EINS
Die Trollfjord glitt wie auf Schienen dahin. Während draußen ein fahler Tag aufzog, in dem die schneebedeckten Felsinseln, die das Schiff passierte, geisterhaft mit dem Horizont verschmolzen, waren Henriette und Torsten nach viel zu wenig Stunden Schlaf wieder auf den Beinen. Torsten ließ seiner Kollegin den Vortritt in die winzige Duschkabine und kontrollierte die Vorsichtsmaßnahmen, die er in der Nacht getroffen hatte. Offenbar hatte niemand versucht, in ihre Kabine einzudringen.
Da Henriette länger brauchte, schaltete er den Laptop ein. Petra hatte sich nicht mehr gemeldet, und der Bildschirm blieb auch jetzt dunkel. Torsten sah daher noch einmal die Daten durch, die sie ihm in der Nacht übermittelt hatte, und beschäftigte sich erst einmal mit ihren Tischgenossen. Neben Lambert Gillmann, der als Angestellter bei einer Stadtverwaltung in Rheinland-Pfalz arbeitete, und dem chinesischen Ehepaar Wu Fanglian und Dai Zhoushe waren dies der US-Amerikaner Jason Wickley, angeblich ein Rodeoreiter aus Wyoming, sowie Daisy und Viktor Brünger. Sie war die Tochter eines Bauunternehmers aus Gelsenkirchen, er ein aufstrebender Literat aus München und – wie Petra aus Facebook-Eintragungen geschlossen hatte – als Schwiegersohn nicht gerade die erste Wahl von Daisys Vater.
Mehr interessierten Torsten jedoch diejenigen, die als mögliche Geheimagenten in Frage kamen. Doch gerade, als er diesen File aufrief, kam Henriette aus dem Badezimmer.
»Es ist frei!«, sagte sie.
Torsten warf ihr einen kurzen Blick zu und fand, dass sie in Höschen und BH zum Anbeißen aussah. Aber dafür war er nicht hier.
»Sieh dir die beiden Listen an, die ich aufgerufen habe, während ich in der Dusche bin«, forderte er sie auf und schraubte sich in die Hygienezelle. Beim Anblick der vielen Salbentöpfchen und mit verschiedenen Lotionen gefüllten Fläschchen, die Petra für Henriettes Tarnung als notwendig erachtet hatte, verdrehte er die Augen. Er selbst fand kaum Platz für Zahnbürste und Rasierapparat.
Er beeilte sich mit dem Duschen, zog seine Unterwäsche an und wollte auch in die Hosen steigen. Dafür aber war die Zelle zu eng. Ihm blieb nur, in die Kabine zurückzukehren und sich dort anzuziehen. Währenddessen warf er Henriette einen Blick zu. Diese trug jetzt einen knielangen weißen Rock und eine weiße Seidenbluse mit einer eingestickten roten Rose über dem Herzen. Für ihn wirkte das wie eine Zielscheibe, und er ranzte sie deswegen an.
»Im direkten Einsatz trage ich so etwas natürlich nicht, aber jetzt gehört es zu meiner Tarnung«, antwortete sie gelassen und musterte ihn ihrerseits. »Du solltest dir ein weniger auftragendes Schulterhalfter besorgen. Wenn du dich nach rechts beugst, merkt jeder, der etwas davon versteht, dass du eine Waffe trägst. Zudem: Wir wollten doch unsere Pistolen vorerst zurücklassen.«
»Dann darf ich mich eben nicht nach rechts beugen!« Torsten schnaubte ärgerlich, begriff dann, dass es keine Retourkutsche gewesen war, sondern eine ehrliche Warnung. Er legte das Schulterhalfter ab und grinste sogar. »Du hast mal wieder recht! Danke, dass du mich darauf hingewiesen hast. Aber jetzt sollten wir frühstücken. Ich will mich um neun mit jemand treffen.«
»Mit diesem Thornton?«
»Ja! Wie kommst du darauf?«, fragte Torsten verblüfft.
»Weil er mir gestern schon so aussah, als würde er dich am liebsten ansprechen. Soll ich den Laptop umschalten, oder machst du es?«
»Du sitzt vor dem Kasten, also kannst du es tun. Hast du noch etwas herausgefunden?«
»Petra konnte bisher nur vier Geheimagenten hundertprozentig identifizieren, hat aber insgesamt gut vierzig Leute im Verdacht, für einen Geheimdienst zu arbeiten.«
»Vierzig von über siebenhundert Passagieren? Ich hätte mehr geschätzt«, sagte Torsten kopfschüttelnd. Er nahm seine Bordkarte und steckte sie in die Hülle, die er wie alle anderen Passagiere an einem Band um den Hals tragen sollte.
»Auf geht’s! Der Dienst ruft.«
»Beim Frühstück?«, fragte Henriette lachend.
»Satt kann ich dem Vaterland besser dienen als hungrig«, gab Torsten zurück und schaltete die Türsicherung aus. »Wegen der Putzfrau! Oder hast du Lust, unsere Kabine sauber zu machen und Handtücher an der Rezeption zu holen?«
Henriette schüttelte den Kopf. »Das fiele wohl zu sehr auf.«
Torsten öffnete ihr die Tür und ließ sie hinaus. Im gleichen Moment verwandelten sich beide wieder in das erlebnishungrige Ehepaar, dessen Traum es war, mit einem Schiff der Hurtigruten in die Mittwinternacht hineinzufahren.
ZWEI
Als Henriette und Torsten den Speisesaal erreichten, war dieser erstaunlich leer. Die beiden schätzten, dass weniger als vierzig Leute frühstückten. John Thornton gehörte dazu, er saß allein an seinem Tisch. Am Tisch 87 hatte sich auch noch niemand eingefunden, aber eben erschien Lambert Gillmann mit einem bis an den Rand gefüllten Teller.
»Ich habe Halbpension gebucht«, erklärte er auf Henriettes verwunderten Blick hin. »Da brauche ich eine gute Unterlage, denn ich werde mittags kaum mehr als ein Sandwich essen. Es ist alles so verdammt teuer hier in Norwegen, finden Sie nicht auch?«
»Um die Preise mache ich mir keine Sorge. Darum kümmert sich mein Schnucki…« Das »Putzi« unterblieb unter dem eisigen Blick, mit dem Torsten Henriette bedachte.
Sie begriff selbst, dass sie wieder dabei war, das Ehepaar Brünger zu imitieren, und das konnten diese als Spott auffassen. Daher beschloss sie, sich einen anderen Kosenamen für ihren angeblichen Ehemann auszudenken, und besorgte sich erst einmal eine Tasse Tee und ein Glas Orangensaft. Torsten wählte wie sonst auch Kaffee und ein Glas Wasser.
Als sie zu ihrem Tisch zurückkehrten, fanden sie nun auch das chinesische Ehepaar vor sowie Jason Wickley, der eine Portion Rührei verspeiste, die einem Rodeoreiter angemessen war.
Wu Fanglian und Dai Zhoushe hatten sichtlich Schwierigkeiten mit dem ungewohnten Essen und unterhielten sich leise in ihrer Muttersprache, ob sie nun besser gerösteten Schinken und Spiegeleier nehmen oder sich mit einem Brötchen und etwas Marmelade begnügen sollten.
Torsten ließ sich nicht anmerken, dass er gewisse Kenntnisse in Mandarin besaß, sondern nahm sich einen Teller und suchte sich auf dem reichhaltigen Frühstücksbüffet die Sachen aus, die er am liebsten mochte. An seinen Platz zurückgekehrt, aß er in aller Ruhe, holte sich zwischendurch noch eine zweite Tasse Kaffee und antwortete gelegentlich auf Gillmanns Bemerkungen. Dieser war ausnahmsweise zufrieden und verglich das Frühstücksbüffet auf der Trollfjord zu dessen Gunsten mit dem seines Hotels während des Sommerurlaubs. Dabei vertilgte der Mann derartig viel, dass Torsten sich fragte, ob er einen Zusatztank an seinen Magen geschraubt hatte.
Auch Jason Wickley holte sich noch dreimal Nachschlag. Er sagte wenig, ließ seinen Blick aber immer wieder durch das Schiff wandern. Für einen Geheimagenten tat er es zu auffällig, daher stufte Torsten ihn vorläufig als harmlos ein.
Unterdessen beendete John Thornton sein Frühstück und verließ das Restaurant. Ein Blick auf die Uhr zeigte Torsten, dass es zehn vor neun war. Wenn er die Verabredung einhalten wollte, wurde es Zeit für ihn, in die Kabine zu gehen und sich etwas überzuziehen. Daher trank er seine Tasse leer und schob sie zurück.
»Was machst du heute Vormittag, mein Mausilein?«, sagte er Henriette mit dem angenehmen Gefühl, ihr das »Schnuckiputzi« heimgezahlt zu haben.
»Ich werde mich in die Lounge auf Deck neun setzen und nach draußen schauen. Vielleicht wird die Sicht besser. Kommst du mit?« Sie stand auf.
Torsten schüttelte den Kopf. »Vielleicht später. Jetzt will ich ein wenig an die frische Luft. Herr Wu, Frau Dai, meine Herren, auf Wiedersehen beim Mittagessen.«
»Ohne mich! Ich habe Halbpension gebucht. Wäre auch hinausgeschmissenes Geld, nachdem es so ein großes Frühstücksbüffet gibt«, warf Gillmann grinsend ein.
Wie es aussieht, ist er sogar noch stolz darauf, sich möglichst sparsam durchzufuttern, dachte Torsten, während er zum Aufzug ging. Doch auf dem Weg zu seiner Kabine vergaß er diesen Mitreisenden wieder und richtete seine Gedanken auf Thornton. Damals in Afghanistan waren sie gute Freunde gewesen. Würden sie jetzt Gegner sein?
Diese Frage beschäftigte ihn noch, als er mit seinem Parka auf dem Arm die Kabine verließ und mit dem Lift nach oben auf Deck neun fuhr. Oben entdeckte er Thornton auf Anhieb. Der Amerikaner stand draußen in der Nähe des großen Whirlpools und blickte hinaus aufs Meer.
Ein kurzer Blick in die Panorama-Lounge zeigte Torsten, dass Henriette so Platz genommen hatte, dass sie ein möglichst großes Stück des Sonnendecks im Auge behalten konnte.
Er winkte ihr kurz zu, zog seinen Parka an und öffnete die Tür nach draußen. Ein schneidender Wind blies ihm entgegen, und er war froh um die Handschuhe in seinen Taschen. Während er diese anzog, näherte er sich scheinbar zufällig Thornton.
Dieser sah ihn und wies nach Backbord, wo die Küste in dem diesigen Wetter mehr zu erahnen als zu sehen war. »Eine schöne Reise, nicht wahr?«
»Noch schöner wäre es, wenn das Wetter nicht so trübe wäre«, antwortete Torsten, da eben ein anderer Frischluftfan nahe an ihnen vorbeiging.
Thornton nickte und ging weiter zum Heck. Nach einigen Sekunden folgte Torsten ihm, blieb vor der Heckreling stehen und sah zu, wie der Amerikaner eine Zigarettenschachtel aus der Tasche holte.
»Willst du auch eine?«, fragte Thornton.
»Nein!«
»Ich vergaß, du bist ja Nichtraucher. Vielleicht sollte ich es auch aufgeben, aber irgendwie hilft es gegen den Stress.« Thornton lächelte bitter, während er sich eine Zigarette anzündete, und drehte sich zu Torsten um.
»Ich glaube, hier können wir reden. Damit die Sache klar ist: Ich werde nichts darüber sagen, weshalb ich auf diesem Kasten bin, und will auch von dir nicht hören, weshalb du es bist. Eines aber halte ich für sehr wahrscheinlich: Einige von denen, die sich aus ähnlichen Gründen wie wir auf der Trollfjord befinden, werden den eigentlichen Grund dafür bald vergessen und sich gegenseitig ihre Rechnungen präsentieren.«
»Das ist ja höchstinteressant!« Torsten fragte sich, ob Thornton über andere Quellen verfügte als jene, die Petra angezapft hatte, oder nur auf den Busch klopfen wollte. Da sprach der Amerikaner bereits weiter. »Sagt dir der Name Manolo Valdez etwas?«
»Das ist doch der Bursche, dem deine Leute den Anschlag auf eine eurer Fregatten zuschreiben. Den Namen des Kahns weiß ich nicht mehr.«
»Sam Houston«, half Thornton aus. »Meine Kollegen oder, besser gesagt, Exkollegen werden sich die Chance nicht entgehen lassen, diesen Mann zu erwischen. Aber das ist noch nicht alles. Auch Abu Fuad ist an Bord.«
»Der ist doch derzeit mit euch verbündet!«
»Das schon. Aber er wird verdächtigt, hinter dem Sprengstoffanschlag auf dem Hauptmarkt von Urumqi zu stehen. Damals sind mehr als zweihundert Chinesen ums Leben gekommen oder schwer verletzt worden. Auf jeden Fall steht Abu Fuad auf der schwarzen Liste unserer asiatischen Freunde wohl an erster Stelle.«
»Und es gibt verdammt viele Chinesen an Bord.«
Thornton nickte gedankenverloren. »Das auch! Wir haben Informationen, dass der sagenumwobene Chef der chinesischen Gegenspionage ebenfalls auf der Trollfjord sein soll. Man weiß weder seinen Namen noch wie er aussieht. Wir nennen ihn Red Dragon. Er ist an Abu Fuad noch mehr interessiert als meine Exkollegen an Valdez. Und das will einiges heißen. Du kannst dir vorstellen, wie es hier auf dem Schiff bald zugehen wird.«
»Ein Hornissenschwarm dürfte harmlos dagegen sein!« Torsten rieb sich das Gesicht, das sich nicht nur der Kälte wegen klamm anfühlte. Wenn das, was er eben gehört hatte, der Wahrheit entsprach, würden sich die Ereignisse auf der Trollfjord bald überschlagen. Sein Blick glitt nach unten zum Balkon der beiden Reeder-Suiten. In der auf der linken Seite saßen Nastja Paragina und Espen Terjesen, denen der ganze Aufwand der Geheimdienste eigentlich gelten sollte. Doch schon bald würden die beiden nur noch Nebenfiguren in einem Spiel sein, das von den Leuten der amerikanischen Geheimdienste, Manolo Valdez, Abu Fuad und vielleicht auch dem geheimnisvollen Roten Drachen bestimmt würde.
DREI
Nachdem John Thornton ins Schiffsinnere zurückgekehrt war, blieb Torsten noch einige Minuten an der Heckreling stehen und starrte in das von den Schiffsschrauben aufgewirbelte Wasser. So ähnlich wie dieses schäumten auch seine Gedanken auf. Aber es brachte nichts, auf ungelegten Eiern zu brüten. Mit einer energischen Bewegung stieß er sich von der Reling ab, ging nach vorne und betrat das Innere des Schiffes. In der Trollbar zog er seinen Parka aus, bestellte sich eine Tasse Kaffee und ging zu Henriette.
Diese saß zurückgelehnt in ihrem Sessel, hatte die Augen geschlossen und schlief, um die viel zu kurze Nacht nachzuholen. Sie bot ein so friedliches Bild, dass nach Torstens Meinung niemand annehmen würde, es könnte sich bei ihr um eine unerschrockene Kämpferin handeln. Doch so wie es aussah, würde sie diese Fähigkeiten bald brauchen.
Noch während er schwankte, ob er sie wecken oder weiterschlafen lassen sollte, schlug sie die Augen auf und sah ihn lächelnd an. »Hast du ein wenig Frischluft getankt?«
»Fast zu viel«, brummte er. »Draußen ist es kalt wie in einem Eisschrank. Außerdem wird es bald wieder schneien. Wollen wir hoffen, dass es keinen Sturm gibt.«
Henriette wurde hellhörig. Wie es aussah, hatte ihr Kollege von Thornton nicht gerade die besten Nachrichten erhalten. Sie streckte sich, um die Muskeln zu lockern, und sah dann auf ihr leeres Glas.
»Wollen wir noch etwas trinken oder kehren wir in die Kabine zurück? Wann legen wir eigentlich das nächste Mal an?«
»Um 10:20 Uhr in Torvik. Dort haben wir aber nur fünfundzwanzig Minuten Aufenthalt«, erklärte Torsten.
»Wieso kann das dumme Schiff nicht länger bleiben, so dass man sich in dem Ort umsehen und vielleicht auch einen Kaffee trinken kann? Für die paar Minuten will ich nicht das Schiff verlassen.«
»Ich glaube, ich mache ein Nickerchen. Um zwölf erreichen wir nämlich Ålesund, und da haben wir drei Stunden Aufenthalt!« Torsten stand auf, nahm seine Tasse und ihr Glas und brachte sie an die Bar zurück. Als er sich dem Lift zuwandte, wartete Henriette bereits auf ihn und blockierte die Lichtschranke.
Beide fuhren ins Deck sieben hinab und gingen den Gang bis zu ihrer Kabine entlang. Um das Bild einer interessierten Touristin aufrechtzuerhalten, beschwerte Henriette sich wortreich über die Kürze der Zeit, die ihnen in den meisten Häfen blieb. Torsten wollte ihr schon sagen, dass sie es nun gut sein lassen könne, da meinte er plötzlich Geräusche aus ihrer Kabine zu hören. Rasch schob er die Bordkarte ins Lesegerät und öffnete die Tür. Vor ihm stand Bjarne Aurland, einer der beiden Hurtigruten-Angestellten, die Henriette am Vorabend aufgefallen waren. Einen Augenblick zuckte es auf dessen Gesicht, dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Ich habe Ihnen das Programm für die Ausflüge, die in Ålesund unternommen werden, ins Zimmer gelegt«, sagte er auf Englisch und schritt den Gang entlang, ohne sich noch einmal zu ihnen umzudrehen.
Torsten wartete, bis sie in der Kabine waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, dann ballte er die Faust. »Wenn der Kerl sauber ist …«
»… darf ich Heinrich zu dir sagen«, vollendete Henriette den Satz für ihn und begann zu lachen.
Einen Augenblick starrte Torsten sie verärgert an und verzog dann das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. »Als Heinrich Renk würde ich wenigstens zu deiner feudalen Familie passen. Schade, dass Dietrich nicht da ist.«
Henriette gluckste, als sie an ihren älteren Bruder dachte, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihm das hier gefallen würde. Er ist niemand, der heimlich jemanden beobachten kann, sondern durch und durch Soldat. Außerdem sähe es reichlich blöd aus, wenn er im vollen Tarnanzug und Helm samt umgehängter Maschinenpistole hier herumläuft.«
Bei der Vorstellung musste Torsten lachen. »Danke!«, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. »Das war die richtige Bemerkung, um meine Anspannung loszuwerden. Und jetzt sollten wir schauen, ob Petra was Neues weiß. Außerdem interessiert mich, was dieser Kleiderschrank hier wollte.«
»Das Programm für die Ausflüge hat er hier auf den Tisch gelegt«, erklärte Henriette.
»Das schon, aber im Allgemeinen liegen die oben auf Deck acht aus. Ich habe noch nie gehört, dass so etwas in die Kabine gebracht wird.«
Noch während er sprach, begann Torsten den Raum zu durchsuchen. Auf den ersten Blick konnte er nichts entdecken. Allerdings merkte er bald, dass Aurland sich an seinen Sachen zu schaffen gemacht hatte. Selbst den Laptop hatte der Mann eingeschaltet, war aber von der Tarneinstellung getäuscht worden. Dafür hatte die kleine Kamera des Geräts, die auch bei ausgeschaltetem Zustand arbeitete, den Mann während seiner Anwesenheit in der Kabine aufgenommen.
Torsten betrachtete den Film und nickte zufrieden, als er sah, dass Aurland nach der Durchsuchung des Schranks sich zu Henriettes Koffer gebeugt hatte, aber durch ihr Erscheinen an einer näheren Beschäftigung mit dem Zahlenschloss gehindert worden war.
Nachdenklich wandte er sich zu seiner Kollegin um. »Jetzt müsste man wissen, ob der Kerl noch einmal zurückkommt, um den Rest der Kabine zu durchsuchen, oder sich mit dem zufriedengibt, was er gesehen hat.«
»Um eine Antwort darauf zu bekommen, müsstest du ihn fragen.«
Sie war zu neugierig darauf, was Torsten von John Thornton erfahren hatte, um das Thema zu vertiefen.
Torsten durchsuchte unterdessen sorgfältig die Kabine, ob Aurland eine Wanze oder gar eine Minikamera hier zurückgelassen hatte. Trotz seiner Erfahrung fand er nichts und schaltete daher den Laptop auf die eigentliche Betriebsoberfläche um. Petra hatte zwei Files mit Informationen geschickt. Er las sie durch und nahm mit einer gewissen Erleichterung wahr, dass ihre Kollegin ihnen das Gleiche und noch ein wenig mehr von dem mitteilte, was er bereits von Thornton gehört hatte.
Ihrer Information nach befanden sich an Bord der Trollfjord einige Geheimdienstkoryphäen, die sich bislang noch nie begegnet waren. Eines wurde ihm beim Lesen rasch bewusst: Thorntons Annahme, dass hier auf dem Schiff bald etwas passieren würde, war eine eher harmlose Umschreibung. Für ihn sah es nun so aus, als wäre die Trollfjord mit einem großen Container Dynamit beladen, dessen Lunte bereits brannte.
Mit verbissener Miene unterrichtete er Henriette von dem, was er erfahren hatte, und rief die Verbindung zu Petra auf. Doch auf dem Bildschirm erschien nicht das Gesicht der Computerspezialistin, sondern Franz Josef Wagner, und dieser wirkte nicht weniger missgestimmt als sein Untergebener.
»Wo ist Petra?«, fragte Torsten.
»Bei ihrer Frauenärztin! Schwangerschaftskontrolle! Sie wird erst am Nachmittag zurückkommen«, gab Wagner so bissig zurück, als suche er einen Schuldigen.
»Das ist nicht gut! Sie müsste dringend ein paar Sachen nachschauen. Vor allem brauche ich aktuelle Fotos von Manolo Valdez, Abu Fuad und sämtlichen anderen Agenten, die nachweislich auf der Trollfjord sind oder hier sein könnten.«
Obwohl Torsten an Petras Schwangerschaft nicht gerade unschuldig war, ärgerte er sich, dass diese ausgerechnet in dieser Zeit einen Arzttermin hatte einschieben müssen.
»Ich werde zusehen, was ich tun kann«, erklärte Wagner. »Den Rest muss Frau Waitl übernehmen, wenn sie wieder hier ist.«
Torsten sah, wie sein Vorgesetzter sich über die Tastatur beugte und zu tippen begann. Schon bald meldete ein kleiner grün-weißer Balken am unteren Bildschirmrand einen Datentransfer. Schließlich atmete Wagner auf und blickte wieder auf den Bildschirm.
»Es wird noch etwas dauern, bis Sie mehr bekommen, Renk. Aber wenigstens haben Sie jetzt etwas Lektüre und ein paar Bilder zum Anschauen. Ach ja, noch etwas: Gleichgültig, was auf dem Kasten, auf dem Sie und Frau von Tarow sich befinden, auch passiert: Sie halten sich aus allem raus! Das ist ein Befehl. Ihr Job ist es, Nastja Paragina zu überwachen und dafür zu sorgen, dass sie nicht noch einmal spurlos verschwindet.«
»Ich werde mich in ihren Lippenstift verwandeln und in ihre Handtasche klettern«, spottete Torsten.
Er wusste ebenso wie Wagner, dass er verdammt viel Glück brauchte, um die russische Wissenschaftlerin so überwachen zu können, wie es von ihm gefordert wurde, und noch mehr, um ihr auf den Fersen zu bleiben.
VIER
Während Torsten sich mit seinem Vorgesetzten unterhielt und die einzelnen Geheimdienste darangingen, erste Pläne zu schmieden, saßen Nastja Paragina und Espen Terjesen in ihrer Suite vor einem späten Frühstück und blickten in den düsteren, nebligen Tag hinaus. Espen Terjesen lud sich eben eine dicke Scheibe Lachs auf sein Toastbrot und grinste.
»Es klappt alles reibungslos, meine Liebe. Laut meinen Informationen müssen mindestens fünfzig Agenten auf dem Schiff sein, darunter einige absolute Cracks. Die braucht man jetzt nur noch ein wenig zu reizen, damit sie auch aktiv werden.«
»Hast du die Chinesen schon darüber informiert, dass sich Abu Fuad an Bord befindet?«, fragte Nastja.
Espen Terjesen schüttelte lachend den Kopf. »Natürlich nicht! Das erfahren die auch ohne meine Hilfe. Sonst sähe es so aus, als wäre das hier alles von uns geplant.«
»Aber das ist es doch.«
»Natürlich! Aber das dürfen die anderen nicht einmal ahnen.« Noch immer grinsend biss Espen Terjesen ein Stück von dem Lachstoast ab und begann zu kauen.
Nastja stand auf und ging unruhig im Zimmer umher. »Mir gefällt das nicht! Wir sitzen wie auf dem Präsentierteller, und das ganze Schiff ist voller Agenten, die nichts lieber täten, als mich zu betäuben, in einen Koffer zu stecken und in ihre Heimat zu bringen.«
»Du bist eben eine sehr wertvolle Frau«, sagte Espen Terjesen lachend. »Genau genommen bist du etliche hundert Milliarden Dollar wert. Das muss dir doch runtergehen wie Öl.«
»Ich bin Wissenschaftlerin und will in Ruhe meinen Forschungen nachgehen!« Diesmal klang Nastjas Stimme scharf. Ihr ging das Spiel, das ihr Begleiter in Gang gesetzt hatte, mittlerweile viel zu weit.
»Das wirst du auch bald wieder, mein Schatz«, erklärte Espen Terjesen fröhlich. »Mein Bruder hat alles vorbereitet. In spätestens drei Jahren wird International Energies das erste chemisch verflüssigte Methan auf den Markt bringen, und von da an werden die Aktien der großen Mineralölkonzerne nur noch als Butterbrotpapier taugen. Die gesamte Weltwirtschaft wird sich verändern, und wir werden diejenigen sein, die davon profitieren.«
»Mir wäre es lieber, wenn dafür keine Menschen sterben müssten«, wandte Nastja ein.
Espen Terjesen winkte ab. »Meldet sich auf einmal dein Gewissen? Dabei dachte ich, du wärst so kalt wie sibirisches Eis, nicht im Bett natürlich, aber sonst.«
»Ich bin kalt«, stellte Nastja klar. »Ich habe auch nichts dagegen, dass die Narren umgekommen sind, die meine Entdeckung als die ihre ausgeben und den Lohn dafür kassieren wollten. Doch ich habe mir nicht vorstellen können, dass es zu weiteren Toten kommen würde.«
»Es ist notwendig! So wie wir deine Kollegen ausschalten mussten, damit das Wissen um die Methanverflüssigung allein unser Eigentum bleibt, ist es unumgänglich, auch die Spitzenleute der Geheimdienste zu beseitigen. Bis die ›Firmen‹ neue Spezialisten ausgebildet haben, die uns auf die Pelle rücken könnten, sind wir längst am Ziel.«
Insgeheim amüsierte Espen Terjesen sich über die Zweifel der schönen Russin. Nastja war nach dem Tod der Professoren Bowman und Wolkow und deren Teams die einzige Wissenschaftlerin auf der Welt, die noch über die Ergebnisse der jahrelangen Forschungsarbeiten verfügte und diese auch umzusetzen vermochte. Dieses Wissen war für ihn und seinen Bruder von unschätzbarem Wert. Mit seiner Hilfe würden sie den Energiemarkt der Erde revolutionieren und ein Monopol erringen, das ihnen neben Hunderten von Milliarden Euro auch einen politischen Einfluss bescherte, den nicht einmal die USA in ihrer besten Zeit gehabt hatten.
Das war, wie er fand, jeden Einsatz wert. Da er diese Diskussion schon ein paarmal mit Nastja geführt hatte, sah er keinen Sinn darin, es noch einmal zu tun, sondern spottete über die Geheimdienste, deren Angehörige über die Trollfjord hergefallen waren wie Krähen über ein frisch gesätes Feld.
»Du siehst, welchen Stellenwert du bei unseren Freunden einnimmst. Das Schönste aber ist, dass wir uns gemütlich zurücklehnen und zusehen können, wie sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Espen Terjesen, und er griff im Reflex zu der Pistole, die neben dem Teller mit dem Lachs lag.
Nastja sah es und lächelte. So eiskalt und unerschütterlich, wie ihr Liebhaber immer tat, war er wohl doch nicht.
»Wer ist da?«, fragte Espen Terjesen.
»Bjarne Aurland, mein Herr. Ich bringe den bestellten Whisky!«
Terjesen entspannte sich etwas, als er die Stimme des Hurtigruten-Angestellten vernahm, legte aber die Pistole noch nicht weg.
»Sie können hereinkommen!« Er hörte, wie Aurland draußen an der Tür rüttelte, und erinnerte sich erst dann daran, dass er den Sicherheitscode der Suite so hatte ändern lassen, dass niemand ohne seine Erlaubnis hereinkam.
»Warten Sie, ich mache auf!«, rief er Aurland zu, ging aber nicht selbst zur Tür, sondern wies Nastja an, dies für ihn zu übernehmen.
»Nur für den Fall, dass draußen jemand zu neugierig ist. Man sollte dieses Ding hier nicht sehen«, erklärte er ihr und deutete auf seine Pistole.
Nastja stand auf und ging mit schwingenden Hüften zur Tür. Wer sie so sah, hätte sie für die überspannte Ehefrau eines Industriellen halten können und nicht für eine Frau, deren Intelligenzquotient von weniger als einem Dutzend Menschen auf der Erde übertroffen wurde.
Sie öffnete die Tür, wich zur Seite und ließ Aurland eintreten. Dieser steckte in einer dunklen Hose, einem weißen Hemd und einer burgunderroten Weste. In der Hand hielt er einen Karton mit aufwendiger metallischer Prägung.
»Guten Tag. Hier ist der Whisky.«
»Danke! Stellen Sie ihn in den Schrank!« Espen Terjesen bemühte sich, gelangweilt zu klingen.
Währenddessen warf Nastja einen kurzen Blick nach draußen. Wie zufällig tauchten dort mehrere Leute auf, die in diesem Teil des Schiffes mit Sicherheit nichts verloren hatten. Mit einem verächtlichen Lächeln schloss sie die Tür und drehte sich zu Terjesen um.
»Trotz der Kälte schwirren draußen ein paar Fliegen herum.«
Terjesen lachte übermütig. »Was dachtest du? Auf diesem Schiff ist die Elite der bedeutendsten Geheimdienste der Welt, und alle haben nur Augen für uns.« Dann wurde er schlagartig ernst und sah Aurland an. »Habt ihr etwas herausgefunden?«
»Haben wir! Allerdings konnten wir erst ein Viertel der verdächtigen Kabinen untersuchen.«
»Und?«, fragte Terjesen gespannt.
»Die an Ihre Suite anschließende Grand-Suite 824 sowie die Grand-Suite 822 werden von Angehörigen zweier amerikanischer Geheimdienste bewohnt. Die Amis haben sich auch die andere Reeder-Suite unter den Nagel gerissen. In den Grand-Suiten 821 und 823 wohnen Russen, während die Chinesen die Grand-Suiten 815 und 816 belegen und damit den Korridor zu Ihrer Suite kontrollieren können.«
»Ausgezeichnet!«, rief Terjesen. »War es schwer, das herauszufinden?«
»Bei den Amis und Russen nicht. Die haben eine Menge Equipment an Bord gebracht. Die Chinesen hingegen machen es geheimnisvoller. Dennoch haben sie Age und mich in ihre Kabinen gelassen. Wir profitieren einfach von unserem Ruf als brave norwegische Hurtigruten-Leute.«
»Den solltest du auch nicht riskieren.« Terjesen wies zur Tür, denn er wollte nicht, dass Aurland sich länger als notwendig hier aufhielt, um nicht aufzufallen. Dieser wandte sich sofort zum Gehen, zwinkerte ihm vorher aber noch einmal zu.
»Die Infos über die bisher untersuchten Suiten und Kabinen sind im Whiskykarton.« Danach hob er seine Stimme. »Herzlichen Dank, mein Herr. Sollten Sie wieder etwas brauchen, sind wir gerne bereit, es für Sie zu besorgen!«
Danach verließ Aurland die Suite und tat draußen so, als würde er eine Hundertkronennote in die Brusttasche seiner Weste stecken. Mit einem beiläufigen Blick stellte er fest, dass ihn die beiden Männer und die Frau, die sich in der Nähe befanden, eher uninteressiert musterten. Also schien keiner von ihnen misstrauisch geworden zu sein.
Als er an der Frau vorbeiging, sprach diese ihn mit einem kaum hörbaren russischen Akzent an.
»Können Sie mir eine Flasche Champagner besorgen?«
Da es auffällig gewesen wäre, Whisky in Espen Terjesens Suite zu bringen und einen anderen Auftrag abzulehnen, nickte Aurland. »Aber selbstverständlich, meine Dame.«
»Bringen Sie ihn in meine Kabine.« Dabei hielt die Frau ihm ihre Bordkarte so vor die Nase, dass er deren Kabinennummer lesen konnte. Mit der anderen Hand steckte sie ihm mehrere Geldscheine zu, deren Wert den Kaufpreis für eine Flasche Champagner um ein Drittel überstieg.
Aurland machte jedoch nicht den Fehler, diesen Betrag zu behalten, sondern brachte, als er mit einer gut gekühlten Flasche Veuve Clicquot zurückkam, brav das Wechselgeld mit.
Inzwischen hatte die Frau sich in ihre Kabine begeben, saß auf einem Stuhl und winkte ab, als er ihr die Münzen und Scheine reichen wollte. »Das ist für Sie!«
»Besten Dank! Aber das wäre nicht nötig«, antwortete Aurland, um ihr den naiven Norweger vorzuspielen.
»Wollen Sie ein Glas mittrinken? Allein macht es keinen Spaß!« Die Frau wies auf den Schreibschrank, auf dem bereits zwei Gläser standen.
Aurland öffnete die Flasche so vorsichtig, dass der Korken nicht durch die Luft flog, füllte ihr Glas voll und das seine zur Hälfte und stieß mit ihr an. »Auf eine schöne und interessante Reise in die lange Nacht des Nordens!«
»An Ihnen ist ja direkt ein Poet verloren gegangen. Ach, ich vergaß, ihr Norweger seid ja ein Volk der Sänger und Skalden!« Die Frau lachte und nippte an ihrem Glas.
Noch immer war Aurland sich nicht sicher, ob er jetzt ein weibliches Mitglied eines russischen Geheimdienstes vor sich sah oder nur eine sich langweilende Frau, die auf ein erotisches Abenteuer aus war. Ihre nächsten Worte stellten jedoch einiges klar.
»Sie waren doch vorhin in einer dieser Prunksuiten am Heck. Sind diese wirklich so grandios ausgestattet, wie man es sich erzählt? Und vor allem: Was sind das für Leute, die sich eine solche Suite leisten können?«
Die Frau stellt es geschickt an, dachte Aurland. Ein normales Mitglied der Besatzung würde jetzt wahrscheinlich von der Reeder-Suite schwärmen und natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit von deren Bewohnern erzählen. Da er als gewöhnliches Besatzungsmitglied gelten wollte, tat er genau das, aber auf eine Weise, dass die neugierige Passagierin nichts erfuhr, was sie nicht wissen durfte.
Nach einer Weile rutschte sie auf ihrem Stuhl herum und sah ihn an. »Das Paar aus dieser Reeder-Suite sitzt beim Essen ganz allein am Tisch. Wäre es da nicht möglich, ebenfalls dort Platz nehmen zu können?«
Ein Griff in ihre Handtasche und ein nicht gerade dezent herausgezogener Zweihundertkronenschein begleiteten diese Worte.
Aurland hob abwehrend beide Hände. »Tut mir leid, aber es ist die Sache des Zahlmeisters, die Tischordnung der Suiten festzulegen. Wenn die Herrschaften auf 826 ungestört sein wollen, wird er darauf Rücksicht nehmen.«
»Schade.« Die Frau überlegte kurz, ob sie den Geldschein wieder einstecken sollte, reichte ihn Aurland aber doch. »Mit bestem Dank für den Champagner. Wenn Sie freihaben, würde ich mich freuen, wenn Sie mir helfen würden, den Rest der Flasche zu leeren. Es kann auch eine frische sein.«
»Gerne, Frau …« Aurland stockte.
»Kresczinska, Lidija Kresczinska«, antwortete sie zuvorkommend und sah lächelnd zu, wie Aurland sich verabschiedete.
Während der Norweger mit dem Lift zwei Decks abwärtsfuhr und dann den Gang auf Deck sieben entlangging, kam er an der Kabine vorbei, in der er beinahe beim Durchsuchen der Sachen erwischt worden wäre. Einige Augenblicke lang blieb er stehen und lauschte.
Drinnen erklang die fordernde Stimme der Frau. »Ich will diesen Ausflug nach Ålesund mitmachen!«
Aurland grinste. Wie es aussah, brauchte er sich um diese Kabine nicht mehr zu kümmern. Das deutsch-philippinische Ehepaar gehörte ganz sicher zu keinem Geheimdienst. Trotzdem zog er die Passagierliste aus der Innentasche seiner Weste heraus und schaute kurz hinein. Die beiden hießen Henriette und Torsten Schmied und waren wahrscheinlich genauso langweilig wie ihre Namen.
FÜNF
Nach seinem Gespräch mit Torsten gönnte John Thornton sich einen Drink an der Fjord-Bar und dachte nach. Im Grunde war er froh, den verrückten Deutschen, wie er Torsten für sich nannte, an Bord zu wissen. Der Mann würde sich auch durch unerwartete Ereignisse nicht aus der Ruhe bringen lassen, und darauf, dass es zu solchen kommen würde, hätte John Thornton drei Jahresgehälter gewettet.
Allerdings wusste er nicht, was er von Renks Begleiterin halten sollte. Auf den ersten Blick wirkte die Kleine wie ein verwöhntes Püppchen. Aber ein solches hätte Renk niemals mitgenommen. Schon bald wanderten Thorntons Gedanken weiter zu den zwei Personen, die im Fokus aller Geheimdienstler auf dem Schiff und auch anderenorts standen, und er fragte sich, weshalb Nastja Paragina und Espen Terjesen sich ausgerechnet auf dieser Winterreise befanden. Der östlichste Anlegehafen der Trollfjord lag nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt, und er hätte drei weitere Jahresgehälter verwettet, dass die Geheimdienste in Russland bereits darauf warteten, die beiden in ihre Heimat zu bringen und dort zu verhören.
Sind die zwei verrückt, oder steckt ein raffinierter Plan dahinter? Noch während Thornton überlegte, bemerkte er einen Schatten und blickte auf. Ein schlanker, gut gekleideter Mann um die dreißig trat neben ihn und bestellte sich einen Whisky on the rocks. Er sah ihn nicht an, doch Thornton wusste auch so, um wen es sich handelte.
Als der andere sein Getränk erhielt, hob er sein Glas, als wolle er mit jemand anstoßen. »Hi John, so sieht man sich wieder«, sagte er leise und fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Larry! Welch ein Zufall aber auch! Hat es dich ebenfalls in die ewige Nacht des Nordens gezogen?«, antwortete Thornton mit deutlichem Spott.
Eine gewisse Spannung lag zwischen den beiden Männern, die vor wenigen Jahren noch ein Team gebildet hatten.
»Trägst du es mir immer noch nach, dass ich mich damals um unsere Kunden kümmern und dich zurücklassen musste?«, fragte Larry Frazer mit unbewegter Miene.
Thorntons Gedanken flogen zurück in jene Zeit, und er sah sich noch einmal blutend und halbverrückt vor Schmerzen hinter einem Felsen liegen, der ihm ein wenig Deckung geboten hatte, während sein Kollege Larry mit den ihm unterstellen GIs die Guerillakämpfer verfolgte, die ihrer Kolonne aufgelauert hatten. An das, was danach geschehen war, konnte er sich nur noch bruchstückhaft erinnern, aber er hatte hinterher erfahren, dass Torsten Renk ihn verbunden und in das deutsche Feldlazarett bei Kunduz gebracht hatte.
Die Sache hatte ihm selbst den Abschied aus der U. S. Army und deren Geheimdienst gebracht. Larry Frazer hingegen hatte sich einen Orden an die Brust heften können und war befördert worden. Jetzt stand er wieder neben ihm, nicht weniger ehrgeizig als damals, und trotzdem meinte Thornton bei seinem Exkollegen Angst zu spüren. Wie es aussah, fürchtete dieser ihn und seine Reaktion.
Thornton schränkte diesen Gedanken jedoch sofort wieder ein. Frazer fürchtete nicht ihn persönlich, sondern nur die Möglichkeit, dass er ihm hier auf der Trollfjord in die Quere kommen und damit seinen Erfolg und sein weiteres Vorwärtskommen behindern könnte.
»Warum sollte ich dir etwas nachtragen?«, antwortete Thornton nach einer Weile. »Es war richtig, die Scheißkerle zu verfolgen und in die Enge zu treiben.«
Einen Mann hättest du Scheißkerl allerdings bei mir zurücklassen können, setzte er in Gedanken hinzu.
Frazer bemerkte Thorntons kleine Pausen und die tonlose Stimme, die ihm verrieten, dass der Mann jene Tage in Afghanistan nicht vergessen hatte. Dabei hatte er damals geglaubt, Thornton würde den Tag nicht überleben. Sicher war es nicht schön, einen Kameraden sterben zu sehen. Doch man konnte ihn in guter Erinnerung behalten. Bei Thornton wusste er jedoch nicht, wie der Mann sich entscheiden würde, wenn es hart auf hart kam.
»Es ging damals nicht anders. Diese Scheißkerle hatten schon zu viele der unseren umgebracht. Wir mussten sie fertigmachen! Außerdem wusste ich, dass die Germans knapp hinter uns kamen und sich um dich kümmern würden.« Noch während er es sagte, begriff Frazer, dass er dabei war, seine Handlungsweise von damals zu entschuldigen, und ärgerte sich darüber.
Um Thorntons Lippen spielte ein freudloses Lächeln. »Du hast es nicht nötig, dich bei mir zu rechtfertigen. Du hast es damals für richtig gehalten, mich zurückzulassen, und musst damit leben. Aber du bist sicher nicht gekommen, um alte Geschichten aufzuwärmen.«
»Nein, gewiss nicht.« Frazer trank seinen Whisky aus und schob mit der anderen Hand eine Bordkarte zu Thornton hin.
»Komm in einer Viertelstunde in diese Kabine. Dort findet so etwas wie eine Konferenz statt!« Nach dieser Aufforderung stieß Frazer sich von der Bar ab und ging davon.
Thornton nahm die Bordkarte und warf einen kurzen Blick darauf. Sie gehörte zu einer Innenkabine auf Deck vier. Als er sich den Deckplan ins Gedächtnis rief, war es die einzige Innenkabine, die an keine andere Passagierkabine angrenzte, sondern von diesen durch Räume abgetrennt wurde, die nur vom Schiffspersonal betreten werden durften.
SECHS
Thornton stand zur genannten Zeit vor der Kabine mit der Nummer 441 und steckte die Bordkarte, die Frazer ihm gegeben hatte, in das Lesegerät. Die Verriegelung wurde gelöst, und er konnte eintreten. Innen waren nur zwei Männer zu sehen, die mit dem Rücken zur Tür saßen. Thornton sah jedoch den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand, der genau auf ihn gerichtet war, und begriff, dass jeder andere keinen liebevollen Empfang erhalten hätte. Er schloss die Tür wieder, und in dem Augenblick drehten sich die beiden Männer zu ihm um. Beide waren jung, hatten die Figur von Footballspielern und hielten je eine Pistole in der Rechten.
»Hi«, grüßte Thornton und grinste.
Er bekam keine Antwort. Stattdessen öffnete sich die Tür der Hygienezelle, und fünf Männer kamen heraus. Wie es diesen gelungen war, sich darin zu stapeln, war Thornton ein Rätsel.
Unter ihnen waren Frazer und zwei weitere Männer, die er sogleich erkannte, nämlich den Chef des Heeresgeheimdienstes und Rumble, der Geheimdienstkoordinator des amerikanischen Präsidenten. »Sieh an, Army, Navy und CIA in trauter Einigkeit. Das ist aber ein seltener Anblick!«
»Sei still! Wir müssen erst was überprüfen.« Frazer gab einem der beiden jungen Männer einen Wink. Dieser holte sein Handy aus der Tasche, betätigte ein paar Tasten und fuhr prüfend an Thorntons Körper mehrmals von oben nach unten. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Alles in Ordnung. Der Mann ist ungezieferfrei!«
»Das freut mich. Es ist ja nicht gerade schön, wenn man von Wanzen befallen wird«, spottete Thornton und sah sich um.
»Hat jemand etwas dagegen, wenn ich mich setze. Mein Bein macht nicht mehr so mit wie früher!« Er übertrieb ein wenig, denn mit hartem Training hatte er seinen Körper nach der schweren Verletzung wieder in Form gebracht. Es war aber gut, unterschätzt zu werden, sagte er sich, als Frazer auf die schmale Couch wies.
»Setz dich, John!«
»Danke!« Thornton nahm Platz und blickte die anderen auffordernd an.
»Larry meinte, es gäbe hier eine Konferenz. Also schießt los!«
Die fünf Männer aus der Hygienezelle sahen sich kurz an, dann ergriff Rumble das Wort. »Es geht um Manolo Valdez. Sie wissen doch recht gut, dass er einer der meistgesuchten Männer auf unserer Liste ist.«
»Nach dem, was ich letztens gehört habe, der meistgesuchte.« Thornton lächelte.
»Wenn Sie meinen!«, antwortete Rumble ungehalten. »Auf jeden Fall wollen wir ihn haben. Es geht nicht nur um die Anschläge gegen unsere Einrichtungen. Wir befürchten, dass der Mann Zielobjekt eins töten will, um zu verhindern, dass deren Erfindung umgesetzt werden kann.«
Was der Mann sagte, klang in Thorntons Ohren logisch. Manolo Valdez gehörte zu jenen linksgerichteten südamerikanischen Terroristen, deren Ziel es war, die USA und mit ihr den Kapitalismus zu vernichten, aber er hatte genügend Rückhalt bei den Regierungen einiger Länder, die am dort geförderten Erdöl verdienten. Wenn die Methanausbeutung im großen Stil begann, waren ihre Erdölvorräte nur noch einen Bruchteil dessen wert, auf das sie heutzutage geschätzt wurden. Nastja Paraginas Tod würde den Tag, an dem das im Ozean gebundene Methan industriell verarbeitet werden konnte, um viele Jahre hinausschieben, und wenn dabei sämtliche Forschungsergebnisse verloren gingen, sogar um Jahrzehnte.
Thornton wischte sich über das Gesicht, um seine Gedanken wieder einzufangen, und zuckte mit den Achseln. »Und was habe ich damit zu tun?«
Frazer und zwei der Männer, die er nicht kannte, verzogen bei dieser Antwort das Gesicht und sahen auffordernd zu Rumble, der sich zu einer Antwort bequemte.
»Sie sind der Einzige unter uns, der Manolo Valdez schon einmal gesehen hat und ihn selbst dann erkennen kann, wenn er sich getarnt hat.«
Es klang so verärgert, dass Thornton sich das Lachen verkneifen musste. »Ich bin schon zu lange aus dem Geschäft und mache diese Reise rein zum Vergnügen!«
»Das wüsste ich!«, warf Frazer zähneknirschend ein. »Wir sind informiert, dass du nach deinem Abschied aus der Armee einen Posten in der Sicherheitszentrale eines Energietrusts angetreten hast und dort für die Abwehr von Betriebsspionage zuständig bist. Den gleichen Job macht auch Espen Terjesen für seinen Bruder. Der hat dabei die Ellbogen gründlich eingesetzt, um die Konkurrenz niederzukämpfen. Also bist du seinetwegen hier an Bord.«
»Und wenn es so wäre, würde ich mich auf meinen Job konzentrieren und mich nicht von eurer Privatfehde mit Valdez ablenken lassen.« Thornton lächelte noch immer, doch es lag nichts Verbindliches in seiner Miene.
Frazer hätte ihn damals eiskalt krepieren lassen, um seinen Erfolg nicht zu gefährden, und seinem damaligem Chef, der bislang noch nichts gesagt hatte, war er auch nur einen Händedruck beim Abschied wert gewesen.
Jetzt stand Rumble auf und stellte sich vor ihn. »Thornton, wir verstehen ja, dass Sie wegen der Sache damals verbittert sind. Aber Sie sind doch Patriot! Deswegen werden Sie uns unterstützen.«
»Können die ausgezeichneten Computer, die Sie sicher mit an Bord gebracht haben, Ihnen nicht dabei helfen, Valdez zu identifizieren?«, fragte Thornton, ohne auf den Appell an seinen Patriotismus einzugehen.
»Valdez ist ein Meister der Tarnung, und unser Computer gibt sieben Leute hier an Bord an, die Valdez sein könnten. Wir wollen sichergehen, dass wir den Richtigen erwischen.«
»Und dafür brauchen Sie mich?« Thornton fand die Situation nur noch komisch. Gleichzeitig aber dachte er daran, dass einige Kollegen und auch etliche Soldaten und Zivilisten ihr Leben bei den von Valdez initiierten Anschlägen verloren hatten, und nickte widerwillig.
»Also gut, ich helfe Ihnen! Aber ich werde Ihnen erst etwas sagen, wenn ich mir hundertprozentig sicher bin.«
Die anderen atmeten hörbar auf.
»Ich wusste doch, dass Sie ein aufrechter Amerikaner sind«, rief sein früherer Vorgesetzter und ergriff seine Hand.
»Ich denke, dass Valdez das von sich auch glaubt, wenn auch auf Lateinamerika bezogen«, gab Thornton kühl zurück. »Und jetzt geben Sie mir die Bilder und Daten der sieben Männer, die Sie verdächtigen, Valdez zu sein. Ich würde allerdings nicht darauf wetten, dass es einer von ihnen ist. Er kann hier alles sein, vielleicht sogar einer Ihrer beiden Bodyguards!«
Bitterböse Blicke trafen ihn, doch das war Thornton gleichgültig. Er wartete, bis einer der beiden Footballprofigestalten ihm einen Umschlag mit den geforderten Informationen reichte, dann stand er scheinbar schwerfällig auf und humpelte zur Tür. Bevor er sie öffnete, drehte er sich noch einmal um. »Einen Drink hätten Sie mir wenigstens anbieten können!«
Damit verließ er die Kabine und kehrte amüsiert, aber auch höchst angespannt in sein Quartier zurück.
SIEBEN
Nach dem Gespräch mit Wagner und zwei Stunden intensiver Recherchearbeit fiel es Torsten schwer, sich wieder in die Rolle eines Vergnügungsreisenden einzufinden. Er kniff die Augen zusammen, atmete ein paarmal tief durch und sah Henriette mit einem leichten Nicken an.
»Danke, dass du mit deinen Bemerkungen unsere Tarnung aufrechterhalten hast. Nur hättest du mich dabei nicht unbedingt als Pantoffelhelden darstellen müssen.«
»Das habe ich doch gar nicht getan«, antwortete Henriette kopfschüttelnd. »Ich habe nur gesagt, dass du endlich deinen dummen Computer ausschalten sollst, damit wir rechtzeitig zu unserem gebuchten Ausflug nach Ålesund kommen.«
»Haben wir diesen Ausflug überhaupt gebucht?«, fragte Torsten, der nicht die geringste Lust hatte, das Schiff zu verlassen.
»Das hat Petra für uns übernommen, wie auch die übrigen Ausflüge. Bei zwei Dritteln davon ist übrigens auch unser spezielles Pärchen mit dabei, den Rest machen wir zur Tarnung mit.«
»Also ist Petra daran schuld, dass wir in dieses Wetter hinausmüssen.« Torsten zeigte missmutig auf das runde Fenster, vor dem dicke Schneeflocken tanzten.
»Frische Luft ist gesund«, konterte Henriette, holte ihren dick gefütterten Parka aus dem Schrank und zog ihre Winterschuhe an.
Torsten wäre gerne länger vor seinem Laptop sitzen geblieben, um noch einige Daten nachzuprüfen. Doch er musste Henriette recht geben. Wenn sie erfolgreich sein wollten, war es unabdingbar, ihre Tarnung als spießiges deutsches Touristenpaar aufrechtzuerhalten.
»Kommen unsere beiden Freunde heute ebenfalls mit?«, fragte er Henriette.
»Das werden wir sehen, wenn es so weit ist. Angemeldet haben sie sich jedenfalls. Jetzt solltest du dich beeilen. Das Schiff legt gleich an.«
Widerwillig schaltete Torsten seinen Laptop wieder auf Touristenmodus um, klappte ihn zu und stellte ihn so hin, dass die eingebaute Kamera den größten Teil der Kabine samt Eingangstür erfasste. Danach kleidete auch er sich um und begleitete Henriette nach draußen.
»Lächeln! Wir freuen uns auf diesen Ausflug«, raunte sie ihm zu.
»Na, ich bin ja gespannt, was wir zu sehen bekommen«, antwortete Torsten ganz wie ein gegen seinen Willen mitgeschleppter Ehemann.
Kurz darauf stellte er sich am Ende der langen Schlange an, die sich vor der Gangway gebildet hatte. Diese war bereits offen, doch die Stewardess am Ausgang wartete noch, bis alles festgezurrt war. Dann winkte sie die ersten Passagiere heran und bat sie um ihre Bordkarten, um diese an das Lesegerät zu halten.
Es dauerte ein wenig, bis Henriette und Torsten an der Reihe waren. Torsten stellte sich dabei absichtlich etwas ungeschickt an und hörte Gillmann hinter sich schimpfen.
»Wenn man weiß, dass man die Bordkarte braucht, steckt man sie doch nicht in die Hemdtasche, wenn man einen Pullover und einen Parka darüber anzieht!«
»Tut mir leid, aber ich habe nicht daran gedacht, dass ich dieses Ding vorzeigen muss«, entschuldigte Torsten sich und verließ grinsend das Schiff.
Wallström, der Tourismusoffizier der Trollfjord, stand zusammen mit seiner Assistentin draußen vor dem Schiff und sammelte seine Schäfchen, um sie für die gebuchten Ausflüge einzuteilen. Zuerst wurden die beiden Busse beladen, die länger unterwegs sein würden. Danach wandte er sich den etwa zwanzig Gästen zu, die mit Henriette und Torsten zusammen warteten. Gillmann war auch darunter, ebenso das Ehepaar Dai und Wu.
Torsten drehte sich einmal um die Achse, um nach Nastja Paragina und Espen Terjesen Ausschau zu halten, doch die hatten sich zwar für diesen Ausflug angemeldet, machten ihn aber nicht mit.
Sie spielen mit uns wie die Katze mit der Maus, durchfuhr es Torsten. Wahrscheinlich befanden die beiden sich noch in ihrer Suite und amüsierten sich köstlich über die Agenten, die jetzt durch die Kälte und den Schnee stapfen mussten.
Da er sich seinen Ärger nicht anmerken lassen durfte, hakte er sich bei Henriette unter und folgte der Führerin, die sie durch die Innenstadt von Ålesund leiten sollte. Aufgrund der vielfältigen Nationen, aus denen sich die Passagiere der Trollfjord zusammensetzten, hielt sie ihren Vortrag nicht nur auf Norwegisch, Englisch und Deutsch, sondern wechselte auch in die russische, französische und italienische Sprache über.
Der immer stärker werdende Schneefall behinderte die Sicht. Außerdem fegte ein eisiger Wind durch die Straßen, und daher wünschten sich etliche Passagiere in die warmen Salons und Kabinen der Trollfjord zurück. Das Wetter hinderte Gillmann jedoch nicht, an allen unmöglichen Ecken ebenso unmögliche Fragen zu stellen. »Steht in dieser Stadt wirklich ein Denkmal für Kaiser Wilhelm II.?«, fragte er eben und schüttelte verwundert den Kopf. »Mein Großvater hat den Kerl immer einen elenden Davonläufer genannt.«
So ging es geraume Zeit. Torsten bewunderte die Geduld der Reiseleiterin, die der Gruppe berichtete, dass der deutsche Kaiser Wilhelm II. nach dem verheerenden Stadtbrand im Jahre 1904 umgehend mehrere Schiffe der Reichsmarine mit Hilfsgütern nach Ålesund geschickt hätte. Sie beschrieb auch den Wiederaufbau der Stadt im Sinne des Jugendstils, der dem heutigen Stadtzentrum sein unverwechselbares Gesicht verliehen und es zu einem Juwel an der norwegischen Küste gemacht hat.
Torstens Interesse galt jedoch weniger den touristischen Ausführungen als vielmehr ihren Mitreisenden. Die meisten mochten harmlose Touristen sein, doch schätzte er, dass auch ein paar Agenten darunter sein mussten. Um diese herauszufiltern, brauchte man jedoch große Erfahrung. Selbst er wusste nicht, wie er die Anwesenden einordnen sollte. Der Einzige, bei dem er sicher war, dass er keinem Geheimdienst angehörte, war Gillmann. Dafür benahm der Mann sich einfach zu auffällig. Auch das chinesische Ehepaar Dai und Wu glaubte er ausschließen zu können. Der Mann fotografierte voller Begeisterung die Jugendstilfassaden der Stadt, und seine Frau machte ihn auf immer neue Motive aufmerksam. Beide lächelten so selig, als hätte sich ihnen ein Lebenstraum erfüllt.
Obwohl Henriette Häuser und Sehenswürdigkeiten scheinbar ebenso interessiert betrachtete wie die Chinesen, behielt auch sie die Mitreisenden im Auge. Da sie über ein ausgezeichnetes Gehör und Kenntnisse in mehreren Fremdsprachen verfügte, konnte sie die leisen Gespräche etlicher Passagiere zumindest teilweise verstehen und strich immer mehr Leute von der Liste potenzieller Agenten.
Sie war darin so gut, dass Torsten, als sie wieder auf die Trollfjord zurückkehrten, ein wenig neidisch war.
Dennoch lobte er sie. »Wirklich nicht schlecht! Du solltest die Informationen eintippen und Petra schicken, damit sie sie nachprüfen kann. Aber bis wir auf diese Weise alle Passagiere an Bord gecheckt haben, dürfte die Reise vorbei sein.«
Henriette nahm den Laptop und setzte sich auf ihr Bett. Als Erstes sah sie sich die Aufnahmen der automatischen Kamera im Schnelldurchlauf an und zwinkerte Torsten erleichtert zu. »Während unserer Abwesenheit ist nur die Putzfrau hereingekommen, und die hat ihren Job mit Hochgeschwindigkeit erledigt.«
»Es ist ärgerlich, dass wir nur ein Gerät haben. Aber Petra meinte, es wäre zu auffällig, wenn du als Ehefrau ebenfalls einen Laptop bei dir hättest«, knurrte Torsten, dem es wenig passte, zusehen zu müssen, wie seine Kollegin arbeitete.
»Tarnung ist eben alles«, antwortete Henriette und sah kurz auf. »Es sind zwei Mails gekommen, eine von Wagner und eine von Petra.«
»Lass sehen!« Torsten blickte ihr über die Schulter, wurde jedoch enttäuscht, denn wirklich Neues hatten die beiden nicht herausgefunden. So gab es weder ein Bild von Manolo Valdez noch von Abu Fuad. Und was Red Dragon betraf, so konnte dieser auch eine Legende sein, die der chinesische Geheimdienst verbreitet hatte, um die Konkurrenz zu verwirren.
Missmutig überließ Torsten Henriette den Laptop und kniete sich auf die Couch, um durch das Fenster hinauszusehen. Die Trollfjord hatte Ålesund wieder verlassen und zog ihre Bahn zwischen schneebedeckten Schären. Es schneite noch immer, und vom Osten her zog die frühe nordische Dämmerung herauf.
»Wegen dieser komischen Stadtbesichtigung sind wir heute nicht zum Mittagessen gekommen. Ich habe Hunger und schlage vor, dass wir nach unten in die Cafeteria gehen, sobald du mit deinem Bericht fertig bist«, schlug Torsten vor.
»Eine gute Idee. Mein Magen hängt auch schon auf Halbmast!« Henriette beendete ihre Aufstellung und schickte die Mail los. Mit einer gewissen Anspannung sah sie zu, wie lange das Gerät brauchte, bis es Vollzug meldete.
»Irgendwas ist mit dem Kasten. Es dauert viel zu lange, bis eine Mail verschickt ist. Dabei habe ich gar keinen Roman geschrieben«, beschwerte sie sich bei Torsten.
Er starrte den Laptop an, als hätte das Gerät ihm eben den Vogel gezeigt, und stieß ein kurzes Knurren aus. »Wir teilen es Petra noch mal mit. Wahrscheinlich hat sie noch keinen neuen Weg für unsere Verbindung gefunden. Aber das sollte sie sehr bald tun.«
Henriette sah es als Aufforderung an, eine weitere Mail an Petra zu schicken. Daher dauerte es weitere Minuten, bevor die beiden die Kabine verlassen konnten. Draußen verwandelten sie sich wieder in das Touristenehepaar auf Erlebnissafari und fuhren in Deck fünf hinab, um sich dort eine Zwischenmahlzeit zu gönnen.
ACHT
Um das Café herum war es so voll, dass Torsten am liebsten wieder umgedreht wäre. Doch Henriette steuerte bereits auf zwei leere Plätze am Fenster zu, und so stellte Torsten sich notgedrungen in die Schlange vor der Theke. Die Frau, die bediente, legte eine skandinavische Ruhe an den Tag, daher dauerte es eine Weile, bis Torsten endlich zwei Sandwiches in Händen hielt.
Leichter war es, für sich Kaffee und für Henriette Tee zu besorgen. Da sie das gegen einen gewissen Aufpreis angebotene Kaffeeabonnement genommen hatten, musste er nur mit ihren Tassen an den Automaten gehen und sie dort füllen. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit neben Henriette Platz nahm und in sein Sandwich biss, konnte er schon wieder grinsen.
»Hier geht es zu wie auf dem Stachus«, sagte er mit vollem Mund.
Henriette nahm den Teebeutel aus ihrer Tasse und legte ihn auf ihren Teller, während sie in die Runde schaute. Was immer sie Torsten hatte sagen wollen, unterblieb, denn direkt am Nebentisch entdeckte sie zwei Personen, die sie hier niemals vermutet hätte.
Um Torsten auf Nastja Paragina und Espen Terjesen aufmerksam zu machen, stieß sie ihn mit der Fußspitze an und blinzelte zweimal. Zwar begriff er die Botschaft, dennoch dauerte es einige Augenblicke, bis auch er das Paar entdeckte, das diesen Aufzug der Gladiatoren, wie er die Anwesenheit der Geheimdienste für sich nannte, verursacht hatte.
Nastja Paragina saß gemütlich auf ihrem Sessel, hielt eine Kaffeetasse in der Hand und lachte gerade über eine Bemerkung ihres Begleiters. Die beiden traten so unbefangen auf, dass Torsten ihnen insgeheim Beifall zollte. Wer das Paar sah, wäre niemals darauf gekommen, dass es zu den momentan am intensivsten überwachten Personen der Welt gehörte.
Wichtiger als die Paragina und ihr Lover waren für Torsten jedoch die Gäste, die die zwei im Auge behielten. Als Ersten entdeckte er John Thornton. Dieser saß unter dem großen Fernsehbildschirm, ohne sich für das Sportprogramm, das dort gezeigt wurde, zu interessieren. Für einige Augenblicke kreuzten sich ihre Blicke, und Torsten las Misstrauen und eine gewisse Sorge bei John. Zwar wusste er noch nicht, weshalb sein alter Bekannter auf der Trollfjord weilte, doch es hatte sicher etwas mit der Paragina und Espen Terjesen zu tun.
Ohne sich anstrengen zu müssen, machte Torsten dann Larry Frazer aus. Dieser lehnte an der dem Fernseher gegenüberliegenden Wand und behielt vor allem Thornton im Auge. Torsten hatte Frazer bereits in Afghanistan als ehrgeizigen Mann eingestuft, dem es vor allem um den eigenen Erfolg ging. Wie es aussah, hatte dieser sich nicht geändert. Seltsamerweise schien Frazer sich nicht im Geringsten für Nastja Paragina zu interessieren, obwohl die Frau der einzige Mensch auf Erden war, der noch über die Forschungsergebnisse des Methanprojekts verfügte.
Hatte der Mann Angst vor Thornton, weil er diesen in Afghanistan eiskalt hätte draufgehen lassen?, fragte Torsten sich, verneinte es aber im nächsten Moment. Stattdessen erinnerte er sich, dass Thornton ein erfahrener Geheimdienstmann gewesen war und wahrscheinlich mehr gegnerische Agenten kannte als jeder andere Amerikaner.
Bei dem Gedanken nickte Torsten unbewusst. Offensichtlich ging es Frazer nicht mehr allein um Nastja Paragina. Da dieser nun wusste, dass einige ihrer alten Gegner an Bord waren, hatte er Blut gerochen und wollte alte Rechnungen begleichen. Torsten hatte befürchtet, dass es so kommen würde, und konnte nur hoffen, dass die Geheimdienstler die Nerven behielten und nicht in der Gegend herumballerten. Doch für jemand wie Frazer, der in Afghanistan eine Drohne in ein von mehr als zwanzig Leuten bewohntes Haus gelenkt hatte, um einen einzigen Terrorverdächtigen zu erwischen, waren drei oder vier unbeteiligte Passagiere, die mit draufgingen, kaum mehr als ein Kollateralschaden.
»Ich möchte nicht dein Feind sein«, wisperte Henriette ihm eben ins Ohr. Sie tat dabei so, als knabberte sie an seinem Ohrläppchen.
»Warum, was ist los?«, fragte Torsten verwirrt.
»Meine Teetasse ist leer!«, antwortete Henriette laut und setzte fast unhörbar hinzu: »Du ziehst ein Gesicht, als wolltest du alle hier fressen – und zwar ohne Pfeffer und Salz!«
Torsten konnte nicht anders, er musste lachen. Gleichzeitig zwinkerte er Henriette verschwörerisch zu. »Ich verspreche dir, bei unserer nächsten Reise auf breitere Betten zu achten. Die in unserer jetzigen Kabine sind sehr beziehungsunfreundlich.«
Er hätte es nicht sagen sollen, denn Gillmann, der in ihrer Nähe einen Platz gefunden hatte, mischte sich ein. »Die Betten hier sind wirklich eine Katastrophe. Wenn ich da am meine letzte Kreuzfahrt auf der Oriental Queen denke. Das waren richtige Betten und die Kabine mindestens um die Hälfte größer. Hier kommt man sich vor wie in einer Hundehütte.«
»Schatzimausi, meine Teetasse ist leer«, säuselte Henriette und gab Torsten damit die Gelegenheit, Gillmanns Kommentaren fürs Erste zu entgehen.
»Holen Sie Kaffee?«, fragte da auf einmal Nastja Paragina auf Englisch.
Torsten drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Nein, Tee für meine Frau!«
»Könnten Sie so nett sein und mir einen Kaffee mitbringen? Espen hat vorhin einiges verschüttet, deshalb lasse ich ihn nicht noch einmal gehen.«
»Gerne«, antwortete Torsten und nahm Nastjas Tasse entgegen. Während er die Cafeteria betrat, fragte er sich, welches Spiel die Wissenschaftlerin trieb.
Der schlimmste Andrang war vorüber, und so kam Torsten schon bald mit dem Gewünschten zurück. »Wie Sie sehen, habe ich nichts verschüttet«, erklärte er Nastja, stellte ihr die Tasse hin und holte aus seiner Hosentasche mehrere Milchdöschen und Zuckerstücke.
»Ich wusste nicht, was Sie benötigen, da habe ich mir gedacht, ich nehme von allem genug mit.« Er nickte Nastja noch einmal kurz zu und ging dann zu seinem Tisch.
Henriette empfing ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Schatzimausi, ich mag es gar nicht, wenn du mit anderen Frauen flirtest!«
Einesteils hätte Torsten Henriette für diese Bemerkung erwürgen können, andererseits klatschte er ihr insgeheim Beifall dafür, wie perfekt sie die leicht hysterische Ehefrau spielte.
»Aber Kleines, ich habe der Dame doch nur Kaffee mitgebracht! Es wäre unhöflich gewesen, ihre Bitte abzulehnen«, verteidigte er sich und sah aus den Augenwinkeln, wie Gillmann sich an die Stirn tippte. Der Kerl schien ihn für einen argen Pantoffelhelden zu halten. Um nicht erneut von dem Mann angequatscht zu werden, nahm Torsten seine Tasse und holte sich selbst Kaffee.
Als er wieder zu Henriette zurückkam, küsste diese ihn auf die Wange. »Der Mann dort vorne in der Nähe des Schiffsmodells lässt Thornton ebenfalls nicht aus den Augen«, flüsterte sie.
Also hatte Henriette die seltsame Verbindung zwischen Frazer und Thornton ebenfalls bemerkt, dachte Torsten. Wie beiläufig drehte er sich um. Der Mann sah aus, wie sich die Drehbuchautoren schlechter Agentenfilme einen südamerikanischen Berufsrevolutionär vorstellten. Mit seinem olivfarbigen Räuberzivil, dem stattlichen Vollbart, der dunklen Sonnenbrille und der gebräunten Haut wirkte er inmitten der blassen Europäer wie ein vitaler Farbtupfer an Bord. In der Hand hielt er eine Zeitschrift in spanischer Sprache, ohne darin zu lesen.
Im ersten Augenblick wollte Torsten sich schon abwenden, denn so auffällig benahm sich kein halbwegs guter Agent. Dann aber fragte er sich, ob diese Tarnung womöglich bewusst so gewählt worden war, und schoss unbemerkt mehrere Bilder mit seiner getarnten Kamera. Auch Thornton, Frazer, Nastja Paragina und Espen Terjesen bildete er ab und sagte sich, dass er dringend mit Petra und Wagner Kontakt aufnehmen musste.
Trotz seiner Ungeduld trank Torsten seinen Kaffee in aller Ruhe aus, nahm dann beide Tassen und sah Henriette auffordernd an. »Was würdest du jetzt gerne unternehmen?«
»Ich möchte mir die Speisekarte für heute Abend ansehen und dann oben auf Deck acht schauen, ob ein Internetplatz frei ist. Ich würde gerne ein paar Mails schreiben. Du lässt mich ja nie an deinen Laptop.«
Henriette lächelte zuckersüß und ging langsam auf die Tür des Speisesaals zu. Dieser war um die Zeit noch verschlossen, doch die Menüfolge für den Abend hing bereits aus, und so konnte sie sehen, dass es an diesem Tag Rinderfilet geben würde. Als sie sich umdrehte und zum Lift ging, begegnete ihr Jason Wickley.
Dieser lächelte sie freudig an. »Sie sind heute allein unterwegs?«
»Warum nicht?«, antwortete Henriette und wollte sich an dem Mann vorbeischieben. Doch der fasste nach ihrem Arm. »Ich möchte Sie zu einem Drink einladen!«
Die Anmache war Henriette dann doch zu plump. »Ich habe kein Interesse«, erklärte sie und befreite sich mit einem kurzen Ruck. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Wickley Anstalten machte, ihr zu folgen, dabei aber nicht achtgab und mit einer anderen Passagierin zusammenstieß.
»Können Sie nicht aufpassen!«, schalt diese ihn mit einem kaum merklichen russischen Akzent.
Wickley sah Henriette nach, die bereits den Aufzug erreicht hatte, und wandte sich dann an Lidija Kresczinska. »Tut mir leid! Darf ich Sie zur Entschädigung zu einem Drink einladen?«
Die Russin musterte ihn kurz und nickte. »Sehr gerne! Wissen Sie, ich reise allein, und da ist es einem manchmal langweilig.«
Da sich in dem Moment der Lift in Bewegung setzte, hörte Henriette seine Antwort nicht mehr. Oben auf Deck acht setzte sie sich an den Internetcomputer und sah auf einer Bildschirmmeldung, dass sie sich das Passwort für das Gerät an der Rezeption holen musste. Sie wollte schon aufgeben, als der Touristenoffizier Wallström um die Ecke schaute, ihr Dilemma erkannte und ihr einen kleinen Zettel reichte.
»Hier, damit können Sie eine halbe Stunde im Internet surfen. Leider wird das schon bald nicht mehr möglich sein.«
»Warum?«, fragte Henriette.
»Wegen der Erdachse! Die ist ja nicht gerade, sonst gäbe es hier im Norden weder die Mittsommernacht noch die lange Dunkelheit im Winter. Derzeit befindet sich das Polargebiet hinter dem Erdhorizont, und wir können die Satellitensignale nicht mehr auffangen.« Angesichts dessen, wie flüssig er den Vortrag herunterbetete, schien Wallström ihn schon oft gehalten zu haben.
Henriette erinnerte sich daran, dass Petra ihnen Ähnliches erklärt hatte, und hoffte, dass ihre Kollegin einen Weg fand, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Zunächst aber bedankte sie sich bei dem Touristenoffizier für den Zettel, gab das Passwort ein und sah sich dann wie eine gelangweilte Touristin die Internetseiten verschiedener Modemagazine an. In Gedanken war sie jedoch ganz woanders, und sie fragte sich, wie sie und Torsten einen Auftrag zu Ende führen sollten, bei dem sie nicht wussten, wer Freund und wer Feind war.
NEUN
Kurz nach Henriette und Torsten verließen auch Nastja Paragina und Espen Terjesen das Café. Auf ihrem Weg zum Lift trafen sie auf Lidija Kresczinska und Jason Wickley, die ebenfalls nach oben fuhren. Auf Deck acht angekommen, wollte Nastja aussteigen, stieß aber dabei mit Lidija zusammen, die ebenfalls den Lift verlassen wollte.
»Oh, entschuldigen Sie vielmals!«, rief diese und wich wieder in den Aufzug zurück.
»Keine Ursache!«, antwortete Nastja im gleichen Tonfall und schritt mit hocherhobenem Kopf auf den Flur hinaus. Espen Terjesen folgte ihr grinsend, sagte aber nichts. In ihrer Suite angekommen, holte er einen lederüberzogenen Koffer aus dem Schrank, öffnete ihn und warf einen zufriedenen Blick auf die kompliziert aussehenden elektronischen Geräte, die dieser enthielt. Nur mit Gesten forderte er Nastja auf, ihr Kleid auszuziehen, und stopfte es in den Koffer. Danach betätigte er mehrere Buttons auf einem kleinen Display und steckte sich einen kleinen Kopfhörer ins Ohr. Als kurz darauf ein leiser Pfeiflaut ertönte, nickte er grinsend.
»Was meinst du, mein Schatz, wollen wir die Zeit bis zum Abendessen ausnutzen?«, fragte er und änderte ein paar Einstellungen.
»Aber ja!«, antwortete Nastja und ließ den Koffer nicht aus den Augen. Erst als Terjesen diesen geschlossen hatte und wieder in den Schrank zurücksteckte, atmete sie auf.
»Es geht also los!«
»Es ist schon lange losgegangen. Doch das war der erste Versuch, dir einen Mikrosender anzuhängen. Deswegen sollten wir den Leuten, die jetzt ihre Ohren aufsperren, einiges bieten.« Terjesen lachte kurz und setzte sich in einen Sessel.
»Wie meinst du das?«, fragte Nastja neugierig.
»Ich habe ein Computerprogramm eingestellt, der ihnen einen heißen Porno vorspielt. Da das Programm unsere Stimmen ausgezeichnet imitieren kann, werden die Zuhörer glauben, wir wären es, und wahrscheinlich wegen meiner angeblichen Potenz neidisch werden.«
»Falls es Männer sind«, schränkte Nastja spöttisch ein.
»Wenn Frauen mithören, werden sie auch neidisch werden – und zwar auf dich, weil du einen so ausdauernden Lover hast.« Espen Terjesen grinste, wurde dann aber rasch ernst.
»Wir werden in der kommenden Nacht den nächsten Zug machen, damit unsere Freunde noch unruhiger werden. Sonst kümmern sie sich zu sehr um uns.«
»Du willst es wirklich durchziehen?« Nastjas Stimme klang etwas gedämpft.
»Selbstverständlich! Nachdem irgend so ein Idiot dich fotografiert hat und nun alle Geheimdienste wissen, dass du nicht mit jener Maschine über dem Eismeer abgestürzt bist, müssen wir Nägel mit Köpfen machen.«
»Das verstehe ich, aber …« Nastja brach mitten im Satz ab und zuckte mit den Schultern. »Mir wäre es lieber gewesen, wir müssten es nicht tun.«
»Mir auch«, antwortete Espen Terjesen, doch seine funkelnden Augen verrieten etwas anderes. Er genoss es, die Agenten auf der Trollfjord an der Nase herumzuführen, denn er wusste sich im Besitz einiger Asse, von denen niemand etwas ahnte. Auch Nastja war nicht in alles eingeweiht, doch sie würde tun, was notwendig war. Dies hatte sie auch schon damals in ihrer Forschungsstation gemacht.
Espen Terjesen schaltete seinen Laptop ein und rief mehrere Files auf. Einige Minuten lang las er die Berichte, in denen ihm Informanten mögliche Geheimdienstler an Bord beschrieben. Er hatte viel Geld dafür bezahlt, doch das Ergebnis war den Aufwand wert.
»Wie wäre es mit Thornton? Der Kerl ist für die Bekämpfung der Betriebsspionage bei unserer größten Konkurrenz verantwortlich. Nein, lieber nicht, das könnte Rückschlüsse auf International Energies zulassen, zumal wir von seinem Konzern für einige Hackerangriffe verantwortlich gemacht werden.«
Es war mehr ein Selbstgespräch, das Terjesen führte. Die Russin trat hinter ihn und blickte über seine Schultern hinweg auf den Bildschirm.
»Du hast ja einige heiße Daten«, sagte sie anerkennend.
»Sag bloß, du unterschätzt mich immer noch, obwohl du mich schon so lange kennst!«
Espen Terjesen lächelte zufrieden. Sein Image als Partyhengst war sorgfältig aufgebaut worden, um genau diesen Effekt zu erzielen. Obwohl bekannt war, dass sein Bruder ihn zum Sicherheitschef von International Energies gemacht hatte, nahmen ihn weder die Konkurrenzunternehmen noch die Geheimdienste wirklich ernst.
»Du solltest wissen, dass ich nicht nur der Frühstücksdirektor unserer Firma bin«, tadelte er Nastja. »Denke daran, wie ich dein erstes Untertauchen vorbereitet und durchgeführt habe.«
Nastja nickte nachdenklich. »Das habe ich nicht vergessen, aber ich hatte angenommen, mit solch harten Aktionen wäre es vorbei.«
»Die Sache hier ist absolut notwendig. Danach wird kein Mensch noch einmal nach Nastja Paragina fragen«, erklärte Espen Terjesen selbstbewusst. »Wir werden dir eine neue Identität verschaffen, mit der du auf dem Roten Platz in Moskau und auf dem Times Square in New York herumlaufen kannst, ohne dass die eigene Schwester dich erkennt.«
»Ich habe keine Schwester«, wandte Nastja ein.
»Umso besser!« Terjesen rief die nächste Datei auf. »Wie wäre es mit Lidija Kresczinska? Nein, lieber nicht. Die hat sich an Bjarne herangemacht, und ich möchte nicht, dass er in den Fokus der Behörden kommt.«
Noch während er überlegte, ob er nicht einfach einen Namen aus der Passagierliste heraussuchen sollte, erschien der Name Larry Frazer auf dem Bildschirm.
Terjesen las die Informationen über den Mann durch und nickte zufrieden. »Der ist es! Amerikanischer Heeresgeheimdienst, etliche hohe Auszeichnungen, gilt als ehrgeizig und soll wenig Skrupel haben. Da trifft es bestimmt nicht den Falschen. Was meinst du, Nastja?«
Die Frage war rein rhetorischer Natur, das spürte die Frau. Dennoch beugte sie sich vor, um den Eintrag über Larry Frazer zu lesen, und nickte schließlich.
»Er ist auf jeden Fall geeigneter als die anderen, die du genannt hast!«
»Sagte ich doch.« Espen Terjesen griff zum Handy. Als er kurz darauf mit Bjarne Aurland sprach, hätte niemand vermuten können, dass seine Bestellung einer Flasche Champagner das Todesurteil für einen Mann an Bord bedeutete.
ZEHN
Henriettes Nachricht, dass beim Überqueren des Polarkreises die Satellitenverbindung zu Petra und Wagner abbrechen könnte, hatte Torsten bereits befürchtet.
»Hoffentlich fällt Petra etwas ein. Sie wollte doch über einen anderen geostationären Satelliten gehen«, antwortete er mit einem Stoßseufzer und schaltete den Laptop ein.
Seine Sorgen wuchsen, als kurz darauf Petras Gesicht auf dem Bildschirm erschien. Ihre Haut war fleckig, um die Augen lagen dunkle Ringe, und sie atmete so schwer, als hätte sie eben einen Zehntausendmeterlauf hinter sich.
»Hallo Petra, wie geht es dir?«, fragte er erschrocken.
»Wie soll es einem schwangeren Walross schon gehen?«, gab Petra mit dem für sie typischen Humor zurück.
»Mach bitte nicht schlapp!«, bat Torsten sie und machte sie auf die Übermittlungsschwierigkeiten der verwendeten Satellitenleitung aufmerksam.
Petra winkte lässig ab. »Keine Sorge, das kriegen wir schon hin«, erklärte sie und wechselte das Thema. »Habt ihr was Neues?«
»Wir schicken dir eine Menge Fotos sowie mehrere Berichte, die Henriette und ich erstellt haben. Danach gehen wir zum Abendessen.«
»Rede nicht von Essen, Torsten!«, fauchte Petra ihn an. »Ich habe Hunger wie ein Wolf, aber meine Ärztin hat mir alles verboten, was schmeckt. Jetzt kaue ich auf langweiligen Gemüseburgern herum und bekomme statt Wurstsemmeln Knäckebrot mit Frischkäse serviert!«
Torsten machte nicht den Fehler, darauf einzugehen, sonst hätte er sich Petras Gejammer noch eine Weile anhören müssen. So aber fasste sie sich nach kurzer Zeit, nuckelte an dem Möhrensaft, den Wagner ihr zwischendurch hinstellte, und begann mit ihren Berechnungen.
Währenddessen schickte Torsten ihr alle Informationen, die Henriette und er bisher gesammelt hatten, und wartete gespannt auf Antwort.
Zwei Karottensäfte und drei Frischkäseknäckebrote später war Petra so weit. »Eines ist eigenartig«, erklärte sie. »Die meisten Geheimdienste haben zwar Teams auf die Trollfjord geschickt, aber meist bestehen diese aus eher nachrangigen Chargen. Bei den Amis allerdings ist mit Anthony Rumble sogar der Geheimdienstkoordinator des Präsidenten an Bord, dazu der Chef des Geheimdienstes der Army und dessen Spitzenmann Larry Frazer, den du ja schon erkannt hast.
Die Russen haben zwei Teams geschickt, ein größeres aus eher nachrangigen Leuten, von denen ich annehme, dass sie von dem kleineren zweiten Team ablenken sollen. Von diesem habe ich bis jetzt zwei Namen herausfinden können. Einmal ist dies eine Frau, die unter dem Tarnnamen Lidija Kresczinska an Bord gekommen ist, sowie Alexej Schigulin, die beide zum Geheimdienst des Innenministeriums gehören.«
»Waren die nicht vor zwei Jahren in die Entführung eines geflohenen Systemkritikers aus London verwickelt?«, fragte Torsten.
»Genau! Wir nehmen an, dass sie Nastja Paragina überwachen und irgendwann versuchen sollen, die Wissenschaftlerin zu entführen. In Murmansk liegen mehrere russische Schiffe, die jederzeit auslaufen können. Aber auch die Amis kleckern nicht, sondern klotzen. Sie haben ein U-Boot und zwei Fregatten nach Nordnorwegen geschickt, angeblich zu einem Flottenbesuch. Für euch heißt das, die Augen aufzuhalten. Paraginas Forschungsergebnisse könnten jedem Energiekonzern für die nächsten Jahrzehnte eine Monopolstellung und damit sagenhafte Einnahmen bringen.«
»Warum glaubst du, hält Nastja Paragina sich auf diesem Schiff auf?«, fragte Torsten, der sich über diese Frage nach wie vor den Kopf zerbrach.
»Da musst du sie selbst fragen«, riet Petra mit einem gewissen Spott. »Ich weiß es nicht! Um das herauszubringen, fehlen mir zu viele Puzzleteile.«
»Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.«
»Ich kenne mich mit Computern aus und kann dir sagen, was dieser tut und denkt. Aber ich bin keine Psychologin.« Petra schüttelte den Kopf und sah dann traurig auf den leeren Teller. »Was würde ich jetzt für eine Pizza geben – oder wenigstens für einen Hamburger.«
Torsten und Henriette sahen, wie Wagner ins Bild griff und den Teller wegnahm. Kurz darauf stellte er ihn mit zwei weiteren Knäckebrotscheiben, einem zerteilten Apfel, mehreren sauren Gurken und einem Stückchen Fisch wieder hin. Petra griff wahllos zu, steckte sich gleichzeitig eine der Gurken und ein Apfelstück in den Mund und begann darauf herumzukauen.
»Ich sehe zu, was ich aus unseren bisherigen Informationen herausholen kann. Vielleicht finde ich doch einen Anhaltspunkt, der euch weiterhilft«, sagte sie mit vollem Mund.
»Danke«, antwortete Torsten.
Unterdessen blickte Henriette auf die Uhr. »Wir sollten uns fertigmachen. Es ist gleich Zeit zum Abendessen!«
Petra verdrehte die Augen. »Ihr seid Sadisten, alle beide!«
Mit dieser Feststellung unterbrach sie die Verbindung, und Torsten saß vor einem dunkel werdenden Bildschirm.
Während er das Betriebssystem auf die harmlose Version umschaltete, stieß Henriette einen Laut aus, den Torsten nicht gleich zu deuten wusste. Dann legte sie los: »Du weißt, ich mag Petra! Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie es mit ihrer Schwangerschaft übertreibt, nur um von uns und von Wagner Streicheleinheiten zu bekommen. Dabei wäre es so wichtig, dass sie sich hinter ihren Computer klemmt und uns Informationen liefert.«
»Weißt du, wie sich eine schwangere Frau fühlt? Hast du vielleicht schon einmal ein Kind ausgetragen?« Torsten erschrak selbst beim wütenden Klang seiner Stimme und entschuldigte sich sofort. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht anfahren. Aber Petra tut doch alles, was in ihrer Macht steht. Eine andere Frau in ihrem Zustand würde schon längst zu Hause oder in einer Klinik herumliegen. Sie hingegen schleppt sich noch jeden Tag in den Laden und versucht aus einer verdammt geringen Menge an Fakten möglichst viel herauszuholen.«
»Du hast ja recht! Das war wirklich nicht fair.« Verkrampft lächelnd sah Henriette Torsten an. »Wir sollten nach unten gehen. Gleich wird das Abendessen serviert, und wenn wir zu spät kommen, gibt es vielleicht nichts mehr.«
»Das sollen die sich trauen! In dem Fall hole ich mir den Koch aus der Küche.« Torsten grinste breit und begann sich umzuziehen. »Übrigens kannst du mich am Tisch wieder Schatzimausi nennen«, fügte er hinzu und brachte Henriette damit zum Lachen.
»Unser Schnuckelpaar habe ich ganz vergessen. Es ist wirklich komisch, von der Agentin zur Touristin umzuschalten und umgekehrt.«
»Es ist unser Job, und du weißt, dass wir ihn gut machen müssen! Ich bin so weit.«
»Ich noch nicht«, rief Henriette aus und schlüpfte rasch in eine Weste. Ein kleines Schmuckstück vollendete ihre Garderobe, dann sah sie Torsten auffordernd an. »Wir können!«
ELF
Als Henriette und Torsten den Speisesaal betraten, saßen die anderen bereits am Tisch und bestellten gerade die Getränke. Das Ehepaar Brünger war sich wieder einmal nicht einig, was sie trinken sollten. Während die junge Frau unbedingt einen speziellen Wein haben wollte, versuchte ihr Mann, ihr Orangensaft schmackhaft zu machen.
»Ich will aber diesen Wein!«, maulte Daisy Brünger.
Ihr Mann beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. »Der Wein ist zu teuer. Wir haben nicht so viel Geld dabei.«
Bis auf Henriette konnte es keiner verstehen. Aber Daisys Antwort war unüberhörbar. »Ich will nicht darunter leiden müssen, dass du es bis jetzt nicht geschafft hast, ein bedeutender Schriftsteller zu werden!«
Geknickt gab Viktor Brünger nach.
Wie es aussah, liebt er seine Frau wirklich, oder er ist einfach konfliktscheu, sagte Henriette sich.
In dem Moment trat der Kellner neben sie. »Was wünschen Sie zu trinken?«
»Eine Flasche Wasser und ein Glas alkoholfreien Rotwein«, antwortete sie freundlich.
Torsten bestellte sich ein alkoholfreies Bier und lehnte sich scheinbar entspannt zurück. Das war die beste Möglichkeit, einen großen Teil des Saales im Auge zu behalten.
Ein leises Räuspern von Henriette machte ihn darauf aufmerksam, dass sich etwas tat. Als er den Kopf etwas drehte, sah er Nastja Paragina und Espen Terjesen hereinkommen. Ohne auf die anderen Gäste zu achten, schritten die beiden auf den abgetrennten Teil des Speisesaals zu und nahmen an ihrem Tisch Platz. Da die Tür offen stand, konnten bis auf Frau Dai und Herrn Wu alle an Torstens Tisch die beiden beobachten. Doch auch die Chinesen wandten sich kurz um und warfen dem Paar einen neugierigen Blick zu.
Daisy Brünger starrte Nastja, die mit ausgesuchter Eleganz gekleidet war, neidisch an und wandte sich dann an ihren Ehemann. »Kannst du mir sagen, weshalb diese Frau ihre gesamte Garderobe mitnehmen konnte, während ich bei jedem Kilo Übergepäck sparen musste?«
Nun schien Brünger das Gemeckere seiner Frau doch auf die Nerven zu gehen. »Vielleicht hat sie einen reichen Vater, der ihr einen First-Class-Flug mit allem Übergepäck bezahlt hat!«
Diese begriff die Anspielung auf ihren Vater sehr wohl, der ihr und ihrem Mann aus Ärger über die Heirat jede Unterstützung versagte, und zischte giftig. Zum Glück wurden gerade die Getränke gebracht, und der exquisite Rotwein ließ Daisy für eine Weile verstummen.
Henriette saß etwas günstiger als Torsten und konnte Nastja und deren Begleiter ungenierter betrachten, als es ihm möglich gewesen wäre. Auch an diesem Tag wirkten die zwei wie ein Liebespaar aus gediegenen Kreisen, doch um den Mund der Frau lag ein herber Zug, der sich den ganzen Abend lang nicht verlor.
An ihrem eigenen Tisch schwieg das chinesische Paar sich und die anderen an, und von Wickley war nur ein gelegentliches Schmatzen zu hören. Gillmann hingegen monierte das sehr englisch angebratene Rinderfilet, und Daisy Brünger weigerte sich sogar, es zu essen.
»Weshalb hast du dem Koch nicht gesagt, dass ich kein Fleisch mag, aus dem noch das Blut herausläuft?«, fauchte sie ihren Mann an.
»Ich habe es gesagt!«, rief dieser, doch Henriette ahnte, dass er log. Während sie auf dem fast rohen Fleisch herumkaute, beobachtete sie Nastja Paragina. Deren Appetit schien gelitten zu haben, denn sie aß wenig und trank nur Wasser. Espen Terjesen hingegen hatte eine Karaffe Wein bestellt, die er nun langsam und mit sichtlichem Genuss konsumierte.
Während des Abendessens blieb alles ruhig. Weder ließ eine der Stewardessen oder ein Steward einen Teller fallen, noch zückte irgendein Agent eine Waffe, um einen gegnerischen Geheimdienstler zu erschießen.
»Ich werde mir oben an der Bar einen Drink genehmigen«, erklärte Gillmann nach dem Essen. »Hoffentlich haben die dort einen Magenbitter. Den brauche ich nämlich jetzt.«
»Alkoholische Getränke sind hier in Norwegen sehr teuer«, wandte Viktor Brünger ein.
»Du musst das ja wissen«, schnaubte seine Frau und ging mit hocherhobenem Kopf davon.
»Aber Schätzchen!« Brünger lief hinter ihr her, während Gillmann den Kopf schüttelte.
»Wenn ich das Paar ansehe, bin ich froh, dass ich nie geheiratet habe«, sagte er, stand auf und stakste grußlos davon.
Derweil hatte Jason Wickley Lidija Kresczinska entdeckt und steuerte auf sie zu.
»Wir werden jetzt nach oben auf Deck neun gehen und von dort aus in diese wunderbare Nacht hinausschauen. Ihnen wünschen wir noch viel Vergnügen.« Dai Zhoushe lächelte Henriette kurz zu, dann hakte sie sich bei ihrem Ehemann unter und ging mit ihm zusammen zum Ausgang.
»Und was machen wir?«, fragte Henriette.
»Ich ziehe meinen Parka an und gehe aufs Sonnendeck, um frische Luft zu schnappen«, erklärte Torsten. Seine Hoffnung war, dort oben John Thornton zu treffen, der den Speisesaal vor wenigen Minuten verlassen hatte.
»Dann setze ich mich oben an die Bar und trinke einen Tee.« Henriette lächelte sanft und hakte sich dann ebenso bei Torsten unter, wie Frau Dai es bei ihrem Mann getan hatte. Doch schon nach wenigen Schritten erinnerte sie sich daran, dass sie nicht zu ihrem Vergnügen auf der Trollfjord weilten, und kämpfte auf einmal mit einem ganz eigenartigen Gefühl. Bis jetzt war an Bord alles ruhig geblieben, doch sie nahm eine unterschwellige Spannung wahr, die im gesamten Schiff zu herrschen schien, und war überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis etwas Außergewöhnliches geschah.
ZWÖLF
Es war Nacht auf der Trollfjord. Während das Schiff durch die Schärenlandschaft Norwegens fuhr und dabei auf ihrem fahrplanmäßigen Post- und Transportdienst die Häfen ansteuerte, blieb es auf den Passagierdecks ruhig. Nur gelegentlich verließ jemand seine Kabine, um nach draußen zu gehen oder sich in die Panorama-Lounge zu setzen.
Etwa gegen drei Uhr wurde auf Deck acht das Licht im Heckbereich plötzlich schwächer, so dass die Türen der Kabinen und Suiten nur noch schemenhaft zu erkennen waren. Kurz darauf wurde die Tür einer unbesetzten Kabine geöffnet. Eine Gestalt trat heraus, die in dem düsteren Licht kaum zu erkennen war. Mit wenigen Schritten erreichte sie die Tür mit der Nummer 814, streckte eine Hand aus und steckte eine Bordkarte in das Lesegerät. Dann öffnete sie die Tür, sah sich kurz prüfend um und trat in die Kabine.
Drinnen war es ebenfalls dunkel, aber das schien den heimlichen Besucher nicht zu stören. Er hob eine Art Pistole und zielte damit auf den Hals des Mannes, der in seinem Bett schlief. Als der Fremde abdrückte, war nur ein kurzes Zischen zu hören.
Der Schläfer zuckte zusammen, erschlaffte dann und blieb regungslos liegen. Nach einem letzten Blick öffnete der Besucher die Kabinentür, blickte nach draußen, um festzustellen, ob die Luft rein war, und huschte hinaus. Kurz darauf flammte das Flurlicht wieder auf, und nichts wies darauf hin, dass soeben ein Mensch den Tod gefunden hatte.
DREIZEHN
Mit dem nächsten Morgen brach der zweite volle Tag auf der Trollfjord an. Torsten hatte auf der schmalen Bettcouch der Kabine halbwegs gut geschlafen, aber grauenhaft geträumt. Nun setzte er sich auf und sah, dass das Schiff schon wieder in einem Hafen lag. Das ausgedehnte Industriegebiet, das er vom Kabinenfenster aus sehen konnte, deutete auf eine größere Stadt hin. Es schneite noch immer, und draußen waren Schneepflüge zugange, um den Zugang zur Trollfjord zu ermöglichen. Gabelstapler warteten bereits darauf, Fracht aus dem Bauch des Schiffes zu holen und anderes hineinzubringen.
Torsten schaltete das Licht an und warf einen Blick auf den Fahrplan. »Trondheim!«, murmelte er und überlegte, ob er in die winzige Duschkabine gehen oder versuchen sollte, noch einmal einzuschlafen. Er entschied sich für Ersteres und bemühte sich dabei, leise zu sein, um Henriette nicht zu wecken.
Als er wieder aus der Dusche kam, saß seine Kollegin in ihren Morgenmantel gehüllt vor dem Laptop. Sie wirkte besorgt.
»Was ist los?«, fragte er.
»Es geht um Petra. Ihre Ärztin will sie unbedingt in eine Klinik einweisen. Das will sie natürlich nicht, aber ich mache mir Sorgen um sie. Es ist ihr erstes Kind – und das bei ihrem Übergewicht. Unser Boss hat eben erklärt, dass er den Kerl erschießen wird, der für Petras Zustand verantwortlich ist.«
Torsten zog den Kopf ein. Petras Schwangerschaft war das Ergebnis ihres gemeinsamen Urlaubs auf Mallorca, und wenn Wagner bei der Geburt des Kindes die Monate nachrechnete, musste er zu diesem Schluss kommen. Zwar glaubte Torsten nicht, von ihm erschossen zu werden, aber er würde sich einiges anhören müssen.
»Wenn Petra ausfällt, wird es übel«, brummte er und fragte dann, ob es Neuigkeiten gäbe.
Henriette schüttelte den Kopf. »Nicht das Geringste. Wagner will seine sämtlichen Kanäle anzapfen, um an Informationen zu kommen. Um sie entsprechend auswerten zu können, braucht er Petra. Aber deren Ärztin besteht darauf, dass sie sofort in eine Klinik muss.«
»Es gibt doch auch Bundeswehrkrankenhäuser! Zwar gehören wir nicht mehr zu dem Verein, aber Wagner hat immer noch seine Verbindungen. Vielleicht sollte er Petra dort einweisen lassen, dann könnte sie in einem abgeschotteten Bereich weiterhin für uns arbeiten.«
Henriette sah ihn kopfschüttelnd an. »Hier geht es um Petras Gesundheit! Die ist wichtiger als unser Auftrag. Außerdem glaube ich nicht, dass eine Bundeswehrklinik für Geburtshilfe eingerichtet ist.«
Torsten hob beschwichtigend die Hände. »Wir sollten uns deswegen nicht streiten. Im Endeffekt muss Petra für sich entscheiden. In einem hast du allerdings recht: Ihre Gesundheit und die ihres Kindes gehen auf jeden Fall vor.«
»Gut, dass du das einsiehst! Bei Wagner bin ich mir da nämlich nicht sicher. Der würde ihr wahrscheinlich noch während der Geburt den Laptop in die Hände drücken.« Henriette fauchte ein wenig, reichte Torsten das Gerät und zeigte auf die Dusche. »Ich mache mich jetzt fertig. Du kannst ja unterdessen schauen, ob du noch was Interessantes findest.«
VIERZEHN
Etwa zur selben Zeit fand in Kabine 441 das morgendliche Briefing der US-Geheimdienste statt. Der Raum war an und für sich zu klein für die sechs Männer und die beiden Frauen des Kernteams, dafür aber lag er fern aller anderen Agenten. Da zwei kräftige Männer vor der Tür Wache hielten, fühlten sie sich sicher. Eines aber störte den Ablauf: Einer ihrer wichtigsten Leute fehlte, Larry Frazer.
Verärgert warf Anthony Rumble einen Blick auf die Uhr. »Es ist schon eine Viertelstunde über der Zeit. Kann einer von euch Larry anrufen? Vielleicht hat er verschlafen.«
Sofort zog ein junger Mann sein Funktelefon aus der Tasche und drückte eine Taste. Das Rufzeichen erklang, doch es tat sich nichts.
»Wie es aussieht, ist er schon auf dem Weg. Na, der bekommt was zu hören, wenn er auftaucht.« Rumble wandte sich wieder seinen Unterlagen zu, wollte aber noch warten, bis der Nachzügler angekommen war.
Nach weiteren fünf Minuten wurde er unruhig. »Verdammt, so lange kann Larry doch gar nicht brauchen.«
Pat Shears versuchte, Frazer auf dessen Funkhandy zu erreichen, doch auch da ohne Erfolg. »Soll ich nach oben gehen und nachsehen?«, fragte er Rumble.
Nach kurzem Überlegen nickte er. »Tun Sie das, Pat, und richten Sie Larry aus, dass wir uns nicht auf einer Vergnügungsreise befinden, falls er das vergessen haben sollte.«
»Mache ich!« Kurz darauf klopfte Pat Shears an Frazers Kabinentür. Doch es tat sich nichts.
»Frazer, wachen Sie auf!«, rief der junge Agent und klopfte erneut.
In dem Augenblick wurde die Kabinentür gegenüber geöffnet, und Lidija Kresczinska steckte den Kopf heraus.
»Was machen Sie denn für einen Lärm?«, fragte sie empört.
»Ich möchte meinen K… Freund wecken!« Im letzten Augenblick gelang es dem Mann, das Wort Kollege zu vermeiden.
»Können Sie das nicht leiser machen?«, murmelte Lidija und kehrte in ihre Kabine zurück. Dort legte sie das Ohr an die Tür, um nicht zu verpassen, was sich draußen tat.
Da es nach wie vor keine Reaktion gab, meldete Shears sich bei seinem Chef und bekam den Auftrag, die Tür mit Hilfe seiner gefälschten Universalkarte zu öffnen. Doch als er diese aus der Tasche ziehen wollte, kam Bjarne Aurland vorbei. In dessen Gegenwart konnte er in keine fremde Kabine eindringen. Daher sprach er den Mann an. »Sie gehören doch zur Besatzung. Könnten Sie jemanden bitten, diese Kabine zu öffnen? Ich versuche die ganze Zeit, meinen Freund zu wecken, aber er reagiert nicht.«
»Vielleicht ist er gar nicht in der Kabine, sondern bereits beim Frühstück. Vielleicht sitzt er auch auf dem Panoramadeck«, antwortete Aurland freundlich.
Bei einem normalen Passagier wäre dies möglich gewesen, aber nicht bei einem ehrgeizigen Geheimdienstoffizier. Daher antwortete der Agent, er habe bereits im Restaurant, in den Salons und auch in der Panorama-Lounge und der Horizont-Galerie nachgesehen.
»Wenn Sie darauf bestehen, hole ich den Zahlmeister oder seinen Stellvertreter«, erklärte Aurland und ging.
Der US-Agent wandte sich wieder der Tür zu und schwankte, ob er nicht doch seine Universalkarte ausprobieren sollte. Doch schon nach kurzer Zeit erschien ein Mann in Uniform und blieb vor ihm stehen. »Sind Sie der Herr, der diese Kabine öffnen lassen will?«
»Ja, es geht um meinen Freund. Wir hatten uns für halb sieben verabredet, und jetzt ist es schon weit nach sieben.«
Der Norweger klopfte an und zog, als keine Antwort kam, eine Codekarte aus der Tasche. Damit öffnete er die Tür und blickte hinein. Die Kabine war peinlich aufgeräumt. Frazer lag auf dem Rücken, den Mund halb offen, und war nur teilweise zugedeckt.
Alarmiert trat der Zahlmeister ein und streckte vorsichtig die Hand aus. »Wachen Sie auf!«, sagte er und rüttelte Frazer an der Schulter. Doch dieser blieb so starr und steif liegen, dass kein Zweifel möglich war.
Mit wachsbleicher Miene wandte der Norweger sich an Pat Shears. »Der Mann ist tot!«
»Tot? Aber das kann nicht sein!« Shears drängte in die Kabine und starrte den Leichnam ungläubig an. Trotz des Schocks zog er geistesgegenwärtig sein Handy aus der Tasche und schoss unauffällig ein paar Bilder. Dann rief er seinen Vorgesetzten an. »Mr. Rumble, ich muss Ihnen eine bestürzende Nachricht überbringen. Unser lieber Freund Larry Frazer lebt nicht mehr!«
»Was?«, vernahm er Rumbles keuchende Stimme. Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
»Es ist gut, dass wir in Trondheim länger vor Anker liegen. Daher kann ich sofort einen Arzt holen. Wenn Sie bitte die Kabine verlassen würden, damit ich sie wieder verschließen kann.« Der Zahlmeister sah den jungen Mann auffordernd an, doch dieser schüttelte den Kopf.
»Ich möchte bei meinem Freund bleiben.«
»Das geht nicht!«, erklärte der Zahlmeister. »Mr. Frazer reiste allein, und daher darf ich keinen Fremden in seiner Kabine lassen, bevor das persönliche Gepäck des Toten aufgelistet worden ist.«
Da sich unter Frazers »persönlichem Gepäck« etliche Dinge befanden, die niemand außer dem Team sehen durfte, wusste Shears nicht, was er tun sollte. Daher versuchte er Zeit zu gewinnen, bis seine Kollegen kamen. Es dauerte auch nicht lange, da stürmte Rumble mit langen Schritten den Gang entlang.
»Wenn das ein Scherz sein soll, können Frazer und Sie in Zukunft Akten sortieren!«, sagte er schnaubend und bestärkte damit Lidija Kresczinska, die noch immer lauschte, in ihrer Überzeugung, US-Agenten vor sich zu haben.
»Es stimmt leider. Mr. Frazer ist tot«, erklärte der Zahlmeister eben.
Rumble verbiss sich den Fluch, der ihm über die Lippen kommen wollte, und dachte angestrengt nach. Frazer war ein junger, durchtrainierter Mann mit ausgezeichneter Gesundheit gewesen. Ein natürlicher Tod erschien ihm daher höchst unwahrscheinlich. Doch wenn er darauf bestand, die Untersuchung von seinen eigenen Leuten durchführen zu lassen, würde er seinen Auftrag gefährden. Daher hörte er sich die Erklärung des Zahlmeisters an, dass dieser den Raum verschließen müsse, und winkte seinem Untergebenen, mit ihm zu kommen.
In Kabine 441 sah Rumble mit grimmiger Miene in die Runde. »Es stimmt! Frazer ist tot. Jetzt müssen wir zusehen, dass wir umgehend in seine Kabine gelangen und alles, was unseren Auftrag verraten könnte, herausholen. Pat, das übernehmen Sie. Sally wird Ihnen dabei helfen! Machen Sie schnell und seien Sie vorsichtig. Zwei Leute gehen mit Ihnen und sorgen dafür, dass Ihnen niemand in die Quere kommt!«
»Okay!« Pat nahm die Karte, winkte Sally und zwei Männern, mit ihm zu kommen, und eilte zurück zu Frazers Kabine.
»Ihr wisst, was ihr zu tun habt?«, fragte er seine Begleiter.
Alle nickten, und während ein Mann am Aufgang Wache hielt und sein Kollege im Flur patrouillierte, betrat Pat mit der kopierten Karte Frazers Kabine. Dort suchten Sally und er mit raschen Griffen all das zusammen, was nicht bei dem Toten gefunden werden durfte. Anschließend machten sie noch ein paar Aufnahmen von der Leiche und dem Tatort und verließen die Kabine erst, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass niemand sie beobachtete.
FÜNFZEHN
Während Sally Marble und Pat Shears die Kabine ausräumten, hatte Rumble John Thornton holen lassen. Nach Frazers Ausfall erschienen ihm die Erfahrungen des Afghanistan-Veteranen doppelt wertvoll. John hörte ihm zu, sagte aber nichts, bis Sally und Pat mit den Sachen zurückkamen, die sie aus der Kabine des Toten geholt hatten. Er durchsuchte sie kurz und warf dann Pat einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was ist mit Frazers Wecker?«
»Den Wecker? Wieso? Den habe ich stehen lassen. Wozu brauchen Sie den?«, platzte Shears heraus.
John Thornton drehte sich kopfschüttelnd zu Rumble um. »Ich dachte, Ihre Leute wären Profis! Doch der Bursche stellt sich an wie ein lumpiger Amateur.«
Pat lief rot an, bevor er jedoch etwas sagen konnte, griff Rumble ein. »Jetzt gebt Ruhe! Alle beide! Wenn der Wecker so wertvoll sein soll, weshalb hat Frazer uns nichts gesagt?«
»Weil er gewiss nicht damit gerechnet hat, so überraschend von dieser Welt abtreten zu müssen. Es wundert mich ohnehin, dass er so nachlässig war. In Afghanistan wäre ihm das nicht passiert. Aber jetzt zu dem Wecker.«
Thornton holte kurz Luft und grinste dann freudlos. »Larry ist oder, besser gesagt, war keiner, der seine Trümpfe alle aufdeckt, auch den eigenen Leuten gegenüber nicht. Zum Glück habe ich einen Wecker der gleichen Marke, so dass dem Zahlmeister nicht auffällt, wenn der von Frazer verschwunden ist. Wir müssen die beiden lediglich austauschen. Aber das sollte jemand tun, der dazu fähig ist!«
Damit schoss Thornton eine weitere Spitze auf Pat Shears ab, der mit saurer Miene neben ihm stand, aber von dem Blick seines Chefs davon abgehalten wurde, sich mit dem Veteranen anzulegen.
»Holen Sie Ihren Wecker, John, und geben Sie ihn Pat. Er ist wirklich ein fähiger Mann!«, erklärte Rumble.
»Wenn Sie es sagen. Kommen Sie!« John Thornton gab Shears einen Wink und verließ die Kabine. Der andere folgte ihm und bemühte sich um Gelassenheit, obwohl ihn der ätzende Spott des Älteren beinahe zur Weißglut getrieben hatte.
In Johns Kabine reichte er seinen Wecker Shears. »Aber den ersetzt mir Ihre Firma, verstanden! Ein Glück, dass ich es mir abgewöhnt habe, selbst daran herumzubasteln.«
»Wieso sind Sie sicher, dass Larry – wie Sie behaupten – an seinem Wecker herumgebastelt hat?«, fragte Shears bissig.
»Weil ich Larry kenne, mein Junge! Und jetzt gehen Sie, sonst laufen Ihnen zu viele vor die Füße. Sie können Rumble sagen, dass ich erst einmal frühstücke. Danach kümmere ich mich um Larrys Wecker. Vorausgesetzt, es gelingt Ihnen, ihn aus der Kabine zu holen …« Mit diesen Worten schob John Thornton den jungen Mann aus dem Raum, schloss die Tür hinter sich und ging leise pfeifend in Richtung Aufzug.
Auf Deck fünf sah er kurz in den Speisesaal. Da er Torsten Renk dort nicht entdeckte, trat er nicht ein, sondern blieb vor dem noch geschlossenen Kiosk stehen und betrachtete die Auslagen.
Kurz darauf sah er den Gesuchten in Begleitung der hübschen Eurasierin auf sich zukommen. Er setzte sich wieder in Bewegung, blieb neben Torsten stehen, der sich vorschriftsmäßig vor der Tür des Speisesaals die Hände desinfizierte, und schaffte es zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. »Es geht los! Heute Nacht hat es Frazer erwischt.«
»Wer?«, fragte Torsten leise.
»Wissen wir noch nicht. Er wurde erst vor einer guten halben Stunde gefunden, und der Zahlmeister lässt niemand mehr in Frazers Kabine.«
»Was euren Verein wahrscheinlich wenig jucken wird«, spottete Torsten und wandte sich an Henriette.
»Besorgst du Kaffee und ich den Saft, oder wie machen wir es heute?«
»Ich mache den Saft!«, antwortete Henriette.
»Es heißt, ich hole den Saft! Gemacht wurde er nämlich schon.« Torstens Ton klang so belehrend, als wolle er seiner Ehefrau die deutsche Sprache beibringen.
Henriette warf ihm einen gekränkten Blick zu und ging weiter zu den Saftbehältern. Die Gläser dort waren kleiner, als sie es gewöhnt war, dennoch füllte sie sie nur zu drei Vierteln und balancierte sie dann zu ihrem Tisch. Torsten kämpfte inzwischen mit dem Kaffeeautomaten und füllte die Tassen so voll, dass kein Stecknadelkopf mehr zwischen Inhalt und Rand gepasst hätte. Als er an den Tisch kam, rümpfte Henriette die Nase.
»Du weißt doch, dass ich meistens Tee trinke. Wenn ich mal Kaffee nehme, dann nur mit viel Milch. Aber wie soll ich hier noch Milch hinzugeben?«
»Dann trinke ich eben beide Tassen aus und hole dir einen Tee.« Torsten stellte die Tassen ab und ging wieder zum Automaten. Unterwegs fand er ihr Spiel angesichts der Tatsache, dass in der Nacht ein Mensch gestorben war, ein wenig lächerlich. Er wusste jedoch selbst, dass Henriette und er den Schein des sich gelegentlich streitenden Ehepaars aufrechterhalten mussten. Nach Frazers Tod war dies sogar noch wichtiger.
Henriette war nicht entgangen, dass Thornton Torsten etwas mitgeteilt hatte, es aber trotz ihres feinen Gehörs nicht verstanden. Daher wurde das Frühstück für sie zu einer Geduldsprobe. Zu ihrer Erleichterung gab es keine lautstarken Unterhaltungen am Tisch. Frau Dai und Herr Wu hatten schon vor ihnen mit dem Frühstück begonnen und wechselten wie sonst auch kaum ein Wort miteinander. Daisy und Viktor Brünger hatten sich offenbar versöhnt und kümmerten sich nur um sich selbst, während Gillmann am reichhaltigen Büffet auf Vorrat aß, um das Mittagessen zu sparen. Der Letzte im Bunde, Jason Wickley, kam spät, sagte wenig und aß viel. Er hatte sich in der Nacht bei Lidija Kresczinska verausgabt und musste die dabei verbrauchten Kalorien ersetzen.
Kurz nach acht Uhr verschwanden die Brüngers und das chinesische Paar, um sich einem Landausflug anzuschließen, den Wallström organisiert hatte. Laut Petras Planung hätten auch Henriette und Torsten daran teilnehmen sollen, doch sie wollten in ihre Kabine zurückkehren, um miteinander zu reden. Außerdem musste Torsten so schnell wie möglich Wagner vom Tod des amerikanischen Geheimagenten informieren. Daher verabschiedeten sie sich von Gillmann und Wickley, ohne von den beiden mehr als ein kurzes Brummen als Antwort zu erhalten.
In ihrer Kabine hielt Henriette es nicht mehr aus. »Was hat Thornton dir erzählt?«, fragte sie Torsten, kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.
»Johns ehemaliger Kollege Larry Frazer ist tot. Die Amis nehmen an, dass er ermordet worden ist.«
»Es geht also los!«, sagte Henriette tonlos.
»So hat John es ausgedrückt. Jetzt werden seine Landsleute ihn brauchen. Aber ich hoffe, John tut sich damit einen Gefallen, wenn er mit ihnen zusammenarbeitet. Nicht, dass es ihn als Nächsten erwischt.« Torsten schüttelte sich und klappte seinen Laptop auf.
Nachdem er die richtige Bedieneroberfläche hochgeschaltet hatte, meldete er sich bei Wagner. Dieser wirkte so übernächtigt, als hätte er durchgearbeitet, wurde aber sofort hellwach, als er Torstens Miene sah.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Der erste Tote! Larry Frazer vom amerikanischen Heeresgeheimdienst.«
»Teufel auch! Der war kein heuriger Hase. Wie konnte es ausgerechnet ihn erwischen?«
»Wenn Sie wollen, gehe ich zu den Amis und frage sie«, antwortete Torsten ätzend. »Bis jetzt wissen wir nur, dass Frazer tot ist. Er könnte auch eines natürlichen Todes gestorben sein.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich. Und bitte lassen Sie solche Scherze wie ›die Amis fragen‹. Ich habe Frau von Tarow und Sie nicht zum Vergnügen auf die Trollfjord geschickt, sondern um Nastja Paragina im Auge zu behalten. Das ist Ihre Kernaufgabe. Die Suche nach Frazers Mördern überlassen Sie gefälligst den amerikanischen Kollegen.« Wagner klang scharf.
»Zu allem Überfluss ist Frau Waitl wieder bei ihrer Frauenärztin«, knurrte er.
Da mischte Henriette sich ein. »Torsten meinte, Sie könnten Petra auch in eine Bundeswehrklinik einliefern lassen. Dort könnte sie auch noch im Bett ihren Laptop bedienen.«
»Und vielleicht auch noch während der Geburt, was? Renk ist ein Trottel. Das haben Sie nicht gehört, verstanden?«, antwortete Wagner giftig.
»Aber ich habe es gehört. Ich könnte damit zum Betriebsrat gehen und mich über Sie beschweren!« Torsten grinste so hinterhältig, dass Wagner im ersten Moment nicht wusste, ob er es ernst meinte oder nicht.
Seufzend schüttelte er den Kopf. »Betriebsrat, hä? Auf Ideen kommen Sie! Erledigen Sie gefälligst Ihren Job, sonst beschwere ich mich über Sie. Und jetzt erzählen Sie, was Sie bisher herausgefunden haben.«
»Viel ist es nicht«, sagte Torsten und berichtete, was er von John Thornton erfahren hatte.
Wagner machte sich einige Notizen. Dann hob er wieder den Kopf und sah in die Kamera. »Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?«
»Nicht die geringste! Vielleicht waren es Valdez und seine Leute. Die bekämpfen die Gringos, wie sie sie nennen, an allen Fronten.« Noch während Torsten es sagte, schüttelte sein Vorgesetzter den Kopf.
»Das ist nicht Valdez’ Stil. Wenn der etwas macht, dann immer mit Knalleffekt.«
»Ich glaube nicht, dass die US-Boys so denken. Für die ist Valdez ein rotes Tuch. Überdies kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jetzt die Hände in den Schoß legen und abwarten werden.« Torsten überlegte, was Frazers Kollegen unternehmen konnten, doch für eine Analyse hatte er nicht genug Anhaltspunkte.
Wagner nickte nachdenklich. »Ich kann Ihnen beiden nicht mehr raten, als auf sich aufzupassen. Auch wenn die Lage außer Kontrolle zu geraten scheint, hat Ihr Auftrag Vorrang. Sie überwachen Nastja Paragina und sorgen dafür, dass niemand sie entführen kann. Vielleicht müssen wir uns sogar selbst der Frau bemächtigen. Für den Fall der Fälle habe ich bereits entsprechende Vorbereitungen getroffen. Und nun machen Sie es gut!«
Wagner beendete die Verbindung und ließ Henriette und Torsten in einem Zustand zurück, der dem Schweben über einem schwarzen Abgrund glich.
»Wenn ich Wagner richtig verstanden habe, dürfen wir Paragina Tag und Nacht nicht aus den Augen lassen!«, stöhnte Henriette.
Torsten schüttelte ärgerlich den Kopf. »Damit würden wir dem letzten Geheimdienstlehrling an Bord auffallen. Wenn ich nur wüsste, was wir tatsächlich tun können, um weiterzukommen!«
»Erst einmal aufpassen, dass wir nicht dem Mörder auffallen.« Henriette versuchte zu lächeln, als ihr etwas einfiel. »Hast du deine Miniwanzen nicht auch auf Deck acht in der Nähe von Frazers Kabine platziert? Vielleicht bekommen wir auf die Weise Informationen, die uns weiterhelfen.«
Torsten nickte und rief sogleich die Tonaufnahmen der Mikrofone ab, die er dort ausgelegt hatte. Das meiste, was Henriette und er in der nächsten Stunde zu hören bekamen, war jedoch nur Geschwätz. Dann aber vernahmen sie Lidija Kresczinskas Fragen an Bjarne Aurland und sahen sich an.
»Die muss auch zu einem der Geheimdienste gehören. Eine normale Reisende mag zwar neugierig sein, doch die Fragen wurden zu gezielt gestellt«, erklärte Torsten und war froh, wenigstens einen kleinen Erfolg zu verzeichnen.
Henriette rief die Belegungsliste der Trollfjord auf, die Petra ihnen besorgt hatte, und zeigte auf den Bildschirm. »In diesem Teil des Schiffs wurde nur eine einzige Frau einquartiert, und die hat ihre Kabine der von Frazer genau gegenüber. Kann sie ihn umgebracht haben?«
Torsten kontrollierte kurz die Tonaufzeichnung, schüttelte dann aber den Kopf. »Diese Kabinentür wurde in der Nacht nicht geöffnet, dafür aber eine andere direkt bei unserer Wanze. Es müsste sich um eine dieser beiden hier handeln!«
»In der einen ist ein Chinese untergebracht, und die andere ist unbesetzt. Das ist seltsam angesichts der vielen Passagiere, die sich auf der Trollfjord befinden«, antwortete Henriette misstrauisch.
Dann schnaubte sie enttäuscht. »Schade, dass du keine Minikamera dort anbringen konntest. Sonst hätten wir den Mörder sehen können.«
»Ich glaube nicht, dass Frazer darauf verzichtet hat, seine Kabine zu überwachen. Vermutlich wissen unsere US-Freunde mittlerweile schon mehr. Sie werden den Mörder jagen, aber gleichzeitig auch von diesem und dessen Freunden gejagt werden. Das kann noch lustig werden.« Torsten klappte den Laptop zu und trat ans Fenster.
Die Trollfjord lag noch immer im Hafen von Trondheim. Da die ersten Ausflügler bereits zurückkehrten, würde das Schiff bald auslaufen. Gerade als Torsten sich abwenden wollte, bekam er mit, wie aus dem Autodeck ein großer, dunkler Wagen mit norwegischer Nummer herausfuhr, dessen hintere Fenster verhängt waren. Wie es aussah, brachte man den Toten von Bord. In dem Augenblick war Torsten sicher, dass es nicht bei dieser einen Leiche bleiben würde.
SECHZEHN
Diesmal hatte Rumble seine besten Leute in einer der Suiten zusammengerufen, die zu Nastja Paraginas Überwachung gebucht worden waren. Seine Miene wirkte versteinert. Larry Frazer war sein bester Mann gewesen, und der Gedanke, dass ein Feind diesen so leicht hatte umbringen können, erfüllte ihn mit kalter Wut, aber auch mit einem leisen Grauen. Ebenso wie die anderen Mitglieder der amerikanischen Geheimdienste war er nicht bereit, Frazers Tod einfach auf sich beruhen zu lassen.
Im Augenblick sahen alle John Thornton zu, der Frazers Wecker öffnete und einen seltsam geformten Chip herausholte. Sally Marble, die für die Arbeit am Computer verantwortlich war, sah das Ding und schüttelte den Kopf.
»Das sieht eigenartig aus. Dafür habe ich kein Lesegerät!«
»Aber ich«, antwortete John Thornton gelassen. Er zog eine SD-Card mit einer Vertiefung aus seiner Tasche, presste den Chip hinein und steckte die Karte in Sallys Lesegerät.
»So, jetzt können Sie den Inhalt anzeigen lassen.«
Alle beugten sich gespannt vor, als Frazers Kabine auf dem Bildschirm erschien. Der Agent war dabei, seine Sachen einzuräumen, und drehte sich währenddessen mehrmals in Richtung der Kamera und grinste.
»Das ist der Ankunftstag. Sie müssen über vierundzwanzig Stunden vorspulen«, forderte John Sally auf.
Diese versuchte es, kam aber mit dem fremden System nicht zurecht. Daher legte John selbst Hand an. Die Bilder flogen nur so über den Bildschirm, und sie sahen die Reinigungskraft, die nur ihren Job machte, mehrfach Frazer selbst und schließlich auch einen der jungen, breitschultrigen Agenten, die bei jeder College-Footballmannschaft hätten mitmachen können.
»Die Kamera ist so geschaltet, dass sie auf Bewegung reagiert«, erklärte John das Fehlen von Bildern der leeren Kabine. Schließlich erreichte er die Tatzeit und kniff die Augen zusammen, als er sah, wie die Türe geöffnet wurde.
»Jetzt kommt es!«, flüsterte er angespannt.
»Wieso ist es im Flur so düster?«, fragte Rumble verwirrt.
»Tatsächlich!« Johns Blick saugte sich förmlich auf dem Bildschirm fest, und er sah die Gestalt, die eben hereinkam, die Tür hinter sich schloss und neben Frazers Bett stehen blieb. Obwohl es in der Kabine dunkel war, bewegte der Unbekannte sich vollkommen zielgerichtet. John konnte sogar erkennen, wie er eine Waffe hob und auf Frazer schoss. Es gab jedoch nicht einmal einen leisen Knall wie bei einem Schalldämpfer, sondern nur ein kurzes Zischen.
»Verdammt! Können Sie den Kerl nicht deutlicher zeigen«, fluchte Rumble, da der Mörder nur als flimmernder Schatten zu sehen war.
John hielt die Aufzeichnung an und vergrößerte das Bild des Mannes. Trotzdem wurden dessen Umrisse nicht deutlicher. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Es hat keinen Sinn. Wer auch immer es war, hat vorgesorgt, dass er nicht identifiziert werden kann.«
»Aber wie hat er das gemacht?«, fragte Sally.
»Wahrscheinlich trug er Kleidung und eine Maske aus einem speziellen Gewebe, das keine Aufnahmen mit einer Wärmebildkamera zulässt. Deshalb hat er auch das Licht im Flur ausgeschaltet. Bevor Sie einen Mann der Besatzung verdächtigen: Dasselbe könnte Sally mit ihrem Laptop auch von hier aus tun. Wir sind mit Sicherheit nicht der einzige Geheimdienst, der sich in den Bordcomputer des Schiffes eingehackt hat. Wer diesen Mord begangen hat, ist kein Anfänger. Er hat mit äußerster Präzision den gefährlichsten Mann aus eurem Team ausgeschaltet, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Ihr solltet aufpassen, dass es euch nicht geht wie den ›Zehn kleinen Negerlein‹.« Noch während John es sagte, begriff er, dass auch er ins Fadenkreuz des Mörders geraten konnte, und der Gedanke gefiel ihm gar nicht.
Rumbles Überlegungen gingen in eine andere Richtung. »Pat hat mit dem Arzt gesprochen. Nach dessen Einschätzung ist Frazer an einem Herzinfarkt gestorben. Anzeichen für einen unnatürlichen Tod hat der Mann keine gefunden. Jetzt werden wir dafür sorgen müssen, dass die Leiche von unseren Leuten übernommen und untersucht wird.«
»Ich sagte ja bereits, dass der Mörder äußerst präzise vorgegangen ist«, erklärte John. »Um die norwegischen Behörden auf Trab zu bringen, müssten wir ihnen schon diese Aufnahmen vorspielen. Damit aber wäre eure Mission aufgedeckt.«
»Das können wir nicht riskieren! Der Mörder weiß das und lacht sich wahrscheinlich ins Fäustchen. Aber das wird ihm nichts helfen. Wir kriegen ihn!«
Rumble klang zwar äußerst energisch, aber in Johns Ohren klang es eher wie das Pfeifen eines ängstlichen kleinen Jungen im Wald.
SIEBZEHN
Obwohl Frazers Leichnam diskret von Bord geschafft worden war, hatten doch einige Passagiere etwas mitbekommen, und so verbreitete sich das Gerücht, es hätte einen Toten an Bord gegeben, wie ein Lauffeuer. Daher war es kein Wunder, dass für den Rest des Tages eine gedrückte Stimmung auf der Trollfjord herrschte. Das Schiff legte fahrplangemäß ab und steuerte in den Trondheimfjord hinaus. Der nächste Hafen sollte erst am Abend erreicht werden, und so blieb genug Zeit, sich in die Panorama-Lounge zu setzen und nachzudenken oder unten im Café eine Kleinigkeit zu essen.
Torsten hatte es auf seinen Einsätzen schon oft mit Toten und Verwundeten zu tun gehabt, aber diesmal empfand er eine andere Anspannung als in jenen früheren Situationen. Am liebsten hätte er John Thornton gesucht, um mit ihm über Frazers Ende zu reden. Doch in einem hatte Franz Xaver Wagner recht: Weder Henriette noch er durften an Bord auffallen.
Mit diesem Vorsatz machten die beiden sich gegen halb acht für das Abendessen bereit und kamen diesmal als eine der Ersten an ihren Tisch. Nur das Ehepaar Dai und Wu saß bereits dort und studierte die Weinkarte. Henriette und Torsten nahmen ihre Plätze ein und warteten auf den Steward, der die Getränkebestellung entgegennehmen sollte.
Gillmann kam kurz nach ihnen und setzte sich mit einem kernigen »Guten Abend!« auf seinen Stuhl. Ihm folgte das Ehepaar Brünger, das ein wenig in sich gekehrt wirkte. Als Letzter erschien Jason Wickley, die Hände in den Hosentaschen, und kaute auf einem scharf nach Minze riechenden Kaugummi herum.
Eine Weile blieb es am Tisch still, doch kaum waren die Getränke bestellt und gebracht worden, sprach Dai Zhoushe Wickley an. »Ich habe gehört, an Bord sei ein Landsmann von Ihnen gestorben.«
»So, wirklich? Ja, auch ich habe so was läuten hören«, gab der Rodeoreiter kurz angebunden zurück.
Zu Torstens Überraschung gab Frau Dai sich damit nicht zufrieden. »Es soll ein noch junger Mann gewesen sein, etwa in Ihrem Alter. Haben Sie ihn gekannt?«
»Ich? Gekannt? Nein!«
Da Wickley sich an den Vorabenden gesprächiger gezeigt hatte, kam Torsten der Verdacht, dass vielleicht auch er etwas mit den Geheimdiensten zu tun haben könnte. Im Allgemeinen setzten diese zwar unauffällige Männer und Frauen ein, die in der Menge leicht übersehen werden konnten. Gelegentlich aber spielten Agenten auch Rollen, in denen sie auffielen, und sei es nur, um die Aufmerksamkeit von ihren Kollegen abzulenken.
Torsten musste an den übertrieben aufgemachten Südamerikaner denken und sah sich nach dem Mann um. Dieser saß an einem Tisch in der Nähe von John Thornton. Obwohl der Südamerikaner auch jetzt seine Sonnenbrille trug, war Torsten sicher, dass der Mann Thornton im Auge behielt. Nun setzte er ihn ebenfalls auf seine Liste.
Mittlerweile hatte Frau Dai es aufgegeben, Wickley weiter zu löchern. Stattdessen holte sie einen Schminkspiegel aus ihrer Handtasche und zog sich die Lippen nach. Ein kleiner Lichtreflex am unteren Rand des Spiegels irritierte Torsten, und als Frau Dai ihren Spiegel in seinen Augen ein wenig zu auffällig drehte, beugte er sich zu Henriette hinüber.
»Glaubst du, dass du morgen den Ausflug mitmachen kannst, Schatz? Oder fürchtest du, deine Kopfschmerzen würden sich zu einer Migräne entwickeln?«
Zwar hatte Henriette schon lange keine Kopfschmerzen mehr gehabt, verzog aber sofort das Gesicht. »Musst du mich daran erinnern? Sie waren fast schon weg, aber jetzt kommen sie wieder!« Es gelang ihr, äußerst vorwurfsvoll zu klingen.
Torsten hob sofort die Hand. »Tut mir leid, mein Schätzchen, das wollte ich nicht! Vielleicht solltest du, wenn wir wieder in der Kabine sind, eine Kopfwehtablette nehmen.«
»Ich glaube, ich bekomme auch Kopfschmerzen«, meldete sich da Daisy Brünger. Sofort erklärte ihr Mann, dass er alles tun werde, um ihr zu helfen.
Daisy fasste sogleich nach der Hand ihres Ehemanns. »Ich habe ohnehin keinen Hunger. Bring mich bitte in die Kabine. Ich muss mich hinlegen.«
Im Gegensatz zu ihr war Viktor Brünger hungrig, doch er stand sofort auf und reichte seiner Frau den Arm. Das Paar verließ den Speisesaal in dem Augenblick, in dem Nastja Paragina und Espen Terjesen diesen betraten.
Diesmal erregten die beiden weniger Aufsehen. Nastja trug ein schlichteres Kleid und wirkte bedrückt, Espen Terjesen hingegen winkte den Stewardessen und Stewards leutselig zu und orderte eine Flasche Champagner. Als diese gebracht worden war, stieß er mit Nastja an.
Seinen Trinkspruch flüsterte er fast, dennoch war Henriette sicher, dass er vom Erfolg dieser Reise sprach.
Welchen Erfolg meint er?, fragte sie sich. Seinen persönlichen Erfolg bei Nastja Paragina? Sein Ruf als Frauenheld mochte darauf hindeuten. Andererseits war er auch Teilhaber in der Firma seines Bruders, und so konnte der Ausspruch sich auch auf einen geschäftlichen Erfolg beziehen. Da sie keine Antwort fand, beschloss Henriette, nachher in der Kabine Espen Terjesens Lebensweg ein wenig nachzuspüren.
Da es an diesem Abend Fisch gab, hatte niemand, der noch am Tisch saß, etwas am Essen auszusetzen. Sogar Gillmann hielt ausnahmsweise den Mund. Die Tatsache, dass ein junger, allein reisender Mann gestorben war, schien selbst ihm an die Nieren zu gehen. Wickley sagte kaum ein Wort, und Frau Dai und Herr Hu waren völlig verstummt. Das Paar beendete seine Mahlzeit rascher als sonst und verabschiedete sich bald. Da Gillmann und Wickley direkt nach ihnen den Speisesaal verließen und Viktor Brünger nicht zurückgekehrt war, blieben Henriette und Torsten allein am Tisch.
Beide hingen ihren Gedanken nach, doch während die Gedanken Torstens sich um den auffälligen Südamerikaner und Frau Dais Interesse an Frazers Tod drehten, brachte Henriette Espen Terjesens Siegerlächeln nicht mehr aus dem Kopf.
ACHTZEHN
Als Henriette und Torsten Kontakt zu Wagner aufnahmen, konnte dieser ihnen nur wenig Neues berichten. Petra war von ihrer Ärztin krankgeschrieben worden, hatte aber zu Hause an ihrem privaten Laptop einige Informationen überprüft und ergänzt. Dabei war es ihr gelungen, drei weitere Passagiere einwandfrei zu identifizieren. Es handelte sich um den Griechen Stavros Lefteridis, der zu Manolo Valdez’ weitverzweigtem Terrornetz gerechnet wurde, den israelischen Agenten Shmuel Rodinsky und Anthony Rumble, den Geheimdienstkoordinator des US-Präsidenten.
Als Torsten den letzten Namen hörte, verzog er das Gesicht. »Wenn Rumble an Bord ist, wird es hier bald rumpeln. Das ist niemand, der einen eigenen Mann umbringen lässt, ohne gezielt zurückzuschlagen.«
»Das nehme ich auch an«, erklärte Wagner. »Um es offen zu sagen, ich würde ungern mit Ihnen beiden tauschen. Dieses Schiff wird bald zum Vorhof zur Hölle werden. Geben Sie also auf sich acht!«
»Wir tun unser Bestes, nicht wahr, Henriette?« Torsten versuchte zu grinsen, aber es wurde nur eine Grimasse daraus.
Seine Kollegin nickte. »Das tun wir, Herr Wagner, und Sie können versichert sein, dass wir unseren Job so gut machen, wie wir können – und vielleicht auch noch ein bisschen besser!«
Damit brachte sie Wagner für einen Augenblick zum Schmunzeln. »Ich wusste doch, warum ich Sie beide auf dieses Schiff geschickt habe.«
»Ich dachte, Sie wollten uns loswerden, damit wir Ihnen nicht mehr andauernd in den Ohren liegen, wie langweilig es ist.« Auch Torsten vermochte nun seine kurzzeitige Unsicherheit abzustreifen und machte einige Vorschläge, wie sie beide sowohl den Anschein des urlaubenden Ehepaars aufrechterhalten wie auch ihren Auftrag ausführen konnten.
Als sie ihr Gespräch mit Wagner beendet hatten, sicherte Torsten als Erstes ihre Kabine wieder so, dass niemand unbemerkt eindringen konnte. Anschließend zog er sich um und verließ den Raum, um auf das eisige Sonnendeck hochzufahren.
Während er die Kapuze seines Parkas über den Kopf zog, um das Gesicht vor dem scharfen Wind zu schützen, starrte er in die Nacht hinaus. Ausnahmsweise schneite es nicht, und so sah er die Lichter der Städte und Ortschaften an der Küste und den umliegenden Inseln wie kleine Sterne am Horizont. Es war ein friedliches Bild. Nur ungern mochte er sich vorstellen, dass hier noch mehr Menschen planten, einander umzubringen.
Als er Schritte hörte, drehte er sich um. Ein Mann kam auf ihn zu. Ein dicker Parka und eine Kapuze verhüllten ihn, dennoch erkannte Torsten John Thornton. Dieser stellte sich neben ihn an die Reling und blickte ebenfalls auf die Lichter hinaus.
»Es ist eine wunderschöne Nacht, findest du nicht auch?«
»Allerdings!«
»Wir sollten sie genießen, denn schon bald wird uns die Zeit dafür fehlen«, antwortete Thornton.
»Rumble will also losschlagen?«
»Hätte mir denken können, dass du herausfindest, wer der Mann ist. Ja, er will zuschlagen, und ich soll ihm dabei helfen. Aber da es mir bis jetzt noch nicht gelungen ist, Valdez einwandfrei zu identifizieren, habe ich sein Wohlwollen schon wieder verspielt. Jetzt geht die Sache an mir vorbei, und ich kann nur hoffen, dass es keine Unschuldigen erwischt.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Torsten leise.
Doch er fürchtete Schlimmes.