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Hart lehnte sich an das Fenster, hielt den Rahmen mit einer Hand gepackt und lauschte den Schritten, die sich ihm vom Korridor aus näherten. Vor seiner verschlossenen Tür verstummten sie. Dann drehte jemand leise an der Klinke.
„Hart?“
Es war Quillas Stimme.
„Hart? Laß mich rein.“
„Hau ab“, sagte er.
„Ich hab dir ein paar Pfannkuchen mitgebracht.“
„Ich will sie nicht.“
„Na komm schon, Schätzchen. Laß mich rein. Bitte.“
„Nein! Ich bin nicht dein Schätzchen! Ich will keinen von euch sehen!“
Als die Schritte sich wieder in Richtung auf den Korridor in Bewegung setzten, hielt er den Atem an. Dann drückte er die Stirn gegen das Glas. Quilla mischte sich überall ein; in Wirklichkeit aber war er ihr völlig gleichgültig. Wäre es nicht so gewesen, hätte sie ihn verstehen müssen, sich von den Flüchtlingen ferngehalten und für ihn Partei ergriffen. Sie war nicht besser als die anderen.
Wenn er sorgfaltig lauschte, konnte er die manchmal leiser und manchmal lauter werdenden Stimmen der anderen hören, die sich im Wohnzimmer über ihn unterhielten. Hart prügelte sie im Geiste mit einem Knüppel aus bitterem Haß. Es ist nichts Falsches daran, sie zu hassen, dachte er, denn sie hassen mich ja auch. Wenn sie ihn nicht haßten, würden sie ihn das tun lassen, was er tun wollte, und seine Gefühle verstehen. Aber damit würde er schon fertig werden. Er würde sich die Maden vom Halse schaffen, dann würde seine Familie ihn endlich verstehen. Sie würde ihm vergeben und einsehen, daß er immer schon recht gehabt hatte.
Fest von diesem Gedanken überzeugt, öffnete er leise das Fenster und schwang ein Bein über den Sims. Von seinem Fenster aus bog sich das Küchendach nach unten. Die flexiblen Solarzellen, die auf kleinen Stützbalken standen, leuchteten hell im Sternenlicht. In anderen Nächten waren sie Hart wie die gefrorenen Wellen eines unbeständigen Ozeans erschienen, die mit einem Eigenleben ausgestattet waren, aber heute galt sein Interesse lediglich dem dicken Ast des Halaeabaums, der sich über das Dach aufsein Fenster zu erstreckte. Er schob sich über das Fensterbrett, schlich unhörbar über das Dach, balancierte über einen Balken und wechselte dann auf den Baum über. Hand über Hand zog er sich an dem dicken Ast entlang, bis er den Stamm erreichte. Die anschließende Kletterpartie zum Boden war ein Kinderspiel. Als Hart unten war, verbarg er sich hinter der Schlingpflanzenhecke. Die zahllosen Nachtblüten, die einen süßen Duft verströmten, verwickelten sich in seinem Haar, als er die Hecke mit den Händen teilte und einen Blick auf das Wohnzimmerfenster warf. Vom Licht umrahmt standen die Erwachsenen da. Sie redeten und gestikulierten. Niemand hatte bemerkt, daß er ausgerissen war.
Der Nachtwind war kalt. Als Hart den Hügelabhang hinunterlief und auf den Fluß zuhielt, zog er seine Jacke enger um die Schultern. Er durchquerte das Wasser, indem er sich auf den kleinen Felsen zubewegte. Dabei scheuchte er ein paar Nachtspäher und mehrere der kleinen, sechsbeinigen Eidechsen auf. Östlich von Haven begab er sich wieder ans Ufer, ging über die Wiese und näherte sich dem etwas abgelegenen Schulgebäude. Das Fenster des Lehrers war dunkel, was nur bedeuten konnte, daß Simit immer noch bei seinen Eltern weilte. In der weiter entfernten Praxis Dr. Hokus brannte noch Licht. Hart verbarg sich in den Schatten, lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein und zog dann ein Feuerzeug aus der Tasche. Er barg es lose in seiner Hand. Unter der Kolonnade des Schulgebäudes lagen die zusammengefegten Blätter eines Kaedobaums. Hier konnte er das Feuer legen.
Als er sich unter der Kolonnade hinkniete, raschelten die Blätter unter seinen Füßen. Hart nahm das Feuerzeug und suchte mit dem Daumen nach dem Anzünder. Seine Hand zitterte leicht; konzentriert schob er die Zungenspitze zwischen die Lippen. Schließlich klappte es. Das Feuerzeug klickte und spuckte eine gelbe Flamme aus. Hart richtete seinen Arm auf den Blätterhaufen, hielt den Blick auf die Flamme gerichtet und hoffte, daß sie nicht ausging. Als die Flamme am zuoberst liegenden Blatt zu lecken begann, erschien mitten aus der Finsternis heraus ein Arm, packte Harts Handgelenk und riß ihn in die Höhe. Hart schrie auf. Eine Hand legte sich über seinen Mund. Vor Angst und Schmerz nach Luft ringend, ließ er das Feuerzeug fallen. Eine volltönende Stimme stieß einen Fluch aus, und als der unbekannte Mann das Feuer austrat, wurde Hart hin und her geschüttelt. Ein paar angekohlte Blätter schwebten in der Luft. Immer noch fluchend zerrte der Unbekannte den Jungen vom Schulgebäude weg. Der Schmerz des Entsetzens, der sich in Harts Brust ausbreitete, ließ ihn würgen und lähmte ihn, aber als ihm klar wurde, wohin man ihn schleppte, verdoppelte er seine Anstrengungen. Er trat um sich, wand sich hin und her und versuchte in die Hand zu beißen, die seinen Mund verschloß. Eine Tür flog auf, dann fand Hart sich in Grens Hütte wieder.
Er lag auf dem Boden und hörte sich winseln; der Klang seiner Stimme flößte ihm Grauen ein. Ein Kennen weint doch nicht, dachte er panisch, und das beruhigte ihn ein wenig. Er stand auf und versuchte die Balance zu halten, während Gren die Tür verschloß und auf seinen Kamin zuging. Schweigend wärmte er sich die Hände. Hart schob sich leise in die Nähe des Ausgangs.
„Bleib bloß da stehen“, sagte Gren, ohne sich herumzudrehen. Der Junge verharrte wie angewurzelt. Gren schlüpfte aus seiner Jacke und warf sie auf eine Hängematte, die zwischen den Wänden des anderen Teils der Hütte hing. Dann drehte er sich um und langte über die Feuerstelle hinweg nach einem Krug, den er an die Lippen setzte. Er trank, schüttelte sich, stellte den Krug wieder ab und beugte sich über einen Topf, der an einer Kette über den Flammen hing. Mit einem Löffel prüfte er dessen Inhalt. Dann griff er nach einem Stück kassirischen Brotes.
Der Kloß in Harts Kehle löste sich auf, und er musterte die Hütte, den festgetretenen Erdboden, die undichten Wände, das schräg zulaufende Dach und den steinernen Kamin, der den Raum mit dünnem Rauch ausfüllte. Ein paar unfertige Bretter, die auf Baumstümpfen lagen, dienten als Tisch. Zwei weitere Stümpfe standen an der Wand. Einen davon zog Gren nun an den Tisch und nahm darauf Platz. Er befand sich immer noch in der Nähe des dampfenden Kessels. An ein paar Nägeln, die in der Wand steckten, hingen Kleider. Des weiteren sah Hart in einer Ecke eine Kiste stehen, deren Deckel geschlossen war. Sie war zusätzlich noch mit einer Eisenspange versehen. Das einzige Licht kam von der Feuerstelle auf der anderen Seite des Raumes. Das Fenster der Hütte war mit Stoff verhängt, durch den ein kalter Wind pfiff. Harts Beine fühlten sich wie tot an. Er ging leicht in die Knie.
„Keine Bewegung“, sagte Gren und fing an zu essen. Er schaute auch diesmal nicht auf.
„Es wäre besser, Sie ließen mich laufen“, sagte Hart, aber ein leichter Anflug von Furcht in der Stimme strafte seine Entschlossenheit Lügen. „Sonst erzähle ich meinen Eltern, daß Sie mich entführt haben, und …“
„Und ich erzähle ihnen, daß du die Schule in Brand stecken wolltest und derjenige warst, der das Haus der Ärztin angezündet hat.“
„Das werden sie Ihnen nicht glauben.“
„Das werden sie. Keine Bewegung!“ Gren aß weiter.
Hart rührte sich nicht von der Stelle. Er dachte über Grens Worte nach. Wenn Mish und Jason schon so wütend auf seine Schulschwänzereien reagierten – was würden sie dann erst tun, wenn sie herausbekamen, was er an diesem Abend vorgehabt hatte? Was würden sie tun, wenn Gren ihnen sagte, wer für den Brand der Arztpraxis vor vier Wochen verantwortlich war? Je mehr er darüber nachdachte, desto unglücklicher wurde er. Seine Nase glühte, und in seinen Augen prickelte es.
„Ich möchte mich setzen“, sagte er schließlich. Gren deutete auf den anderen Baumstumpf. Hart nahm Platz. Seine Füße berührten kaum den Boden. Er strengte sich an, nicht in Tränen auszubrechen.
Gren beendete seine Mahlzeit, schob den Topf und den Teller beiseite und wandte sich dann dem Jungen zu. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sah er ihn an. In dem flackernden Licht wirkten seine Augen blaß und undurchdringlich.
„Du reiches Gör“, sagte Gren mit Abscheu. Hart schaute überrascht auf. „Du verwöhntes reiches Gör. Du glaubst, daß das Universum dir gehört, stimmt’s? Ich kenne eure Art. Ihr glaubt, ihr könnt euch alles erlauben und die Leute verarschen, was? Ihr glaubt, alles ist nur ein Spiel, um euch zu amüsieren, und die anderen sind dabei eure Spielzeuge oder Haustiere, die euch völlig egal sein können und um die ihr euch einen Dreck schert?“ Gren spuckte in die Flammen. „Ihr glaubt wohl, ihr könntet euch alles nehmen, was euch gefällt; ihr brauchtet nur reinzukommen und nehmen, was ihr kriegen könnt, ohne Rücksicht auf Verluste, um es dann wegzuwerfen, wenn es euch nicht mehr gefällt. Und ob ein Mensch dabei draufgeht ist euch egal, verdammt noch mal!“
„Ich habe niemandem etwas weggenommen!“ rief Hart und vergaß seine Tränen. „Ihr seid hierhergekommen und habt meinen Planeten gestohlen! Ihr habt mein Haus, meinen Stall und mein …“
Gren langte über den Tisch und versetzte dem Jungen einen Schlag, der ihn zu Boden warf. Aber Hart hatte an diesem Tag bereits soviel eingesteckt, daß diese Ohrfeige ihn nicht mehr schockierte. Er blieb liegen, wo er hingefallen war, fühlte den Schmerz in seinen Schläfen und weigerte sich aufzustehen. Gren stieß einen Fluch aus, zog ihn hoch und drückte ihn in die Hängematte.
„Dir fehlt überhaupt nichts“, sagte er. Hart sah an ihm vorbei.
„Das tut es doch“, murmelte er.
„Und außerdem habe ich dich nicht bestohlen“, fuhr Gren fort. „Ihr habt mich nicht nur meiner Welt, sondern auch meiner Familie beraubt – und meiner Arbeit.“
„Ich nicht. Ich bin nicht mal dort gewesen.“
„Es waren Leute deiner Art. Ein Menschenschlag, dem du bald auch angehören wirst.“
Hart setzte sich abrupt hin und starrte Gren an. Seine Angst war verflogen. „Wenn Ihnen die Leute meiner Art nicht passen, können Sie ja weggehen. Sie können Aerie verlassen und ihre Leute mitnehmen. Ich will nicht, daß Sie hier sind; ich habe niemanden gebeten hierherzukommen. Ich wünschte, ihr würdet alle sterben und mich in Ruhe lassen.“
Gren musterte ihn einen Moment lang, dann öffnete er den Mund und gab einen heiseren, gebrochenen Laut von sich. Hart erkannte, daß der Mann lachte, und daraufhin kehrte seine Furcht zurück. Als Gren erneut nach seinem Krug langte und daraus trank, lehnte er sich in die Hängematte zurück. Der Mann nahm neben ihm Platz, und die Hängematte kippte beinahe um. Mit kalter Freundlichkeit lächelte er den Jungen an.
„Ich kriege dich schon noch klein“, sagte er, ohne Verärgerung zu zeigen. „Bald wirst du nach einer anderen Pfeife tanzen, reiches Gör. Ich habe nicht vor, dich in Ruhe zu lassen.“
„Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, werde ich alles meinen Eltern sagen“, erwiderte Hart mit mehr Mut, als er in sich spürte.
„Und ich erzähle ihnen dann alles über die Brände, einverstanden? Man nennt so was Brandstiftung, reiches Gör. Du bist ein Brandstifter. Wenn sie auf Neuheim einen Brandstifter in die Finger bekommen, verbrennen sie ihn bei lebendigem Leibe. Hast du je gesehen, wie das ist?“
Hart starrte Gren an. Schmerzerfüllte Bilder rasten durch seinen Geist. Er fing unkontrolliert an zu zittern und konnte nicht eher damit aufhören, bis Gren ihm eine Decke um die Schultern legte. Das Feuer zischte. Hart versorgte es mit einem weiteren Scheit. Hart zuckte zusammen und schrie auf. Gren lächelte erneut.
„Erzählen Sie ihnen nichts“, flüsterte Hart schließlich. „Erzählen Sie ihnen nichts.“
„Mal sehen“, erwiderte Gren. Er stand auf und wirkte plötzlich ausnehmend sachlich. „Ich werde ihnen nichts erzählen – vorausgesetzt, du tust auch etwas für mich.“
Hart musterte ihn schweigend. Nicht viel später fuhr Gren fort und sagte: „Du wirst jeden Tag nach der Schule zu mir kommen, verstanden? Jeden Tag! Und ich verlange, daß du niemanden sagst, wohin du gehst. In Ordnung?“
„Warum?“
„Stell keine Fragen!“ rief Gren. „Wirst du tun, was ich von dir verlange, oder sollen wir zu deinen Eltern gehen?“
„Ich werde kommen“, versprach Hart rasch. „Jeden Tag, das verspreche ich. Ich werde jeden Tag kommen.“
„Schön.“
Gren stand auf und ging auf die Truhe zu, die in einer Ecke der Hütte stand. Er gab Hart einen Wink. Der Junge folgte ihm; er hatte die schmutzige Decke noch immer um sich geschlagen.
Gren öffnete das Schloß und klappte den Deckel der Truhe nach oben. Hart sah blitzendes Metall und funkelndes Glas. Gren hob nacheinander Reagenzgläser, Skalpelle, Teller und Röhrchen hoch.
Seine Finger gingen äußerst sanft damit um, während er sie Hart unter die Nase hielt.
„Daheim hatte ich einen Assistenten“, sagte Gren. Während er mit den Instrumenten spielte, nahm sein Gesicht einen entspannteren Ausdruck an. „Wie alles andere ist auch er nicht mehr. Ich habe nur noch das. Ich habe drei Menschen umgebracht, um meine Ausrüstung zu retten, und ich würde es wieder tun. Aber ich habe sie ja und bin noch nicht zu alt, um noch einmal von vorne anzufangen.“ Er legte das Skalpell zurück und starrte in die Truhe. „Ich bin Biologe, reiches Gör. Weißt du, was das ist?“
Hart schüttelte den Kopf. Gren sah ihn an, dann schloß er die Truhe wieder. Sein kalter Humor war wie verflogen.
„Du wirst es erfahren – sogar bald.“ Er zog Hart die Decke aus den Fingern und schob ihn zur Tür.
„Geh nach Hause!“ schrie er. „Mach schon, hau ab! Und wenn du irgend jemandem was erzählst, verbrenne ich dich eigenhändig!“
Hart stolperte über die Schwelle, schnappte nach Luft und rannte blindlings davon, als hätten sich Dämonen an seine Fersen geheftet. Keckernde Nachtvögel stoben vor ihm aus dem Gras und stießen helle Laute aus. Als er am Ufer entlangjagte, drang das Wasser in seine Schuhe. Die Rinde des Halaeabaumes kam ihm plötzlich kalt und rissig vor. Er taumelte in sein Zimmer, verriegelte das Fenster und verbarg sich frierend und schluchzend, verloren in einer Welt verhaßter Fremder, in den tiefsten Tiefen seines Kabinetts.