig auf seinen Gesetzen herum, und jedesmal, wenn ich versuche vernünftig mit ihm zu argumentieren, zieht er die Nase hoch und sagt, dann müsse er eben mit euch darüber reden. Allmählich hängt es mir zum Halse heraus, immer wie ein kleines Kind behandelt zu werden.“

„Ich werde mich um ihn kümmern“, sagte Jason. „Und sonst?“

„Nichts. Tabor ist hier.“

Jason bewegte in dem Wasser seine Beine. Er nahm die Hälfte der Wanne ein. Mish wirkte neben ihm so klein wie ein Kind.

„Er ist hier?“ fragte Mish. „Im Sommer? Weshalb?“

Quilla zuckte die Achseln und trank das Bier aus. „Er kann die Berge nicht mehr sehen, nehme ich an. Kommt ihr heute abend zum Fest?“

„Klar“, sagte Jason. „Wie könnte ich es versäumen, mir anzuhören, wie meine Frau und mein Sohn eine ganze Armada blutdürstiger Ausgeflippter zur Schnecke gemacht haben? Wird Ved in diesem Jahr die Festrede halten?“

„Wer sonst? Oh, ja, Jes wird auch was sagen. Hetch hat uns sagen lassen, daß er ein paar Tage später kommt.“

„Wie schade. Da wird ihm eine großartige Vorstellung entgehen.“

„Sicher.“ Quilla grinste. „Voriges Jahr hat Ved aus der Flotte übrigens zwölf Schiffe und einen Schlachtkreuzer gemacht. Wollen wir wetten, daß es diesmal zwanzig und vier werden?“

Jason zupfte an seinem Schnurrbart. „Damit wirst du wohl nicht auskommen. Es müßten mindestens zweiunddreißig Schiffe, drei Zerstörer und ein Föderationskreuzer sein.“

Mish lachte. „Vielleicht wird er mir diesmal auch einen Blaster andichten. Ich hätte einen gehabt haben können. Wie steht’s mit noch einem Bier?“

„Kommt sofort!“

Als sie zum Badehaus zurückkehrte, hörte Quilla Jason sagen: „Glaubst du, er hat sie schon gefragt?“

„Ich weiß nicht. Quilla würde es erwähnt haben.“

„Vielleicht aber auch nicht. Sie ist ziemlich schweigsam, Mish.“

Quilla befeuchtete ihre Lippen. Die Bierkrüge fühlten sich in ihren Händen kalt an.

„Glaubst du, sie wird ja sagen?“ fragte Mish.

„Du hast es ja auch nicht getan“, meinte Jason. „Glaubst du etwa, sie ist weniger stur als du?“

„Mach keine Witze, Jase. Das war eine völlig andere Sache. Sie ist schon einundzwanzig.“

„Dann laß ihr doch Zeit.“

Quilla ging ein paar Meter zurück und lehnte sich mit der Stirn gegen einen Baum. Sie preßte einen der kalten Krüge gegen ihre Wangen, holte tief Luft und ging dann ins Badehaus zurück. Sie gab ihren Eltern das Bier, erfand eine Arbeit, die sie im Haus zu erledigen hatte und ging. Im Stall wimmelte es von Leuten, die Dekorationen bastelten, im Haus hallten Laurs Rufe und Mims Antwortschreie wider. Palen befand sich auf den Feldern. Quilla begab sich an den Halaeabaum, sah sich um und fing dann an, ihn zu besteigen. Die zahlreichen federartigen Blätter schirmten sie sowohl vom Haus als auch vom Rest des Tales ab. Sie nahm auf einem hohen Ast Platz, lehnte sich mit der Wange gegen die Borke und schaute in das gesprenkelte Licht. Aber es kam keine Heiterkeit in ihr auf.

Die Stalltüren standen offen, auf dem sauberen Boden spiegelte sich das Licht von Laternen. Quilla wäre gern an einem Seil zur Tenne hinaufgeklettert, um sich in der stillen Umgebung des Daches zu verbergen, aber statt dessen mußte sie mit ihrer Familie vor dem offenen Tor stehen und die Aeriten und Kasiren, die um den Hügel herumkamen, willkommen heißen. Große Menschenansammlungen erzeugten in ihr ein ungutes Gefühl. Tabor nahm ihre Hand und drückte sie beruhigend. Ohne aufzusehen nickte sie ihm zu und ging woanders hin.

„Meya, sieh zu, daß du nicht wieder in fünf Minuten schmutzig bist“, sagte sie. Meya verbarg die Hände hinter dem Rücken und lächelte. Jes, der seine besten Kleider trug, schien sich seiner Rolle als Held von Aerie wohl bewußt zu sein. Neben Mish stand Hart. Der Gesichtsausdruck, den er zur Schau trug, war undurchdringlich. Quilla beobachtete ihn und fragte sich, warum er gekommen war. Bisher hatte er sich jedenfalls stets geweigert, an solchen Festlichkeiten teilzunehmen. Man bekam ihn nicht einmal an den Jahresbeginn- oder -endfeiern zu Gesicht. Und doch war er diesmal anwesend, auch wenn er so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Quilla nahm an, daß er sich schlußendlich doch dazu entschieden hatte, ein Teil von Aerie und den örtlichen Ritualen und Mythen zu werden.

„Hetch ist nicht da“, sagte Ved, als er eintrat.

Jason schüttelte den Kopf. „Quilla hat vor drei Tagen eine Meldung bekommen. Er wird später kommen.“

„Ich weiß. Ich habe veranlaßt, daß Jes eine Rede halten wird, obwohl ich es, offen gestanden, bevorzugt hätte, wenn der Kapitän an diesem Abend präsent gewesen wäre. Es ist allerdings offensichtlich, daß es ihm unmöglich sein wird, ein paar Worte an das Publikum zu richten, wenn er nicht einmal dazu in der Lage ist, pünktlich zu erscheinen, nicht wahr? Hast du noch irgendwelche Ratschläge?“

„Entscheide das ruhig allein“, sagte Jason. „Ich bin sicher, du wirst alles bestens hinkriegen.“

Ved zupfte an seiner Lippe und ging in den Stall. Als er nicht hinsah, streckte Meya ihm die Zunge heraus. Laur drohte ihr mit erhobener Hand. Immer mehr Aeriten kamen jetzt. Sie betraten den Stall, unterhielten sich und trugen Töpfe mit Essen und Krüge mit selbstgekeltertem Wein. Jes und Tabor kletterten auf eine der unteren Tennen und spielten ein Flötenduett. Sie ließen die Beine nach unten baumeln, was sie zum Zielobjekt einiger mit Früchten werfender Kinder aus Meyas Altersgruppe machte. Schließlich bekamen sie es mit Mim zu tun, die sich wie ein Racheengel zwischen die Kinder warf und sie in eine andere Stallecke scheuchte. Jason saß neben Ved in der Nähe des Getränketisches und begutachtete dessen Rede. Schließlich kamen auch die Eingeborenen.

Quilla, die gerade zwei Kuchen auf den Händen transportierte, nickte Palen zu und setzte ihre Fracht auf einem langen Tisch ab. Die Kapelle kam und begann damit, die Instrumente zu stimmen. Jes und Tabor kamen von der Tenne. Quilla versteckte sich im Schatten und beobachtete Tabor, der sich umsah. Dann ging er zu Mish. Ihre Mutter und ihr Liebhaber blieben an der Tür stehen und unterhielten sich. Tabor berührte Mish an der Schulter, und sie legte ihre Hand auf die seine und lächelte. Quilla wandte sich ab.

Obwohl Ved stets den Versuch unternahm, seine Rede zu halten, bevor die anderen das Tanzbein schwangen, wurde er immer niedergestimmt, weil man annahm, daß die Kapelle, wenn er fertig war, längst schlief. Hoku nahm auf einem Stuhl Platz, von dem aus sie die Vorbereitungen übersehen konnte, und ermahnte die vorbeigehenden Kinder. Bald herrschte zwischen ihrem Platz und den Eßtischen ein ununterbrochenes Kommen und Gehen. Jes lungerte mit ein paar anderen jungen Männern an einem Stützbalken herum. Quilla sah Taine mit den roten Haaren. Mish tanzte mit Jason, und Tabor sah ihr gedankenverloren zu. Mish wird in diesem Jahr vierundvierzig, dachte Quilla. Und ich bin schon einundzwanzig. Aber das heißt wohl nichts.

Hart kam aus der Dunkelheit herein, nahm sich einen Becher Wein und ging wieder zur Tür. Er trank und beobachtete den Himmel. Wartete er auf Hetch? Quilla bezweifelte es. Sie ging an der Stallwand entlang und stellte sich neben ihn.

„Gibst du mir ’n Schluck?“ fragte sie.

Hart sah sie an und reichte ihr den Becher. Sie trank.

„Bäh! Warum trinkst du nicht lieber Kaea? Das schmeckt doch besser als dieses Gesöff?“

„Ich mag diesen kasirischen Scheißdreck nicht“, sagte Hart freundlich. Quilla wollte ihm eine Antwort geben, doch dann sah sie sein Lächeln und schwieg. Sie war verwirrt. Sie hatte in den letzten fünf Jahren zunehmend weniger mit ihrem Bruder zu tun gehabt und konnte jetzt kaum noch unterscheiden, ob er etwas ernst oder witzig meinte. Sie hob den Kopf. Am Himmel standen zwei Monde. Der eine im Zenit, der andere glitt gerade über den östlichen Horizont. In dieser Gegend der Milchstraße standen die Sterne ziemlich eng beieinander.

Hart berührte ihren Arm. „Schau dir das an.“ Er deutete in den Stall hinein.

Quilla drehte sich um und sah, daß Tabor mit Mish zusammensaß; sie lachten, dann beugte Tabor sich vor und gab gestenreich etwas zum besten. Er erzählte ihr irgendeine Geschichte. Sein Stock lag neben ihm im Heu, und er hatte sein schlimmes Bein bequem ausgestreckt. Mishs Hand ruhte auf seinem Knie. Quilla sah Hart an und zuckte die Achseln. Er lächelte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Sternen zu.

„Sie haben etwas miteinander gehabt“, sagte Hart.

„Nein, ich weiß von dieser Geschichte. Tabor ist gegangen, weil er sich nicht wohl dabei fühlte. Er wollte sich nicht zwischen Jason und Mish drängen. Er konnte es nicht. Aber sie haben niemals etwas miteinander gehabt.“

„Das sagst du.“ Hart lächelte erneut.

„Du änderst dich wohl nie, was? Überall, wo es etwas zu verdrehen gibt, bist du zur Stelle und verdrehst es.“

Hart zuckte die Achseln. „Selbst wenn sie nichts miteinander gehabt haben, selbst wenn sie nicht miteinander gefickt haben, hat er sie genug geliebt, um sie zu verlassen. Glaubst du, er liebt sie immer noch?“

„Sei kein Idiot“, sagte Quilla scharf und machte Anstalten, wieder hineinzugehen.

Hart packte ihre Schulter. „Schau! Es geht los! Sieh es dir an!“

Als Quilla herumfuhr, rannte Hart in den Stall hinein und rief die Leute zusammen. Sie sah auf. Im Norden erhellte sich der Himmel mit zunehmender Schnelligkeit. Die Musik verstummte, dann hörte sie Harts Stimme. Die Leute begannen sich am Stalleingang zu versammeln. Auch sie schauten zum Himmel hinauf. Quilla wollte sich gerade wütend umwenden, als die Nacht von einem hellen Lichtschein erfüllt wurde. Die Leute hielten den Atem an. Das Licht wurde immer heller und überflutete das Tal mit Farben und einem plötzlichen Hauch von Wärme. Ein tiefes Schweigen breitete sich aus, die Harts Stimme laut und klar durchbrach.

„Ihr habt das Datum vergessen, stimmt’s?“ Seine Stimme klang irgendwie belustigt. „Ihr habt vergessen, wie man rechnet, nicht wahr? Das, meine Damen und Herren, ist die Sonne von Neuheim. Es ist die Welt eurer Herkunft, die da in Flammen aufgeht. Es war vor vier Standardjahren, liebe Freunde und Nachbarn. Und keiner von euch hat daran gedacht.“

„Nein“, sagte Mim heiser.

Jemand stöhnte auf. Ein anderer weinte. Neuheim hatte sie vertrieben, hatte versucht, sie zu töten. Neuheim hatte ihre Familien auf dem Gewissen – und doch war es ihr Heimatplanet, und die Helligkeit war das Licht seines Untergangs. Hart schlenderte an Quilla vorbei, zwinkerte ihr zu und verschwand hinter einer Ecke des Gebäudes. Die Leute drängten sich enger aneinander, als suchten sie Wärme.

Die Aeriten gingen nach Hause. Quilla stand auf der Schwelle des Stalltors und lauschte dem Geräusch, das ihre Schritte auf dem Gras erzeugten. Hoku, die etwas von Beruhigungsmitteln murmelte, klopfte Quilla auf die Schulter, als sie ging. Ved war zum allerersten Mal völlig verstummt. Jason und Mish sahen sich in ihrem leeren Stall um, erblickten das noch kaum berührte Essen und die Getränke und kehrten über den Hügel zu ihrem Haus zurück. Quilla schloß die Stalltore. Tabor lehnte an der Außenwand und schaute in das Licht. Quilla ging zu ihm und nahm seine Hand.

„Es gab Berge auf Neuheim“, sagte Tabor leise. „Sie waren weiß und grün und braun, und überall liefen Bäche hinunter. Mestican bestand aus weißen Mauern und Gärten und Brunnen und Vögeln. Das Meer.“ Er strich über seine Flöte. „Vor vier Jahren war mir das alles noch klar. Aber irgendwie kommt es mir heute abend unwirklich vor.“

Quilla wartete schweigend. Nach einer Weile fingen Tabors Schultern an zu zucken, und er preßte das Gesicht gegen die Wand. Später gingen sie nach Hause.

 

Jason war früh aufgestanden. Er saß in der Küche vor einer dampfenden Tasse Tee und hörte Laur zu, die sich mal wieder über die Kassies, die Dorfbewohner und die Auswirkungen von Jes’ Ausdrücken auf Meyas Sprache beschwerte. Mim brachte ihm einen Teller mit heißen Fleischklößen. Jason legte den Kopf ein wenig schief und hob eine Augenbraue, ohne daß Laur es merkte. Mim verdrehte die Augen im Kopf, zuckte die Achseln und produzierte ein schnelles Lächeln. Was Laur anging, so konnte man sagen, daß es ihr gutging, so lange sie sich noch beschweren konnte. Er fragte sich, was sie wohl machen würde, wenn es nichts gäbe, über das sie sich hätte aufregen können, und erinnerte sich an eine Zeit, in der er zu ihrem absoluten Entsetzen ihre Nörgeleien ernst genommen und eine Versammlung einberufen hatte, um ihre Vorbehalte gegen gewisse Auswüchse öffentlich zu diskutieren. Laur hatte sich geweigert zu erscheinen. Mim war der Ansicht, daß Laur so lange leben würde, wie es noch etwas gab, über das sie sich beschweren konnte. Und Jason stimmte ihr darin zu.

Das für diese Jahreszeit viel zu heiße Wetter hatte sich noch nicht geändert, aber im Morgengrauen war es einigermaßen erträglich. Quilla kam herunter. Sie trug Shorts und einen Büstenhalter. Sie lächelte müde, schenkte sich eine Tasse Tee ein und lehnte Mims Angebot, ihr etwas zu essen zu servieren, ab.

„Wenn du nichts ißt, fällst du noch ganz vom Fleisch“, prophezeite Laur.

„Keinen Hunger, Laur, wirklich. Ich nehm1 mir aber was für heute mittag mit.“

„Dann aber eine ordentliche Portion“, sagte Laur und fing an, Mim aufzutragen, was sie Quilla alles mitgeben sollte. Wie üblich reduzierte Mim alles auf die Hälfte.

Jason stand auf.

„Wenn du schon nichts ißt – wie wäre es, wenn du mir die Farm zeigst?“ sagte er. „Ich habe in den letzten drei Wochen sicher eine Menge verpaßt.“

„Klar.“ Quilla trank ihren Tee und erhob sich.

„Quilla Kennerin, so wie du angezogen bist, wirst du dieses Haus nicht verlassen“, sagte Laur. „Du bist ja fast nackt! Du gehst sofort rauf und ziehst dir etwas an, bevor dich jemand so sieht!“

„Laur“, sagte Quilla verzweifelt, „ich liebe dich wirklich so sehr wie mein Leben, aber draußen ist es tagsüber so heiß wie in der Hölle, und ich habe nicht vor, an einem Hitzschlag zu sterben, bloß weil es dir nicht paßt, wie ich angezogen bin. Es würde meiner Gesundheit schaden.“

„Und was hältst du von Würde? Und davon, daß mich kein Schlag trifft? Und was dich angeht, Jason, so bist du auch nicht besser, wenn du zuläßt, daß deine Kinder halbnackt herumlaufen! Barbaren seid ihr! Was würde eure Großmutter dazu sagen?“

„Nichts“, gab Jason zurück. „Sie ist nämlich schon seit fünfzig Jahren tot. Erinnerst du dich nicht? Sag Mish, daß ich auf der Farm bin.“

„Ich bin in diesem Hause nichts anderes als eine wandelnde Nachrichtensäule“, brummelte Laur und ging in die Küche zurück.

Das Tageslicht überdeckte den Tod Neuheims, aber die beiden hellen Nächte hatten die vierflügeligen Vögel ganz schön durcheinandergebracht. Mißtrauisch saßen sie auf den Ästen der Bäume und erweckten den Eindruck, an einem gewaltigen Kater zu leiden. Jason musterte sie und schüttelte den Kopf.

„Wie hat Tabor es aufgenommen?“

Quilla versteifte sich und zuckte die Achseln. „Es geht. Aber es war schlimm genug. Ich glaube, er erinnert sich an mehr als die anderen. Alpträume.“

„Hält das Licht ihn wach?“

Quilla nickte.

„Ved meint, daß die Nova für das heiße Wetter verantwortlich ist“, sagte Jason.

„Es war schon eine Woche vorher so heiß. Ved ist ein Tölpel. Komm, ich zeige dir die Winterfelder. Die neue Saat, die Hetch beim letztenmal mitgebracht hat, soll sich gut an unser Winterklima anpassen. Ich kann es kaum noch abwarten, bis es endlich losgeht.“

Der fruchtbare schwarze Boden war umgegraben worden und wartete auf die Saat. Quilla sprach über die Ausnutzung des Landes, den Kompost, das Bewässerungssystem und über die Pumpe, die sie gerne gehabt hätte, um die Sprenger zu betreiben. Jason entledigte sich seiner Schuhe und schritt barfuß über die weiche Erde. Der Boden unter seinen Füßen schien zu leben. Quilla sprach über Alkaloide und Säuren. Die Sonne stieg höher. Sie liefen durch noch nicht abgeerntete Felder, wo die Kasiren damit beschäftigt waren, etwas aufzuziehen. Das Land strömte einen fruchtbaren Geruch aus und schien ihn willkommen zu heißen. Jason hatte das Verlangen zu singen.

„Krieg ich nun meine Pumpe?“ fragte Quilla schließlich. Sie hielten unter einer Ansammlung von Kaedos an, setzten sich hin und lehnten sich gegen die Strünke.

„Klar. Ich halte es für eine gute Idee. Kann Dene dir nicht eine machen?“

„Nein. Ich habe sie schon gefragt. Sie sagt aber, man habe so was auf Hogarths Müllplatz entwickelt; etwas Solides mit Hand und Fuß. Das Rohrsystem besteht aus unserem Saft. Sie sagt, es würde ewig halten. Ich will Hetch bitten, eine für mich mitzubringen. Bis zum nächsten Sommer müßte ihm das eigentlich gelingen.“

„Wenn es etwas Gutes ist – und nicht zu teuer. Sprich noch mal mit Mish darüber.“

„In Ordnung.“

Jason schloß die Augen und fragte sich, wie er das Gespräch am besten auf Tabor bringen konnte. Im ersten Moment war er nicht sonderlich begeistert gewesen, als er erfahren hatte, daß sie mit ihm schlief. Sie war seine Tochter, seine Erstgeborene. Er glaubte, das Recht zu haben, sich zu fühlen, als würde er etwas verlieren. Und doch schien Tabor sie nicht nur glücklicher, sondern auch weniger mißgelaunt zu machen. Jason fühlte sich noch immer schuldig, daß er Quilla so lange vernachlässigt hatte. Er war stets im Glauben gewesen, daß ihre Welt nur aus eitel Sonnenschein bestünde, er hingegen schwer beschäftigt sei. Ihre damalige Flucht hatte ihn aufwachen lassen. Er hatte sich die schwersten Vorwürfe gemacht. Seine größte Schwäche, mußte er sich eingestehen, war die Tatsache, daß er seine Aufmerksamkeit nicht gerecht verteilte und sich zu wenig um seine Kinder kümmerte. Wenn Tabor sich seiner Tochter nicht mehr widmen konnte, würde er allerhand zu tun bekommen. Aber Mish wollte Enkelkinder; sie wollte, daß die Kinder der Kennerins überall zu finden waren, auf dem ganzen Planeten. Er glaubte zwar nicht, daß Mish Tabor dazu überredet hatte, Quilla um ihre Hand zu bitten, aber ganz sicher war er sich nicht. Und dann war da immer noch diese alte Geschichte, die im ersten Jahr passiert war. Nicht etwa, daß er Eifersucht verspürte; das, was Mish und er gemeinsam durchgemacht hatten, würde sie ein Leben lang miteinander verbinden. Aber er fragte sich mit einem unguten Gefühl, ob Mish Quilla und Tabor nicht irgendwie verkuppeln wollte, um Tabor auf irgendeine Weise dafür zu entschädigen, daß er sie nicht hatte bekommen können.

Andererseits fragte er sich auch oft, ob er diese Komplikationen nicht nur erfand, um sich mit irgend etwas zu beschäftigen. Er öffnete wieder die Augen. Quilla hielt ein getrocknetes Kaedoblatt in der Hand.

„Wie im Winter“, sagte sie. „Alles verändert sich.“

„So ist der Lauf der Welt, Quil“, sagte Jason. Und dann: „Welchen Unsinn ich mal wieder rede.“

„Das gilt zumeist für die Kaedos. Ich weiß, in was sie sich verwandeln. Ich weiß auch, daß sie wiederkommen werden. Andere Dinge hingegen …“ Sie seufzte. „Manchmal komme ich mir vor, als stünde ich auf einem Boden, der jeden Augenblick verschwinden kann und mich zurückläßt, ohne daß ich etwas habe, woran ich mich festhalten kann.“ Sie sah ihn an. „Sagt dir das irgendwas?“

„Und ob. Ich habe mich selbst jahrelang nicht anders gefühlt. Ich nehme an, daß man mit Zunehmendem Alter manche Veränderungen nicht mehr so sehr wahrnimmt. Nein, was ich meine ist, daß du möglicherweise die Veränderungen herankommen siehst, aber dir nicht sicher bist, was sie bedeuten und wohin sie führen.“

„Man macht sich einfach mehr Gedanken?“

„Nein. Manchmal hat man tief in irgend etwas hineingesehen und macht sich deshalb keine weiteren Sorgen. Es erleichtert einem das Leben. Ein anderes Mal geht die Sache aber anders aus, als man geglaubt hat. Rätselhafte Sache.“

Quilla zerdrückte das Blatt in ihrer Hand und wischte sich die Überreste ab. „Ich glaube, ich würde gerne wieder mit Palen auf Wanderschaft gehen. Nachdem die Wintersaat im Boden ist, werdet ihr mich wohl für eine Weile entbehren können.“

„Wenn du willst.“ Jason starrte über die Felder. „Hast du irgendwelchen Kummer, Quil? Was Besonderes?“

„Du weißt verdammt gut, worum es geht.“

Jason versuchte eine unschuldige Miene aufzusetzen, aber das mißlang ihm gründlich.

„Na schön. Mish hat mir gesagt, Tabor wolle dich fragen, ob du ihn heiraten willst. Wir haben ihn auf dem Hinweg getroffen. Hat er es dir erzählt?“

Quilla schüttelte den Kopf.

„Das tut mir leid. Er hätte es tun sollen. Wir hätten es tun sollen.“ Jason schaute zu Boden.

„Da wird man wieder wie ein Kind behandelt“, sagte Quilla. „Da wird hinter meinem Rücken über mein Leben entschieden.“

„Es war nicht so gemeint. Ich weiß, daß es jetzt so aussieht, aber ich habe wirklich geglaubt, Tabor würde es dir erzählen, und dann würdest du es uns sagen. Tut mir leid, Quilla. Ich hätte es mir denken können.“

Sie legte sanft ihre Hand auf seinen Unterarm. „Schon gut, Jason. Vergeben.“

Jason befeuchtete seine Lippen. „Wirst du ihn nun heiraten?“

„Ich weiß es nicht.“ Quilla legte sich auf den Bauch und spielte mit dem Untergrund. „Menschen verändern sich. Dinge verändern sich. Ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Vielleicht liebe ich ihn wirklich, aber nur nicht genug, um ihn zu heiraten. Ich hab keine Ahnung. Die Dinge verändern sich eben.“

„Manche Dinge verändern sich nie“, sagte Jason. Er kratzte eine Handvoll Erde zusammen. „Dies hier – das Land – verändert sich nicht. Man steckt Arbeit und Liebe hinein und bekommt dafür Nahrung, Früchte, Blumen und Schönheit. Die Dinge, die du mit deinen Händen, deinem Bewußtsein und deinem Körper erzeugst, verändern sich nicht. Sie wachsen, aber das, was sie ausmacht, ändert sich nicht. Ich meine, natürlich ändern sich die Dinge, gewiß, aber ihre Wichtigkeit, ihr Innerstes, bleibt fast gleich. Das Sonnenlicht, die Erde, das Wasser, die Kinder. Leben erzeugen.“

„Leben erzeugen“, wiederholte Quilla. Sie lächelte. „Ich glaube, das reicht für heute. Nun komm, wenn wir zum Essen nicht pünktlich sind, wird Laur meinen Kopf fordern.“

„Das ist auch so eine Sache, die sich nie ändern wird“, sagte Jason, und sie gingen zum Anwesen zurück.

Als er allein war, wurde ihm bewußt, daß er ihre Antwort noch immer nicht kannte. Er aß verdrossen seine Mahlzeit und dachte über Hochzeiten nach. Cault Tereth war ein beträchtliches Stück von ihnen entfernt.

 

„Raus mit dem Ding“, sagte Quilla. Hoku sah sie an und machte ein finsteres Gesicht.

„Bist du sicher?“

„Ja.“

„Heiratest du Tabor?“

„Weiß ich nicht.“

Hoku dachte einen Moment nach. „Willst du nicht darüber sprechen?“

„Nein. Ich will, daß Sie mir das Ding rausnehmen.“

„Nun, dann wirst du zumindest zuhören.“ Hoku stand auf und ging an das Fenster ihrer Praxis. Sie fegte die Vorhänge beiseite, sah hinaus und zog sie dann wieder vor. „Tabor möchte, daß du ihn heiratest, und Mish und Jason drängen dich, darin einzuwilligen.“

„Jason nicht. Na und?“

„Deswegen solltest du es vielleicht nicht tun.“ Hoku kehrte an den Schreibtisch zurück und sah Quilla eingehend an. „Es ist nichts dabei, wenn man alleine ist.“

„Außer, daß man einsam ist.“

„Das hat mit einer Ehe nichts zu tun. Man muß nicht unbedingt allein sein, um sich einsam zu fühlen.“

„Sie mögen Tabor nicht.“

„Ich mag ihn. Ich mag dich. Ich mag sogar Hetch, aber das bedeutet nicht, daß ich ihn heiraten will oder dich mit ihm verheiraten würde. Manche Leute passen einfach zusammen; andere hingegen nicht.“

Quilla spürte, daß ihre Nase rot wurde, aber sie schaute Hoku tapfer an.

„Und ich gehöre zu denen, von denen man erwartet, daß sie besser alleine bleiben, wie? Man erlaubt mir einfach nicht, einsam zu sein; man gesteht mir nicht einmal einen Versuch zu, sehe ich das richtig?“

Hoku schnaubte. „Hör auf! Ich habe geglaubt, du hättest dein Interesse an Melodramen schon vor Jahren verloren.“

„Verdammt noch mal, Hoku!“

„Du willst Tabor also heiraten, erzähl weiter. Er ist ein guter Mann und wird sein Bestes geben.“

„Das hört sich an, als sei er ein Biostat.“

„Ich würde einem Biostaten mehr vertrauen als einer Ehe.“

Quilla sprang auf. „Außerdem habe ich gar nicht gesagt, daß ich ihn heiraten will.“

„Aber du denkst darüber nach.“

„Ich kann über jedes verdammte Ding nachdenken, das mir paßt!“

„Denkst du mit der Mose?“

Quilla verschränkte die Arme vor der Brust und sah die Ärztin finster an.

„Sehe ich etwa aus wie Taine Alendreu? Hinter mir laufen die Männer nicht mit hängenden Zungen her. Wenn ich auf einen stoße, der blind genug ist, um mich für hübsch zu halten, werde ich sofort die Arme nach ihm ausstrecken. Vielleicht erhalte ich eine solche Chance nie wieder.“

„Ist das denn wichtig?“

„Ich weiß nicht.“ Quilla ließ sich auf den Stuhl fallen, legte die Beine auf Hokus Schreibtischplatte und schob die Hände in die Taschen. „Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu streiten, Hoku. Ich will mich überhaupt mit niemandem streiten. Nicht mal mit mir selbst. Warum sollte ich Tabor nicht heiraten, wenn ich es möchte?“

„Möchtest du es denn?“

„Fangen Sie nicht schon wieder damit an. Warum sollte Tabor mich nicht heiraten?“

„Keine Ahnung.“

„Um was geht’s denn dann überhaupt?“

Hoku ließ sich nieder und legte die Beine ebenfalls auf den Tisch. Sie und Quilla sahen einander über ihre Zehen hinweg an.

„Ich glaube nicht, daß ihr einander nicht heiraten solltet“, sagte Hoku. „Ich glaube eher, daß du eine Vorstellung von ihm hast, die zu einem Viertel aus dem wirklichen Tabor Grif besteht, während die restlichen Viertel aus dem bestehen, wie du ihn gerne hättest. Das hat mit dem, was Tabor zu sein glaubt oder sein möchte, wenig zu tun. Wenn du vorhast, dein Leben in Zukunft mit einem Partner zu verbringen, solltest du zumindest wissen, was du tust.“

„Ich kenne seine Fehler.“

„Es ist keine Frage der Fehler. Es ist eine Frage der Erwartungen.“

„Wir haben alle unsere Erwartungen.“

„Davon sind einige realistischer als andere. Und unter diesen Umständen sollte Tabor dich besser nicht heiraten.“

Quilla stellte die Füße auf den Boden. „Hart sagt, daß Mish und Tabor etwas miteinander hatten. Daß sie vielleicht noch etwas miteinander haben.“

„Hart besitzt anstelle eines Gehirns einen bösartigen Computer. Sie hatten nie etwas miteinander.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Ich bin schließlich Ärztin. Mehr brauchst du nicht zu erfahren.“

Quilla rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich dachte, daß Tabor mich vielleicht nur deswegen heiraten will, weil er Mish nicht näherkommen kann.“

Hoku schürzte die Lippen. „Nah, aber nicht nah genug. Er ist nicht in Mish verliebt; nicht mehr. Nicht ein kleines bißchen. Tabor liebt euch alle, jeden Kennerin, der hier herumläuft. Außer Hart, ich bin sogar bereit, das zuzugeben.“

Quilla hielt die Luft an. Sie marschierte zum Spülbecken, füllte sich ein Glas mit Wasser und kehrte damit an den Tisch zurück.

„Mit anderen Worten, Tabor liebt mich nur deswegen, weil ich eine Kennerin bin. Das heißt, er findet mich auch nicht anziehend, und im Grunde geht es gar nicht um mich!“

„Ist es wichtig, anziehend zu sein. Hübsch? Ich bin’s schließlich auch nicht.“

„Ich bin einundzwanzig, Hoku! Ich möchte eben nicht häßlich sein!“

„Du bist nicht häßlich. Du bist manchmal dumm, aber nicht häßlich.“

„Reden Sie mir nichts ein. Ich weiß, wie ich aussehe.“

„Das weißt du eben nicht. Du schaust in den Spiegel und erwartest, darin Taine zu sehen; und wenn du sie nicht siehst, bist du sauer. Du bist nicht hübsch, aber du bist auch nicht häßlich. Du bist Quilla, das ist alles. Außerdem geht es gar nicht darum.“

„Um was denn?“

„Wie, zum Henker, soll ich das wissen?“ Hoku lachte. „Ich will doch nur, daß du über dich nachdenkst, das ist alles.“

„Krieg ich nun meine Behandlung?“

„Willst du heiraten?“

„Ich weiß es nicht!“

„Also noch einmal von vorne. Das ist es, was ich an euch Kennerins nicht ausstehen kann: Wenn ihr stur seid, könnt ihr ein Maultier zur Verzweiflung treiben!“

Hoku ging an ihren Instrumentenschrank, öffnete eine Schublade und kehrte mit einem Skalpell in der Hand zurück.

„Nun mach schon“, sagte sie. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Quilla schob ihren Stuhl an den Behandlungstisch heran, nahm Platz und legte den Arm auf die Platte. Hoku tippte mit dem Finger auf ihren sonnengebräunten Unterarm. Dann runzelte sie die Stirn, sprühte ihn mit einem Anästhetikum ein und machte einen kleinen Einschnitt. Sie förderte eine winzige Kapsel zu Tage, legte sie auf die Tischplatte und verschloß den Einschnitt mit zwei Stichen. Quilla betastete ihren Arm.

„Warte mindestens eine Woche, bis dein Körper sich daran gewöhnt hat“, sagte Hoku. „Dann wirst du fruchtbar sein.“

Quilla zog den Ärmel herunter und knöpfte ihn am Handgelenk zu. „Was schulde ich Ihnen?“

„Eure schwarzen Johannisbeeren sind reif, was? Ich könnte ein bis zwei Kilo gut gebrauchen.“

„Ich schicke Meya heute nachmittag damit herunter. Sonst noch was?“

„Ein Versprechen.“

Quilla sah die Ärztin schweigend an.

„Du hast nicht mehr als dich selbst, Quilla. Alles andere ist außerhalb von dir. Du hast nur deinen Körper und deinen Geist. Du kannst dich zwar dann und wann an jemanden verleihen und versuchen, das eine oder andere Stück von dir unter die Leute zu bringen, aber du solltest nicht vergessen, daß du nicht mehr hast als dich selbst. Du solltest deshalb sorgsam mit dir umgehen.“

„In Ordnung.“

„Versprich es.“

„Ich bin kein Kind mehr, Dr. Hoku.“

„Versprich es trotzdem.“

„Gütige Mutter! Sie sind wirklich eine sture, alte Krähe. Na gut, ich verspreche es. Ich verspreche mit der Hand auf der Brust, daß ich diesen Eid niemals brechen werde. Sind Sie nun zufrieden?“

„Ja. Kommt Hetch heute an?“

„Irgendwann heute abend, glaube ich.“

„Dann sag ihm, daß ich ihn sehen will. Er hat garantiert wieder seinen Diätplan unterbrochen.“

Quilla lächelte und schloß die Tür hinter sich. Vom Straßenpflaster stiegen Hitzewellen auf. Ihr Arm begann zu stechen.

 

Hetch kam gegen Sonnenuntergang. Thams schwangere Frau stand bereits am Landeplatz. Sie hatte ein Kind auf dem Arm, zwei andere hingen an ihren Rockzipfeln. Als Tham das Zubringerschiff verließ, brachen sie in lautes Jubeln aus. Bakar fluchte und streckte abwehrend die Hände aus. Jes reichte ihm einen Bierkrug. Merkit begrüßte die Anwesenden auf Kasiri und machte sich gleich auf den Weg zum Eingeborenendorf. Hetch sah sich mit ernster Miene auf dem Landeplatz um. Im Gegensatz zu sonst war er heute gar nicht ausgelassen. Jes tippte auf seinen Arm.

„Stimmt was nicht, Kapitän?“

„Sind Jason und Mish nicht da? Ich muß mit der Direktion sprechen.“

„Sie sind alle da, und außerdem wartet das Abendessen.“ Die Erwähnung des Essens taute den Kapitän jedoch diesmal nicht auf. Der Ernst verließ ihn weder während der Begrüßung noch während der Mahlzeit oder des restlichen Abends. Jes war gewachsen, das fiel ihm auf. Hart war nicht zu Hause. Gut. Der Junge machte ihn ohnehin nur nervös. Meya wurde immer hübscher, aber auch das führte nicht dazu, daß seine Stimmung sich hob. Nach dem Essen gingen sie ins Wohnzimmer. Jason schloß die Türen und öffnete den Brandy, den Hetch mitgebracht hatte. Hetch trank sein Glas in einem Zug aus. Jason füllte es nach.

„Nun, Manny?“ sagte er.

„Ich bin pleite“, sagte Hetch bitter. Quilla und Jes maßen ihn mit einem ernsten Blick. Meya lag auf dem Sofa und schlief. Ihr Kopf ruhte auf Quillas Schoß.

„Pleite?“ sagte Jason. „Bankrott? Aber wieso denn? Der Zimania-Saft wirft einen guten Gewinn ab – auch für dich. Du hast im letzten Jahr drei neue Schiffe angeschafft und besitzt immer noch das Westsektor-Monopol, oder nicht?“

Hetch schüttelte den Kopf. „Deine Informationen sind sechs Monate alt, Jase. Ich habe jetzt nur noch ein Schiff: die Folly. Und sie ist die älteste von all den Kisten gewesen. Die Parallax-Gesellschaft von Mi Patria hat sich im dritten und vierten Untersektor breitgemacht, und sie sind groß genug, um meine Preise zu unterbieten. Wenn ein Neuer es billiger macht, geht die Loyalität alten Freunden gegenüber irgendwann doch flöten. Du weißt doch, wie so was stets endet. Und in Untersektor sieben schlagen sie einander zudem die Köpfe ein.“

„Was hat das …“

„Die Balclutha und die Obregon hatten gerade bei Grey’s Landing festgemacht, um Gewürze zu entladen, als Schiffe von Monde Noveau durch den Greifer kamen und den ganzen Südkontinent einäscherten. Ich habe beide Schiffe verloren, und dazu zwei verdammt gute Kapitäne und Mannschaften – von der Ladung ganz zu schweigen. Die Peri ging im letzten Vierteljahr verloren, als sie durch den Tau zum Ostsektor unterwegs war. Ich habe jetzt nur noch die Folly, und an sich müßten wir momentan auf drei Reisen gleichzeitig sein. Ich habe so viele Verträge gemacht, daß ich sie mit einem Schiff allein nicht mehr erledigen kann, und die Parallax tut alles, um sie mir abzujagen. Die Versicherungen auf Althing Green weigern sich, für den Verlust der Balclutha und der Obregon aufzukommen. Angeblich brauchen sie nicht für Verluste geradezustehen, die kriegerische Auseinandersetzungen heraufbeschworen haben. Und das Geld, um sie vor Gericht zu schleifen, habe ich nicht.“ Hetch griff nach seinem Brandy. „Und das, meine Freunde, ist der Grund, weshalb ich so spät komme und euch keine Frachtbehälter mitgebracht habe. Das sollte die Peri machen. Die beiden anderen Schiffe sind nicht mehr, und die Folly schafft es im Westsektor kaum, durch den Tau zu gehen. Wenn ich versuchen würde, sie durch den Inter-Tau zu jagen, würde sie auseinanderfallen.“ Er starrte in sein Glas. „Das Glück hat mich verlassen“, fügte er hinzu und trank das Glas leer.

„Dann haben wir also den Stall voller Ware und keine Möglichkeit, sie auf den Markt zu bringen“, sagte Jason.

Mish nahm ihr Glas. „Hat Parallax vor, demnächst auch diesen Sektor zu befahren?“

„Nein. Sie haben drei und vier; möglicherweise werden sie als nächstes zwei und fünf übernehmen, dann eins und acht. Sie können es sich leisten, sieben zu ignorieren. Hier gibt es sowieso nicht viel zu holen. Neun dürfte als letztes auf ihrer Liste stehen. Ich schätze, daß sie erst in zehn, vielleicht auch erst in elf Standardjahren hier aufkreuzen werden.“

„Heißt das, wir sind bis dahin völlig von der Außenwelt abgeschnitten?“ fragte Jason. „Das ist doch nicht möglich.“

Hetch zuckte unangenehm berührt die Achseln. „Ich kann es mir nicht leisten, die Folly am Laufen zu halten. Ich habe nicht einmal das Geld für nötige Reparaturen, Lizenzgebühren, Hafengebühren und Gehälter. Zum Teufel, ich kann mir nicht einmal erlauben, die Mannschaft zu halten. Und das wissen die Leute verdammt gut.“

„Aber Thams Familie lebt hier“, sagte Jes. „Und was Merkit und Bakar angeht, so haben sie hier eine zweite Heimat gefunden. Sie werden uns doch nicht im Stich lassen.“

Hetch maß Jes mit einem traurigen Blick. „Wir sind Raumfahrer, Jes. Wie soll Tham, wenn er arbeitslos ist, seine Familie ernähren? Er hat nicht die geringste Ahnung von der Landwirtschaft, er ist ein Raumfahrer. Außerdem würde er ein solches Leben nicht aushalten.“

Quilla berührte Jes’ Hand und sah Hetch an. „Wir werden nicht zehn Jahre abgeschnitten sein. Parallax wird uns nicht einfach links liegenlassen. Dafür ist ihnen unser Saft doch viel zu wichtig. Wenn sie nicht spätestens im nächsten Jahr zur Erntezeit ein Schiff herschicken, sind sie zu dumm, weiterhin im Geschäft zu bleiben.“

„Tut mir leid, Quilla. Aber sie werden mit Aerie genau das gleiche machen, was sie auch mit Griffin oder Costa Azul gemacht haben. Sie warten ab, bis du verhungerst, dann kommen sie anmarschiert, machen dir ein Angebot und kaufen dich für ein Butterbrot auf. Bis dahin wirst du einen solchen Kohldampf haben, daß du nichts Eiligeres zu tun hast, als darauf einzugehen.“

Allgemeines Schweigen.

„Wir haben schon andere Dinge durchgestanden“, sagte Jason schließlich. „Damals, im ersten Jahr, als die Flüchtlinge kamen und Haven brannte.“

„In erster Linie haben wir es den Eingeborenen zu verdanken“, sagte Mish. „Und in zweiter Linie Hetch. Aber jetzt sind wir zu abhängig vom Handel geworden, um alles einfach über Bord zu werfen. Wir brauchen zu viele Dinge, die wir nicht selbst herstellen können.“

„Es ist Wahnsinn!“ Jason sprang auf. „Da haben wir den Gegenwert von einer Million Fremark im Stall herumliegen, und die Produktion nimmt immer mehr zu – und wir sitzen hier herum und reden vom Verhungern!“

„Hetch?“

Der Kapitän wandte sich zögernd nach Quilla um. Er sah lange Beine, einen langen, kalten Blick und kam zu dem Schluß, daß ihr Gehirn in diesem Moment ähnlich funktionieren mußte. Ihr Blick führte dazu, daß er sich verkrampfte und sich verunsichert fühlte. Aber dann hatte er den Eindruck, als würde sie durch ihn hindurchsehen. Ihre Finger bewegten sich, als sei sie dabei, im stillen vor sich hin zu rechnen. Meya bewegte sich. Quilla legte eine Hand auf den Kopf ihrer Schwester.

„Was ist dein Preis für den Saft?“ fragte sie.

„Im vergangenen Jahr lag er bei dreiundneunzig pro Kilo. Das Jahr davor bei zweiundneunzig. Das Zeug wird immer gefragter; man kann es kaum so schnell produzieren, wie es gekauft wird. Wenn man es in diesem Jahr auf den Markt schaffen könnte, würde es vielleicht noch mehr bringen.“

„Wir haben Tonnen davon im Stall“, sagte Quilla langsam. „Der Wert dürfte etwa bei zwei Millionen liegen, stimmt’s?“

„Ungefähr“, sagte Hetch, „aber …“

Sie brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen. „Wieviel brauchst du, um die Folly wieder in Schuß zu kriegen?“

„Eine Viertelmillion. Die Mannschaft kostet mich etwa fünfzigtausend pro Fahrt und die Hafengebühren und Lizenzen weitere zwanzig- bis dreißigtausend. Die Greifergebühr liegt bei zehntausend; die restlichen Zahlungen und Steuern kosten weitere hunderttausend. Für unvorhergesehene Zwischenfalle und Provisionen müßte ich etwa fünfzehntausend haben. Siebzig für Treibstoff. Und noch ein paar Kleinigkeiten.“

„Das sind immer noch nicht mehr als etwa vierhunderttausend. Das frißt nicht einmal deinen Gewinn auf.“

„Verdammt noch mal, ich habe einfach nicht das Geld, um das Zeug anzukaufen! Ich habe nicht die Million, die es mir erlauben würde, den Saft von Aerie wegzuschaffen!“

„Kannst du unter den gegenwärtigen Umständen noch eine Fahrt machen?“

„Möglicherweise. Aber du verstehst nicht …“

„Nimm den Saft in Kommission. Wir werden die Reparaturen und Honorare aus dem Bruttogewinn bezahlen, uns um deine anderen Kosten kümmern und dir die Folly abkaufen. Du kriegst für die erste Fahrt ein Gehalt, und wenn du das Schiff weiterhin als Kapitän führen willst, bekommst du in Zukunft entweder einen festen Lohn oder einen Gewinnanteil, ganz wie du willst. Und Jes nimmst du als Volontär an Bord.“

Jes riß den Mund auf.

Hetch setzte zu einer Erwiderung an, dann sah er den Blick, den Quilla und Mish wechselten.

Quillas Gesicht war kühl und geschäftsmäßig. Mish nickte einmal, lächelte aber nicht dabei. Einen Augenblick lang kam es dem Kapitän so vor, als habe der Raum sich gedreht, als sei irgendein unmerklicher Wechsel vollzogen worden. Er sah seine Umgebung mit völlig anderen Augen. Verwirrt wandte er sich zu Jason um und breitete die Arme aus.

„Ich soll die Folly verkaufen?“ sagte er.

„Wir sollen die Folly kaufen?“ sagte Jason. „Mish, ich glaube nicht, daß Quilla versteht …“

Mish sah Jason an. Dann wandte sich ihr Blick wieder Quilla zu. Sie nickte.

„Ich verstehe die Sache vollkommen“, sagte Quilla. „Entweder kaufen wir die Folly und kriegen damit eine Chance – oder wir kaufen sie nicht und sind für ein paar Jahre von der Föderation abgeschnitten. Und wenn Parallax dann kommt, werden sie uns fast geschenkt bekommen. Und wenn Hetch uns sein Schiff nicht verkauft, kann er es nach zwei weiteren Flügen auf eine Schrotthalde bringen.“

„Aber wir sind Farmer“, sagte Jason, „keine Reeder.“

„Jetzt noch nicht. Wenn Hetch dabei bleibt, wird er sich darum kümmern. Jes kann das Geschäft erlernen und die Gesellschaft später leiten. Der Markt wird sich noch erweitern. Er hat für Hetch eine Menge hergegeben, bis er eines Tages Pech hatte. Uns wird es nicht anders ergehen, aber wir können immer noch besonders darauf achten, für wen wir arbeiten. Wenn Parallax sich in einem Jahrzehnt immer noch nicht rührt, schnappen wir uns die Untersektoren fünf bis neun. Wenn sie dann versuchen, uns zu unterbieten, haben wir immer noch den Saft und der wird uns den längeren Arm verleihen.“

Meya wachte auf. Sie war schläfrig und langte nach Quillas Schultern. Quilla zog sie auf ihren Schoß und küßte sie auf das Haar.

„Für mich sieht das alles sonnenklar aus“, sagte Quilla heiter. Sie stand auf und trug Meya zur Tür. Die anderen sahen ihr still zu.

„Es ist fast Ai’l“ sagte Quilla über die Schulter hinweg. „Ich glaube, wir sollten uns alle hinlegen.“

„Sie ist verrückt“, murmelte Jason, als Quilla die Tür schloß.

Mish schüttelte den Kopf. „Ich glaube, daß sie recht hat, Jase. Ich glaube, sie hat die einzig mögliche Antwort gefunden.“

„Aber die Folly verkaufen?“ fragte Hetch. „Eher trenne ich mich von meiner Seele.“

 

Zwei Wochen später wurde die letzte Saftladung in das Zubringerschiff gebracht. Merkit und Bakar waren mit der ersten Ladung zur Folly hinaufgeflogen. Jetzt standen Hetch, Tham und Jes an der Rampe. Die gesamte Bevölkerung Havens war gekommen, um sie abheben zu sehen.

Jes, der vor Nervosität kaum auf einem Fleck stehen konnte, gab sich alle erdenkliche Mühe, möglichst unbeeindruckt zu erscheinen. Quilla lächelte. Dann sah sie, daß auch Taine ihren Bruder beobachtete. Sie stand ein wenig abseits von der Menge und machte einen traurigen und verstörten Eindruck. Quilla spürte plötzlich das Verlangen, zu ihr zu gehen und sie zu trösten, aber dann berührte Jason sie am Arm und sagte etwas über die Fracht, und in dem allgemeinen Durcheinander kam ihr das Mädchen wieder aus dem Sinn. Tham, der sein Kleinstes auf dem Arm hatte, verkündete lautstark, daß er – sobald dieser Menschenschinder von einem Kapitän es zuließ – so schnell wie möglich wieder nach Aerie zurückkehren werde. Hetch selbst machte seine Runde und schüttelte den Zuschauern die Hand. Er wollte die Ladung nach Shipwright bringen, die Folly generalüberholen lassen und dann nach Althing Green gehen, um den Besitzerwechsel registrieren und die neue Aerie-Kennerin-Gesellschaft eintragen zu lassen. Die Gesellschaft beschäftigte sich mit dem Anbau von pflanzlichen Gütern und Transportwesen. Sie gehörte allen Aeriten über sechzehn Jahren und wurde von der Familie Kennerin geleitet. Geschäftsführer Direktor – des Transportzweiges war Kapitän Manuel Hetch. Der Titel gefiel ihm nicht schlecht; zumindest hörte er sich besser an als Nichtstuender Pleitegänger.

Quilla hatte den Eindruck, als sei Hetchs Schmerz über die Aufgabe der Folly größer als sein Gesicht zeigte. Deshalb zog sie ihn, als er ihr die Hand schüttelte, an sich und küßte ihn auf die Wange. Hetch errötete prompt, grinste und tätschelte ihr väterlich die Hand. Quilla lachte. Thams Frau sammelte ihre Kinder ein und brachte sie weg. Jes zog Manny Hetch beinahe in das Zubringerschiff hinein. Kurz darauf hob das Boot ab und verschwand am bewölkten Himmel.

Quilla legte das Tragegeschirr an. Mish und Jason küßten sie noch einmal, und Laur reichte ihr einen schweren Sack mit Verpflegung und schärfte ihr ein, vorsichtig zu sein. Palen stand am Rande der Lichtung und verschränkte ungeduldig ihre beiden Armpaare. Die Aeriten gingen nach Haven zurück, und bald darauf schlossen sich die Kennerins ihnen an. Quilla schaute ihnen nach, dann wandte sie sich Tabor zu.

„Du hättest bis zum Frühling warten können“, sagte er. „Dann hätten wir zusammen nach Süden gehen können.“

Quilla schüttelte den Kopf. „Ich möchte diesmal alleine gehen.“

„Und du wirst deine Ansicht – über uns – nicht ändern?“

„Nein. Tut mir leid.“ Sie streichelte seinen Arm. „Ich möchte nicht, daß sich unser Verhältnis ändert, das sagte ich ja schon. Aber ich möchte nicht verheiratet sein. Ich glaube nicht, daß das nötig ist.“

„Für mich schon.“

Sie sah ihn schweigend an. Tabor entfernte sich wortlos und verschwand. Quilla sah ihm einen Moment lang nach, dann ging sie zu Palen.

„Bist du endlich fertig?“ fragte Palen. „Hast du jetzt jedem auf dieser verdammten Insel auf Wiedersehen gesagt? Hast du auch bestimmt keinen vergessen?“

Quilla lachte. „Es ist alles gebongt, Kassie. Laß uns gehen.“

An diesem Abend zog Palen, achtzehn Kilometer von Haven entfernt, ihren Umhang fester um die Schultern, verfluchte den feinen Regen, sah Quilla scharf an und warf dann einen Blick auf das schnell erlöschende Feuer.

„Du hast den ganzen Tag vor dich hingelächelt“, sagte sie. „Was hast du nur? Hast du irgendwas vor?“

„Nein.“ Quilla zog sich die Kapuze über den Kopf und tätschelte ihr kleines Bäuchlein. „Ich lasse etwas in mir heranwachsen, Palen. Etwas, das sich verändert.“

Die Eingeborene schnaubte. „Davon verstehe ich etwas. Kommst du jetzt?“

Quilla umrundete das Feuer. Sie verbanden ihre Umhänge miteinander und legten sich hin. Quilla legte ihren Kopf auf Palens Schulter, und die Kasirin umarmte sie mit ihren vier Armen. Kurz darauf waren sie eingeschlafen.