EINS
Espen Terjesen wandte den Blick von den Kontrollanzeigen des Tauchboots und sah Age Hemsedalen an, der am Sonargerät saß und ebenso angestrengt wie ergebnislos horchte.
»Wie es aussieht, ist das Flugzeug nicht in dem Seegebiet abgestürzt, das du berechnet hast. Sonst hätten wir es finden müssen!«
»Das ist nicht gut! Ihr Bruder will Ergebnisse sehen, und wenn wir ihm keine liefern, sieht es für Sie genauso duster aus wie für mich.«
»Das kannst du laut sagen!«, erwiderte Espen wuterfüllt.
In seiner Situation war er darauf angewiesen, was sein Bruder seinetwegen unternahm. Wenn ihn Torvald nicht aus der Hand seiner angeblichen Entführer freikaufte, würde er nur mit einem falschen Pass und unter einem angenommenen Namen in die Zivilisation zurückkehren können. Doch dann war er nicht mehr der Bruder des Besitzers der International Energies und mehrfacher Millionär. Dabei war sein ursprünglicher Plan so simpel gewesen, dass er eigentlich niemals hätte schiefgehen dürfen.
Auch bei seinen Vorbereitungen hatte er größte Sorgfalt walten lassen. Die Trollfjord hätte untergehen müssen! Zwei Tage nach dem Unglück wäre ein dafür bereitstehendes Schiff in dem Seegebiet aufgetaucht und hätte Hemsedalen, Aurland und ihn als einzige Überlebende gerettet. Er hatte sich sogar eine gute Geschichte ausgedacht, um dies glaubhaft zu machen. Da aber das Postschiff nicht gesunken war, konnten seine beiden Männer und er sich nicht als Überlebende ausgeben.
»Es ist einfach miserabel gelaufen«, sagte er und schaltete den Antrieb des Tauchboots auf volle Fahrt.
»Das kriegen wir schon hin«, antwortete Hemsedalen, um ihn zu beruhigen. »Zwar ist Ihr Bruder sauer auf uns, aber das wird sich legen, wenn wir das Flugzeugwrack gefunden haben. Bis jetzt ist noch nichts verloren. Die Polizei vermutet Terroristen hinter der Aktion, und von den verschiedenen Geheimdiensten glaubt jeder, der andere wäre es gewesen.«
Obwohl das stimmte, konnte Espen Terjesen keinen Trost aus diesem Umstand ziehen. Dafür hatte sein Ego einen zu empfindlichen Schlag erhalten. Außerdem musste er sich Torvalds Vertrauen neu erwerben, und das hieß erst einmal, in diesem engen Tauchboot zu sitzen und den Meeresgrund weiträumig abzusuchen.
»Wenigstens haben wir im Unterschied zu anderen Tauchbooten eine Toilette und eine kleine Küche an Bord!«, sagte er mehr zu sich als zu Hemsedalen.
»Soll das die Aufforderung sein, eines des Tiefkühlgerichte in den Topf zu knallen?«, fragte sein Kopilot und grinste schief. »Auf der Trollfjord haben wir besser gegessen.«
»Dann bemüh dich mal!« Espen übernahm Hemsedalens Sonarkopfhörer und verringerte die Geschwindigkeit des Bootes, um das nächste Stück Meeresboden abzusuchen.
»Wir werden bald auftauchen und mit der Ymir Kontakt aufnehmen müssen«, sagte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr. Bei diesen Worten erinnerte er sich daran, was er bei ihrem letzten Rendezvous mit der Ymir von deren Kapitän erfahren hatte. Einer der gefangenen Chinesen hatte eine Uhr mit einem Spezialsender getragen, und dieses Signal hatte ihnen höchstwahrscheinlich das ominöse Flugzeug auf den Hals gehetzt.
»Wir müssen den Kasten finden und herausbekommen, von wo er hergekommen ist und wer ihn geflogen hat«, überlegte er laut. In diesem Moment schlug das hochempfindliche Sonar an.
»Wir haben etwas!«, rief er und lenkte das Tauchboot in die Richtung, aus der das Signal kam. Gleichzeitig verstärkte er die Leistung der Scheinwerfer, um mehr sehen zu können.
Hemsedalen ließ die Schale mit dem Rentiereintopf im Mikrowellenherd stehen und setzte sich wieder an seinen Platz. »Gleich haben wir das Ding!«
Seine Hoffnung, das Wrack zu finden, wurde jedoch enttäuscht. Als sie die Stelle erreichten, lag dort nur ein viereckiger Kasten im Schlick, etwa dreißig mal vierzig Zentimeter groß, weiß lackiert und mit einem roten Kreuz versehen.
»Ein Verbandskasten!«, rief Espen Terjesen aus. »Wahrscheinlich ist die Maschine beim Aufprall auf die Wasseroberfläche zerbrochen und liegt jetzt hier in ihren Einzelteilen!«
Seine Ansicht schien sich zu bestätigen. Nur einhundert Meter von dem Verbandskasten entfernt entdeckten sie einen Laptop und unweit davon andere Gegenstände, darunter sogar einen noch geschlossenen Fallschirm.
»Kann mir denken, dass sie keine Lust hatten, hier über dem Meer abzuspringen«, spottete Hemsedalen. Dann aber rief ihn das Piepsen des Mikrowellenherds in die Nische, die die winzige Küche des Tauchboots enthielt.
»Soll ich das Zeug wieder in den Kühlschrank tun und später noch mal aufwärmen?«, fragte er, denn die Suche nach dem Flugzeugwrack interessierte ihn im Moment mehr als sein Magen.
Espen wollte schon zustimmen, dachte sich dann aber, dass das Essen nun einmal warm war, und setzte das Tauchboot an einer ebenen Stelle ab. »Stärken wir uns, bevor wir weitersuchen. Lange kann es nicht mehr dauern.«
»Sie haben Nerven!«, stöhnte Hemsedalen. »Wenn wir das Flugzeug gefunden haben, können wir zur Station zurückkehren und dort richtig essen.«
»So schnell wird das nicht gehen. Wir müssen die Maschine und die verstreuten Gegenstände bergen, vor allem aber die Leichen der Besatzung! Das braucht seine Zeit.«
Mit diesen Worten schaltete Espen Terjesen das Tauchboot in den Ruhemodus und lehnte sich entspannt zurück.
»Aurland und der Kapitän der Fenrisulfr haben offensichtlich die Wahrheit gesagt, als sie behaupteten, die fremde Maschine mit dem MG stark beschädigt zu haben. Wenn wir herausfinden können, dass die Funkanlage zerstört wurde, wird mein Bruder sich wieder einkriegen.«
Espen ließ sich von Hemsedalen den Teller reichen und stellte diesen auf dem Kontrollpult ab.
»Wenn Sie etwas verschütten, ist unsere Elektronik im Eimer, und wir sitzen hier bis in alle Ewigkeit fest«, mahnte Hemsedalen mit einem besorgten Seitenblick.
Ihm war der Juniorchef der International Energies einfach zu leichtsinnig. Das hatte sich schon bei Paris gezeigt, als er mit Nastja Paragina in seinem Sportwagen hatte herumfahren müssen. Auf der Trollfjord war es ebenfalls nicht nach Plan gelaufen, und nun tat Espen Terjesen so, als wären sie auf einer gemütlichen Kaffeefahrt.
Dabei befanden sie sich mehr als tausend Meter unter dem Meeresspiegel. Wenn hier etwas geschah, konnte ihnen nur ein Rettungsschiff mit einem langen Stahlseil und einem Tauchroboter helfen. Dafür aber benötigten sie an der Oberfläche offene See und nicht das Treibeis des arktischen Winters. Sie konnten nicht warten, bis das Polareis wieder zurückging, denn ihre Sauerstoffvorräte reichten nur noch für maximal zwei Tage.
ZWEI
Die weitere Suche war eine Enttäuschung. Nach den ersten hoffnungsvollen Funden war zunächst Schluss. Obwohl Espen Terjesen das Gebiet in immer weiteren Kreisen absuchte, entdeckten sie weder Wrackteile noch andere Anzeichen, dass hier ein Flugzeug ins Meer gestürzt war.
»Vielleicht ist es oben auf einer Treibeisscholle heruntergekommen«, meinte Hemsedalen zuletzt.
Espen schüttelte den Kopf. »Dann wäre das andere Zeug nicht auf den Grund gesunken. Ich schätze, sie haben diese Gegenstände abgeworfen, um wieder Höhe zu gewinnen. Wenn du auf die Karte schaust, bilden die Sachen, die wir gefunden haben, eine leicht gebogene Linie. Das muss der Kurs der Maschine gewesen sein. Diesem werden wir jetzt folgen.«
Damit schob er den Geschwindigkeitsregler wieder bis zum Anschlag vor und schwebte so hoch über den Boden dahin, dass die Scheinwerfer diesen gerade noch ausleuchteten.
»Was machen wir eigentlich mit der Ymir? Wir wollten uns doch mit ihr treffen«, wandte Hemsedalen nach einer Weile ein.
Nach kurzem Überlegen nickte Espen. »Also gut. Wir tauchen auf und geben das Signal für das Rendezvous.«
Unterdessen musterte Hemsedalen die Karte und deutete auf die zweitgrößte Insel des Svalbard-Archipels. »Wir sind schon ziemlich nahe an Nordaustlandet. Vielleicht hat das Flugzeug es doch bis dorthin geschafft!«
»Es gibt keine Landemöglichkeit auf der Insel. Und selbst wenn sie den Vogel halbwegs gesittet auf dem Gletscher gelandet haben, befinden sie sich in einer Eiswüste, in der sie ohne die entsprechende Ausrüstung nicht überleben können.« Doch auch wenn Espen Terjesen davon überzeugt war, hatte er keinen Zweifel daran, dass sein Bruder mit einer solchen Aussage allein nicht zufrieden sein würde. Er bleckte die Zähne. »Wenn wir das Wrack nicht im Meer finden, müssen wir an Land weitersuchen.«
»Ich habe wenig Lust, bei den herrschenden Temperaturen mit einem Ultraleichtflugzeug aufzusteigen«, erklärte Hemsedalen abwehrend.
Das erging Espen nicht anders. Höchst verärgert, weil sich das Schicksal gegen ihn gewandt zu haben schien, ließ er das Tauchboot langsam aufsteigen.
Auf einmal stieß neben ihm Hemsedalen einen Schrei aus und wies mit dem Finger nach oben. »Sehen Sie dort! Ein Toter!«
Espen verringerte die Steiggeschwindigkeit und steuerte das Tauchboot in die Richtung, in der sein Begleiter die Leiche entdeckt hatte. Als er den Bug des Tauchboots leicht hob, konnte er den Toten direkt vor sich sehen. Es war eine Frau in einem blauen Parka mit weit ausgebreiteten Armen.
Hemsedalen pfiff leise durch die Zähne. »Eine Frau! Wie es aussieht eine Chinesin. Wenn sich so eine hier herumtreibt, gehört sie sicher zum Geheimdienst!«
»Um die Jahreszeit müssen wir davon ausgehen. Wäre Sommer, könnte es auch eine Touristin sein, die bei einer Arktiskreuzfahrt über Bord gegangen ist«, antwortete Espen.
Nach einem weiteren Blick auf den Leichnam schüttelte Hemsedalen den Kopf. »Die hier muss in diesem Flugzeug gewesen sein. Die war auch auf der Trollfjord. Zumindest kommt sie mir bekannt vor.«
»Wie es aussieht, ist das Flugzeug kurz vor der Insel ins Meer gestürzt. Schade, dass wir fast schon oben sind. Ich würde lieber unten weitersuchen.«
Espen war erleichtert, das Geheimnis des unbekannten Flugzeugs nun in Kürze lösen zu können.
Doch Hemsedalen brachte den nächsten Einwand. »Was ist, wenn das Flugzeug oben auf dem Treibeis liegt?«
»Dort finden wir es noch schneller als hier unten. Aber Ende Dezember ist eine sehr schlechte Zeit, um hier mit einem Ultraleichtflugzeug aufzusteigen.«
»Was machen wir mit der Leiche?«, wollte Hemsedalen wissen.
»Die bergen wir und übergeben sie beim nächsten Treffen der Ymir!« Noch während er es sagte, lenkte Espen das Tauchboot so, dass sie die Tote mit den Robotergreifarmen fassen und in den unter dem Bug hängenden Korb legen konnten. Dann suchte er eine Lücke im Eis und tauchte vollständig auf.
Ihr Signal war kurz und für andere Empfänger auf eine Entfernung von dreißig Seemeilen nur noch als elektromagnetischer Impuls zu erkennen, der in dieser Gegend auch eine natürliche Ursache haben konnte. Die Ymir antwortete mit einem entsprechenden Signal. Da sie weniger als fünf Kilometer entfernt lag, konnte Espen ihr die eigene Position mit schwächster Leistung mitteilen. Er bejahte noch die Frage, ob genügend eisfreier Platz für das U-Boot vorhanden wäre, und wartete dann auf die Ymir. Da es aussah, als würde die Suche noch einige Zeit in Anspruch nehmen, brauchten sie neue Vorräte und mussten vor allem die Sauerstoffreserven aufstocken.
Dabei schälte sich bereits heraus, dass der nächste Rendezvouspunkt mit dem U-Boot eine kleine, versteckte Bucht auf Nordaustlandet sein würde, in der die Russen vor mehr als sechzig Jahren einen Stützpunkt für ihre Fischereiflotte eingerichtet hatten. Dass dieser in erster Linie Spionagezwecken gedient hatte, war ein offenes Geheimnis. Vor knapp zwei Jahrzehnten war er aufgegeben worden, und nun verwendeten sein Bruder und er ihn für ihre eigenen Zwecke. Falls er unter Wasser nichts mehr fand, würde er von dort aus mit dem Ultraleichtflugzeug aufsteigen und nach dem Flugzeugwrack und möglichen Überlebenden suchen müssen.
DREI
Torsten stöhnte, als Henriette ihm erneut den scharfen Wodka auf die Verletzung an seiner Hüfte träufelte. Dabei zog sie die Wundränder unbarmherzig auseinander, damit die Flüssigkeit überall eindringen konnte. Es brannte so heftig, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Doch ihm war klar, dass dies die einzige Möglichkeit war, seine Verletzung zu versorgen. Mittlerweile hatte er leichtes Fieber und war von den beiden Frauen dazu verdonnert worden, auf der provisorischen Pritsche liegen zu bleiben, die sie in der Nähe des Ofens aufgebaut hatten.
»Haben Sie Durst?«, fragte Dai Zhoushe.
»Ja! Ich könnte ein Bier vertragen!«
»Damit kann ich nicht dienen, es gibt nur Wasser«, antwortete die Chinesin und reichte ihm einen der Plastikbecher, die sie in der Hütte gefunden hatten.
Während Torsten trank, beobachtete er Henriette, die nun an seiner Stelle den Kontakt mit Wagner und Petra aufrechterhielt. Um den Akku nicht zu sehr zu belasten, beschränkte sich die Verbindungszeit auf je fünf Minuten um sechs Uhr am Morgen und weitere fünf Minuten um sechs Uhr am Abend. Neues hatte sich in den beiden Tagen, die sie bereits hier festsaßen, allerdings nicht ergeben.
Entsprechend missmutig beendete Henriette die Verbindung und goss sich ebenfalls einen Becher Wasser ein. Dabei bemerkte sie, dass der Topf fast leer war. »Ich hole frischen Schnee!«, rief sie Dai Zhoushe zu und zog sich den Parka an.
»Ist gut!«
Henriette nahm den Topf und verließ die Hütte. Draußen war es eiskalt und die Luft klar. Am Himmel prangten die Sterne in einer Pracht, dass sie beinahe das Gefühl hatte, zwischen ihnen zu stehen. Seufzend schaltete sie ihre Taschenlampe ein und ging ein Stück, um Schnee in den Topf zu schaufeln und zusammenzupressen, damit sie genug Wasser für den nächsten Tag schmelzen konnten.
Da vernahm sie ein Geräusch. Sie blickte auf, sah zunächst nichts und wollte schon weiterschaufeln, als sich etwas, das sie für einen Schneehaufen gehalten hatten, plötzlich in Bewegung setzte und auf sie zukam.
»Ein Eisbär!« Erschrocken ließ Henriette den Topf fallen und wich zurück. Gleichzeitig tastete sie nach ihrer Pistole. Doch die hatte sie in der Hütte zurückgelassen.
»Wie kann man nur so blöd sein!«, schimpfte sie mit sich selbst, rannte auf die Hütte zu, so schnell sie konnte, riss die Tür auf und sprang hinein. Noch in der Bewegung schlug sie die Tür wieder zu und blieb schwer atmend stehen.
»Draußen ist ein Eisbär!«, brachte sie mühsam heraus.
»Was?« Dai Zhoushe war mit zwei Schritten bei ihr und drehte den Schlüssel um.
»Jetzt kommt er nicht mehr herein«, sagte sie.
Im selben Augenblick krachte etwas Schweres gegen die Tür, und diese knirschte, als würde sie gleich aus den Angeln gerissen werden.
Henriette holte ihre Pistole und lud sie durch. »Du bekommst uns nicht!«, fauchte sie und richtete die Waffe auf die Tür, die nun unter den Tatzenhieben des Bären erzitterte.
Auch Torsten nahm seine Pistole und rief den Frauen zu, aus der Schussbahn zu gehen. Die Tür war zu dünn, um den Kräften des Bären lange widerstehen zu können, und es hörte sich so an, als würde das Tier jeden Augenblick durchbrechen.
Dai Zhoushe schüttelte energisch den Kopf. »Ihr könnt die Bestie nicht mit euren Pistolen töten. Wenn ihr das Tier verletzt, wird es nur noch wütender. Vielleicht geht es anders!« Sie eilte zu ihrem Parka, griff hinein und holte den kleinen Sprühflakon heraus, der den Aufdruck eines gehobenen Kosmetikherstellers trug.
»Machen Sie mir die Tür auf, Frau von Tarow!«, befahl sie. »Wir müssen schnell sein. Und bitte schießen Sie nicht!«
Das Letztere galt Torsten und sollte verhindern, dass dieser seine Waffe einsetzte, weil er glaubte, sie und seine Kollegin beschützen zu müssen.
»Glauben Sie etwa, dass sich das Vieh durch Parfüm vertreiben lässt?«, fragte Henriette bissig.
Erneut bebte die Tür, und von draußen klang das hungrige Brummen des Eisbären herein.
»Machen Sie schon!«, fauchte Dai Zhoushe.
Henriette zuckte mit den Achseln, schloss auf und öffnete mit einem Ruck die Tür.
Dai Zhoushe trat einen Schritt auf den Eisbären zu und drückte auf den Kopf des Parfümzerstäubers. Mit einem heftigen Zischen schoss ein Sprühstrahl dem Bären entgegen und traf ihn in Augen und Schnauze.
Im nächsten Moment sprang Dai Zhoushe zurück und rief: »Tür zu!«
Henriette gehorchte sofort. Als sie die Tür zuschlug, sah sie noch, wie der Eisbär zurückwich, während er sich die Seele aus dem Leib zu brüllen schien.
»Was war das für ein Teufelszeug?«, fragte sie die Chinesin verdattert.
Dai Zhoushe steckte den Flakon wieder weg und lächelte. »Ein neu entwickelter Kampfstoff. Die Dosis, die ich dem Eisbären verpasst habe, reicht im Allgemeinen aus, um einen gesunden Menschen zu töten. Der Bär wird es wahrscheinlich überleben, aber fürs Erste haben wir ihn uns vom Hals geschafft.«
Während Dai Zhoushe sehr zufrieden aussah, begriffen Henriette und Torsten, dass sie die Chinesin niemals unterschätzen durften. Auch wenn sie im Augenblick am selben Strang zogen, so verfolgten sie doch unterschiedliche Ziele.
Unterdessen öffnete Dai Zhoushe die Tür und blickte hinaus. »Wie es aussieht, können wir jetzt Schnee holen«, sagte sie zu Henriette.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch folgte diese der Chinesin nach draußen. Obwohl die Geschosse aus ihrer Pistole nicht die Durchschlagskraft hatten, einen wütenden Eisbären zu stoppen, hielt sie ihre Waffe in der Hand. Damit fühlte sie sich sicherer und war außerdem dankbar, dass Torsten aufgestanden war und in der Tür auf sie wartete.
Es dauerte eine Weile, bis Henriette den Topf wiederfand. Sie füllte ihn bis zum Rand mit Schnee, schleppte ihn zur Hütte und atmete erleichtert auf, als Dai Zhoushe die Tür hinter ihnen wieder versperrte.
»Langsam sollte Petra etwas einfallen, sonst bekommt der Bär doch noch Lust wiederzukommen. Vielleicht bringt er dann auch noch seine Familie mit«, meinte sie zu Torsten.
»Sie wird uns nicht im Stich lassen«, antwortete ihr Kollege in einem Tonfall, der nicht ganz überzeugt klang, und legte sich wieder hin. Langsam fühlte er sich besser. Die Platzwunde am Kopf behinderte ihn nicht mehr, und die Hüftverletzung schien gut zu verheilen. Das war aber auch nötig, denn er wollte den beiden Frauen nicht noch länger zur Last fallen.
VIER
Nach vielen weiteren Stunden der Suche ohne Ergebnis lenkten Espen Terjesen und Age Hemsedalen das Tauchboot zu der kleinen Bucht, die früher sowjetische Fischtrawler in den wenigen Sommermonaten als Basis benutzt hatten. Dort waren in eisfreien Monaten noch die Fundamente jener Funkmasten zu sehen, die mehr der Spionage als der Sicherheit der Schiffe gedient hatten. Da die norwegischen Behörden sich nicht um die verlassene Station kümmerten, konnte Torvald Terjesen dort schalten und walten, wie es ihm gefiel.
Die Bucht war zugefroren, doch unter dem Dach eines ehemaligen Lagergebäudes existierte noch ein U-Boot-Hangar aus russischer Zeit, den sie mühelos ansteuern konnten. Als Espen Terjesen das Tauchboot nach oben schweben ließ, sah er, dass die Ymir bereits in der Halle lag. Einige Matrosen arbeiteten in dicke Kleidung gehüllt im vorderen Teil, der nicht für das geheime Hafenbecken ausgehöhlt worden war, und schraubten dort das Ultraleichtflugzeug zusammen.
Der Kapitän der Ymir kam Espen entgegen und salutierte. Früher hatte der Mann bei der englischen Navy gedient, war aber wegen einiger Verfehlungen seines Postens enthoben worden und froh gewesen, als die Terjesens ihn angeheuert hatten.
»Na, wie war’s?«, fragte er.
»Wir haben nur noch altes Gerümpel entdeckt, das die Russen hier versenkt haben. Wie es aussieht, hat das Flugzeug es doch bis zur Insel geschafft.«
»Na, dann viel Vergnügen mit dem Ding da!« Der Kapitän wies mit dem Daumen auf das aus Karbonröhren zusammengebaute Leichtflugzeug. Die dunkelgraue Kunststoffbespannung der Tragflächen war während der nördlichen Polarnacht kaum auszumachen. Dieser Vorteil wurde jedoch von den vielen Nachteilen aufgewogen, die die Mittwinterzeit und die Kälte mit sich brachten.
»Draußen ist es so dunkel, dass man nichts erkennen kann, selbst wenn es nur von einer dünnen Schneedecke bedeckt ist. Wie wollen Sie unter diesen Umständen das Flugzeug finden?«, fragte der Kapitän besorgt.
»Mit einem Metalldetektor, einem Wärmespürer und ein paar weiteren Spielzeugen, die schon bei den Einzelteilen des Fluggeräts liegen. Ihre Leute sollen die Sachen so anbringen, dass ich sie bedienen kann. Das Wichtigste ist ein kräftiger Scheinwerfer, der sich nach der Landung abnehmen lässt.«
»Morgen früh steht alles bereit, Sir!« Der Mann salutierte noch einmal und stiefelte davon, um den Matrosen die entsprechenden Befehle zu erteilen.
Espen Terjesen betrat unterdessen ein Gebäude, das von außen verfallen wirkte, innen aber recht gut ausgestattet war. Im Ofen loderte ein Feuer, und der Koch des U-Boots war gerade dabei, den Inhalt eines großen Topfes in Teller umzufüllen. Ohne sich zu Espen umzusehen, sagte er, er solle sich an den Tisch setzen. Dann erst merkte er, dass er seinem zweithöchsten Chef gegenüberstand, und erschrak. Doch Espen dachte nur an den Flug, zu dem er am nächsten Morgen aufsteigen musste, und klopfte dem Mann auf die Schulter.
»Was gibt es Feines?«
»Rentiereintopf!«
»Wohl schon das fünfte Mal in der Woche?«, fragte Espen spöttisch.
Der Koch schüttelte empört den Kopf. »Erst das zweite Mal! Gestern gab es Fischeintopf und am Tag davor Chili con Carne.«
»Gib einen Teller her! Im Boot haben wir heute nicht mehr kochen können!«
Espen Terjesen zog seinen Parka aus und setzte sich an die Stirnseite des Tisches. Eine Minute später standen ein voller Teller sowie ein Glas alkoholfreien Bieres vor ihm. Während er zu essen begann, kam auch Age Hemsedalen herein.
»Guten Appetit, Herr Terjesen.«
»Danke! Hast du das Tauchboot gesichert?«, fragte Espen.
»Natürlich! Das Ding liegt fest, und die Luke ist geschlossen. Selbst bei einer Sintflut würde es nicht davonschwimmen.«
Dann wandte er sich an den Koch. »Du könntest mir auch einen Teller geben. Was gibt es denn Gutes?«
»Rentiereintopf!«, antwortete Espen anstelle des Kochs.
Stöhnend schüttelte Hemsedalen den Kopf. »Hat Ihr Bruder einen Generalvertrag mit einem Rentierzüchter abgeschlossen? Ich kann das Zeug bald nicht mehr riechen.«
Espen sah ihn grinsend an. »Gestern gab es Chili con Carne und vorgestern Fischeintopf, habe ich gehört.«
»Umgekehrt, Herr Terjesen! Gestern gab es den Fisch und vorgestern das Chili«, korrigierte ihn der Koch.
Weder Espen noch Hemsedalen achteten auf ihn, sondern diskutierten, in welcher Gegend das fremde Flugzeug niedergegangen sein könnte.
»Hoffentlich ist es nicht bis Longyearbyen gekommen«, warf der Koch ein.
»Bestimmt nicht! Wir haben Vertrauensleute in allen größeren Orten auf den Inseln. Keiner von ihnen hat von dem Flugzeug gehört. Es muss auf Nordaustlandet gelandet oder abgestürzt sein«, antwortete Espen, der die gleiche Frage schon dem Kapitän der Ymir gestellt hatte.
»Abgestürzt wäre mir am liebsten! Dann müssten wir nur die Überreste wegräumen und hätten unsere Ruhe.« Hemsedalen grinste, zog aber den Kopf ein, als Espen ihn mit einem tadelnden Blick maß.
»Ich hoffe sogar, dass es noch Überlebende gibt. Die können wir gefangen nehmen und verhören«, erklärte der Juniorchef. »Ich will wissen, woher die Leute gekommen sind und wie sie es geschafft haben, die Position unseres Stützpunkts zu ermitteln. Doch dafür brauche ich Unterstützung auf dem Boden. Hemsedalen, du wählst vier Leute von der Ymir aus. Ihr folgt mir mit den Schneemobilen und erhaltet eure Befehle von mir über Funk.«
Hemsedalen verzog das Gesicht angesichts der Vorstellung, stundenlang durch die Kälte fahren zu müssen. Außerdem gab es noch einen Punkt. »Ich kann nur drei Männer raussuchen, weil wir hier nur über vier funktionsfähige Schneemobile verfügen. Das fünfte ist im letzten Winter kaputtgegangen und bisher nicht repariert worden.«
»Vier werden auch reichen! Den Radaraufnahmen nach war das Flugzeug nicht besonders groß.«
Damit war für Espen Terjesen alles gesagt. Er aß in Ruhe fertig, scherzte noch ein wenig mit den Männern, die nach ihm in die improvisierte Kantine kamen, und legte sich kurz darauf schlafen. Unterdessen wählte Hemsedalen die drei Männer aus, die ihn begleiten sollten, überprüfte die Schneemobile und blickte zuletzt in die nordische Nacht hinein, die schier kein Ende nehmen wollte. Morgen, sagte er sich, würden sie die Kerle fangen, denen es gelungen war, ihnen bis fast zu der Festung unter dem Meer zu folgen. Damit konnten sie die Scharte mit der Trollfjord wieder auswetzen.
FÜNF
Es war bitterkalt, doch Espen Terjesen steckte in einem Thermoanzug mit den dazugehörigen Überschuhen und Handschuhen. Sein Gesicht war fast vollständig bedeckt, und er trug eine Nachtsichtbrille sowie ein Funkgerät, das er mit seiner Stimme ein- und ausschalten konnte, sowie eine Pistole in einem Halfter. Er fühlte sich gut ausgerüstet und trat zu Hemsedalen und seinen Leuten. Auch sie hatten bereits ihre Winterkleidung angezogen und checkten noch einmal die Schneemobile.
Espen stellte sich vor sie hin und erteilte beinahe übermütig seine Anweisungen. »Also, Männer, zwei von euch nehmen eine MP mit und zwei ein Jagdgewehr mit Nachtzielfernrohr. Ihr fahrt erst einmal in die Richtung, in der wir das Flugzeug vermuten. Ich fliege voraus und leite euch über Funk.«
»Was ist mit der Schutzhütte der Nationalparkverwaltung?«, fragte Hemsedalen. »Die liegt doch beinahe auf unserem Weg.«
»Um die kümmern wir uns später! Vorher will ich das Flugzeug finden. Da es in den letzten Tagen nicht geschneit hat, gibt es mit Sicherheit Spuren, denen wir folgen können.«
Mit dem Wetter war Espen Terjesen das erste Mal seit Tagen zufrieden. Auf der Trollfjord war es für seine Pläne fast zu stürmisch gewesen. Andererseits hätten bei Windstille die Behörden gerätselt, weshalb das Hurtigruten-Schiff plötzlich untergegangen war. Das erinnerte ihn an die unangenehme Tatsache, dass weder der Sturm noch die Bomben im Laderaum die Trollfjord versenkt hatten. Aus diesem Grund hatte er nun einen Haufen Ärger am Hals, den er hier aus der Welt schaffen musste.
»Also, Leute, macht euch fertig!«, forderte er seine Begleiter auf und ging zu dem Ultraleichtflugzeug. Zwei Männer halfen ihm, Platz zu nehmen, befestigten die Geräte so, dass er sie ohne Mühe ablesen konnte, und schalteten sie ein. Mit seinen dicken Fäustlingen und Überhandschuhen konnte er zwar die Hebel der Flugmaschine bedienen, aber nicht die kleinen Kippschalter des Radars und der anderen Spürgeräte.
Espen drehte sich zu Hemsedalen um. »Seid ihr so weit?«
Dieser nickte, vergewisserte sich, dass seine Jagdflinte sicher verstaut war, und startete sein Schneemobil. Dann winkte er Espen zu. »Wir können aufbrechen!«, sagte er über Sprechfunk.
»Dann Start!« Terjesen richtete die Maschine aus und drückte den Anlasser. Der Motor begann anstandslos zu laufen, und als er den Gashebel nach vorne schob, spürte er den Zug des Propellers. Er rannte ein paar Schritte, bis die Tragfläche genug Wind fing, und stieß sich ab. Zuerst sah es so aus, als würde der Flugdrachen nicht hochkommen und an der Eiswand hinter der Bucht zerschellen. Dann aber gewann das Fluggerät an Höhe, und Espen zog fünfzig Meter über der Station eine Schleife. Er sah sich um und klopfte sich in Gedanken auf die Schulter. Aus der Luft war nicht einmal zu erahnen, dass in dieser Bucht ein U-Boot und ein etwas kleineres Tauchboot versteckt lagen. Hemsedalen und dessen Begleiter wirkten auf diese Entfernung wie Jäger auf einer winterlichen Pirsch. Das waren sie im Grunde auch, fuhr es Espen Terjesen durch den Kopf. Sie alle waren Jäger, und ihre Beute würde die Besatzung jenes ominösen Flugzeugs sein.
»Adler an Eisbär 1. Wie ist die Verbindung?«, sprach er in sein Mikrofon.
»Ich höre Sie klar und deutlich«, gab Hemsedalen zurück.
Espen erklärte ihm, dass er nun in die Richtung fliegen würde, in der den Berechnungen nach die Trümmer des Flugzeugs liegen mussten. »Ihr folgt mir mit euren Polarmotorrädern«, setzte er fröhlich hinzu und startete durch.
Die alte Fischereistation blieb rasch hinter ihm zurück, und eine Weile sah er unter sich nichts als den Gletscher, der das Sternenlicht schwach reflektierte. Ohne die Instrumente wäre die Orientierung für ihn nahezu unmöglich gewesen, doch mit Hilfe der Anzeigen konnte er genau auf die Stelle zuhalten, die er sich als erstes Ziel gesetzt hatte. Schließlich schwebte er über die Küstenlinie hinaus auf die See. Dort schlug er einen Bogen und flog denselben Kurs, den das Flugzeug genommen haben musste.
Nachdem er mehrere Kilometer geflogen war, ohne dass eines seiner Suchgeräte anschlug, begann er eine Art Luftslalom, um ein größeres Gebiet durchsuchen zu können.
Ein rotes Blinklicht zeigte an, dass eines der Geräte etwas ausgemacht hatte. Espen flog darauf zu und sah kurz darauf etwas Dunkles aus dem Schnee ragen. Als er den Scheinwerfer einschaltete, entpuppte es sich als Flugzeugwrack, dem eine Tragfläche fehlte. Deren Einzelteile entdeckte er ein Stück weiter hinten. Von den Passagieren war nichts zu sehen. Aus Sorge, die Havarierten könnten in der Nähe versteckt sein, riskierte Espen es nicht zu landen, sondern funkte Hemsedalen an.
»Adler an Eisbär 1. Ich habe das Flugzeug entdeckt. Kommt hierher nach …« Er warf einen Blick auf das GPS-Gerät und gab die entsprechenden Daten durch.
»Eisbär 1 an Adler. Wir haben verstanden! Sind in einer halben Stunde dort!«, klang Hemsedalens Stimme aus dem Empfangsgerät, und Espen hörte den Motor des Schneemobils aufheulen. Daher unterbrach er die Verbindung und kreiste wie ein Geier über der Stelle, an der das Flugzeug lag.
Es dauerte nicht lange, da sah er die vier Schneemobile und gab den Männern ein Lichtsignal. Als die Fahrzeuge schließlich in der Nähe des Flugzeugwracks stehen blieben und es mit ihren Scheinwerfern ausleuchteten, landete auch er mit einer eleganten Schleife gegen die Windrichtung.
»Die Kerle sind tatsächlich bis zur Insel gelangt«, rief Hemsedalen ihm verwundert entgegen.
»Aber wo sind sie abgeblieben?« Espen Terjesen ließ sich aus den Haltegurten helfen und trat auf das Flugzeug zu. Es hatte bei der Bruchlandung ziemlich gelitten, und überall sah man Einschläge von MG-Geschossen.
Espen zeigte darauf. »Aurland hat nicht geflunkert. Schaut, wie die Fenrisulfr diese Kiste beharkt hat. Es ist ein Wunder, dass die Maschine überhaupt in der Luft geblieben ist. Derjenige, der das Ding bis hierhergebracht hat, muss als Pilot ein Genie sein! Ich wollte, wir könnten ihn anheuern.«
Unterdessen steckte Hemsedalen den Kopf in das Innere des Wracks und drehte sich dann wieder zu Espen um. »Es gibt vier Sitze einschließlich des Pilotensitzes. Einer muss schwer geblutet haben, denn neben dem Pilotensitz ist alles versaut.«
»Maximal vier Personen, eine davon die Tote und eine weitere verletzt. Das wird eine leichte Übung für uns«, erklärte Espen Terjesen zufrieden.
Er nahm seinen Handscheinwerfer und suchte in der Umgebung nach Spuren. Zunächst fand er nichts, da die Kufen und Antriebsraupen der Schneemobile alles ausgelöscht hatten. Doch ein Stück weiter entdeckte er die halbverwehten Fußabdrücke von drei Personen. Als er sie genauer betrachtete, sah es so aus, als wäre eine davon von einer zweiten gestützt worden.
»Ich glaube, die Kerle sind in diese Richtung gegangen!«, rief er Hemsedalen zu und zeigte nach Nordwesten.
Dieser antwortete mit einem Fluch. »Die kennen sich verdammt gut hier aus! In der Richtung liegt die Rangerstation.«
»Herr Terjesen!«, meldete sich da eine Stimme hinter ihm. »Ich habe mir das Innere des Flugzeugs angesehen. Das Funkgerät und die meisten Bordinstrumente sind durch MG-Kugeln beschädigt worden. Die Besatzung hat mit Sicherheit keinen Funkspruch mehr absetzen können.«
»Das ist doch wenigstens etwas!«, antwortete Espen. »Wie steht es mit der Hütte der Nationalparkverwaltung? Gibt es dort ein Funkgerät?«
»Nein! Darin findet man kaum mehr als ein paar Konservendosen«, erklärte Hemsedalen und setzte hinzu, dass die Hütte im Sommer eher von Wissenschaftlern als von Nationalparkaufsehern bewohnt würde.
»Die haben ihre eigene Ausrüstung einschließlich der Funkgeräte bei sich. Aber jetzt im Winter ist dort niemand. Wenn die Leute Glück haben und die Lebensmittel ausreichen, werden sie im Frühsommer von Rangern gefunden und gerettet.«
»Ich glaube nicht, dass wir den Kerlen so viel Zeit lassen werden«, sagte Espen mit einem zufriedenen Lächeln. »Los, auf zur Nationalparkhütte! Wir sorgen dafür, dass die Schiff… äh, Flugzeugbrüchigen dort ein wenig eher abgeholt werden, als sie denken.«
»Und vor allem nicht von denen, auf die sie hoffen!«, warf Hemsedalen spöttisch ein.
Kurz darauf dröhnten die Motoren der vier Schneemobile und des Flugdrachens auf, und die Kavalkade setzte sich in Bewegung.
SECHS
Henriette saß mit einem Mal stocksteif da und lauschte. Dann stand sie auf und öffnete die Tür. Als Torsten sich wegen des kalten Luftzugs beschweren wollte, der durch die Hütte fegte, winkte sie ihm erregt zu schweigen.
»Hört ihr das auch?«, fragte sie mit gepresster Stimme.
Torsten stemmte sich hoch und lauschte. »Also, ich höre nichts!«
»Ich auch nicht«, antwortete Dai Zhoushe mit schief gehaltenem Kopf.
»Seid still!«, flüsterte Henriette und konzentrierte sich auf das ferne Geräusch, das sie immer deutlicher vernahm.
»Es ist ein Motorfahrzeug, nein, mindestens zwei«, erklärte sie und schloss die Tür wieder.
»Draußen fährt jemand mit Schneemobilen herum. Jetzt müssen wir überlegen, was das für uns heißt!«
»Bist du sicher?« Torsten wusste, dass seine Kollegin über ein ausgezeichnetes Gehör verfügte, aber er war auch nicht gerade taub und hatte nicht das Geringste vernommen.
Henriette nickte nachdenklich. »Ich bin mir ganz sicher. Ein Motor allerdings klingt etwas anders, es könnte der Antrieb eines Leichtflugzeugs oder eines motorisierten Flugdrachens sein.«
»Nehmen wir an, Sie haben tatsächlich etwas gehört. Wer könnte es sein?«, fragte Dai halb besorgt, halb voller Hoffnung, es könnte sich um ihre Landsleute handeln.
»Es gibt mehrere Möglichkeiten«, antwortete Torsten. »Die wahrscheinlichste ist, dass es Beamte der norwegischen Behörden sind, die in Longyearbyen unseren Vogel auf den Radarschirmen gesehen haben und jetzt nach uns suchen.«
»Und die anderen Möglichkeiten?«, bohrte Dai Zhoushe weiter.
»Es könnte sich um Leute eines Geheimdiensts handeln, die wie wir diese Banditen verfolgen. Immerhin haben die Kerle Spitzenagenten einiger Länder erwischt, darunter vielleicht sogar den gefürchteten Roten Drachen aus China.«
Obwohl Torsten Dai Zhoushe dabei fest im Auge behielt, zeigte deren Gesicht keine Regung. Dabei war er fest davon überzeugt, dass sie sich Henriette und ihm nur angeschlossen hatte, um ihren sagenumwobenen Chef zu finden und zu befreien.
»Wenn es sich um einen anderen Geheimdienst handelt, wäre ich bereit, mit jedem zu kooperieren, sogar mit Abu Fuad! Den würde ich erst hinterher erschießen«, sagte sie schließlich und fragte dann nach der dritten Möglichkeit.
Torsten verzog das Gesicht. »Das wäre die, die mir am wenigsten gefällt, nämlich die Kerle, hinter denen wir her sind. In unserer jetzigen Situation wäre jede Konfrontation mit diesen Leuten für uns fatal.«
»Also sollten wir uns darauf einrichten, dass sie es sind«, wandte Henriette mit einem leisen Zischen ein.
»Vielleicht sind es auch unsere Leute, die von Wagner geschickt wurden«, sagte Torsten. Dabei wusste er sehr wohl, dass dies die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten war.
»Und was tun wir?« Henriette nahm ihren Browning in die Hand und überprüfte das Magazin.
»Auf ein Feuergefecht sollten wir uns nur dann einlassen, wenn wir gar keine andere Möglichkeit mehr sehen«, warnte Torsten. »Als Erstes müssen wir vor der Hütte alle Spuren unserer Anwesenheit beseitigen. Wenn dieses Leichtflugzeug, das du gehört haben willst, über uns hinwegfliegt, muss die Hütte verlassen aussehen.«
»Das heißt, wir sollten auch das Feuer im Ofen löschen, sonst sieht der Bursche unseren Rauch«, wandte Dai Zhoushe ein.
Ihnen allen war nicht wohl dabei, die nächsten Stunden in einer immer kälter werdenden Hütte zu verbringen. Doch ihre Sicherheit ging vor.
Torsten stand auf. »Den Ofen übernehme ich. Seht ihr zu, dass ihr draußen die Spuren verwischt. Nehmt die Decken dafür. Wir können sie später kräftig ausschlagen und am Herd trocknen, sobald wir wieder Feuer machen können!« Er humpelte zum Ofen und nahm als Erstes die Scheite heraus, die seine Kollegin erst vor kurzem nachgelegt hatte.
Henriette wechselte einen kurzen Blick mit Dai Zhoushe. »Das werden einige kalte Stunden werden …« Sie zog den Parka an und setzte die Mütze auf. »Dann wollen wir mal!« Mit einer Decke in der Hand ging sie nach draußen.
Dai Zhoushe folgte ihr mit dem Besen und einer zweiten Decke. »Wie sollen wir vorgehen?«
»Sehen Sie zu, dass Sie um die Hütte herum alles in Ordnung bringen. Ich gehe inzwischen in die Richtung, aus der wir gekommen sind, und lösche unsere Spur so weit wie möglich aus, damit sie uns nicht verrät.«
»Und was ist, wenn es doch die norwegische Polizei oder Küstenwache ist?«, fragte Dai Zhoushe.
»Ich glaube nicht, dass die bei dem Wetter mit einem Ultraleichtflugzeug nach uns suchen würden. Wenn es tatsächlich die Norweger sind, können wir uns immer noch bemerkbar machen. Ich gehe lieber auf Nummer sicher!«
Henriette nickte der Chinesin kurz zu und machte sich auf den Weg. Da sie nicht genau wusste, auf welcher Strecke sie ihre Spuren verwischen musste, damit eventuelle Gegner getäuscht wurden, machte sie sich auf einen Fußmarsch von mehreren Kilometern gefasst. Um auszuprobieren, wie gut sich ihre Fußabdrücke im Schnee auslöschen ließen, blieb sie nach den ersten zweihundert Metern auf einem Hügel stehen und blickte zurück. Es war kaum mehr etwas zu sehen, und der Wind, der jetzt wieder auffrischte, tat das seinige dazu, noch die restlichen Spuren zu verwehen.
SIEBEN
Der Wind, der Henriette bei ihrer Arbeit half, stellte für Espen Terjesen ein Problem dar, denn in den heftigen Böen bockte sein Motorflugdrache, und er brauchte alle Kraft für die Steuerung. »Wie weit ist es noch bis zu dieser Hütte?«, fragte er Hemsedalen ärgerlich über Funk.
»Höchstens noch fünf oder sechs Kilometer. Allerdings müssen wir jetzt mit den Schneemobilen einen Bogen schlagen, denn wir fahren genau auf eine Gletscherspalte zu.«
Espen beneidete Hemsedalen um sein Wissen. Das hatte sich sein Untergebener erworben, als er den Stützpunkt beim alten Fischereihafen mit aufgebaut und dabei die Umgebung gründlich erforscht hatte.
»Seht zu, dass ihr bald dort seid! Ich fliege voraus und schaue mir die Hütte an.«
»Das, Herr Terjesen, halte ich für keine gute Idee«, wandte Hemsedalen ein. »Die Kerle sind mit Sicherheit bewaffnet und könnten Sie vom Himmel holen. Außerdem sind sie dann gewarnt.«
Auch wenn Espen kein Feigling war, gab er Hemsedalen recht. Sie mussten so überraschend bei der Hütte auftauchen, dass den Schutzsuchenden, die sie dort vermuteten, keine Möglichkeit blieb, sich auf sie vorzubereiten. Daher kreiste Espen über den Köpfen seiner Männer, die die Gletscherspalte, welche Henriette beinahe zum Verhängnis geworden wäre, in weitem Bogen umfuhren.
Hemsedalen und seine Leute kamen dabei von dem Weg ab, den Henriette, Torsten und Frau Dai genommen hatten, und näherten sich der Hütte von einer anderen Seite. Dadurch entging ihnen Henriette, die mittlerweile einen guten Kilometer zurückgelegt hatte. Als diese die Motorengeräusche näher kommen hörte, warf sie sich in den Schnee und hoffte, dass ihre weiße Kleidung sie gut genug tarnte. Den Nachtsichtbrillen ihrer Verfolger wäre sie trotzdem nicht entgangen, doch niemand schaute in ihre Richtung.
ACHT
Mittlerweile hörten auch Dai Zhoushe und Torsten die Motorengeräusche. Obwohl Torsten sich nicht gerade top in Form fühlte, machte er sich zum Kampf bereit. Er haderte damit, dass seine Reservemunition wie so vieles andere im Meer versunken war und er nur auf sein Magazin der Sphinx zurückgreifen konnte.
Dai Zhoushe gab es auf, draußen noch die Spuren verwischen zu wollen, und kehrte in die Hütte zurück. Als sie Torsten mit der Waffe in der Hand sah, schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist zu schießen. Selbst wenn wir mit diesen Leuten fertigwürden, kämen andere, und die sind dann entsprechend ausgerüstet.«
»Vielleicht können wir den Kerlen ein Funkgerät abnehmen und doch die norwegischen Behörden informieren«, schlug Torsten vor.
»Wir können Wetten abschließen, wer anschließend schneller hier sein wird, die norwegische Polizei oder die Verstärkung unserer Gegner«, spottete Dai Zhoushe.
»Wollen Sie damit sagen, wir sollten uns einfach ergeben?« Torsten wurde wütend, doch das Motorengeräusch eines Ultraleichtflugzeugs, das die Hütte zu umkreisen schien, riss ihm das, was er noch hatte sagen wollen, vom Mund.
Unterdessen zählte Dai Zhoushe fünf Gegner. Vier von ihnen lenkten ihre Schneemobile mit einer Hand, während sie mit der anderen ihre Waffen auf die Hütte richteten.
Mit entschlossener Miene drehte die Chinesin sich zu Torsten um. »Sie dürfen jetzt nicht mit Ihrer Pistole denken, sondern mit dem Kopf. Die Kerle führen weittragende Gewehre und Maschinenpistolen mit sich. Dagegen kommen Sie mit Ihrem Spielzeug nicht an. Selbst wenn wir beide uns hier in der Hütte verbarrikadieren, so befindet sich Frau von Tarow noch draußen. Wenn sie gefangen wird, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns zu ergeben. Also sollten wir einen anderen Weg einschlagen.«
»Und welchen?«, fragte Torsten bissig.
»Den sanften Weg, den das Wasser nimmt, das nicht aufgehalten werden kann. Haben Sie noch eines von Ihren Minimikrofonen, die Sie so großzügig auf der Trollfjord verteilt haben?«
»Das wissen Sie?«
Dai Zhoushe lachte leise auf. »Sie waren nicht der Einzige, der den Flur mit den Suiten überwacht hat. Haben Sie noch welche?«
Torsten griff in seine Hosentasche und brachte eines der Winzlinge zum Vorschein.
»Schlucken Sie es hinunter«, forderte Zhoushe ihn auf. Sie drehte ihm den Rücken zu und öffnete ihre Hose. Als sie den Flakon mit dem Kampfspray aus ihrem Parka holte und ihn in ihre Scheide schob, hielt sie den Atem an. Wenn das Zeug darin losging, war sie schneller tot, als sie denken konnte.
Zu ihrer Erleichterung hielt die Sicherung, und sie zog rasch wieder Höschen, Sportunterhose und Thermohose an. »Verstecken Sie Ihre Pistole und Ihren Laptop so, dass die Kerle sie nicht auf Anhieb finden. Vielleicht übersehen sie das Zeug, und Ihre Kollegin kann darauf zugreifen. Es wäre gut, wenn Frau von Tarow Ihre Hauptstelle erreichen und mitteilen könnte, was geschehen ist.«
Dai Zhoushe hatte das Kommando an sich gerissen, und Torsten ertappte sich dabei, dass er ihr automatisch gehorchte. Seine Gedanken überschlugen sich. Was war, wenn die Kerle Henriette schon gefangen hatten?, fragte er sich. Dann aber schüttelte er den Kopf. Seine Kollegin war nicht auf den Kopf gefallen und hätte mit Sicherheit ein paarmal geschossen, um ihnen zu zeigen, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Doch sollte er wirklich riskieren, sich den Kerlen so einfach zu ergeben? Ein Blick durch den Türspalt zeigte ihm, dass ihre Gegner die Hütte umzingelten. Dabei nutzten sie jede Bodenunebenheit als Deckung aus.
»Das sind keine Amateure«, meinte er zu Dai Zhoushe.
»Haben Sie die Sachen versteckt?«
»Ja, unter dem Feuerholz. Ich hoffe, Henriette sieht dort nach.« Torsten versuchte zu grinsen, doch es misslang ihm völlig.
Dai Zhoushe war noch nicht fertig. »Prägen Sie sich eines ein: Die Kerle wissen gewiss von ihren Kumpanen an Bord der Trollfjord, dass Sie mit einer Begleiterin zusammen gefahren sind. Die Kerle haben mit Sicherheit auch Kontaktpersonen in Kirkenes, die ihnen sagen können, dass Frau von Tarow sich weder dort aufhält noch die Stadt mit einem Linienflug verlassen hat. Also muss sie uns begleitet haben.«
»Aber dann suchen sie nach Henriette!«
»Lassen Sie mich ausreden. Ihre Frau war unsere Pilotin! Sie ist in eine Gletscherspalte gefallen und dort ums Leben gekommen. Sie werden doch wohl den trauernden Witwer spielen können. Hören Sie? Es geht los!«
Im gleichen Moment klang draußen eine laute Stimme auf. »Wir wissen, dass Sie da drinnen sind. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus, sonst eröffnen wir das Feuer!«
»Fragen Sie die Kerle, wer sie sind und was sie wollen! Legen Sie dabei nicht zu viel Heldenmut in Ihre Stimme«, forderte Zhoushe Torsten auf.
»Ich werde es versuchen!« Torsten schluckte kurz, um die Stimmbänder zu befeuchten, und bemühte sich dann, einen möglichst ängstlichen Tonfall zu treffen. »Wer sind Sie und was wollen Sie von uns?«
»Uns nur mal mit Ihnen unterhalten!« Es machte Age Hemsedalen Spaß, mit den Leuten in der Hütte zu spielen. Seine Begleiter hatten mittlerweile ihre Stellungen eingenommen und konnten jederzeit das Feuer eröffnen. Außerdem war da noch Espen Terjesen mit seinem Flugapparat.
»Sie sitzen in der Falle«, meldete Hemsedalen diesem per Funk.
Bevor Espen antworten konnte, klang wieder Torstens Stimme auf. »Sind Sie vom norwegischen Seenotrettungsdienst?«
»Der Kerl glaubt anscheinend, uns verarschen zu können«, knurrte Hemsedalen, rief dann aber laut: »Ja, das sind wir. Und jetzt rauskommen, sonst knallt’s!«
»Was sollen wir tun?«, fragte Torsten Dai Zhoushe.
»Den Ratschlag des freundlichen Herrn befolgen und uns sehr verwundert geben, weil er nicht zum Seenotrettungsdienst gehört. Überlassen Sie das Reden mir und bestätigen Sie nur, was ich sage!« Dai Zhoushe öffnete die Tür, blieb aber in Deckung. Als niemand schoss, trat sie vorsichtig nach draußen und hob die Hände.
»Herkommen!«, bellte Hemsedalen und winkte einem seiner Kumpel mit einer MP, sich neben ihn zu stellen.
»Und jetzt der Nächste!«, rief er zur Hütte hinüber.
Nun verließ Torsten deutlich hinkend das Bauwerk und folgte Dai Zhoushe.
Da Hemsedalens Gesicht durch seine Mütze und die Nachtsichtbrille verdeckt wurde, erkannten sie ihn nicht, doch seine Stimme kam ihnen vertraut vor.
»Das ist einer von der Trollfjord«, raunte Torsten Zhoushe zu, ohne die Lippen zu bewegen.
Hemsedalen forderte sie auf, sich zu beeilen. »Los jetzt, herkommen! Und was ist mit dem Letzten?«
Sie wussten wirklich, dass sie zu dritt waren, durchfuhr es Torsten. Mit hängenden Schultern trat er auf den Mann zu, blieb drei Meter vor ihm stehen und bemühte sich, möglichst erschüttert zu klingen.
»Meine Frau ist in eine Gletscherspalte gestürzt. Wir konnten sie nicht retten.«
»Was habt ihr auch hier in der Gegend verloren«, spottete Hemsedalen und gab zwei der Schneemobilfahrer einen Wink. Diese schlichen auf die Hütte zu, feuerten ein paarmal durch die offene Tür, dann drang einer mit vorgehaltener MP ins Innere. Er kam rasch wieder heraus und winkte zu Hemsedalen herüber. »Da ist keiner mehr!«
»Sieht aus, als hätten die beiden die Wahrheit gesagt!« So ganz überzeugt war Hemsedalen jedoch noch nicht. Daher trat er selbst in die Hütte, schaute auch in den zweiten Raum und in die Vorratskammer. Mit einem Achselzucken verließ er die Hütte wieder und begann, Dai Zhoushe und Torsten zu verhören. »Wie seid ihr von der Trollfjord gekommen?«
Torsten erinnerte sich daran, dass seine Begleiterin erklärt hatte, sie würde reden, und ließ ihr den Vortritt. Mit betrübter Miene begann Zhoushe zu sprechen.
»Wir haben alle fest und tief geschlafen. Da standen plötzlich Soldaten in meiner Kabine und forderten mich auf, mich anzuziehen und an Deck zu kommen. Dort wurde ich zusammen mit Herrn und Frau Schmied in einen Hubschrauber gesetzt. Ich wollte es nicht, weil mein Ehemann verschwunden war, aber man hat mich einfach mitgenommen.«
»Und wie seid ihr auf den Schwachsinn gekommen, ein Flugzeug zu nehmen und das Meer abzusuchen?«, fragte Hemsedalen weiter.
»Wegen meines Mannes! Die Rettungsboote waren alle weg, und ich dachte, vielleicht ist er in eines hineingeraten. Daher habe ich die Norweger angefleht, mir einen Piloten und ein Flugzeug zu geben, damit ich nach meinem Ehemann suchen kann. Doch die wollten nicht, und so habe ich mich an Herrn und Frau Schmied gewandt. Diese saßen ja auf der Trollfjord am gleichen Tisch wie wir, und ich hatte von ihnen gehört, dass Frau Schmied den Pilotenschein hat. Gemeinsam gelang es uns, ein Flugzeug zu mieten und damit loszufliegen.
Unterwegs ist auf uns geschossen worden, und unsere Maschine war schwer beschädigt. Um sie in der Luft zu halten, haben wir alles über Bord geworfen, was nur ging. Leider ist meine Freundin Zi Yangyang dabei so unvorsichtig gewesen, dass sie aus dem Flugzeug gefallen ist. Wir anderen haben gerade noch die Insel erreicht und mussten auf dem Gletscher notlanden. Dabei hat es das Flugzeug zerlegt, und Herr Schmied ist dabei erheblich verletzt worden. Als Frau Schmied in der Gletscherspalte ums Leben gekommen ist, dachten wir, jetzt wäre alles aus. Doch dann haben wir diese Hütte gefunden. Ohne Telefon hätte uns das auch nichts genützt, und deshalb sind wir froh, dass Sie und Ihre Leute gekommen sind.«
Dai Zhoushe lügt exzellent, fand Torsten. Er bestätigte mit verzweifelter Miene ihre Aussage und griff sich immer wieder stöhnend an die Hüfte. Dabei beobachtete er den Wortführer der vier genau. Dieser schien nicht so recht zu wissen, ob er ihnen Glauben schenken sollte oder nicht. Nun funkte er seinen Anführer an. Als dieser antwortete, wunderte Torsten sich nicht, Espen Terjesens Stimme zu vernehmen. Seine Kenntnisse der norwegischen Sprache waren zwar gering, trotzdem begriff er im Groben, was die beiden Männer sagten.
»Wir haben zwei Leute gefangen, Herr Terjesen, die Ehefrau eines Chinesen, den wir von der Trollfjord geholt haben, sowie einen Deutschen. Dessen Ehefrau soll das Flugzeug geflogen haben und ist nach den Aussagen dieser Leute in einer Gletscherspalte umgekommen«, berichtete Hemsedalen eben.
Espen Terjesen war es während des Fluges zunehmend kalt geworden, und er wollte zurück ins Warme. Gleichzeitig berauschte er sich daran, wie leicht sie die Flugzeugbesatzung gefunden und gefangen hatten.
»Gut gemacht!«, lobte er Hemsedalen. »Bringt die Gefangenen zum Hafen. Die Ymir soll sie zum Stützpunkt mitnehmen. Ich werde auch mit dem U-Boot mitfahren. Du aber bleibst mit deinen drei Begleitern auf der Insel und sorgst dafür, dass das Flugzeugwrack unter dem Schnee verschwindet, damit es nicht bei einem zufälligen Überfliegen der Insel gefunden wird. Ihr könnt dann mit dem Tauchboot nachkommen!«
»Das machen wir, Herr Terjesen«, antwortete Hemsedalen ohne große Begeisterung.
Er hatte wenig Lust, auf der kalten Insel zurückzubleiben, und wusste, dass seine drei Begleiter ebenso dachten. Wenn es wenigstens hell werden würde! Die Düsternis der polaren Nacht ging ihm mehr und mehr an die Nieren. Sich zu beschweren aber hätte bedeutet, das sehr ordentliche Gehalt zu riskieren, das Torvald Terjesen jeden Monat auf sein Konto überweisen ließ.
Er wandte sich an seine Männer: »Ihr habt unseren Chef gehört! Setzt die beiden auf zwei Schneemobile. Wir bringen sie zum Stützpunkt. Danach richten wir hier unser Biwak ein und kümmern uns um ihre Schrottmühle.«
»Fahren wir alle, oder soll einer hierbleiben?«, fragte einer.
»Es reicht, wenn wir zu dritt fahren. Gunne bleibt hier und heizt den Ofen wieder an, damit wir es bei unserer Rückkehr ein bisschen gemütlich haben. Außerdem kann er etwas zum Essen warm machen. Konserven gibt es genug. Wir werden nicht länger als zwei Stunden brauchen.«
Damit war alles gesagt. Während Gunne sein Fahrzeug neben die Hütte fuhr und dort abstellte, fesselten Hemsedalen und die anderen Zhoushe und Torsten die Hände auf den Rücken und zwangen sie, auf je ein Schneemobil zu steigen.
»Aufpassen, Jungs, damit wir unsere Gäste unterwegs nicht verlieren«, spottete Hemsedalen. Da die Gefangenen sich nirgends festhalten konnten, würden sie mit Sicherheit ein paarmal herunterfallen und in den Schnee stürzen.
Wenig später heulten die Motoren auf, und die Kavalkade verschwand in Richtung Süden. Auch Espen Terjesen schlug diese Richtung ein, während Gunne in die Hütte trat und das Feuer im Ofen wieder entfachte.
NEUN
Henriette hatte sich flach auf den Schnee gepresst, um nicht gesehen zu werden. Als die Schneemobile vorbeigefahren waren und der Flugdrache ebenfalls nicht in ihre Richtung einschwenkte, wagte sie sich näher an die Hütte heran. Um ihren Freunden bei einem möglichen Feuergefecht zu helfen, zog sie den rechten Handschuh aus, griff nach dem Browning und klemmte die Hand erst einmal unter die linke Achsel, um sie warm zu halten.
Beim Näherkommen hörte sie Hemsedalens Aufforderung, sich zu ergeben. Jetzt erwartete sie jeden Augenblick Schüsse zu hören und wurde schneller. Als die Kerle ihre Position einnahmen, um die Hütte unter Feuer nehmen zu können, und einer dabei zufällig in ihre Richtung schaute, glitt sie blitzschnell hinter einen Schneehaufen. In Gedanken wog sie ihre Chancen ab. Sie hatte nur eine Pistole mit einem Magazin, und Torsten hatte ebenfalls nur seine Sphinx. Ihre Gegner aber zählten fünf Mann, die mit weittragenden Jagdgewehren und Maschinenpistolen bewaffnet waren. Dennoch war Henriette bereit, es auf ein Feuergefecht ankommen zu lassen.
Umso überraschter war sie, als die Tür der Hütte aufging und zuerst Dai Zhoushe und dann Torsten mit erhobenen Händen heraustraten. Als die beiden verhört wurden, wirkten ihre Gesten verzweifelt.
Nach einer Weile drehte der Luftdrachen ab und flog in Richtung Küste. Da nun nicht mehr Gefahr bestand, aus der Luft entdeckt zu werden, wagte Henriette sich näher an die Hütte heran. Dort wurden Torsten und Dai Zhoushe eben auf zwei Schneemobile geladen und von drei Männern weggebracht. Ein vierter Mann schob sein Fahrzeug neben die Hütte und trat ein.
Henriette überlegte, was sie tun sollte. Lange würde sie es im Freien nicht aushalten können. Deshalb hatte es auch keinen Sinn, sich das Schneemobil zu schnappen und damit zu verschwinden. Nachdenklich musterte sie das Gefährt und dann die Hütte, aus der nun wieder ein dünner Rauchfaden aufstieg. Der Kerl machte es sich anscheinend bequem. Offenbar rechneten er und seine Kumpane nicht mit ihrer Anwesenheit. War es Torstens Absicht gewesen, die Männer wegzulocken, damit sie aktiv werden konnte? Mit diesem Gedanken schlich sie auf die Hütte zu und war froh um deren kleine, von Läden geschützte Fenster, die verhinderten, dass der Bandit sie kommen sah.
Beim Anblick des Schneemobils kam ihr eine Idee. Rasch durchsuchte sie das Fahrzeug nach einer Werkzeugtasche. Sie fand diese unter dem Sitz, entnahm ihr den Schlüssel für die Zündkerze und schraubte sie heraus.
»So, Bursche, jetzt kannst du mir nicht mehr abhauen«, sagte sie leise zu sich selbst. Ein Bündel Kabelbinder, die beim Werkzeug lagen, kamen ihr gerade recht. Entschlossen steckte sie diese ein und ging zur Tür.
Sie selbst hätte von innen abgeschlossen, doch darauf hatte der Kerl verzichtet. Als sie die Tür vorsichtig öffnete, stand der Mann mit dem Rücken zur Tür und hantierte am Ofen. Seine Maschinenpistole und sein Funkgerät lagen auf dem Tisch, und Henriette beschloss, dafür zu sorgen, dass er keines von beiden erreichen würde.
»Guten Tag!«, grüßte sie freundlich.
Der Mann fuhr herum und starrte mit hervorquellenden Augen auf die Mündung ihres Brownings. »Wer … wer … sind Sie«, stotterte er in schlechtem Englisch.
»Nicht das Christkind. Los, in die Ecke dort! Stellen Sie sich mit gespreizten Beinen hin, lehnen Sie sich mit dem Kopf gegen die Wand und strecken Sie die Arme nach hinten. Aber Vorsicht! Ein Mucks, und Sie sind ein toter Mann!«
Ein Wink mit dem Pistolenlauf verstärkte die Warnung. Trotzdem erwartete Henriette, dass der Mann sich weigern oder sogar wehren würde. Stattdessen gehorchte er und streckte befehlsgemäß die Arme nach hinten. Sein Blick ging dabei in die Richtung, in der seine Kumpane verschwunden waren. Zusammen mit drei Konservendosen auf dem Herd, die als Mahlzeit für einen allein zu viel gewesen wären, verriet dies Henriette, dass er mit der Rückkehr der anderen rechnete und seine gesunde Haut nicht durch eine Verzweiflungstat riskieren wollte.
Kurz darauf hatte sie dem Mann die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und die Beine an die Vorderbeine eines Stuhls gefesselt. Die MP hängte sie sich selbst um und schaltete das Funkgerät ein, um zu hören, ob sich die anderen Banditen meldeten. Als sie sicher war, die Lage unter Kontrolle zu haben, holte sie sich eine der inzwischen aufgewärmten Konservendosen, schob die anderen von der Herdplatte und begann mit gutem Appetit zu essen.
Der Gefangene sah ihr missmutig zu und schien sich fürchterlich zu ärgern, dass er von einer um mehr als einen Kopf kleineren Frau übertölpelt worden war. Henriette hatte jedoch nicht die Absicht, ihn seinen Gedanken zu überlassen, sondern begann, ihm Fragen zu stellen. Es interessierte sie brennend, wer hinter dem Anschlag auf die Trollfjord steckte und wo diese Leute zu finden waren. Auch wollte sie wissen, wohin Torsten und Dai Zhoushe gebracht worden waren.
»Von mir erfahren Sie nichts!«, erklärte der Mann schnaubend.
»Schade«, sagte Henriette und lud ihren Browning durch. »Wenn Sie nicht kooperieren, muss ich Sie erschießen.«
Sie wartete gespannt, ob er den Bluff schlucken würde, und überlegte, ob sie ihn, wenn er weiter schwieg, ins Bein schießen sollte, um ihm zu zeigen, wie ernst es ihr war. Doch da begann der Kerl schon zu reden. Seinem Blick nach schien er zu glauben, dass sie mit diesem Wissen nichts mehr würde anfangen können. »Ich arbeite für einen großen Konzern, der hier in der Gegend nach Öl bohrt«, begann er noch etwas zögerlich.
»Männer auf Ölplattformen sind vielleicht ein etwas rauer Menschenschlag, aber sie überfallen keine Fährschiffe«, wandte Henriette ein.
»Damit habe ich nichts zu tun«, wehrte der Mann ab. »Ich bin nur hierher mitgekommen, weil mein Vorgesetzter es befohlen hat.«
»Und was wolltet ihr hier?«
»Wir sollten nach einem Flugzeug und seiner Besatzung suchen!«
Das stimmte. Dennoch hielt Henriette den Mann nicht für einen Bohrinselarbeiter, der zufällig in diese Sache hineingerutscht war. Sie stellte weitere Fragen, darunter auch einige Fangfragen, fand jedoch nicht viel mehr heraus, als dass er von den Behörden seines Heimatlands wegen einer Strafsache gesucht wurde. Ein Bekannter hatte ihn deshalb an die Firma vermittelt, für die er jetzt arbeitete.
»Und wie heißt diese Firma?«, wollte Henriette wissen.
Der andere druckste ein wenig herum, doch dann kam die Antwort: »International Energies!«
Diesen Namen hatte Henriette erwartet. Espen Terjesens Bruder war der Chef dieses Konzerns, und Espen selbst hatte sich mit Nastja Paragina auf der Trollfjord aufgehalten. Sie fragte sich, was diesen Mann geritten haben mochte, für all die Agenten an Bord des Hurtigruten-Schiffes solch ein Spiel aufzuführen. Aber das würde sie ihn wahrscheinlich selbst fragen müssen. Jetzt ging es erst einmal darum, ihre eigene Ausgangssituation zu verbessern.
Da sie nicht glaubte, dass Torsten den Banditen seinen Laptop ausgeliefert hatte, machte sie sich von den verwunderten Blicken ihres Gefangenen begleitet auf die Suche und musste lachen, als sie Torstens Sphinx AT2000 unter dem Feuerholz entdeckte. Der Bandit hätte nur noch ein Scheit hochheben müssen, dann wäre ihm die Waffe in die Hände gefallen. Als der Mann das begriff, stieß er einen üblen Fluch aus.
»Aber bitte! Hier sind Damen anwesend«, spottete Henriette und setzte ihre Suche fort. Schon bald hatte sie auch den Laptop entdeckt und stellte ihn auf den Tisch. Die Ladeanzeige war fast bei null Prozent angelangt, dennoch nahm sie Kontakt zu Petra auf.
Die Computerspezialistin blickte ziemlich zerknautscht aus dem Bildschirm und stöhnte theatralisch, doch ihre Finger flitzten über die Tastatur, und Henriette las: »Weißt du, wie spät es ist?«
»Leider nein, weil hier keine Sonne aufgeht, die mir zeigen könnte, ob Tag oder Nacht ist«, schrieb sie zurück. »Ich habe aber keine Zeit, Romane zu lesen oder zu schreiben, denn gleich gibt der Akku seinen Geist auf. Nur so viel: Die Schufte haben unser Versteck gefunden und Torsten und Frau Dai gefangen genommen. Ich konnte mich draußen verstecken und habe eben meinen ersten Gefangenen gemacht. Zwar habe ich noch keine Ahnung, wie ich weiter vorgehen soll, will dir aber ein paar Informationen durchgeben. Hinter dem Anschlag auf die Trollfjord steckt International Energies von Torvald Terjesen. Durchgeführt hat diesen sein Bruder Espen.«
Henriette gab noch einige weitere Daten durch, schaltete den Laptop ab und überprüfte die erbeuteten Waffen. Nun blieb ihr nur noch zu warten, bis aus der Ferne das Motorengeräusch von Schneemobilen erklang, die in rasanter Fahrt näher kamen.
Ihr Gefangener grinste. »Jetzt kommen meine Kumpel. Wenn du brav bist und mich losbindest, sorge ich dafür, dass du gut behandelt wirst. Wenn nicht, werde ich mich hinterher persönlich um dich kümmern.«
»Das wäre ein Grund, dich hier und jetzt zu erschießen«, antwortete Henriette kalt und steckte Torstens Pistole ein. Dann packte sie einen herumliegenden Lumpen, zwang ihren Gefangenen, den Mund zu öffnen, und steckte ihm den Stoff zwischen die Zähne. Der Kerl versuchte trotzdem noch zu rufen, brachte aber nur ein paar erstickte Laute heraus.
Henriette zerrte ihn mitsamt dem Stuhl, an den er gefesselt war, in den kleineren Nebenraum und nahm die Maschinenpistole in die Hand. Wenn es nicht anders ging, würde sie ein paar Kerle erschießen müssen, dachte sie, während draußen die Schneemobile neben der Hütte anhielten und die Motoren ausgestellt wurden.
ZEHN
Age Hemsedalen hatte die Gefangenen zum Stützpunkt und auf die Ymir gebracht. Inzwischen hatte das U-Boot die Position wieder verlassen und hielt auf die Festung unter dem Meer zu. Nur das Tauchboot lag noch in der alten Halle. Eigentlich hätte er einen seiner Männer dort als Wache zurücklassen müssen, doch die Luken des Unterwassergefährts waren verschlossen und gesichert. In dieser Jahreszeit würde sich kaum jemand nach Nordaustlandet verirren, den Hangar entdecken und das Boot mitnehmen. Daher hatten er und seine Männer unbesorgt die Rückfahrt zur Hütte angetreten.
Als sie ankamen, stieg er steifbeinig von seinem Schneemobil und reckte sich. »Eine Motorradtour im Sommer ist schon was anderes«, sagte er grinsend. »Ich hoffe nur, Gunne hat die Suppe heiß gemacht. Ich habe Kohldampf!«
»Wenn nicht, gibt es eins aufs Schnäuzchen«, warf einer seiner beiden Begleiter ein und nahm seine MP in die Hand. Der Dritte im Bunde hielt seine Flinte bereit, während Hemsedalen selbst sein Jagdgewehr lässig über der Schulter trug, als er sich der Tür zuwandte.
»He, Gunne! Wir sind zurück. Nicht dass du aus Nervosität zu schießen beginnst«, rief er und trat ein. Als er niemanden sah, fragte er sich, ob Gunne nach draußen gegangen war. Doch auch dann hätte er ihre Schneemobile hören müssen. Noch während er diese Überlegungen anstellte, kamen seine beiden Kumpane herein. »Da steht tatsächlich nichts auf dem Herd!«, schimpfte der Mann, der Gunne für diesen Fall Schläge angedroht hatte.
»Waffen fallen lassen und Hände hoch!«, peitschte es da durch die Hütte. Während Hemsedalen erstarrte, riss einer seiner Kumpane seine MP hoch. Bevor er auch nur ein Ziel erkennen konnte, ratterte eine Maschinenpistole, und er sank mit einem Aufschrei zu Boden.
»Wird’s bald? Oder soll ich euch ebenfalls über den Haufen schießen?« Es war eine Frau, und ihre Stimme klirrte vor Wut.
Hemsedalen hatte keinen Zweifel, dass sie die Drohung wahrmachen würde, und ließ seine Waffe fallen. Auch sein Begleiter legte das Jagdgewehr ab und hob die Hände über den Kopf.
»So ist es brav! Jeder drei Schritte zurücktreten!« Henriettes Maschinenpistole ließ den Banditen keine andere Wahl. Sie gehorchten zähneknirschend und mussten mit ansehen, wie die junge Frau ihre Waffen mit einem Fuß nach hinten schob. Dann wies sie auf den Tisch.
»Dort liegen ein paar Kabelbinder. Ihr werdet euch jetzt gegenseitig fesseln!«
»Was ist mit unserem Kumpel?«, fragte Hemsedalen mit einem Seitenblick auf den verletzten Mann.
»Ebenfalls fesseln! Ich sehe mir seine Wunden an, wenn ich euch alle sicher verwahrt weiß. Also macht schnell! Sonst krepiert er womöglich noch vorher.«
»Verdammt! So kannst du nicht mit uns umspringen«, fuhr Hemsedalen auf.
»Wer sollte mich daran hindern?«, fragte Henriette und legte auf ihn an.
Nach einem kurzen Zögern nahm Hemsedalen den ersten Kabelbinder zur Hand. »Dreh dich um und strecke die Hände nach hinten«, befahl er seinem unverletzten Begleiter.
Fluchend gehorchte der Mann. Henriette sah, dass Hemsedalen die Fessel nur so weit festzog, dass der andere noch herausschlüpfen konnte, und schüttelte den Kopf.
»So wird das nichts, mein Freund. Du solltest den Kabelbinder schon ein bisschen strammer ziehen. Sonst mache ich es, und das wird wehtun.«
Mit einem wütenden Blick zog Hemsedalen die Fessel enger und band, als sein Kumpan sich auf Henriettes Anweisung auf den Boden legte, auch dessen Füße zusammen. Anschließend nahm er sich den Verwundeten vor. Dem ging es offensichtlich schlecht, und so erlaubte Henriette, ihn auf eines der provisorischen Betten zu legen und seine Verletzungen zu versorgen. Drei Kugeln hatten den Mann getroffen, und er blutete stark. Da es kein Verbandszeug gab, mussten Stofffetzen als Binden reichen.
Schließlich war auch das geschafft und der Mann mit einer Hand und einem Fuß an zwei Balken gefesselt. Dann wandte Henriette sich Hemsedalen zu und drückte ihm die Mündung der Pistole aufs Rückgrat, bevor sie mit der anderen Hand einen Kabelbinder nahm.
»Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie brav sind«, sagte sie, während sie ihm den Kabelbinder um die Handgelenke legte.
Hemsedalen juckte es in den Fingern, auf sie loszugehen, doch der Druck des Pistolenlaufs war ihm Warnung genug. Die Frau hatte ohne Skrupel auf seinen Kumpan gefeuert und würde ihn glatt erschießen, wenn er nicht tat, was sie wollte. Dabei hatte er sie auf der Trollfjord für eine unbedarfte Touristin gehalten, die mit ihrem Trottel von Ehemann die Mittwinternacht hatte erleben wollen.
Nachdem auch Hemsedalen gefesselt war, atmete Henriette erst einmal auf. Immerhin war sie mit vier ausgekochten Schurken fertiggeworden und überlegte, wie es weitergehen sollte. Drei der Männer ordnete sie als Mitläufer ein, die einem starken Anführer bedenkenlos folgten. Hemsedalen hingegen musste zum engeren Kreis um Espen Terjesen zählen, und daher war es für sie wichtig, von ihm so viel wie möglich über seinen Anführer und dessen Pläne zu erfahren.
Ihre ersten Fragen beantwortete er mit rotzfrechen Bemerkungen. Doch sie spürte seine Angst. Auf der Trollfjord waren sie und ihr Mann ihm nicht weiter aufgefallen, und daher konnte er nicht abschätzen, wie weit sie gehen würde.
Entschlossen, die Sache durchzuziehen, hängte sie sich ein Gewehr und eine Maschinenpistole über die Schulter und schaffte die anderen Waffen nach draußen. Dann packte sie Hemsedalen beim Kragen und am Gürtel und schleifte ihn ebenfalls ins Freie. Ein Dutzend Schritte von der Hütte entfernt warf sie ihn in den Schnee und setzte sich neben ihn.
»Ich glaube, wir beide sollten uns jetzt in aller Ruhe unterhalten«, sagte sie lächelnd zu ihm.
»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, presste er zornig hervor.
»Das werde ich Ihnen sagen! Als Erstes erzählen Sie mir, wo ihr meine Freunde hingebracht habt.«
»Welche Freunde?«
»Versuchen Sie nicht, mich zu verscheißern! Wir können es auch anders machen. Ich lasse Sie erst einmal eine Stunde oder zwei hier liegen und komme dann zurück. Wenn Sie bis dorthin nicht erfroren sind, werden Sie sicher gesprächiger sein. Allerdings gibt es hier in der Nähe einen hungrigen Eisbären. Der könnte schneller bei Ihnen sein als ich. Dann muss ich halt sehen, ob einer Ihrer Kumpel klüger ist und nicht als Eisbärenfutter enden will.«
Henriettes Stimme klang sanft, doch gerade das erschreckte Hemsedalen am meisten. Er sah ihr an, dass sie zumindest eine halbe Asiatin war, und die hatten andere Ehr- und Moralbegriffe als durchschnittliche Europäer. Daher hielt er sie für fähig, ihn von einem Eisbären fressen zu lassen und seine Kumpane durch den Anblick seiner Überreste zum Sprechen zu bringen. Aber er war nicht bereit, sich für die Terjesens aufzuopfern.
»Wir haben sie zu einem ehemaligen russischen Fischereihafen gebracht. Von dort aus sind sie mit einem U-Boot weitergeschafft worden.«
»Ein U-Boot also!« Henriette wurde einiges klar. »Woher habt ihr das?«
»Von der norwegischen Marine. Es wurde Herrn Terjesen, ich meine damit den älteren Herrn Terjesen, überstellt, um im Nordmeer unterseeische Bohrplattformen aufbauen und versorgen zu können.«
»Und dafür ist dieses U-Boot mit Raketen und MGs bewaffnet?«
»Die hat Herr Terjesen – der jüngere – auf dem Schwarzmarkt besorgt!« Hemsedalen begann mit den Zähnen zu klappern. Die Kälte wurde unerträglich. Er konnte nur hoffen, dass dieses Verhör bald zu Ende sein und die Frau ihn wieder in die Hütte bringen würde.
»Sie haben eine unterseeische Bohrplattform erwähnt. Werden meine Freunde dorthin gebracht?« Henriette hoffte es nicht, denn ein Stützpunkt tief unter dem Meeresspiegel war eine Nuss, die sie wohl nicht würde knacken können.
Hemsedalen nickte, so gut es ihm möglich war. »Ja.«
»Was ist mit den Leuten, die ihr von der Trollfjord entführt habt? Sind die auch dort?«
Erneut nickte Hemsedalen. »Ja, wir haben alle hingebracht. Espen Terjesen will sie verhören, um mehr über die Geheimdienste der Welt herauszubringen und zu erfahren, wie man sie hindern kann, sich intensiver mit uns zu befassen.«
Ihr Gefangener lieferte Henriette damit das nächste Stichwort. »Weshalb habt ihr so viel Angst vor Geheimdiensten? Als Ölförderfirma bräuchtet ihr das wirklich nicht. Ist es wegen Dr. Nastja Paragina?«
»Genau um die geht es. Espen Terjesen hat sie dazu gebracht, sich uns anzuschließen.«
»Deswegen sind mehr als einhundert Leute aus dem Institut bei einem Flugzeugabsturz und weitere auf der Belkowski-Insel selbst umgekommen. Darunter waren Teile der wissenschaftlichen Elite der USA und aus Russland!«
Die Skrupellosigkeit, mit der die Terjesen-Brüder vorgegangen waren, schockierte Henriette. Gleichzeitig wuchs ihre Sorge um Torsten und die anderen Entführten. Männer, die mit leichter Hand Dutzende Leben auslöschten, würden auch vor ihren Gefangenen nicht haltmachen.
»Was kann ich tun?«
»Das weiß ich nicht!«
Erst Hemsedalens Antwort brachte Henriette darauf, dass sie laut gesprochen hatte. Dann aber sah sie den Mann mit entschlossener Miene an.
»Wieso seid ihr vier hier zurückgeblieben?«
»Wir sollten das Wrack auf dem Gletscher unter dem Schnee begraben, damit es nicht von Suchflugzeugen entdeckt werden kann«, erklärte Hemsedalen.
»Wann werdet ihr wieder abgeholt?«
Diese Frage gefiel dem Norweger ganz und gar nicht. Da die Alternative jedoch war, dass sie ihn hier im Schnee liegen ließ, blieb er bei der Wahrheit. »Wir werden nicht abgeholt, sondern sollen mit einem Tauchboot nachkommen.«
»Ein Tauchboot habt ihr also auch. Ihr seid ja bestens ausgerüstet.« Henriette klang bissig, obwohl ihre Gedanken bereits ein Eigenleben entwickelten.
»Könnten Sie mich mit dem Tauchboot auf diese Station schmuggeln?« Zwar hatte sie noch keine Vorstellung, wie sie den Mann daran würde hindern können, sie umgehend zu verraten, aber ein Versuch war es wert.
»Das ist absolut unmöglich«, antwortete Hemsedalen zu ihrer Enttäuschung. »Die Station wird hermetisch überwacht. Jeder, der das Tauchboot verlässt, wird sofort auf den Bildschirmen in der Zentrale angezeigt.«
»Verdammt!«
Henriette wollte jedoch keinesfalls aufgeben. Bis es Wagner gelang, eine Rettungsaktion für Torsten in die Wege zu leiten, war es mit Sicherheit zu spät. Also gab es nur eine einzige Person, die ihrem Kollegen und den anderen Gefangenen helfen konnte, und das war sie selbst. Daher fragte sie Hemsedalen in allen Einzelheiten über die Unterseestation und deren Möglichkeiten aus.
Von der Kälte zermürbt, die ihm immer stärker in die Glieder drang, berichtete der Mann ihr alles, was sie wissen wollte. Als sie ihn schließlich hinter sich her zur Hütte zog, formten sich in ihren Gedanken die ersten Puzzlesteine eines verrückten Plans.
Ihre Überlegungen hinderten sie jedoch nicht daran, vorsichtig zu sein. Die übrigen Gefangenen waren allein in der Hütte gewesen und hatten genug Zeit gehabt, Dinge zu tun, die nicht in ihrem Sinn waren. Daher ließ sie Hemsedalen draußen liegen, machte die Maschinenpistole schussbereit und stieß die Tür mit einem kräftigen Fußtritt auf. Sie vernahm ein Stöhnen, sah einen Schatten auf sich zuspringen und zog im Reflex den Abzugsbügel durch.
Die Geschosse trafen den Mann und warfen ihn zurück. Henriette drang in die Hütte ein und richtete ihre Waffe auf den zweiten Kerl, der hinter der Tür gestanden hatte. Der blutete heftig aus der Nase und hatte bei dem harten Aufprall des Türblatts ein paar Zähne verloren.
Selbst schuld, sagte Henriette sich und befahl ihm, sich auf den Boden zu legen und die Hände nach hinten zu strecken. Es brauchte einen Stoß mit dem MP-Lauf, bis er begriff, was sie von ihm wollte, und gehorchte.
»Zum Glück habt ihr Burschen genug Kabelbinder bei euch gehabt«, spottete sie, während sie den Mann fesselte. Seinen Kumpan konnte sie liegen lassen, denn er war tot.
Obwohl es sich um einen der Banditen gehandelt hatte, kämpfte Henriette mit Gewissensbissen. Sie hatte auch früher schon töten müssen, aber sie würde sich nie daran gewöhnen. Vielleicht war es gut so, dachte sie, denn sie erinnerte sich an Torstens Berichte über Soldaten in Afghanistan und im Sudan, die irgendwann alle Hemmungen verloren und aus Lust gefoltert und getötet hatten.
Der Gedanke erinnerte sie an Hemsedalen, und sie holte ihn ins Warme, bevor er zu Eis erstarrte. Dann untersuchte sie, wie die beiden Männer sich hatten befreien können, und entdeckte, dass einer von ihnen den Kabelbinder an einer scharfen Kante des Herdes durchgewetzt hatte.
»Das war sehr dumm!«, sagte sie zu dem Überlebenden. »Jetzt ist Ihr Kumpel tot.«
Sie hatte jedoch Wichtigeres zu tun, als ein paar Schurken ins Gewissen zu reden. Petra musste erfahren, was sie herausgefunden hatte, und berechnen, ob ihre Idee überhaupt durchführbar war.
ELF
Um seiner Rolle als Schwerverletzter gerecht zu werden, tat Torsten so, als würde er immer wieder bewusstlos. Bei seinen Gegnern weckte er damit kein Mitleid. Die Männer schafften Dai Zhoushe und ihn in ein U-Boot der norwegischen Ula-Klasse und sperrten sie dort in eine Kammer. Auf dem Weg dorthin hatte er wahrgenommen, dass das U-Boot voll bewaffnet war und neben dem schweren Maschinengewehr auch über Torpedos und Luftabwehrraketen verfügte.
Angesichts dieser Tatsache fragte er sich, in welchem Wespennest sie herumgestochert hatten. Er hätte gerne mit Dai Zhoushe darüber gesprochen, doch die Vorsicht gebot ihnen, nur unverfängliche Worte zu wechseln.
»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Leute sein können? Die norwegische Marine würde uns doch sicher nicht so schlecht behandeln!«, fragte er betont kläglich.
Dai Zhoushe zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Immerhin ist die Insel ein ausgewiesenes Naturreservat, das ohne Erlaubnis der Behörden nicht betreten werden darf. Vielleicht sind sie deshalb so verärgert. Aber was ist mit Ihnen? Was macht Ihre Verletzung?«
»Es tut scheußlich weh«, antwortete Torsten stöhnend.
»Lehnen Sie den Kopf gegen mich, damit Sie nicht auf dem blanken Metall liegen müssen«, riet Dai Zhoushe und begann dann zu rufen: »Herr Schmied ist schwer verletzt! Ist denn hier kein Arzt an Bord?«
Eine Antwort erhielt sie nicht, doch Torsten fand, dass auch sie ihre Rolle ausgezeichnet spielte. Den Geräuschen nach musste das U-Boot längst abgelegt haben und unter Wasser fahren. Er fragte sich, wo man sie hinbringen würde. Er konnte nur hoffen, dass Dai Zhoushe sich nicht irrte und sie ihren Rettern tatsächlich den Weg zu ihnen weisen konnten. Allerdings hatte er Petra nie gefragt, wie weit die von ihr entwickelten Minisender reichten und ob sie auch magensäureresistent waren.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn er erwachte durch einen leichten Ruck. Es hallte ein paarmal, als würde etwas gegen den Rumpf schlagen, dann wurde es auf dem U-Boot ganz still.
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Jemand packte Torsten unter den Armen und schleifte ihn hinaus. Dabei streifte seine verletzte Hüfte den Türrahmen, und der Schmerzensschrei, den er dabei ausstieß, war echt.
Der Bandit grinste jedoch nur und zerrte ihn weiter. Ein zweiter Mann kam hinzu. Gemeinsam trugen sie Torsten zum Turm und reichten ihn nach oben. Andere Männer in schwarz-roten Overalls nahmen ihn entgegen.
»Wohin sollen wir ihn bringen?«, fragte einer Espen Terjesen, der die Ymir als Erster verlassen hatte.
»Erst mal ins Krankenrevier! Unser Doktor soll nachsehen, ob der Kerl wirklich verletzt ist. Stimmt es nicht, wird er es bedauern. Nehmt ihm und der Frau aber vorher alles Überflüssige ab, sonst wäscht uns mein Bruder noch einmal den Kopf.«
Für Torsten hieß dies, dass auch Torvald Terjesen in diese Sache verwickelt war. Das wunderte ihn nicht. Um eine solche Aktion wie die gegen die Trollfjord durchzuführen, brauchte man einiges an Ressourcen, und die waren bei International Energies reichlich vorhanden. Wagner hatte den Konzern bereits der Industriespionage beschuldigt, aber es sah so aus, als reichten die Pläne und Aktivitäten der Terjesen-Brüder weit darüber hinaus.
Zwei Männer legten Torsten auf eine Trage und brachten ihn in das Krankenrevier. Dieses war nicht besonders groß, aber recht gut ausgestattet. Es gab sogar Röntgenapparate und andere medizinische Gerätschaften. Ein hagerer Mann mit Stirnglatze saß in einem weißen Kittel auf einem Stuhl und las in einer Zeitschrift.
Als er Torsten sah, legte er diese beiseite. »Na, wen haben wir denn da?«
»Einen der Leute aus dem Flugzeug. Er soll verletzt sein!«
»Und wo ist er verletzt?«, fragte der Arzt, weil Torsten noch Parka, Thermohosen und Mütze trug.
»Ich habe eine Platzwunde am Kopf und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Außerdem hat sich ein Plastikteil in meine rechte Hüfte gebohrt.«
Torstens Träger lachten über seinen kläglichen Tonfall. Sie waren raue Männer und gewohnt, unter schlechtesten Bedingungen auf Ölplattformen zu arbeiten. Dort kam es immer wieder zu Unfällen, doch keiner von ihnen hätte sich so jämmerlich angestellt wie dieser verweichlichte Deutsche.
»Nehmt ihm die Fesseln ab, zieht ihm Parka und Hose aus und legt ihn auf den Behandlungstisch. Den Rest erledige ich!« Der Arzt legte bereits einige Instrumente zurecht.
»Ich weiß nicht, ob das klug ist, wenn wir ihm die Fesseln durchschneiden«, wandte einer der beiden Bewacher ein.
»Wie wollt ihr ihn dann ausziehen?« Es war nicht zu übersehen, dass der Arzt die Männer nicht für voll nahm.
Torsten registrierte es für später und streckte einem von den Kerlen die Hände hin. Erleichtert atmete er auf, als dieser den Kabelbinder durchtrennte. Kurz danach waren auch die Beine frei, und er begann stöhnend und ächzend sich auszuziehen, bis er nackt vor seinen Bewachern stand, die seine blutigen Verbände um Kopf und Hüfte begutachteten.
»Den hat es ja tatsächlich erwischt«, meinte einer von ihnen grinsend. Dann warfen sie ihm eine rote Hose und eine gleichfarbene Jacke hin, nahmen seine Kleidung und alles mit, das er bei sich getragen hatte, und verließen das Revier.
»So, die sind wir erst mal los«, erklärte der Arzt und fragte Torsten, welche Verletzung schlimmer wäre.
Dieser biss die Zähne zusammen und wies auf die Hüfte. »Wie ich eben schon sagte, habe ich ein Plastikteil ins Fleisch bekommen. Wir hatten kein richtiges Verbandsmaterial, und so ha… hat meine Begleiterin die Wunde mit Wodka ausgewaschen und damit auch den Stoffstreifen desinfiziert, den sie mir darum gewickelt hat.«
Beinahe hätte Torsten sich versprochen und »haben meine Begleiterinnen« gesagt. Doch Henriette musste als tot gelten, sonst würden die Kerle Jagd auf sie machen.
Der Arzt nahm eine Schere und schnitt den Verband auf. Als er ihn von der Wunde abzog, keuchte Torsten auf, und ihm traten echte Tränen in die Augen.
»Sind Sie der Enkel vom Doktor Eisenbart?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ah, Sie sind Deutscher«, antwortete der Arzt. »Keine Sorge, ich behandle Sie so gut, wie es hier möglich ist. Nehmen Sie den Kopfverband selbst ab, oder soll ich das auch tun?«
Angesichts der eben gemachten Erfahrungen übernahm Torsten es lieber selbst. Der Arzt inspizierte die Wunde und nickte zufrieden. »Wer auch immer sich um Sie gekümmert hat, versteht etwas von Verletzungen, denn die Wundränder sind so gut zusammengezogen worden, als wären sie vernäht. Ich werde nur noch etwas desinfizierendes Gel darauf streichen und es wieder verbinden. Gegen Ihre Kopfschmerzen gebe ich Ihnen Tabletten. Bei der Hüfte wird es etwas schwieriger. Ich werde die Wunde noch einmal öffnen müssen, um sicherzugehen, dass alle Fremdkörper entfernt worden sind. Aber keine Sorge, ich setze Ihnen eine Spritze, damit Sie nichts spüren.«
Noch während er es sagte, begann der Arzt mit der Arbeit.
Hatte Torsten zunächst Bedenken gehabt, so verloren sich diese rasch. Er spürte die Spritze kaum, und als der Arzt schließlich mehrere gerade fingernagellange Plastiksplitter aus der Wunde herauszog, begriff er, dass er einem Meister seines Fachs unters Messer gekommen war.
»Wieso leben Sie eigentlich hier in diesem Käfig?«, fragte er neugierig. »Ein Mann mit Ihren Fähigkeiten könnte doch an jeder renommierten Klinik einen Job finden.«
Der Arzt winkte ab. »Ich war, wie Sie so schön gesagt haben, an einer renommierten Klinik in Oslo. Wissen Sie, was das für ein Stress ist? Da ist zum einen die ständige Angst, Fehler zu machen, und zu der gesellen sich die Intrigen der Kollegen. Als ich es nicht mehr aushielt, habe ich mit dem Trinken begonnen. Das spülte meine Bedenken fort, und ich konnte wieder richtig arbeiten, bis dann der Tag kam, an dem …«
Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Unwichtig! Ich wurde entlassen und stand auf der Straße, bis Herr Espen Terjesen auf mich aufmerksam wurde und mich für International Energies anheuerte. Hier sind mir zwei Dinge wichtig: Es gibt keine neidischen Kollegen, und Alkohol ist streng verboten.«
Torsten fasste Vertrauen und ging so weit, wie er es sich angesichts möglicher Abhörmikrofone leisten konnte. »Sie wissen aber, dass ich und einige andere nicht freiwillig hier sind. Weshalb machen Sie dabei mit?«
»Ich erledige meinen Job hier, und alles andere interessiert mich nicht. Die beiden Herren Terjesen wissen besser als ich, was zu tun ist!«
Die Stimme des Arztes klang abweisend, trotzdem hatte Torsten das Gefühl, dass dem Mann die Situation hier nicht gefiel. Um nicht mögliche Mithörer auf falsche Gedanken kommen zu lassen, tat er so, als akzeptierte er seine Erklärung.
Während des Gesprächs hatte der Arzt weitergearbeitet. Nachdem er die Hüftwunde genäht und frisch verbunden hatte, zog er seine Gummihandschuhe aus und warf sie in den Abfalleimer. »Sie werden wahrscheinlich noch stärkeres Wundfieber bekommen. Deshalb ist es besser, Sie bleiben im Krankenrevier. Ausbüxen können Sie hier sowieso nicht.«
Es klang wie ein Witz, doch Torsten merkte, dass es vollkommen ernst gemeint war. Noch wusste er nicht, in was für ein Versteck man ihn gebracht hatte. Eine normale Ölplattform konnte es nicht sein, dafür war in dieser Gegend um die Zeit der Eisgang zu stark. Es konnte eine kleine Insel sein, oder …
Er brach den Gedanken ab, denn er erinnerte sich, dass man ihn mittels einer Schleuse aus dem U-Boot geholt hatte. Sollte das hier etwa ein unterseeischer Stützpunkt sein? Die Vorstellung erschien ihm zunächst geradezu aberwitzig. Während dieses Auftrags war jedoch so viel geschehen, dass er die Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen wollte. Vielleicht konnte er den Arzt vorsichtig aushorchen.
Dann fragte er sich, wie es Henriette gehen mochte. War es ihr überhaupt gelungen, den vier Schurken zu entkommen, die auf Nordaustlandet zurückgeblieben waren? Und wenn ja, hatte sie den Laptop gefunden? Er dachte auch an Dai Zhoushe und ärgerte sich, dass man sie getrennt hatte. Die Frau besaß etliche Fähigkeiten, die ihnen hätten helfen können. Aber wie es aussah, musste er versuchen, die Sache trotz seiner Verletzungen allein durchzuziehen.
ZWÖLF
Dai Zhoushe sah noch, wie Torsten weggetragen wurde. Dann schnitt ihr einer der Kerle, der sie um mehr als einen Kopf überragte und mindestens dreimal so viel wog wie sie, die Beinfessel auf, zerrte sie hoch und stieß sie den Gang entlang. Es ging durch etliche Korridore, die immer wieder von schweren Schotts verschlossen wurden, bis sie eine Stelle erreichten, von der drei Türen nach links und drei nach rechts abgingen.
Dort warteten drei Männer auf sie. Einer richtete eine Maschinenpistole auf sie, ein anderer einen Elektroschocker, und der Dritte hielt einen leuchtenden Stab in der Hand, der durch ein Kabel mit einem Metallkasten verbunden war.
»Ausziehen!«, hallte eine Lautsprecherstimme auf.
»Das ist mit gefesselten Händen schlecht möglich«, antwortete Dai Zhoushe gelassen, obwohl sie vor Zorn fast verging.
Sofort knipste der Kerl, der sie hierhergebracht hatte, ihr mit einem Seitenschneider den Kabelbinder um ihre Handgelenke durch.
»Ich sagte: Ausziehen! Oder willst du, dass unsere Männer es tun?«, kam es drohend aus dem Lautsprecher.
Dai Zhoushe sah den Kerlen an, dass sie nur darauf lauerten, sie zu begrapschen. Doch den Triumph wollte sie ihnen nicht gönnen. Mit eckigen Bewegungen entledigte sie sich ihrer Kleidung, bis sie in Höschen und BH vor den Männern stand.
»Ich habe nicht gesagt, dass du etwas anbehalten sollst«, sagte die verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher.
Mit einem scheinbar verzweifelten Blick sah Dai Zhoushe die Schurken um sie herum an. »Keine Chinesin, die etwas auf sich hält, zieht sich freiwillig vor fremden Männern aus!«
»Es ist ja nicht freiwillig«, kam es zurück.
Gleichzeitig griff der bullige Kerl, der sie durch die Gänge getrieben hatte, nach ihrem BH.
Dai Zhoushe wusste, dass sie es nicht darauf ankommen lassen konnte, von den Kerlen genauer betastet zu werden. Daher streifte sie mit einem giftigen Zischen den Büstenhalter und das Höschen ab und stellte sich mit dem Gesicht zur Wand, so dass die Kerle sie nur von der Seite oder von hinten sehen konnten.
Die Männer lachten, während der Bulle sie herumzog. Dann trat der Kerl mit dem Leuchtstab auf sie zu und fuhr mit seinem Gerät über ihren Körper. Wie es aussah, wollten die Männer herausfinden, ob sie etwas verschluckt, im Anus oder in der Scheide versteckt hatte. Nun betete sie zu allen Ahnen, dass der Kerl weder den Winzsender in ihrem Magen noch den zum Glück aus Kunststoff und Glas bestehenden Flakon mit dem Kampfspray fand.
Das Gerät schlug keinen Alarm, dennoch schien der Mann sich nicht ganz sicher zu sein, denn er fuhrwerkte ihr schmerzhaft zwischen den Schamlippen herum. Schließlich wandte er sich achselzuckend an seine Kumpane. »Wie es aussieht, ist sie clean. Anscheinend hat man ihr bereits auf der Ymir alles abgenommen.«
»Maul halten!«, schalt die Lautsprecherstimme den Mann.
Der winkte ab und wollte noch etwas sagen. Da hielt ihm der Bulle den Mund zu.
Es gelang Dai Zhoushe meisterlich, ihre Erleichterung zu verbergen. Stattdessen beugte sie sich weinend nach ihrem Höschen. Doch das wurde ihr sofort aus der Hand gerissen.
»Du bekommst etwas Schöneres von uns«, sagte der Lautsprecher, während der Bulle auf zwei zusammengefaltete Kleidungsstücke in hellroter Farbe zeigte. »Aufheben und mit in die Zelle nehmen.«
Gleichzeitig ging eine der Türen auf, und Dai Zhoushe sah verwundert, dass diese so aussah, als wäre sie konstruiert worden, einem hohen Außendruck zu widerstehen. Doch bevor sie mit dem Kleiderbündel in der Hand genauer hinsehen konnte, versetzte ihr der Bulle einen Stoß, und sie stolperte in einen etwa zwei auf drei Meter großen Raum, in dem drei Männer sich ins hinterste Eck drückten. Erst als die Tür hinter Dai Zhoushe zuschlug, wagten sie sich wieder heraus.
»Sie sollten sich anziehen«, riet ihr ein Mann, den sie als Manolo Valdez identifizierte.
Der zweite war ihr unbekannt, doch beim dritten musste sie an sich halten, um nicht die mörderische Wut zu verraten, die in ihr aufstieg. Es handelte sich um den angeblichen englischen Geschäftsmann Abraham Farrit alias Ibrahim Farid alias Abu Fuad, den Terroristen, der auf ihrer schwarzen Liste einen der vordersten Plätze einnahm. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte sie versucht, diesen Mann auf der Stelle zu eliminieren. Aber sie beherrschte sich, schlüpfte in die zu weiten Hosen und zog sich die ebenfalls zwei Nummern zu große Jacke an.
»Guten Tag«, sagte sie dann. »Ich bin Dr. Dai Zhoushe vom archäologischen Institut der Universität von Beijing.«
»Sie gehörten auch zu den Trollfjord-Passagieren?«, fragte Valdez.
»Ja!«
»Und wie kommen Sie jetzt hierher?«, fragte der Südamerikaner weiter.
Dai Zhoushe erzählte ihm die gleiche Geschichte, die sie auch schon Age Hemsedalen aufgetischt hatte. Inwieweit ihr die drei Männer glaubten, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Für sie war es erst einmal wichtig, als unbedarfte chinesische Touristin zu gelten, die nicht begreifen konnte, was um sie herum geschah. Daher fragte sie, wo sie sich überhaupt befände.
»Wenn wir das wüssten, wären wir schlauer«, antwortete Valdez mit einem grimmigen Lachen.
»Aber warum sind wir hier?«, fragte Dai Zhoushe scheinbar entgeistert.
Diesmal übernahm Abu Fuad die Antwort. »Da müssen Sie schon unsere Gastgeber fragen. Doch die Kerle sind nicht sehr redselig. Dafür stellen sie verdammt viele Fragen!«
»Und welche?«
»Die werden Sie zu hören bekommen, wenn es so weit ist«, erklärte Abu Fuad kühl.
Dai Zhoushe spürte, dass er sie nicht ernst nahm, und war mit diesem Zustand sehr zufrieden. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie sich in der Zelle um, als suche sie etwas.
»Sie können das Bett über mir haben«, bot Valdez ihr an.
»Sagen Sie bloß, ich muss hier schlafen?«, rief sie entsetzt.
»Wenn Ihnen die Unterkunft nicht passt, können Sie unsere Gastgeber ja um ein besseres Zimmer bitten«, spottete Abu Fuad.
Dai Zhoushe überlegte, was sie tun sollte. Erst einmal hatte man sie von Renk getrennt. Das war die schlechte Nachricht. Die gute aber war, dass sie immer noch den Winzsender im Magen trug und ihr Kampfspray in die Zelle hatte hineinschmuggeln können. Sie würde jedoch, wenn sie die Toilette benutzte, sehr vorsichtig sein müssen, damit weder ihre Mitgefangenen noch ihre Gefangenenwärter mitbekamen, dass sie einen Fremdkörper in der Scheide trug.
DREIZEHN
John Thornton trat wie befohlen auf den Gang hinaus, während seine Mitgefangenen sich wieder bei der Toilette zusammenquetschen mussten. Obwohl er sich vor dem fürchtete, was ihm bevorstehen mochte, war er froh, dass sich überhaupt etwas tat.
Draußen standen drei Männer, von denen einer mit einer Maschinenpistole und ein zweiter mit einem Elektroschocker bewaffnet waren. Glaubten die Kerle etwa, dass er versuchen wollte zu fliehen? Beinahe hätte er gelacht. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er gelandet war, und ohne genügend Informationen war jeder Fluchtversuch sinnlos. Daher folgte er der Lautsprecherstimme, die so verzerrt klang, dass es unmöglich sein würde, den Sprecher irgendwann zu identifizieren.
Die drei Bewaffneten waren nicht so vorsichtig. Schon bei den letzten Mahlzeiten hatten er und seine Mitgefangenen sich etliche derbe Sprüche auf Englisch von ihren Wärtern anhören müssen. Nun unterhielten sich zwei von ihnen leise miteinander. Was sie sagten, konnte er nicht verstehen, da sie jetzt norwegisch sprachen. Dem Tonfall nach schienen sie sich zu amüsieren. Ob es ihm galt oder anderen, würde er vielleicht bald erfahren.
Während des vielleicht dreißig Yards langen Weges versuchte John, so viel wie möglich von seiner Umgebung zu erfassen. Viel war nicht zu erkennen, nur ein mit Blech verkleideter Korridor, mehrere schwere Schotts, die sie passierten, sowie rechteckige, massiv wirkende Metalltüren wie die, hinter der sie eingeschlossen worden waren.
Vor einer ähnlichen Tür blieben die Männer stehen. Diese fuhr wie von selbst in die Wand zurück und gab den Blick in einen kleinen Raum von der Größe ihrer Zelle frei. Ein Stuhl stand darin, an dessen Armlehnen feste Lederriemen befestigt waren. Johns Bewacher bugsierten ihn dorthin, zwangen ihn, sich zu setzen, und fixierten seine Arme mit den Riemen. Seine Fußknöchel wurden mit Kabelbindern, an denen es hier anscheinend keinen Mangel gab, an die Stuhlbeine gefesselt.
John hatte einen kurzen Blick auf den Stuhl werfen können und mehrere handtellergroße Metallplatten auf der Sitzfläche und der Rückenlehne entdeckt. Jetzt steckte einer der Kerle noch ein Kabel an und verzog sich dann zusammen mit seinen Kumpanen nach draußen. Im Raum wurde es dunkel. Nur ein einzelner blauer Lichtstrahl wanderte herum und blieb schließlich auf Johns Gesicht stehen. Gleichzeitig klang wieder die Lautsprecherstimme auf.
»Wir beide werden uns jetzt ein wenig unterhalten! Vorher erfahren Sie noch die Modalitäten. Wenn Sie nach einer Frage länger als fünf Sekunden mit der Antwort warten, erhalten Sie einen leichten Stromschlag wie diesen!«
Obwohl John darauf vorbereitet war, traf ihn der Elektroschock wie ein Hammerschlag, und er stöhnte auf. Danach fuhr die Lautsprecherstimme mit ihren Erklärungen fort.
»Für jede offensichtlich falsche Antwort oder das Verweigern einer Antwort erhalten Sie einen etwas stärkeren Stromschlag.«
Als diesmal der Elektroschock aktiviert wurde, stemmte John sich schreiend gegen die Fesseln. Danach zitterten seine Muskeln, und er hatte das Gefühl, als wäre ihm eben der Kopf abgesprengt worden.
»Haben Sie verstanden?«, fragte die Lautsprecherstimme freundlich.
»Ja!«, würgte John hervor und schluckte das, was ihm auf der Zunge lag, wieder hinunter.
Er kannte den Charakter der Typen, die sich als Folterknechte verdingen ließen, und wusste, dass der Mann hinter dem Mikrofon ihm mit Vergnügen einen weiteren Elektroschock versetzen würde.
»Dann ist es ja gut. Wir fangen ganz gemütlich an. Ihr Name?«
»John Thornton!«
»Geboren?«
»17.07.1974«
»Wo?«
»Pittsburgh, Pennsylvania.«
So ging es eine Weile dahin. Thornton begriff, dass der Beginn dazu dienen sollte, ihn ans Antworten zu gewöhnen, damit er, wenn es ans Eingemachte ging, einfach weiterredete. Etliche Fragen wunderten ihn, denn seine Entführer hatten ganz offenbar sowohl sein Privatleben als auch seine berufliche Laufbahn intensiv studiert.
»Wann haben Sie geheiratet?«
»Am 04.04.2004!«
»Kinder?«
»Keine!«
»Wo lebt Ihre Frau?«
John deutete ein Schulterzucken an. »Ich weiß es nicht. Sie hat sich am 23.12.2008 von mir scheiden lassen, und seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
Obwohl es ihm, nachdem er schwer verletzt aus Afghanistan zurückgekehrt war, tief getroffen hatte, dass Mooana ihn so schnell verlassen hatte, war er in dieser Situation froh darüber. Er traute den Schurken zu, ihn sonst mit seiner Frau oder möglichen Kindern zu erpressen.
Irgendwie schien die Antwort dem Mann hinter der Lautsprecherstimme nicht zu passen, denn John erhielt seinen ersten, wenn auch leichten Stromschlag. Die nächsten Fragen galten seiner Ausbildung. Als er testweise das falsche College nannte, um herauszufinden, wie viel sie von ihm wussten, traf ihn der nächste Elektroschock. Danach blieb er zunächst bei der Wahrheit, bis sie sein Studium abgearbeitet hatten.
Der Mann, der ihn verhörte, interessierte sich anschließend für seine Zeit bei der Army und hier vor allem bei deren Geheimdienst. Auf solche Verhöre war John während seiner aktiven Zeit vorbereitet worden und konnte daher seinen Gegenspieler zufriedenstellen, ohne zu viel zu verraten. Ihm war jedoch klar, dass alles immer noch Vorgeplänkel war. Um mehr über die US-Geheimdienste zu erfahren, hätten die Kerle Anthony Rumble, Pat Shears oder den Chef des Heeresgeheimdienstes verhören müssen. Auch Sally Marble wusste, da sie zu Rumbles persönlichem Stab gehörte, weitaus mehr als er.
»Wann haben Sie die Armee der Vereinigten Staaten verlassen?«, fragte die Lautsprecherstimme weiter.
»Am 31.12.2009«, antwortete John.
»Was haben Sie anschließend gemacht?«
»Ich bin in die Privatwirtschaft gewechselt, auf einen Schreibtischposten bei einem Elektrokonzern.«
»Warum sind Sie nicht bei der Armee geblieben? Dort hätten Sie sicher auch einen Schreibtischposten erhalten.«
John zuckte erneut mit den Achseln. »Ich wollte einfach etwas anderes machen.«
Jetzt kommt es darauf an, ob der Kerl diese Erklärung frisst, dachte John. Er war gegangen, weil er nicht mehr mit Leuten wie Larry Frazer im gleichen Verein hatte bleiben wollen.
Der befürchtete Stromschlag blieb aus. Dafür interessierte sich sein Gegenüber für seinen jetzigen Arbeitgeber und den Job, den er dort hatte. Schon die ersten Fragen ließen John erkennen, dass es dem Mann vor allem um die Strukturen im Konzern sowie um dessen Schwächen ging. Für einen staatlichen Geheimdienst wäre dies relativ unwichtig gewesen. Doch Espen Terjesen und dessen Bruder führten einen der größten Konkurrenzkonzerne, und da waren solche Auskünfte viele Dollars wert.
Im Gegensatz zu Rumble und den anderen Agenten war John nicht auf die Trollfjord gekommen, um sich Nastja Paraginas zu bemächtigen, sondern um Espen Terjesen zu überwachen. Er verdächtigte den angeblichen Playboy, Industriespionage im großen Stil zu betreiben und dabei auch seinen eigenen Arbeitgeber zu schädigen.
Sollten tatsächlich die Terjesen-Brüder hinter dieser ganzen Sache stecken? Über diesem Gedanken überhörte er die nächste Frage und erhielt den starken Stromschlag. Danach war er etliche Sekunden lang nicht mehr in der Lage, etwas zu hören oder zu sagen.
Sein Gegenspieler ließ ihm Zeit, sich wieder zu fassen, und stellte die Frage erneut. »Welche Verflechtungen bestehen zwischen Ihrem Konzern und anderen Unternehmen?«
»Da fragen Sie mich zu viel. Das ist die Sache der Geschäftsleitung, nicht die eines nachrangigen Angestellten wie mir!«
Ein Stromschlag, stärker und länger als alle vorhergehenden, war die Antwort. Obwohl John sich vor Schmerzen krümmte, glaubte er aus dem Lautsprecher leises Lachen zu hören.
»Sie sollten nicht denken, uns verscheißern zu können«, erklärte der andere danach. »Wir wissen einiges über Sie – und Sie noch sehr viel mehr über Ihren Konzern. Wenn Sie Ihre Zeit nicht auf diesem unangenehmen Stuhl verbringen wollen, sollten Sie mit uns kooperieren. Es würde sich für Sie sogar lohnen. Wenn Sie uns helfen, den Konzern zu übernehmen, in dem Sie zurzeit arbeiten, erhalten Sie fünf Prozent der Aktien und damit genug Geld, um den Narren beim Heer, die Sie nach Ihrer Verletzung eiskalt haben fallen lassen, auf den Kopf spucken zu können. Sie haben die Wahl, entweder so«, erneut peitschte ein Stromschlag durch Johns Körper, »oder so!«
In dem Augenblick flammte ein Bildschirm an der Wand auf, und er sah darauf einen Konfettiregen aus Zwanzigdollarscheinen.
»Imponierend, nicht wahr?«, setzte die Lautsprecherstimme fröhlich hinzu.
»Das ist es in der Tat!« John Thornton wusste jetzt, dass er den Urheber aller Schwierigkeiten, die seinem Konzern gemacht wurden, tatsächlich gefunden hatte. Nur half ihm das im Augenblick nicht. Während er darauf wartete, dass das Verhör weiterging, wurde es in der Kammer wieder hell, und die Kerle, die ihn hierhergebracht hatten, kamen herein.
»Na, hat’s Spaß gemacht?«, fragte einer und wurde sofort aus dem Lautsprecher dafür gerügt.
»Maul halten!«
Mit einem Achselzucken, das vieles bedeuten konnte, öffnete der Mann die Riemen, mit denen Johns Hände gefesselt waren, knipste die Kabelbinder an dessen Beinen durch und zeigte zur Tür.
»Sie können jetzt wieder in Ihre Zelle zurück, um darüber nachzudenken, was wir Ihnen angeboten haben«, kommentierte der Lautsprecher die Geste.
Ihr könnt mich alle, dachte John und versuchte aufzustehen. Seine Beine zitterten jedoch so, dass zwei Männer ihn festhalten mussten, damit er nicht zusammenbrach. Die beiden grinsten, sagten aber nichts, sondern schleppten ihn in die Zelle zurück. Dort ließen sie ihn fallen und verließen lachend den Raum.
Als die Tür zugefahren war, kamen die anderen aus dem Toilettenbereich auf ihn zu. »Was haben die Kerle mit Ihnen gemacht, John?«, fragte Sally besorgt.
»Sie haben nach meinem Lebenslauf gefragt und mich bei jeder Antwort, die ihnen nicht passte, ein wenig auf dem Elektrogrill weich gekocht«, stöhnte John und bat sie, ihm auf sein Bett zu helfen. »Wissen Sie, Sally, meine Beine zittern so, dass ich nicht stehen kann.«
»Die Kerle haben Sie also gefoltert«, schloss Rumble aus seinen Worten.
»Aber das ist doch gegen die Genfer Konvention«, wandte Sally ein.
»Ich glaube nicht, dass unsere Freunde diesen Begriff schon einmal gehört haben«, stöhnte John und hoffte, dass die anderen ihn nun in Ruhe lassen würden.
Er musste unbedingt darüber nachdenken, wie er seine Gegner austricksen konnte, ohne dass diese ihn – um seine eigenen Worte zu benutzen – zu sehr grillten.
VIERZEHN
Espen Terjesen schaltete den Bildschirm ab, auf dem er John Thorntons Verhör verfolgt hatte, und wandte sich triumphierend an Nastja. »Ich schätze, nach einer oder zwei weiteren Sitzungen wird unser Freund singen wie ein Las-Vegas-Entertainer, und noch ein paar mehr, dann arbeitet er auf unserer Seite mit.«
»Ist es nötig, den Mann so zu quälen? Er gehört keinem Geheimdienst mehr an und ist nur noch Angestellter irgendeiner amerikanischen Firma«, wandte Nastja ein.
»Er ist der Sicherheitschef eines Konzerns und weiß wahrscheinlich mehr über das Firmenkonglomerat als der Vorstandsvorsitzende selbst. Durch ihn können wir den Konzern unterwandern und schon bald für ein Butterbrot kaufen.«
Espen Terjesen war hochzufrieden, dass ihnen neben den anderen Agenten auch John Thornton in die Hände gefallen war, und erläuterte Nastja seine Pläne. »Über diesen Mann werden wir auf dem nordamerikanischen Energiemarkt Fuß fassen und unseren Einfluss vergrößern. Vergiss nicht, Nastja, dass wir sehr viel Geld brauchen, um die Methanförderung richtig anlaufen zu lassen.«
»Das verstehe ich ja, aber …« Nastja brach ab, weil sie selbst nicht wusste, was sie eigentlich wollte.
Am besten war es, dachte sie, wenn sie die Gefangenen vergaß und an ihrer Forschungsreihe weiterarbeitete. Immerhin ging es darum, die Methanförderung unter normalen Bedingungen vorzubereiten. Doch dafür benötigte International Energies etliche hundert Tonnen des von ihr entwickelten Katalysators sowie ein neuartiges Equipment, mit dem das Methan gefördert werden konnte. Dazu gehörten eine Art Riesensauger, in dem ein Teil der Umwandlung stattfand, eine besonders sichere Pipeline und ein spezieller Tank.
»Wie weit ist dein Bruder mit der Entwicklung eines Unterwassertankers?«, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
»Puh!«, meinte Espen, »da bin ich überfragt. Um diese Dinge kümmert sich Torvald. Wenn du willst, rufe ich ihn an.«
Er griff bereits zum Telefonhörer, doch Nastja schüttelte den Kopf.
»Er wird es mir sicher sagen, wenn er zurückkommt.« Dann sah sie ihn verblüfft an. »Wieso kannst du von hier aus telefonieren? Ich dachte, die Station ist vollkommen abgeschottet.«
»Wir haben ein Unterseekabel zu unserer nächstgelegenen Ölplattform gelegt, und von dort aus geht es über Funk weiter.«
Nastja spürte Espens Stolz auf die eigene Leistung und die seines Bruders, aber auch die Härte, mit der er seine Ziele zu verfolgen gewohnt war.
»Du könntest mir einen Drink mixen«, sagte sie, um ihre Gedanken zu ordnen.
»Gerne!« Espen holte mehrere Flaschen aus dem Eisschrank und nahm zwei große Gläser aus der Anrichte.
»Wie ist es eigentlich mit dem Alkoholverbot auf der Station?«, wollte Nastja wissen.
»Das gilt nur für die Arbeiter und vor allem für unseren Doktor. Wenn der wüsste, welche Schätze in meinem Eisschrank stehen, würde er wahrscheinlich die Tür aufbrechen, um daranzukommen«, antwortete Espen mit einem hässlichen Lachen, warf Eis in die Gläser und reichte Nastja eines.
»Danke!« Während die Wissenschaftlerin an dem starken Cocktail nippte, dachte sie, dass es Espen Freude zu machen schien, sich über Regeln und Gesetze hinwegzusetzen. In dieser Hinsicht war er wie ein wildes Tier, das sich nicht zähmen lassen wollte. Selbst seinem Bruder gelang es nicht, ihn Regeln zu unterwerfen.
»Wie kommst du eigentlich mit Torvald aus?«, fragte sie nachdenklich.
»Ausgezeichnet! Natürlich hat jeder von uns seinen eigenen Kopf, aber wir ergänzen uns gut. Er ist das Gehirn des Ganzen, während ich die speziellen Jobs erledige. Gemeinsam sind wir stark und werden unsere Konkurrenz im Lauf der nächsten Jahre in die Tasche stecken.«
Nastja begriff, dass Espen nicht einfach prahlte, sondern an das glaubte, was er sagte. Noch immer fand sie ihn faszinierend, spürte aber auch, dass die ruhige, eher stoische Art seines Bruders sie ebenfalls nicht kaltließ.
»Wie seid ihr zu dem geworden, was ihr seid?«, fragte sie weiter.
»Meinst du uns persönlich oder die International Energies?«
»Beides!«
»Unser Vater besaß einen Anteil an ein paar Bohrkonzessionen an der Küste und wurde dadurch zum Millionär. Als er starb, war ich zwölf und Torvald vierundzwanzig. In den Monaten nach Vaters Tod versuchte die Konkurrenz mit nicht ganz sauberen Mitteln, uns die Konzessionen abzukaufen. Unsere Mutter war fast schon so weit, den Forderungen und Drohungen nachzugeben, doch Torvald kämpfte mit allen Mitteln dagegen, über den Tisch gezogen zu werden. Am Ende einigte er sich mit einem Konkurrenten, beteiligte sich an dessen Konzern und zahlte die anderen Konzessionäre zu einem lächerlich niedrigen Kurs aus. Bei dieser Aktion hat sich unser Vermögen vervierfacht.
Ein paar Jahre später war Torvald Vorstandsvorsitzender des Unternehmens, fusionierte mit zwei weiteren Energiekonzernen und gab der neuen Firma den Namen International Energies. Zu dem Zeitpunkt habe ich studiert, in verschiedenen Firmen gearbeitet und dabei die ersten Informationen eingeholt. Kurz darauf verfügten wir über unseren ersten eigenen kleinen Geheimdienst und konnten so der Konkurrenz immer eine Nasenspitze voraus sein.
Patente, für die andere eine Unsumme ausgeben mussten, konnten wir uns für einen Bruchteil ihres Wertes beschaffen. Schließlich waren wir der richtige Partner für den norwegischen Staat, als dieser, aufgeschreckt von den Gebietsansprüchen der Russen, seine eigenen Claims abstecken wollte. Es ist mir gelungen, von einer deutschen Firma Pläne für unterseeische Bohrplattformen zu besorgen, und damit konnten wir sowohl unsere Politiker wie auch unsere Militärs überzeugen.«
Espen fand, dass seine Kehle nach einer so langen Rede eine Schmierung benötigte, und stieß mit Nastja an. »Auf uns, auf Torvald und auf die International Energies.«
Während er trank, rotierten Nastjas Gedanken. »Heißt das, dass alles, was ihr tut, vom norwegischen Staat gutgeheißen wird?«, fragte sie dann.
Mit einem breiten Grinsen winkte Espen ab. »In die wichtigen Dinge weihen wir die Politiker natürlich nicht ein. Die halten uns für einen ganz normalen Energiekonzern, der hier im Norden voller Patriotismus die Fahne hochhält. Deshalb haben sie uns auch zwei ausgemusterte U-Boote, die Ymir und die Fenrisulfr, als Versorgungsschiffe zur Verfügung gestellt. Zwar haben sie vorher die Bewaffnung ausgebaut, aber es kostete mich nur ein paar Scheinchen, um die Kästen wieder aufzurüsten. Außerdem haben sie den Bau der Midgardsormr bezuschusst und tun das auch bei dem U-Boot-Tanker, den wir für die Methangewinnung brauchen.«
Espens Stolz und Begeisterung waren ansteckend. Hindernisse schienen für ihn nur dazu da zu sein, aus dem Weg geräumt zu werden. Bei dem Gedanken, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelungen war, die verschiedenen Geheimdienste auf der Trollfjord gegeneinander auszuspielen, empfand Nastja Bewunderung. Ihm würde kein Prof. Wolkow die Lorbeeren aus der Hand winden, so wie ihr Vorgesetzter es bei ihr getan hatte.
Espen kam auf Nastja zu und umarmte sie, hielt aber immer noch sein Glas in der Rechten. »Ich will dich haben«, raunte er ihr ins Ohr.
»Ich weiß nicht!« Nastja kämpfte gegen die Versuchung an, die er für sie darstellte. Als er es merkte, kniff er die Augen ein wenig zusammen.
»Du warst mit meinem Bruder im Bett, nicht wahr? Ich habe es nicht anders erwartet. Du bist so schön und klug, dass Torvald dich einfach begehren musste.«
Er hätte ruhig »klug und schön« sagen können, fand Nastja und schob ihn zurück. »Und wenn es so wäre?«
Espen begann zu lachen. »Glaubst du etwa, ich bin auf meinen Bruder eifersüchtig? Ich teile dich gerne mit ihm!«
»Und wenn ich nicht geteilt werden will?«
»Das glaube ich nicht!« Mit diesen Worten stellte Espen sein Glas weg und zog Nastja mit unwiderstehlicher Kraft an sich.
Einen Augenblick lang sträubte sie sich, doch dann ließ sie zu, dass er sie auszog und zu seinem Bett trug. Als er seine Hosen und sein Hemd abstreifte, dachte sie, dass sie mit ihm und Torvald zwei faszinierende Männer als Liebhaber genoss, und überlegte, in welcher Weise sie dies zu ihrem Vorteil nutzen konnte.
FÜNFZEHN
Henriette musterte ihre drei noch lebenden Gefangenen und klopfte betont auf den Kolben ihrer Maschinenpistole. Mittlerweile wusste sie, dass kein staatlicher Geheimdienst hinter der Aktion gegen die Forschungsstation in der Laptewsee und dem Anschlag gegen die Trollfjord steckte, sondern die Konzernspitze von International Energies. Um ihre Konkurrenz zu überflügeln, hatten Torvald und Espen Terjesen zu Mitteln gegriffen, die weit jenseits aller gesetzlichen und moralischen Richtlinien lagen. Ihr kam der Spruch von dem Krug in den Sinn, der so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. Der Krug der Terjesens stand kurz davor. Sie hatte Petra und Wagner informiert und damit die restliche Akkuladung des Laptops aufgebraucht. Jetzt steckte das Gerät unter ihrem Parka, und sie hoffte, dass es trotzdem noch eine wichtige Rolle spielen würde.
Da Henriette die Terjesens für skrupellos genug hielt, alles um sich herum zu vernichten, wenn sie sich gescheitert sahen, durfte sie nicht warten, bis Wagner eine Befreiungsaktion in Gang gebracht hatte. Sie musste Torsten vorher herausholen. Auch die Forschungsergebnisse von Nastja Paragina durften auf keinen Fall verloren gehen. Zwar hatte sie keine Ahnung, was sie allein ausrichten konnte, aber sie musste etwas tun, bevor Espen Terjesen die Unterseestation in die Luft jagte und Torsten und die Russin dabei starben.
Bei dem Begriff In-die-Luft-Jagen stutzte sie und musste lächeln. Eine Tauchplattform, die fünfhundert Meter unter der Meeresoberfläche schwamm, konnte höchstens ins Wasser gejagt werden. Sie wurde aber sofort wieder ernst und wandte sich an den Gefangenen, der sich bei dem vergeblichen Versuch, sie zu überraschen, das Nasenbein gebrochen und ein paar Zähne verloren hatte.
»Sie haben Ihre Fesseln schon einmal durchreiben können. Sobald Hemsedalen und ich weg sind, können Sie es erneut versuchen. Anschließend schaffen Sie den Toten hinaus und kümmern sich um Ihren verletzten Kumpel. In der Hütte sind Vorräte für eine gute Woche. Wenn ihr die ein wenig streckt, kommt ihr die doppelte Zeit damit aus. Bis dorthin wird euch die norwegische Polizei schon abholen. Wegen des Eisbären in der Nähe lasse ich eines der Jagdgewehre draußen vor der Hütte liegen. Es ist mit drei Patronen geladen. Sie sollten sparsam sein.«
Der Kerl sagte nichts, während der Verletzte leise stöhnte. Ihr dritter Gefangener, Age Hemsedalen, hätte Henriette am liebsten eigenhändig erwürgt. Daran hinderten ihn jedoch zum einen der festgezogene Kabelbinder um seine Handgelenke und zum anderen die Waffen, die sie trug. Sie hatte bereits gezeigt, dass sie damit umzugehen vermochte, und er wollte nicht so enden wie der Mann, dessen Leichnam darauf wartete, hinausgeschafft zu werden. Den würde dann wohl der Eisbär fressen. Hemsedalen schauderte und übersah beinahe, wie Henriette sich bückte und ihm die Fußfesseln durchtrennte.
»Aufstehen!«, befahl sie ihm.
Er gehorchte missmutig und ging zur Tür. Henriette öffnete diese, gab ihm einen Stoß und trieb ihn zu den in Reih und Glied stehenden Schneemobilen. Von diesen funktionierte nur noch eines. Bei den anderen hatte sie die Zündkerzen herausgeschraubt und eingesteckt. Die beiden Männer, die in der Hütte zurückblieben, würden warten müssen, bis sie Hilfe erhielten.
Nachdem Henriette das versprochene Jagdgewehr etwa zwanzig Meter von der Hütte entfernt mit dem Kolben nach unten in den Schnee gesteckt und die anderen Waffen am Schneemobil befestigt hatte, schwang sie sich auf den Sitz und forderte Hemsedalen auf, hinter ihr Platz zu nehmen.
»Machen Sie mir keine Fisimatenten!«, warnte sie ihn und ließ die Maschine an.
Henriette war noch nie mit so einem Ding gefahren, hatte aber früher das Motorrad ihres Bruders Michael mitbenutzt und kam daher mit dem Schneemobil besser zurecht, als sie es befürchtet hatte. Allerdings schlug sie ein eher gemächliches Tempo ein, denn sie wollte ihren Beifahrer unterwegs nicht verlieren.
Die Fahrt führte durch eine faszinierende Dämmerlandschaft. Doch zum einen war Henriette zu angespannt, um sie zu genießen, und zum anderen war es um mindestens fünfzehn Grad zu kalt für ein offenes Fahrzeug. Da der Sturm vorübergezogen war und klares Wetter herrschte, hatte sich das Thermometer noch einmal kräftig nach unten bewegt. Schon bald spürte Henriette den Biss der Kälte, und selbst die Tatsache, dass es Hemsedalen nicht besser ging, bereitete ihr keine Freude. Daher war sie froh, als die Fahrspur, der sie gefolgt war, nach einiger Zeit auf eine Bucht zuführte, in der sie erst auf den zweiten Blick Reste von Häusern entdeckte.
»Das ist der ehemalige sowjetische Stützpunkt, der als Fischerhafen getarnt war«, erklärte Hemsedalen auf ihre Frage. »Die U-Boot-Halle ist dort hinten. Auch die stammt von den Russen, wir haben sie für unsere Zwecke umgebaut.«
Henriette lenkte das Schneemobil zwischen den Ruinen hindurch und hielt an. »Absteigen!«, befahl sie und blieb hinter ihm in Deckung. Die Mündung ihrer Maschinenpistole zog einen Halbkreis. Doch wie es aussah, hatte Hemsedalen die Wahrheit gesagt. Es war keiner der Schurken zu sehen, und es gab auch nur alte, kaum noch sichtbare Spuren. Vielleicht erwarten sie uns in der Halle, setzte Henriette für sich hinzu und befahl dem Mann, vor ihr herzugehen.
Als dieser die Tür öffnete und eintrat, blieb alles ruhig. Rechts konnte Henriette den Teil sehen, der als Aufenthaltsraum gedacht war, während vor ihr das U-Boot-Becken lag. Hier fand keines der großen U-Boote der russischen Flotte Platz, aber doch auch erheblich größere als das etwa fünfzehn Meter lange Tauchboot, das hier vertäut lag. Der Rumpf deutete darauf hin, dass es für große Tiefen gedacht war, und die beweglich angebrachten Propeller verrieten eine hohe Wendigkeit.
Am meisten interessierte Henriette jedoch die im Gegensatz zu anderen U-Booten seitlich eingebaute Luke, die nach Hemsedalens Aussage genau zu einer der Schleusen der Unterseestation passte. Diese Schleuse spielte in ihren Planungen eine besondere Rolle.
»Machen Sie das Ding auf!«, forderte Henriette den Mann auf.
»Mit gefesselten Händen?«, fragte er sarkastisch.
Henriette warf den Kopf zurück und lächelte sanft. Nun folgte einer der wichtigsten Punkte ihres Planes, und sie durfte, wenn er gelingen sollte, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken lassen. Sie zog die letzte Coladose aus einer Tasche ihres Parkas, riss sie auf und befahl Hemsedalen, den Mund zu öffnen. Als er verwundert gehorchte, steckte sie ihm eine Zweikronenmünze so hinter die Zähne, dass er nicht sehen konnte, was es war, und goss Cola hinterher.
»Schön schlucken! Wenn Sie das Ding ausspucken, sind Sie tot!« Um ihre Drohung zu untermauern, hielt sie ihm die Mündung der MP vor die Nase.
Hemsedalen schielte darauf und begann zu schlucken. Es bereitete ihm Mühe, das Metallstück hinunterzuwürgen, und es gelang ihm erst nach einem weiteren Schluck Cola.
»Was war das?«, fragte er ängstlich.
Henriette bemühte sich, gelassen zu antworten. »Eine Minibombe, gerade mal stark genug, um den Magen und die Gedärme eines Menschen zu zerfetzen. Da sie einen Funkempfänger hat, brauche ich bloß einen Knopf zu drücken, und sie geht hoch. Keine Angst, es wird keine Sauerei geben. Die Bauchdecke wird dabei nur selten aufgesprengt!«
Ihr Gefangener sah nicht so aus, als würde der letzte Satz ihn trösten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an und versuchte etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.
»Ich werde das Ding natürlich nur zünden, wenn Sie Dummheiten machen oder mich an Ihre Kumpane verraten«, fuhr Henriette fort. »Wir beide werden jetzt zu dieser ominösen Unterwasserstation fahren. Sie melden sich dort an, wie es sich gehört, und erklären, dass Ihre Freunde auf Nordaustlandet zurückgeblieben wären, um einiges aus dem Flugzeugwrack zu bergen. Danach verlassen Sie das Tauchboot, schließen die Luke so, dass ich sie von innen öffnen kann, und sorgen dafür, dass die Versorgungsleitungen angestöpselt werden. Anschließend erklären Sie Ihren Kumpeln, Ihnen wäre nicht gut, und gehen in Ihr Quartier. Haben Sie mich verstanden?«
Hemsedalen nickte, obwohl er nicht das Geringste begriff. Nur eins war ihm klar: Er musste unter allen Umständen verhindern, dass sie den Sprengsatz in seinem Magen hochgehen ließ. Für einen Moment dachte er daran, zum Stationsarzt zu gehen und sich das Ding herausoperieren zu lassen. Doch wenn es dabei explodierte, war er ebenfalls tot, und das Risiko wollte er nicht eingehen. Mit knirschenden Zähnen entschloss er sich daher, diesem infamen Weibsbild zu gehorchen. Chancen, sich in die Station einzuschleichen und die Gefangenen zu befreien, hatte sie ohnehin keine.
Er wartete, bis sie ihm die Fessel abgenommen hatte, löste die Leinen, mit denen das Tauchboot vertäut war, öffnete die Luke und stieg ein.
Mit zwei Maschinenpistolen und einem Jagdgewehr bewaffnet folgte Henriette ihm und beobachtete, wie er die Luke schloss und verriegelte. Unbehaglich die Schultern hochziehend deutete er auf das Steuerpult. »Soll ich das übernehmen?«
»Tun Sie das!«, antwortete Henriette und verstaute ihre Waffen. Eine MP behielt sie in der Hand, um den Mann zu kontrollieren und zu verhindern, dass er auf den Gedanken kam, er müsse sich nur der anderen MP oder des Gewehrs bemächtigen, um sie zu zwingen, ihm den Auslöser der angeblichen Magenbombe zu übergeben.
Doch Hemsedalen dachte nicht daran, etwas gegen diesen Teufel in Frauengestalt zu unternehmen, denn er hatte erlebt, wie skrupellos diese Agentin vorgegangen war. Zögernd schaltete er die Instrumente ein und blickte besorgt auf die Ladestandanzeige des Elektroantriebs. Espen Terjesen hatte bei seiner Suche nicht darauf geachtet, und nun wusste er nicht, ob sie es bis zur Station schaffen würden. Daher galt seine Wut nun auch seinem Chef. Mit einem halb unterdrückten Schnauben startete er das Tauchboot und fuhr rückwärts aus der Halle hinaus.
Da es mehrere Bullaugen aus dickem Spezialglas gab, konnte Henriette sehen, wie sich das Boot in Bewegung setzte und sofort abtauchte, um nicht mit den Treibeisschollen auf dem Meer zu kollidieren. Damit hatte die entscheidende Phase ihres Auftrags begonnen.