EINS
Das Lokal entpuppte sich als Kaffeestube, in der es neben Getränken auch kleine Mahlzeiten gab. Torsten reihte sich in die Schlange an der Theke ein, während die drei Frauen an einem Ecktisch Platz nahmen. Als Torstens Tablett immer voller wurde, schickte Dai Zhoushe ihm ihre Untergebene zur Unterstützung. Beide mussten zweimal gehen, um die Tassen und das Essen an den Tisch zu bringen. Dann setzten sie sich, und für die nächsten Minuten war nur das Klappern der Bestecke zu hören.
Schließlich hielt Henriette es nicht mehr aus. »Wann brechen wir auf?«
»Sobald wir gegessen haben«, antwortete Dai Zhoushe. »Sie sind hoffentlich bereit?«
»Das sind wir!« Henriette sah erwartungsvoll zu Torsten, doch der löffelte amüsiert seine Suppe und schwieg.
»Gibt es etwas?«, fragte sie ihn jetzt direkt.
»Nur einen jungen Mann, der verzweifelt versucht, unauffällig den Verschluss seiner Aktentasche auf uns zu richten«, antwortete Torsten leise. »Daher sollten wir hier nur essen und dann in unser Quartier zurückkehren.«
»Zurückkehren?« Henriette starrte ihn fassungslos an.
»Wir können natürlich auch den nächsten Flieger nach Hause nehmen. Ich bin sicher, Petra kann das arrangieren.«
»Nach Hause? Äh, das wäre gut!« Henriette sagte sich, dass sie, wenn sie weiterhin als Geheimagentin arbeiten wollte, nicht mehr so impulsiv sein durfte. Torsten hatte vollkommen recht. Sie konnten nicht einfach zum Flughafen fahren und in die Maschine einsteigen. Davor mussten sie die Sicherheitskontrollen passieren, und sie glaubte nicht, dass die Norweger sie so ohne Weiteres passieren lassen würden.
»Wollen Sie über Oslo fliegen?«, fragte Frau Dai und fuhr, als Torsten nickte, ansatzlos fort. »Wären Sie in der Lage, auch für mich und meine Kollegin einen Platz in der nächsten Maschine zu buchen, die dorthin fliegt?«
»Gerne!« Torsten aß weiter, überließ es Zi Yangyang, das Geschirr abzuräumen, und holte seinen Laptop heraus. Fünf Minuten später waren für sie vier Flugtickets nach Oslo reserviert.
»So, jetzt können wir unser Gepäck holen und dann den Staub – oder, besser gesagt, den Schnee dieses Landes von unseren Sandalen schütteln!« Mit diesen Worten stand Torsten auf, warf dem jungen norwegischen Geheimdienstler einen amüsierten Blick zu und holte seinen Parka. Er klemmte sich den Laptop unter den Arm und sah zu, wie die drei Frauen sich anzogen.
»Ein Kavalier bist du ja nicht gerade«, beschwerte sich Henriette.
Sie musste jedoch ein Lachen unterdrücken, denn ihr Kollege sah so unternehmungslustig aus, dass es eigentlich jedem Geheimagenten auffallen müsste. Doch der Norweger drehte zwar seine Aktentasche so, dass die im Verschluss versteckte Kamera weitere Bilder von ihnen machen konnte, bis sie das Lokal verließen, blieb aber sitzen und trank seinen Kaffee aus.
ZWEI
Das Gepäck war rasch zusammengesucht und ein Taxi bestellt. Der Mann starrte die vielen Koffer, die Torsten und Zi Yangyang aus dem Haus schleppten, verwirrt an, brachte aber alles in seinem Wagen unter. Allerdings mussten sowohl Torsten wie auch die Frauen je einen Koffer auf den Schoß nehmen und festhalten.
Als die vier am Flughafen angekommen waren und die Abfertigungshalle betraten, kam der norwegische Agent, der sie mit dem Hubschrauber von der Trollfjord geholt hatte, auf sie zu. »Wie ich sehe, wollen Sie uns verlassen.«
»Es ist Sache der norwegischen Behörden, diesen Fall aufzuklären, und nicht die unsere«, erklärte Torsten und wies, da er sämtliche Hände voll hatte, mit dem Kopf zum Schalter. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir den Flieger noch bekommen wollen. Auf Wiedersehen, Herr Olsen!«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich Olsen heiße?«, fragte der Mann spöttisch.
»Da Sie sich bis jetzt nicht vorgestellt haben, ist dieser Name so gut wie jeder andere.«
Torsten wandte sich bereits zum Gehen, da sagte der Norweger hinter ihm: »Sie heißen ja sicher auch nicht Schmied, oder?«
Darauf ging Torsten nicht ein, sondern folgte Henriette und den beiden Chinesinnen, die bereits am Schalter standen und eincheckten. Auch er gab sein Gepäck auf, zahlte, ohne zu murren, den Aufpreis für das nicht gerade geringe Übergewicht und sah dann die drei Frauen an.
»Wollen wir vor dem Flug noch einen Kaffee trinken?«
»Ich gehe davon aus, dass wir in der Maschine einen bekommen!« Henriette wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, doch da strebte ihr Kollege bereits dem Café zu. Als er auf einen leeren Tisch zuging, stieß er mit einem Mann vom Nachbartisch zusammen.
»Können Sie nicht aufpassen«, fuhr dieser ihn auf Deutsch an.
»Entschuldigen Sie!« Torsten klang jedoch alles andere als zerknirscht, sondern setzte sich so, dass er den Mann im Blick behalten konnte.
In dem Moment bekam Henriette mit, wie die beiden sich kurz zuzwinkerten. Das war also der Pilot, der das Flugzeug hierhergeflogen hat, dachte sie und leistete Torsten insgeheim Abbitte, ärgerte sich jedoch darüber, dass er sie nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. Auch wenn die Norweger immer wieder ihre Kameras und Mikrofone auf sie richteten, hätte es eine Möglichkeit dazu gegeben.
Noch während sie beleidigt die Unterlippe vorschob, versetzte Torsten ihr einen Klaps. »Ich gehe jetzt zur Toilette. Kommst du mit?«
Etwas in seiner Stimme alarmierte Henriette und sie nickte. »Eine gute Idee!«
»Und wie ist es mit Ihnen?«, fragte Torsten die beiden Chinesinnen. »Es kann einige Zeit dauern, bis Sie wieder Gelegenheit dazu bekommen.«
Dai Zhoushe und ihre Begleiterin zögerten zunächst, standen dann aber auf und folgten Torsten und Henriette zu den Toiletten. Dort trennte sich die Gruppe erst einmal. Als Torsten sich die Hände wusch, tauchte der Mann neben ihm auf, den er vorhin angerempelt hatte.
»Gut gemacht! Die norwegischen Wachhunde liegen immer noch oben auf der Lauer. Bis sie merken, dass wir weg sind, sind wir längst in der Luft!«
»Wie kommen wir zum Flugzeug, ohne dass wir die Sicherheitskontrollen passieren müssen?«, fragte Torsten.
»Es gibt von den Toiletten aus einen Weg nach draußen. Die Tür ist zwar gesichert, doch Major Wagner teilte mir bei unserem letzten Telefonat mit, dass Frau Waitl die Sicherung überbrückt habe. So kommen wir unbemerkt hinaus. Das Flugzeug steht nur fünfzig Meter vom Ausgang entfernt, und ich habe bereits die Starterlaubnis!«
»Dann wollen wir mal.« Torsten trat hinaus, sah, wie Frau Dai wieder in die Halle zurückkehren wollte, und hielt sie auf. »Das ist der falsche Weg!«
Dai Zhoushe machte kehrt und wartete mit ihm zusammen auf Henriette und Yangyang. Da kam auch schon der Pilot aus der Toilette, warf den beiden Chinesinnen einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts, sondern zeigte auf eine Tür.
»Dahinter ist der Korridor, der ins Freie führt. Ich wusste nicht, dass ich so viele Passagiere mitnehmen soll. In der Maschine ist eigentlich nur Platz für den Piloten und drei weitere Personen.«
»Das reicht doch!«, erklärte Henriette mit Nachdruck. »Ich fliege, und die anderen drei setzen sich auf die restlichen Plätze.«
»Aber das geht doch nicht!«, rief der Pilot. »Ich kann die Maschine keinem Laien überlassen.«
Henriette stellte sämtliche Federn auf. »Hören Sie, mein Guter! Sie tun genau das, was wir sagen. Sonst haben Sie eine solche Beschwerde meiner Dienststelle am Hals, dass Sie sich während Ihrer restlichen Zeit bei der Bundeswehr höchstens noch in ein Plastikflugzeug von einem Rummelplatz-Karussell setzen können.«
Das war Henriette, wie Torsten sie kannte. Er zwinkerte ihr zu und legte dann dem Piloten die Hand auf die Schulter. »Ich würde glauben, was sie sagt. Sie war früher auch bei eurem Verein und hat dort noch ganz andere Vögel geflogen als den, den Sie uns gebracht haben.«
»Aber es ist gegen die Vorschriften.«
»Das hier ist ein wichtiger Außeneinsatz, und da können wir Ihnen keinen Antrag mit sieben Durchschlägen auf den Tisch legen. Haben Sie verstanden?«
»Aber es könnte ja eine der Damen hierbleiben und ich die Maschine fliegen!« So leicht gab der Pilot nicht auf. Da erreichten sie die von ihm genannte Außentür. Torsten öffnete sie vorsichtig und spähte hinaus. Hatte die letzten Tage ein schwerer Schneesturm geherrscht, so war das Wetter nun klar, und es fehlte nur das Licht der Sonne für einen schönen Wintertag. Doch die würde hier erst wieder in einigen Wochen zu sehen sein.
Die Scheinwerfer machten es ihnen leicht, das Flugzeug zu finden. Der Pilot sperrte die Seitentür auf und half Dai Zhoushe und Zi Yangyang hinein. Er versuchte noch, Henriette daran zu hindern, ins Cockpit zu klettern, aber Torsten stellte sich ihm in den Weg.
»Keine Sorge! Wir wissen, was wir tun«, erklärte er dem Mann und schwang sich in die Maschine.
Der andere protestierte noch einmal halbherzig, wagte aber nicht, sie aufzuhalten.
Henriette hatte mit einem raschen Blick die Kontrollen überflogen und nichts entdeckt, das ihr Sorgen bereitet hätte. Nun sah sie den Piloten fordernd an. »Wie lautet das Rufzeichen der Maschine?«
»Tango-Tango-Foxtrott-Alpha«, erklärte dieser widerwillig.
»Danke! Und jetzt den Schlüssel.« Henriette streckte dem Mann die Hand entgegen und erhielt ihn ausgehändigt. Zufrieden schlug sie die Tür zu, startete den Motor und nahm Verbindung zum Tower auf.
»Hier Tango-Tango-Foxtrott-Alpha! Erbitten Startfreigabe!«
»Welche Flugstrecke?«, fragte der Fluglotse.
»Erst mal nach Tromsø«, antwortete Henriette und bekam eine Route zugewiesen. Dann gab der Lotse den Flug frei.
»Los geht’s!«, sagte sie lächelnd und ließ die Maschine anrollen.
Trotz des vielen Schnees der letzten Tage war die Startbahn ausreichend geräumt worden. Daher brachte sie die Maschine leicht in die Luft. In etwa einhundert Meter Höhe zog sie eine Schleife über den Flughafen und sah den Piloten klein und verloren neben dem Gebäude stehen. Wie bestellt und nicht abgeholt, dachte sie und drückte den Gashebel ein wenig nach vorne.
Zufrieden wandte sie sich an ihre Passagiere. »So, jetzt sind wir unter uns, vorausgesetzt, es ist den hiesigen Behörden nicht gelungen, auch dieses Flugzeug mit Wanzen zu verseuchen.«
»Was die Norweger gemacht haben, war dumm. Sie hätten wissen müssen, dass wir genug Erfahrung haben, diese Dinger aufzuspüren«, erklärte Dai Zhoushe mit einer gewissen Verachtung.
»Man sollte niemals seine Gegner unterschätzen«, warf Torsten grinsend ein. »Auf jeden Fall sind wir in der Luft und können tun, was wir wollen.«
»Ein bisschen aufpassen müssen wir, nicht, dass uns die Norweger eine Jagdstaffel auf den Hals hetzen. Aber da wird uns schon etwas einfallen.« Henriette schaltete das Funkgerät wieder ein und gab dem Tower in Kirkenes eine Änderung der Flugroute durch.
»Hier Tango-Tango-Foxtrott-Alpha! Melde neuen Kurs nach Longyearbyen. Meine Passagiere wollen unbedingt Eisbären sehen.« Sie wartete die Antwort der Flugleitung nicht mehr ab, sondern richtete die Nase der Maschine nach Norden. Nach einem Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige sah sie sich kurz zu Torsten um.
»In einer Dreiviertelstunde müssten wir die Stelle erreichen, an der die Trollfjord gekapert worden ist. Von dort fliegen wir dann Kurs Nordnordwest und sehen zu, ob Frau Dai neue Signale auffangen kann.«
»Ich habe jetzt einen stärkeren Empfänger bei mir als den in meiner Uhr«, erklärte die Chinesin. »Wenn mein Mann seine Uhr noch trägt, werde ich ihn finden.«
»Sehr gut! Aber eine andere Frage: Was ist mit unserem Gepäck? Das wird doch in die Maschine nach Oslo eingeladen und gleich wieder herausgeholt, weil wir nicht an Bord sind.« Henriette konnte selbst nicht glauben, dass sie das nicht bedacht hatte.
Torsten lachte leise auf. »Petra will dafür sorgen, dass die Sachen nach Oslo kommen. Dort holen Leute aus der Botschaft die Koffer ab und sorgen für den Weitertransport nach Hause.«
»Auch für unser Gepäck?«, fragte Dai Zhoushe spöttisch. »Dann ist es ja ganz gut, dass ich die wichtigsten Dinge in mein Handgepäck getan und mit in dieses Flugzeug gebracht habe.«
»Ich hätte es nicht anders getan!«, konterte Torsten gelassen.
Es war für längere Zeit das letzte Wort, das in der Maschine fiel. Torsten lehnte sich zurück und ließ die aufregenden Ereignisse der letzten Tage in Gedanken noch einmal Revue passieren.
Auch Dai Zhoushe dachte intensiv nach und eichte ihr Empfangsgerät neu. Noch konnte sie kein frisches Signal auffangen, war aber sicher, irgendwann eine Spur zu finden. Ihre Untergebene Zi Yangyang hatte die Betäubung auf der Trollfjord noch nicht ganz überwunden und fiel in einen von Alpträumen geplagten Schlaf. Währenddessen lenkte Henriette das Flugzeug immer weiter nach Norden. Da es voll aufgetankt war, konnte sie das gesamte Nordmeer bis Spitzbergen und sogar darüber hinaus absuchen, bevor sie umkehren musste. An eine möglicherweise auch erfolglose Rückkehr verschwendete sie jedoch keinen Gedanken.
DREI
Torsten schreckte hoch, als das Flugzeug zu bocken begann. »Gibt es Probleme?«, fragte er besorgt.
Seine Kollegin lachte übermütig. »Nicht im Geringsten! Wir berühren nur die Ausläufer des Sturms, mit dem wir uns auf der Trollfjord herumschlagen mussten. Die Stelle, an der die Schurken von Bord gegangen sind, haben wir bereits passiert und fliegen in die Richtung, in der Frau Dai die letzten Signale ihres Mannes aufgefangen hat.«
»Wie sieht der Boden unter uns aus?«
»Ich würde sagen: sehr wässrig«, antwortete Henriette. »Aber in dieser Dunkelheit sieht man nichts.«
»Pass auf, dass du nicht zu tief fliegst und gegen einen Eisberg prallst!« Torsten hatte einen Witz machen wollen, doch Henriette fühlte sich und ihr fliegerisches Können geschmäht und antwortete mit einem Fauchen.
»Das hier ist ein Flugzeug mit einem funktionierenden Höhenmesser, und der sagt mir, dass wir derzeit achthundert Meter hoch fliegen. Einen so hohen Eisberg gibt es nicht!«
»Da bin ich ja beruhigt.« Torsten streckte sich ein wenig und drehte sich zu Dai Zhoushe um. »Haben Sie schon etwas entdeckt?«
»Nein! Und das macht mir Sorgen. Der Sender in der Uhr ist eigentlich stark genug, dass ich ihn mit meinem jetzigen Gerät in mehr als hundert Kilometern Entfernung auffangen müsste.«
»Könnte es sein, dass die Banditen uns getäuscht haben und mit ihrem Schiff ganz woanders hingefahren sind?« Diese Überlegung gefiel Torsten ganz und gar nicht.
Auch Henriette brachte einen Einwand. »Ihr müsst mir sagen, wie weit ich fliegen soll. Sonst kommen wir noch zum Nordpol.«
»Dann könnten wir unsere Geschenke gleich selbst beim Weihnachtsmann abholen«, spottete Torsten.
»Heute ist ja Weihnachtsabend. Aber ich ziehe es vor, mir meine Geschenke vom Christkind bringen zu lassen.«
Henriette dachte kurz daran, dass jetzt wohl ihre gesamte Familie bis auf sie und Michael um den Weihnachtsbaum versammelt sein würde, und kämpfte mit zwiespältigen Gefühlen. Die aber schüttelte sie rasch wieder ab und blickte zu Torsten hin. »Wenn wir wirklich bis zum Nordpol fliegen müssen, reicht unser Sprit nicht mehr für den Rückflug!«
»Ich werde Petra fragen. Vielleicht hat sie irgendeinen Satelliten in der Hinterhand, der diese Gegend zur fraglichen Zeit überflogen und abgelichtet hat.«
Torsten holte seinen Laptop heraus und sah, dass der Datentransfer endlich abgeschlossen war. Doch als er die Verbindung schaltete, meldete sich am anderen Ende nicht Petra, sondern Hans Borchart.
»Wo ist Petra?«, fragte er angespannt.
»Du wirst dich mit mir zufriedengeben müssen. Petra geht es nicht gut. Die Aufregung der letzten Tage war zu viel für sie, und der Chef musste sie in die Klinik fahren. Es besteht die Gefahr einer Frühgeburt!«
»Scheiße!« Torstens Kommentar war kurz und derb, drückte aber genau das aus, was er dachte. Dann riss er sich zusammen und sah Hans auffordernd an. »Wir brauchen unbedingt einen Anhaltspunkt, wo wir mit der Suche beginnen sollen. Die Terroristen müssen mit einem Schiff oder U-Boot geflohen sein. Kannst du nachsehen, ob irgendein Satellit etwas aufgenommen hat?«
»Ich versuche es. Allerdings wäre das wirklich ein Job für Petra. Ob ich es hinbekomme …« Hans brach ab und begann zu tippen. Trotz der Handprothese kam er gut zurecht und konnte nach fünf Minuten einen ersten Zwischenstand nennen.
»Petra hat Bilder von der Trollfjord gespeichert, etwa zu der Zeit, an der die Schurken von Bord gegangen sein müssen. Auf denen kann ich sogar ein paar gelbe Punkte erkennen, wahrscheinlich die Rettungsboote, die im Meer treiben. Von da aus muss ich weitersuchen.«
»Eines davon haben die Kerle benutzt«, erklärte Torsten.
Borchart nickte mit zusammengekniffenen Lippen. »Das hier müsste dieses Rettungsboot sein. Es bewegt sich in eine andere Richtung als der Rest.« Noch während er es sagte, verschwand sein Bild von Torstens Bildschirm, und dieser sah eine ziemlich düstere Aufnahme des Meeresgebiets, in dem der Überfall geschehen war. Die Trollfjord konnte er noch erkennen, aber von den Rettungsbooten war nichts zu sehen.
»Du musst das Foto um den Faktor fünf vergrößern«, riet ihm Borchart.
Kaum hatte Torsten das getan, sah er die Trollfjord groß und verschwommen, um sie herum waren mehrere kleine Flecken, die Rettungsboote. Eines davon hatte sich zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits ein ganzes Stück von dem Hurtigruten-Schiff entfernt.
»Kannst du das Ziel dieses Bootes ausmachen?«, fragte er Hans.
»Bin schon dabei!« Noch während Hans es sagte, veränderte sich das Bild auf Torstens Laptop, und er sah, wie das Rettungsboot auf einen dunklen Fleck zuhielt.
»Schätze, mit dem U-Boot hast du recht. Für ein normales Schiff ist das Ding zu undeutlich«, sagte Hans, der froh war, das gegnerische Schiff aufgespürt zu haben.
Torsten grinste ihn an. »Wenn du mir jetzt noch mitteilen könntest, wohin das Ding gefahren ist, wärst du fast so gut wie Petra!«
Ein nicht ganz stubenreiner Fluch kam zurück. Dann tauchte wieder Hans’ Bild auf dem Laptop auf. »Dafür müsste ich Petras Routinen für Wahrscheinlichkeitsberechnungen kennen. Ich kann nur hoffen, dass ich dieses Ding noch einmal finde, und dann die Richtung schätzen, in die es gefahren ist.«
»Dann tu das! Wenn wir das gesamte Nordmeer absuchen müssen, geht uns der Sprit aus.«
Obwohl Torsten wusste, dass Hans alles tat, was in seiner Macht stand, ärgerte er sich, dass Petra ausgefallen war. Die Computerspezialistin hatte nicht nur einen messerscharfen Verstand, sondern auch einen sechsten Sinn für die verschiedenen Möglichkeiten und irrte sich nur selten.
Diesmal dauerte es länger, bis Hans sich meldete, und er wirkte nicht so, als hätte er einen Riesenerfolg aufzuweisen. »Das U-Boot ist etwa eine Viertelstunde, nachdem es mit dem Rettungsboot zusammengetroffen ist, wieder getaucht. Falls mich nicht alles täuscht, ist es grob in Richtung Spitzbergen unterwegs, eher leicht östlich davon.«
»Das ist ja schon mal eine Aussage, die wir brauchen können!« Torsten war bereit, jeden Strohhalm zu ergreifen, der sich ihnen bot, und nickte Henriette zu. »Du hast es gehört. Hans sagt, das U-Boot hält auf Spitzbergen zu.«
Henriette berechnete kurz die Zeit, die seit dem Überfall vergangen war, und die Geschwindigkeit, mit der ein U-Boot unter Wasser fahren konnte, und zuckte mit den Schultern. »Selbst wenn es sich um ein U-Boot mit konventionellem Elektroantrieb handelt, kann es Spitzbergen mittlerweile bereits erreicht und sogar hinter sich gelassen haben.«
»Auf jeden Fall haben wir einen Anhaltspunkt!« Für einen Augenblick kehrte Torsten den Vorgesetzten heraus, erntete von Henriette aber nur ein Lachen.
»Wenn du aufgepasst hättest, wüsstest du, dass ich den Kurs der Maschine schon geändert habe. Jetzt ist unser Ziel wirklich Spitzbergen, wie ich es dem Tower in Kirkenes mitgeteilt habe.«
Da sie nun ein Ziel vor Augen hatten, wurde die Stimmung in der Kabine wieder besser. Dai Zhoushe ließ ihr Empfangsgerät nicht aus den Augen, während Torsten die Karten der Inselwelt Spitzbergens aufrief und seine Fähigkeiten am Computer ausreizte, um mögliche Anlegepunkte für U-Boote herauszufinden. Außerdem sah er sich alle Hafenanlagen und Siedlungen an, die es dort gab. Die Aufnahmen waren zwar im Sommer gemacht worden, doch er glaubte, sich mit den Unterlagen auch in dieser Jahreszeit orientieren zu können.
»Wie weit ist es noch?«, fragte er Henriette.
Diese blickte auf ihre Anzeigen. »Vielleicht noch eine halbe Stunde.«
Da stieß Dai Zhoushe einen erstickten Laut aus. »Das Signal! Ich habe es eben aufgefangen.«
»Von wo kommt es?«
Die Chinesin rieb sich die Augen und starrte anschließend auf ihr Gerät. »Es kann nicht weit sein, eher schräg nach unten. Aber es ist sehr schwach. Das wundert mich.«
»Welche Richtung?«, fragte Torsten und drehte sich zu ihr um. Doch als Dai Zhoushe die Hand ausstreckte und »Dort!« sagte, schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Da unten ist keine Insel. Die erste kommt erst in knapp hundert Kilometern!«
Irritiert sah Dai Zhoushe noch einmal auf ihr Gerät. »Das Signal kommt aber von der Stelle«, sagte sie. Sie war bleich geworden und kämpfte um ihre Fassung.
»Ein Signal aus dem Meer? Das ist nicht gut!«, sagte Henriette, die befürchtete, die Piraten hätten ihre Gefangenen einfach über Bord geworfen.
Torsten hingegen stellte andere Überlegungen an. »Ich nehme an, die Banditen haben den Gefangenen alle persönlichen Gegenstände abgenommen und im Meer versenkt, um solche Spielzeuge auszuschalten.«
Seine Bemerkung ließ die drei Frauen wieder aufatmen. Doch Henriette fand gleich ein neues Haar in der Suppe.
»Wenn das so ist, müssen wir mit unserer Suche wieder ganz von vorne anfangen. Dann …« Sie brach ab, starrte auf das Bordradar und rief aufgeregt: »Achtung, ich habe etwas auf dem Schirm. Es ist noch unter der Wasseroberfläche, kommt aber rasch hoch.«
VIER
Torvald Terjesen blickte auf den großen Bildschirm in seinem privaten Salon und stellte verärgert fest, dass sein Bruder seine Standpauke offenbar leicht weggesteckt hatte. Soeben war Espen in Nastjas Kabine aufgetaucht und umarmte die Frau voller Leidenschaft. Da Torvald diese Kabine nicht nur mit einer Kamera, sondern auch mit Mikrofonen ausgestattet hatte, konnte er hören, was die beiden sich zu sagen hatten.
»Frohe Weihnachten, Nastja. Leider habe ich es nicht mehr geschafft, Geschenke für dich zu kaufen. Aber das holen wir nach, sobald wir diese Station wieder verlassen können. Vorerst finde ich es hier gemütlicher als auf der Trollfjord. Die hat zuletzt doch arg geschaukelt.« Mit diesen Worten griff Espen nach der Wodkaflasche, die auf dem Tisch stand, und schenkte sich ein Glas voll ein.
»Sag doch, wenn du mit mir schlafen willst«, antwortete die Russin herb, ohne auf die Erwähnung des Weihnachtsfestes einzugehen.
»Hast du etwa keine Lust? Dabei dachte ich, du wärst unersättlich.« Espen griff mit der linken Hand nach Nastja und zog sie zu sich heran, während er gleichzeitig einen Schluck Wodka trank.
»Du bist ein guter Liebhaber. Deswegen habe ich nichts dagegen. Vielleicht bekomme ich auf diesem Weg die Bilder aus dem Kopf, die mir immer wieder die Trollfjord zeigen, wie sie untergeht und ihre Passagiere in den Tod reißt.«
»Schade, dass sie es nicht tatsächlich getan hat. Deswegen hat mein Bruderherz mich gewaltig zusammengestaucht. Aber in einem hat er recht: Nach einer angeblichen Lösegeldzahlung kann ich wieder froh und munter auf Mutter Erde herumspazieren.«
Der junge Terjesen grinste übermütig, während Nastja auf einmal sehr traurig wirkte. »Ich werde nie mehr unbeschwert irgendwo herumspazieren können.«
»Da fällt uns schon was ein! Ich kenne da einen guten Schönheitschirurgen. Ein paar kleine Änderungen in deinem Gesicht und vielleicht ein bisschen Silikon etwas tiefer«, Espen deutete mit den Händen eine größere Oberweite an, »und du kannst dich neben deine Mutter setzen, ohne dass sie dich erkennt.«
»Meine Mutter ist tot!« Nastja schüttelte sich und sah den Mann dann auffordernd an. »Wolltest du mit mir schlafen oder reden?«
»Wenn du mich so direkt fragst!« Espen stellte sein Glas ab und begann, Nastja auszuziehen.
»Du bist wunderschön. Nur hier könntest du wirklich ein bisschen mehr vertragen!« Damit tippte er auf ihre Brustspitzen, die bei der Berührung sofort fest wurden.
Nastja machte eine abweisende Geste, denn die Vorstellung, dass jemand an ihr herumschnipselte, nur damit ihr Liebhaber größere Brüste bewundern konnte, war ihr zuwider. Allerdings wusste sie selbst, dass ihr nichts anderes übrigbleiben würde, als sich den Händen eines Schönheitschirurgen anzuvertrauen, wenn sie sich jemals wieder unter Menschen wagen wollte.
Um zu verhindern, dass dieser Gedanke ganz von ihr Besitz ergriff und ihre Laune auf den Nullpunkt sank, betrat sie den Schlafteil ihrer Kabine und zeigte aufs Bett. »Wir sollten nicht länger reden, sondern etwas tun.«
»Dagegen habe ich ganz und gar nichts.« Mit einer Geschwindigkeit, die viel Übung verriet, streifte Espen Hemd und Jeans ab, stand ein paar Sekunden in seinem sich ausbeulenden Slip vor ihr und zog diesen langsam nach unten.
Obwohl Nastja von irritierenden Erinnerungen und Schreckensbildern verfolgt wurde, blieb der Anblick des jungen, kraftstrotzenden Mannes nicht ohne Wirkung auf sie. Sie schlang die Arme um ihn und presste sein Glied mit ihren Oberschenkeln fest zusammen.
»Jetzt werden wir gleich feststellen, wie hart er ist«, sagte sie in einem spöttischen Tonfall.
»Bis jetzt war ich mit ihm zufrieden und schätze, dass das noch eine Weile so bleiben wird!« Espen bewegte sein Becken leicht vor und zurück und stellte grinsend fest, dass der Reiz Nastja schneller atmen ließ.
»Na also!«, meinte er, hob sie auf und legte sie aufs Bett. Als er auf sie glitt, spreizte sie bereitwillig die Beine.
Nastja lag zunächst nur ruhig da und genoss es, ihn in sich zu spüren. Ihre Verkrampfung löste sich, und schließlich wurde sie ebenfalls von Leidenschaft gepackt. Sie krallte ihm die Fingernägel in den Rücken, so dass er im ersten Augenblick vor Schmerz aufstöhnte. Dann wurden seine Stöße härter, und er spürte nach kurzer Zeit, wie sie zu ihrem ersten Höhepunkt kam.
In seinem Zimmer wurde Torvald Terjesen Zeuge, wie sich Espen und die russische Wissenschaftlerin liebten, und empfand auf einmal Neid und Eifersucht. Die Frau war zu schön und vor allem viel zu klug für einen Mann wie Espen, dachte er mit wachsendem Zorn. Doch was sollte er tun? Er konnte den beiden nicht befehlen, damit aufzuhören und einander in Ruhe zu lassen.
Noch während er mit seinen Gefühlen kämpfte, schrillte sein Telefon. Ein Blick auf die Anzeige zeigte ihm, dass es sich um einen stationsinternen Anruf handelte. »Was gibt es?«
»Hier Aurland! Herr Terjesen, eine unserer Überwachungsbojen meldet ein Flugzeug, das über uns kreist.«
»Durchstellen!« Noch während Torvald Terjesen es sagte, schaltete er seinen Bildschirm um. Das nackte Paar verschwand, dafür erschien die dunkle Nacht des Nordens. Er konnte die Wellen sehen, auf denen die Boje schaukelte, und dann einen kleinen Fleck am Himmel, der durch das Radar sichtbar wurde.
Espen, du verdammter Narr!, durchfuhr es ihn. Mit deiner Aktion hast du uns diese Kerle auf den Hals gehetzt.
Seine Hand schwebte schon über dem Rufknopf. Es wäre die gerechte Strafe für den Bruder, jetzt durch einen Alarm gestört zu werden. Doch wenn er das tat, würde Nastja merken, dass sich etwas Unerwartetes tat, und das wollte er nicht. Daher zog er die Hand zurück.
»Aurland, erledige das! Nimm die Fenrisulfr und sieh zu, dass es schnell geht. Sorge dafür, dass kein Flugschreiber zurückbleibt, der gefunden werden kann.«
»Die Sache ist so gut wie geritzt, Herr Terjesen!« Damit beendete Aurland die Verbindung und schaltete die Leitung zu dem U-Boot. »He, Leute, macht euren Kasten klar. Wir bekommen Arbeit«, rief er ins Mikro.
Er verließ den Kontrollraum der Station und eilte mit langen Schritten zu der Schleuse, an der die Fenrisulfr angedockt lag.
FÜNF
Ein Techniker löste gerade die Verbindungskabel, mit denen das U-Boot von der Station aus versorgt wurde, als Aurland die Schleuse erreichte. »Gleich ist es so weit«, sagte der Mann und trat beiseite, damit Aurland das U-Boot betreten konnte. Kaum war er an Bord der Fenrisulfr, wurde die Luke hinter ihm geschlossen, und er hörte an den Außengeräuschen, dass die Techniker die Auslegerarme lösten, die das U-Boot an der Station festhielten. Ein leises Summen zeigte an, dass der Antrieb auf langsame Fahrt geschaltet wurde.
»Wie sieht es aus?«, fragte Aurland Kapitän Halldorsen.
Der Kommandant des U-Boots trug ebenso wie seine Besatzung eine Art Uniform. Diese glich jedoch nicht der der norwegischen Marine, sondern war in Rot und Grün gehalten, den Farben von International Energies.
»Wir haben die Daten erhalten. Wie es aussieht, handelt es sich nicht um ein Militärflugzeug, sondern um eine kleine Privatmaschine«, antwortete der Kapitän.
Aurland verzog das Gesicht. Ein Militärflugzeug hätte diese Gegend zufällig überfliegen können. Eine zivile Maschine, die sich bei dem Wetter so weit aufs Meer hinauswagte, bedeutete jedoch, dass einer der Geheimdienste an Bord der Trollfjord nicht nur Verdacht geschöpft hatte, sondern auch zu wissen glaubte, wohin die Entführer verschwunden waren.
»Wie lange dauert es, bis wir oben sind?«, fragte er Halldorsen.
Dieser stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm. »Wenn du so ein Schnellauftauchen im Sinn hast, wie es in Filmen wie Jagd auf Roter Oktober zu sehen ist, muss ich dich enttäuschen. Unser Kasten ist kein modernes amerikanisches Atom-U-Boot, sondern wurde bei der norwegischen Marine ausgemustert, weil es für die moderne Kriegsführung nicht mehr geeignet war. Die alte Dame braucht ihre Zeit. Außerdem müssen wir die Waffensysteme scharfmachen. Das geht erst bei etwa zwanzig Fuß unter dem Meeresspiegel.«
»Dann beeilt euch! Ich will nicht, dass die Maschine da oben ungeschoren abhauen kann. Sie könnte wiederkommen und ihre großen Brüder mitbringen.«
Der Kapitän des U-Boots lachte. »Mein Gott, Bjarne, jetzt mach dir nicht in die Hosen. Selbst wenn oben alle Flugzeuge der Welt herumschwirren, würden sie die Station nicht finden. Wir können sie bis auf eintausend Meter absenken, wenn es sein muss!«
»Dann kommt dieser Kasten aber nicht mehr mit! Oder kann der auch so tief tauchen?« Aurland stellte die Frage aus reiner Nervosität.
Anders als die größere Midgardsormr war die Fenrisulfr ein Militär-U-Boot aus den Zeiten des Kalten Krieges und wurde nur gelegentlich für Transporte benutzt. Ihre Aufgabe war es, die Station gegen Schiffe und notfalls auch gegen andere U-Boote zu schützen. Nun musste sie eben gegen ein Flugzeug eingesetzt werden.
»Sobald wir oben sind, holt ihr den Vogel runter«, erklärte Aurland dem Kapitän und den anderen Männern im Kommandoraum.
»Wir jagen ihm eine Luftabwehrrakete in den Wanst! Das müsste genügen«, antwortete der Mann an der Waffenkontrolle.
»Besetzt aber auch das MG!«, befahl Aurland.
Der Kommandant lachte spöttisch auf. »Bjarne, wir beherrschen unseren Job. Das U-Boot mag alt sein, doch es verfügt über ein modernes Zielsystem und wird dem Vogel die Rakete direkt in den Arsch jagen.«
»Trotzdem sollte das MG besetzt werden!«, befahl Aurland zornig.
Halldorsen gab nach. »Also gut! Aber das ist erst möglich, wenn wir aufgetaucht sind. Vorher kann der Bordschütze so schlecht atmen, weißt du!«
Aurland fühlte den Spott des Kapitäns und war kurz davor, ihm zu sagen, er solle einen Taucher nach draußen schicken, der das MG übernehmen konnte. Doch auch dafür musste das Boot bis wenige Meter unter die Meeresoberfläche kommen, und da konnten sie genauso gut warten, bis sie ganz aufgetaucht waren.
Die nächsten Minuten wurden für Aurland zur Geduldsprobe. Anders als die Besatzung der Fenrisulfr war er es nicht gewohnt, sich unter solchen Umständen in einem U-Boot aufzuhalten, und es war nicht zu übersehen, dass er hier nicht für voll genommen wurde. Dabei hatten sein Freund Age Hemsedalen und er während ihrer Zeit bei den Hurtigruten es erst ermöglicht, dass Waren und Geräte von den Behörden unbemerkt nach Kirkenes und von dort weiter zu dieser Station gelangt waren. Für Torvald Terjesen waren sie sogar eine Art Stellvertreter. Das würden die Kerle hier an Bord noch lernen müssen.
»Zwanzig Fuß Tauchtiefe«, meldete der Steuermann.
Der Kapitän beugte sich vor, um die Kontrollen besser ablesen zu können. »Auf dieser Höhe bleiben und die Abschussrampe fertigmachen! Wir feuern in dem Augenblick, in dem wir die Wasseroberfläche durchstoßen.«
»Zuerst müssen wir den Vogel auf unserem Schirm haben«, wandte der Feuerleitoffizier ein.
»Das machen wir mit der Antenne am Sehrohr. Und jetzt Achtung!« Halldorsens markigen Worten zum Trotz dauerte es fast zwei Minuten, bis die Meldung kam, dass die Abschussrampe bestückt und bereit war zum Ausfahren. Dann nickte er seinem Steuermann zu. »Und jetzt rauf!«
SECHS
Henriette musterte die Radaranzeige und nickte zufrieden. »Wie es aussieht, ist es ein ziemlich kleines U-Boot. Also kann es kein Ami oder Russe sein. Die würden größere Kaliber hierherschicken.«
»Glaubst du, dass es uns orten kann?«, fragte Torsten.
»Nicht, solange er unter Wasser ist. Wahrscheinlich handelt es sich um ein norwegisches U-Boot. Schätze, es wird uns anfunken, sobald es aufgetaucht ist.« Trotz dieser beruhigenden Worte zwang Henriette die Maschine in eine Schleife, die sie weiter vom Auftauchpunkt des U-Bootes wegbrachte.
»Das Boot kommt aus der Richtung, aus der ich das Signal meines Mannes erhalte!«, mischte sich Frau Dai in das Gespräch ein.
Torsten nickte nachdenklich. »Vielleicht hat das U-Boot das Signal ebenfalls geortet und wollte nachsehen.«
»Dann müsste es ein Spezialtauchboot sein, das über Roboterarme verfügt«, gab Henriette zurück. »Na ja, wir werden es gleich sehen!«
»Bei der Dunkelheit?«, spöttelte Torsten und zog den Kopf in Erwartung einer bissigen Antwort ein.
Doch die unterblieb. Stattdessen sah Henriette auf ihre Anzeigen. Das Flugzeug war ausgezeichnet ausgerüstet, und so meldete ihr Radar die ungefähre Länge und Form des Tauchkörpers. Gleichzeitig gab der Bordcomputer einige U-Boot-Typen an, die dem entdeckten am ähnlichsten waren.
»Es ist ein Militär-U-Boot, wahrscheinlich ein Norweger«, erklärte Henriette.
Im nächsten Moment zuckte unten ein Blitz auf, und etwas raste mit sehr hoher Geschwindigkeit auf sie zu.
»Die schießen auf uns!«, stieß Henriette hervor und zog das Flugzeug hoch. Sie merkte jedoch schnell, dass sie die Rakete nicht abschütteln konnte, und wartete kaltblütig, bis diese sie fast erreicht hatte. Dann ging sie in den Sturzflug über.
»Festhalten!«, rief sie den anderen zu und drückte den Steuerknüppel so weit nach vorne, wie sie es riskieren konnte. Aus den Augenwinkeln sah sie die Rakete an ihnen vorbeizischen. Der Radarschirm zeigte ihr, dass das Projektil ebenfalls einen Bogen schlug und ihnen folgte.
»Wir werden sehen, ob ich dich nicht überlisten kann«, fauchte Henriette.
Ihr Blick saugte sich förmlich auf der Höhenanzeige fest. Die Meeresoberfläche kam rasend schnell näher, und sie musste sich zwingen, nicht wieder in den Gleitflug überzugehen.
Da sie sich ganz auf das Steuer konzentrierte, konnte sie nicht mehr auf die Anzeigen schauen.
»Torsten, die Entfernung der Rakete zu uns?«, fragte sie.
»Dreihundert Meter!«
»Entfernung zur Meeresoberfläche?«
»Ebenfalls dreihundert!«
Noch immer war die Nase des Flugzeugs fast senkrecht nach unten gerichtet. Torsten wurde es heiß, während die beiden Chinesinnen vor Schreck schier erstarrten.
»Rakete fünfzig, Meer hundert«, rief Torsten mit sich überschlagender Stimme.
»So gefällt es mir!« Mit aller Kraft zog Henriette den Steuerknüppel auf sich zu. Die Maschine bockte und schüttelte sich. Für Augenblicke sah es aus, als wolle sie sich kopfüber ins Meer bohren. Doch dann kam die Nase langsam hoch.
Henriette stieß einen wilden Schrei aus, als das Flugzeug sich direkt über den Wellen fing und sofort wieder zu steigen begann. Die Rakete wollte ihnen folgen, war aber zu schnell und knallte ins Wasser.
»Na, was sagt ihr jetzt? Ich bin doch …« Was immer Henriette hatte sagen wollen, ging im Knattern eines Maschinengewehrs unter. Die Garben der Leuchtspurmunition zogen wilde Kreise um das Flugzeug, und dann schlug es bei ihnen ein.
»Verdammte Scheiße!«, rief Henriette, als die Maschine auf einmal nach rechts abschmierte. Sie hielt dagegen und drückte gleichzeitig den Gashebel ganz durch. Durch die abrupte Beschleunigung entgingen sie der nächsten Salve, und ehe der Bordschütze des U-Boots erneut das Ziel erfassen konnte, war die Maschine der Reichweite des MG entkommen.
SIEBEN
Bjarne Aurland wollte nicht glauben, was der Bildschirm ihm zeigte. Fassungslos sah er zu, wie das fremde Flugzeug zuerst der Rakete entkam, dann auch noch das MG-Feuer überstand und schließlich westwärts davonflog.
»Ihr verfluchten Amateure!«, schrie er Halldorsen an. »Wenn die jetzt funken, was hier passiert ist, haben wir morgen die gesamte norwegische Flotte am Hals, von Russen, Amis und anderen ganz zu schweigen.«
Der Kapitän hieb wuterfüllt gegen eine Verstrebung. »Das gibt es nicht! Das ist unmöglich! Der Kerl müsste zerfetzt sein.«
»Ist er aber nicht! Dafür sitzen wir jetzt in der Scheiße. Was meint ihr, was Torvald Terjesen sagen wird, wenn er hört, dass die Maschine entkommen ist?«
Aurland schüttelte sich bei dem Gedanken an seinen Chef. Obwohl nicht er, sondern der Feuerleitoffizier und der Bordschütze der Fenrisulfr versagt hatten, würde Terjesen es ihm ankreiden.
»Bis jetzt hat die fremde Maschine noch keinen Funkspruch abgesetzt«, meldete sich der Funker des U-Boots. »Außerdem bin ich sicher, dass wir sie getroffen haben.«
»Können wir die Kiste verfolgen oder wenigstens eine zweite Rakete nachschicken?«, fragte Aurland.
Der Navigator sah auf seinen Radarschirm und schüttelte den Kopf. »Eine Rakete erreicht den Kerl nicht mehr. Und was das Verfolgen angeht: Bist du schon einmal mit einem Auto um die Wette gelaufen? Wir bringen es auf maximal vierzehn Knoten. Der dort fliegt mit mehr als fünfhundert Stundenkilometer. Allerdings glaube ich ebenfalls, dass wir ihn getroffen haben. Er zieht einen Bogen nach rechts, so als könnte er nicht mehr richtig geradeaus fliegen.«
»Vielleicht ist das nur ein Trick!« Aurland ließ sich die Karte zeigen und verfolgte den möglichen Kurs der Maschine. »Wenn sie so weiterfliegen, kommen sie niemals bis nach Longyearbyen, sondern streifen gerade mal Nordaustlandet – und in der Gegend gibt es keinen Flughafen.«
»Wahrscheinlich schaffen sie es nicht einmal bis dorthin. Das Flugzeug verliert an Höhe. Schätze, dass sie dreißig oder vierzig Kilometer vor der Insel ins Meer stürzen.« Der Navigator war froh, das melden zu können. Wie die anderen ärgerte es auch ihn, dass ihnen das Flugzeug durch die Lappen gegangen war, und nun hoffte er, dass seine Prophezeiung wahr wurde.
»Was machen wir jetzt? Tauchen wir wieder ab und fahren zurück?«, fragte Halldorsen.
Aurland dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein! Der Befehl lautet, die Maschine abzuschießen und den Flugschreiber zu beseitigen. Zunächst bleiben wir aufgetaucht und spitzen die Ohren, ob die Schweinehunde nicht doch noch ein Funksignal absetzen. Wie lange werden sie sich noch in der Luft halten können?«
Die Frage galt dem Mann am Radargerät. Dieser musterte seine Anzeigen, rechnete diese um und schlug noch ein Drittel auf den ermittelten Wert hinzu.
»Maximal eine Viertelstunde!«
»Also warten wir die doppelte Zeit, dann tauchen wir wieder. Betet, dass die Kerle bis dorthin keinen Funkspruch absetzen. Sonst reißt uns Torvald Terjesen den Kopf ab, und wenn er es nicht tut, dann macht es sein Bruder!«
Aurland bemerkte zufrieden, wie Halldorsen bei Espens Erwähnung blass wurde. Versager hatten bei dem jüngeren Terjesen schlechte Karten. Auch ihm würde einiges einfallen müssen, wenn er den Kopf aus der Schlinge ziehen wollte. Allerdings war es sein Verdienst, dass das MG überhaupt zum Einsatz gekommen war. Bei dem Gedanken daran fühlte er sich wieder besser. Aber das schaffte nicht die Tatsache aus der Welt, dass sich das fremde Flugzeug immer noch in der Luft hielt und auf Spitzbergen zuflog.
ACHT
Henriette sah auf ihre Kontrollen und stieß einen Fluch aus. Dann wandte sie sich an ihre Kollegen. »Leute, wenn ihr ein Gebet kennt, das uns in dieser Situation helfen kann, dann solltet ihr schleunigst damit anfangen. Wir können himmlischen Beistand brauchen.«
»Ist das Flugzeug schwer beschädigt?«, fragte Dai Zhoushe besorgt.
»Noch fliegt es. Aber wir verlieren sowohl Treibstoff wie auch an Motorleistung. Lange kann ich den Vogel nicht mehr in der Luft halten. Torsten, schau bitte nach, wo das nächste Land ist!«
Statt einer Antwort kam nur ein Stöhnen. Erschrocken wandte Henriette den Blick. Torsten kauerte verkrümmt auf seinem Sessel und presste sich die rechte Hand gegen die Hüfte. Sein Handschuh färbte sich bereits rot.
»Was ist mit dir?«, fragte Henriette.
»Kümmere dich nicht um mich, sondern versuche, den Kasten in der Luft zu halten!«, stieß Torsten hervor.
Seine Hüfte brannte wie Feuer, und von dem Schock der Verletzung war ihm so schwindlig, dass sich alles um ihn drehte.
»Können Sie herausfinden, wo wir sind?«, fragte Henriette Dai Zhoushe. »Die Anzeigen sind teilweise ausgefallen. Also hat auch die Bordelektronik etwas abbekommen!«
Die Chinesin hatte ihren bisherigen Kurs auf einer Karte eingetragen, um später die Suche nach ihren Leuten nachvollziehen zu können. Jetzt ließ sie sich von Henriette die letzte Flugposition geben und berechnete anhand des wahrscheinlichen Kurses und ihrer Geschwindigkeit die Richtung, in der sie flogen. Was sie herausfand, klang nicht sehr hoffnungsvoll.
»Auf diese Weise werden wir Spitzbergen verfehlen«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. »Wie es aussieht, klatschen wir vorher ins Wasser.«
»Oder prallen auf Eis, denn unter uns ist ziemlich viel vereist«, ergänzte Zi Yangyang mit einem bangen Blick nach unten. Draußen war es zwar immer noch dunkel, doch unter ihnen glitzerten Eisplatten im Sternenlicht.
»Wir sollten einen Funkspruch absetzen, damit unsere Dienststellen wissen, was mit uns passiert ist«, schlug Dai Zhoushe vor.
»Können vor Lachen!«, antwortete Henriette bissig. »Das Funkgerät hat ebenso den Dienst aufgegeben wie die meisten anderen Geräte. Außerdem verlieren wir zu viel Höhe. Schmeißt alles überflüssige Gepäck über Bord, schnell! Vielleicht schaffen wir es dann bis zu einer der Inseln vor Spitzbergen!«
Dai Zhoushe wischte sich kurz über das Gesicht, atmete dann tief durch und öffnete die Tür auf ihrer Seite. Sofort drang ein Schwall eiskalter Luft in die Maschine und zeigte ihnen, was sie bei einer Notlandung selbst dann erwartete, wenn es Henriette gelang, die Maschine heil auf dem Boden aufzusetzen.
Als Erstes flogen die Reisetaschen mit Yangyangs und Henriettes Handgepäck aus dem Flugzeug, dann folgte Torstens Reisetasche und die Hülle seines Laptops. Das Gerät selbst war ihm vor die Füße gerutscht, so dass Dai Zhoushe es nicht erreichen konnte. Diese nahm nun die Tasche mit dem eigenen Laptop, sah, dass ein MG-Geschoss beides durchbohrt hatte, und warf die Sachen ohne Bedauern nach draußen.
Kurz darauf hatten die beiden Chinesinnen bis auf ein paar Kleinigkeiten alles aus der Maschine geworfen, was ihnen in die Finger gekommen war, und Henriette sah mit Erleichterung, dass das Flugzeug seine Höhe halten konnte. Aber die Steuerung machte immer noch Probleme. Obwohl sie den Steuerknüppel voll nach links eingeschlagen hatte, driftete die Maschine immer noch vom geraden Kurs ab. Da auch die Tankanzeige, die als eine der wenigen noch funktionierte, mehr und mehr gegen null tendierte, war klar, dass sie den Flughafen von Longyearbyen niemals erreichen würde.
»Die Räumaktion hat uns etwa zehn Minuten Galgenfrist eingebracht«, sagte sie. »Das könnte reichen, die Insel Nordaustlandet zu erreichen. Aber ob wir dort landen können, ist eine andere Frage.«
Die Vorstellung, zwar Land zu erreichen, aber dann an einem Berg zu zerschellen, ist alles andere als erfreulich, dachte sie und konzentrierte sich voll auf die Maschine. Wenn sie eine Chance haben sollten, musste sie eins mit ihr werden.
»Wenn es sein muss, springe ich aus dem Flugzeug.« Zi Yangyang wollte den Sicherheitsgurt lösen, doch Henriette schüttelte den Kopf.
»Hier geht niemand über Bord! Entweder schaffen wir es alle oder keiner!«
Trotz Henriettes Einwand nickte Dai Zhoushe ihrer Untergebenen zu. Diese atmete tief durch, legte den Gurt ganz ab und salutierte kurz. Dann riss sie die Tür auf, glitt hinaus und ließ sich fallen.
»Was ist los?«, rief Henriette, die sich nicht umdrehen konnte.
»Meine Kollegin Zi Yangyang hat ihre Pflicht bis zum Äußersten erfüllt«, erklärte Dai Zhoushe mit gepresster Stimme. Obwohl sie sich beherrschte und eine unbeteiligte Miene zeigte, stahl sich doch eine Träne aus dem linken Auge. Sie wischte sie rasch weg und zeigte dann nach vorne. »Ich sehe Land!«
»Das muss Nordaustlandet sein!« Henriette versuchte durch das Dämmerlicht etwas zu erkennen, und was sie sah, war nicht gerade einladend. Vor ihnen stieg ein schier unendlicher Gletscher auf, und sie konnte das Flugzeug gerade noch auf knapp hundert Meter Höhe halten.
»Jetzt wollen wir sehen, ob die Scheinwerfer noch funktionieren«, sagte sie mehr für sich selbst und legte den Schalter um. Einer der Scheinwerfer blieb dunkel, doch der zweite flammte auf und stach als glühende Lanze in die Dunkelheit.
»Besser als nichts«, kommentierte Henriette und neigte die Nase des Flugzeugs ein wenig, um die Beschaffenheit des Bodens zu überprüfen. »Hier geht es nicht. Es ist zu uneben. Wir müssen weiter in die Insel hinein!«
Die nächsten Minuten wurden zur Qual. Immer wieder ragten Eisblöcke hoch und machten jeden Versuch zu landen illusorisch. Mittlerweile sank die Maschine kontinuierlich. Henriette warf einen letzten Blick auf die wenigen noch funktionierenden Anzeigen, zog die Maschine dann nach rechts um einen flachen Hügel aus Eis, der ihre Höhe bereits überragte, und begann unwillkürlich zu beten.
In letzter Zeit hatte sie es nur zu Hause getan und auch nur, wenn ihre Mutter sie dazu aufgefordert hatte. Doch nun war ihr klar, dass sie die Gnade aller himmlischen Mächte benötigte, um die Maschine heil landen zu können.
Ihre Rechte griff zum Schalter, mit dem das Fahrgestell ausgefahren werden konnte. Es tat sich nichts. Auch gut, dachte sie. Dann wird es eben eine Bauchlandung.
Sie war vielleicht noch zwanzig Meter über der Oberfläche, als sie vor sich eine ebene Eisfläche entdeckte. Ob diese weiter reichte als der Strahl des Scheinwerfers, konnte sie nicht feststellen, dennoch drückte sie die Nase der Maschine nach unten.
»Vorsicht!«, schrie sie, als das Flugzeug den Boden berührte und auf dem Bauch dahinschlitterte.
Henriette schaltete den Motor und die Treibstoffzufuhr aus und stemmte sich gegen den Sitz. Die Maschine schoss ungebremst über das Gletschereis und wurde womöglich noch schneller. Für Henriette gab es keine Möglichkeit mehr einzugreifen, und ihr blieb nur, zu hoffen und zu beten.
Irgendwann hatte sie das Gefühl, als würde die unheimliche Schlittenpartie langsamer, und sie wollte schon aufatmen. Da tauchte linker Hand ein Schatten auf. Die Tragfläche prallte gegen den Eisblock und riss ab. Gleichzeitig drehte der Rumpf des Flugzeugs sich wie ein Kreisel um seine Achse. Henriettes Flüche mischten sich mit Dai Zhoushes schrillem, langgezogenem Schrei und Torstens Stöhnen. Im nächsten Moment prallte die Maschine gegen ein Hindernis und blieb abrupt stehen.
Der Aufprall war zum Glück erträglich. Torsten allerdings knallte mit dem Schädel gegen das Instrumentenbord und hing dann schlaff in seinem Sicherheitsgurt. Henriette hatte den Aufprall besser überstanden und drehte sich um. Schräg hinter ihr saß Dai Zhoushe und hielt sich den Kopf.
»Ist etwas passiert?«, frage Henriette mit klirrender Stimme.
»Nein, ich bin so weit in Ordnung.«
»Ihre Kollegin hätte nicht aus dem Flugzeug springen dürfen! Wir hätten es auch so geschafft.«
Henriette konnte ihre Wut kaum beherrschen. Für sie war solch eine Haltung unverständlich. Mittlerweile ärgerte sie sich, die Chinesinnen mitgenommen zu haben.
»Ich bedauere Zi Yangyangs Tod nicht weniger als Sie«, erklärte Dai Zhoushe mit eisiger Miene. »Doch sie tat, was sie in jenem Augenblick für richtig hielt.«
»Ihre Haltung ist menschenverachtend«, fuhr Henriette sie an.
Die Chinesin zuckte mit den Schultern. »Sie mögen es so sehen. Doch für uns steht das Gemeinwesen an erster Stelle, nicht das Individuum.«
»Darauf sind Sie wohl auch noch stolz, was? Für euch zählt immer nur der Erfolg – und wenn ihr dafür lügen und betrügen müsst!«
Henriette hatte nicht vergessen, dass sie vor einigen Jahren bei einer Militärweltmeisterschaft im Judo gegen zwei Chinesinnen verloren hatte, die kurze Zeit später bei einem anderen Wettkampf des Dopings überführt worden waren. Dazu kam der in ihren Augen völlig sinnlose Freitod von Zi Yangyang.
»Wollen Sie sich mit mir streiten oder sich um Ihren Kollegen kümmern? Wie es aussieht, hat er einiges abbekommen«, wies Dai Zhoushe sie zurecht.
Henriette begriff, dass es im Augenblick Wichtigeres gab. Mit einer Bewegung, die ihren Ärger verriet, befreite sie sich aus dem Sicherheitsgurt und beugte sich zu Torsten hinüber. Ihr Kollege war bewusstlos, doch als sie seinen Puls fühlte, schlug dieser zwar schwach, aber regelmäßig.
Erleichtert zog sie ihn wieder auf den Sitz und untersuchte seinen Kopf. Er hatte nur eine kleine, aber heftig blutende Platzwunde am Haaransatz davongetragen. Außerdem blutete er noch immer aus einer Verletzung an der Hüfte.
»Das müssen wir verarzten«, sagte Henriette und wollte nach dem Verbandskasten greifen.
Doch die Stelle, an der er sich befinden sollte, war leer. Ein böser Verdacht beschlich sie, und sie sah Dai Zhoushe zornig an. »Haben Sie etwa auch den Verbandskasten über Bord geworfen?«
Die Chinesin sah sich kurz um und zuckte dann mit den Schultern. »Es muss wohl so sein. Yangyang und ich haben alles, was uns in die Hände kam, aus dem Flugzeug geschmissen. Sie sagten ja, wir sollten es tun!«
Aber doch nicht den Verbandskasten, dachte Henriette konsterniert. Sie verkniff sich eine Bemerkung, sondern sah nach, ob sie irgendetwas fand, mit dem sie Torstens Verletzungen versorgen konnten.
Hinter Dai Zhoushes Sitz entdeckte sie schließlich eine Tasche mit mehreren, in Plastik eingeschweißten Tüchern sowie zwei Notfallplanen. Sie nahm alles mit nach vorne und schnitt aus den Tüchern einen Kopfverband zurecht, den sie Torsten anlegte. Danach zog sie seine Hose herunter und besah sich die Wunde an seiner Hüfte.
Die war weitaus schlimmer, denn ein Stück Hartplastik, das durch ein MG-Geschoss abgesplittert war, hatte sich durch die Hose ins Fleisch gebohrt. Da Henriette weder chirurgisches Besteck noch sonst ein brauchbares Werkzeug hatte, fasste sie das glitschige Stück mit einem sauberen Papiertaschentuch und zog es mühsam aus der Wunde. Sie ließ diese noch ein wenig ausbluten, damit Schmutz und Keime herausgespült wurden, dann wand sie eines der Tücher um seine Hüfte herum und zog die Hose wieder hoch.
»So, erledigt«, erklärte sie.
Unterdessen starrte Dai Zhoushe auf die Düsternis, die das Flugzeugwrack umgab. »Was machen wir jetzt? Wir sind meilenweit von jeder menschlichen Siedlung gelandet.«
Torsten war bei Henriettes Verarztung aufgewacht und beteiligte sich nun an dem Gespräch, als wäre nichts gewesen. »Ich würde sagen, sehr viele Meilen weit. Soweit ich weiß, gibt es auf Nordaustlandet im Winter keine ständigen Bewohner. Selbst im Sommer sind hier höchstens ein paar Nationalpark-Ranger und einige Wissenschaftler zu finden.«
Henriettes Kommentar war nicht druckreif. Dann hieb sie mit der Faust gegen die Innenwand des Flugzeugs und zeigte die Zähne. »Irgendwie werden wir es schaffen! Ich habe keine Lust, hier zu krepieren.«
»Ich glaube nicht, dass Krepieren etwas mit Lust zu tun hat!« Torsten hatte seinen Humor wiedergefunden, auch wenn es mehr Galgenhumor war. Seine Hüfte brannte wie Höllenfeuer, und sein Schädel brummte, als hätte er am Vorabend mehrere Flaschen Whisky geleert. Aber er riss sich zusammen, um den Frauen mit gutem Beispiel voranzugehen.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand fehlte. Er wandte sich an Dai Zhoushe: »Wo ist Ihre Kollegin?«
»Frau Zi Yangyang ist mehrere Meilen vor der Küste abgesprungen, damit wir es bis hierher schaffen konnten«, antwortete die Chinesin in einem Ton, der deutlich zeigte, dass sie keine Diskussion darüber wünschte.
»Wenn sie Glück hat, ist sie mit ihrem Fallschirm auf einer Eisscholle gelandet. Vielleicht …«
»Sie ist ohne Fallschirm gesprungen«, unterbrach Henriette Torsten heftig.
Anders als sie ließ Torsten sich nicht von seinen Gefühlen leiten. Er kannte Asiaten und wusste, dass sie in einigen Dingen anders tickten als Europäer. Selbst bei Henriette zeigte sich gelegentlich ihre halbasiatische Herkunft, wenn auch nicht so extrem wie hier bei Zi Yangyang. Deren Selbstmord konnte nur eines bedeuten: Dai Zhoushes Stellung im chinesischen Geheimdienst musste sehr hoch sein, wenn ihre Kollegin sich für die winzige Chance opferte, dass ihre Vorgesetzte es vielleicht doch bis an Land schaffen konnte.
»Wir sollten weniger an Frau Zi denken als daran, wie wir uns aus dieser Lage befreien können. Wir wissen nicht, wo genau wir gelandet sind und wie wir Hilfe erhalten können«, erklärte Dai Zhoushe mit entschlossener Stimme.
»Das«, meinte Torsten, »sind Dinge, die wir dringend klären sollten. Wir können nicht ewig hier im Flugzeug bleiben. Es ist verdammt kalt, und wir würden in wenigen Stunden erfrieren. Also muss uns etwas einfallen.«
»Tu dir keinen Zwang an«, warf Henriette bissig ein. Sie konnte nicht begreifen, dass Torsten so einfach über den Tod der Chinesin hinwegging. Andererseits hatte er recht. Lange hielten sie es in der zerstörten Maschine nicht mehr aus.
Torsten hob seinen Laptop auf und sah, dass das Gerät ein paar Schrammen davongetragen hatte, ansonsten aber in Ordnung zu sein schien. Daher klappte er es auf und schaltete es ein. Es dauerte lange, bis das Startbild geladen war, und als er versuchte, eine Verbindung mit Hans Borchart zu bekommen, wanderte der grün-weiße Streifen so langsam von links nach rechts, dass Torsten das Ding am liebsten zum Fenster hinausgeworfen hätte.
Endlich kam die Rückmeldung, und Hans’ Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Der Empfang war jedoch sehr schlecht, und Torsten vernahm keinen Ton, obwohl Hans sichtlich aufgeregt sprach.
»Du musst lauter reden!«, rief Torsten.
Hans stutzte kurz, schrieb etwas auf einen Zettel und hielt ihn vor die Kamera.
»Ich kann dich nicht hören!«, las Torsten.
In einem Reflex wollte er nach seiner Laptoptasche greifen, in der er Stift und einen Notizblock verwahrte, doch die hatte Dai Zhoushe ins Meer geworfen.
»Hat eine von euch einen Kugelschreiber und Papier?«, fragte er die beiden Frauen.
Dai Zhoushe griff in eine Innentasche ihres Parkas und brachte beides zum Vorschein.
»Danke!«, sagte Torsten und begann zu schreiben. Da er sich kurzhalten musste, teilte er Hans nur mit, dass sie in der Wildnis hatten notlanden müssen und dringend Hilfe brauchten. Die Antwort war ernüchternd.
»Norwegen hat den Luftraum und die See um Spitzbergen für alle gesperrt. Ich kann höchstens bitten, dass sie einen Hubschrauber schicken, der euch sucht.«
Das wäre gleichbedeutend mit dem Scheitern ihrer Operation, denn der norwegische Geheimagent, den er Olsen genannt hatte, würde sie kein zweites Mal mehr laufen lassen. Doch welche Chance blieb ihnen? Er war außerdem verletzt und würde für die beiden Frauen eine zusätzliche Belastung sein.
Während Torsten überlegte, ob sie nicht doch aufgeben sollten, und ein paar Worte mit seinen Begleiterinnen wechselte, führte Hans einige Berechnungen durch und druckte das Ergebnis gleich aus, um es nicht abschreiben zu müssen. Ganz oben stand die Position, an der das Flugzeug niedergegangen war. Wichtiger für die drei war jedoch die Tatsache, dass sich nur einundzwanzig Kilometer entfernt eine Hütte befinden sollte, die im Sommer von Wissenschaftlern benutzt wurde.
»Habt ihr einen Kompass?«, fragte Hans auf einem Blatt Papier.
Dai Zhoushe streckte ihm den linken Arm hin und wies auf ihre Uhr. »Ich kann sie als Kompass verwenden!«
»Sehr gut!« Torsten atmete auf und notierte sich die Richtung und die Position der Wissenschaftsstation.
Dann schrieb er wieder einen Zettel für Borchart. »Wir müssen Schluss machen, sonst macht der Akku schlapp. Ich weiß nicht, ob es in der Hütte Strom gibt, mit dem ich ihn wieder aufladen kann.«
»Darauf würde ich lieber nicht wetten!«, kritzelte Hans auf sein Blatt.
Ehe er die Verbindung abbrach, wandte Torsten sich an die beiden Frauen. »Soll ich Hans sagen, dass er die Norweger informieren soll, damit sie uns abholen, oder sehen wir zu, dass wir zu dieser Rangerstation kommen?«
»Wie ist es mit deinen Verletzungen? Sie sollten besser versorgt werden«, gab Henriette zu bedenken.
»Ich bin schon fast wieder wie neu«, versicherte Torsten nicht ganz wahrheitsgemäß.
»Was haben wir gewonnen, wenn wir zu dieser Station gehen?«, fragte Dai Zhoushe.
»Wir erhalten uns die Möglichkeit, dass unsere Leute uns mit einem U-Boot heimlich von hier wegholen. Im anderen Fall haben wir die Norweger am Hals«, antwortete Torsten.
»Denkst du dabei an den Mann, den du Olsen genannt hast? Den würde es sicher brennend interessieren, was wir hier oben verloren haben.« Henriette hatte ihr Dilemma erkannt, und auch Dai Zhoushe sagte sich, dass es besser wäre, diesem Mann so schnell nicht zu begegnen.
»Ich schlage vor, wir suchen die wissenschaftliche Station auf. Abholen lassen können wir uns immer noch, wenn wir nicht mehr weiterwissen«, sagte die Chinesin.
»Und du, Henriette?«, fragte Torsten.
Diese schwankte noch. »Es kommt auf dich an. Wenn du dich gut genug fühlst, gehen wir zu der Station.«
»Und ob ich das tue!« Torsten zeigte ein Grinsen, das allerdings mehr einem Zähnefletschen glich. »Die Kerle wollten uns zuerst mit der Trollfjord versenken und haben uns dann ohne Vorwarnung beschossen. Dafür möchte ich mich bei denen bedanken.«
»Ohne zu wissen, wo sie zu finden sind?« Dai Zhoushe nahm an, Torsten besäße Informationen, die ihr unbekannt waren, und wollte ihn reizen, diese preiszugeben.
Zu ihrer Enttäuschung zuckte er nur mit den Schultern. »Wenn wir erst in dieser Hütte sind, haben wir Zeit, über unsere nächsten Schritte nachzudenken. Jetzt sollten wir aufbrechen, um das Tageslicht auszunutzen.«
»Wenn das ein Witz sein sollte, war er ziemlich schlecht«, schimpfte Henriette angesichts der Düsternis, die das Flugzeug umgab.
»Einundzwanzig Kilometer sind bei diesen Bedingungen ein arg weiter Weg«, setzte sie etwas ruhiger hinzu.
»Die werden noch schlimmer, wenn man sie bei Sturm und Schneefall zurücklegen muss, und Stürme können hier jederzeit losbrechen«, antwortete Torsten. »Daher sollten wir uns so schnell wie möglich auf die Socken machen. Vorher aber müssen wir nachsehen, was wir noch an Ausrüstung besitzen. Wie sieht es mit Kleidung aus? Sind wir warm genug angezogen für einen solchen Marsch?«
»Es muss reichen«, antwortete Dai Zhoushe und bedauerte, dass Yangyang ihren Parka nicht ausgezogen hatte, bevor sie aus dem Flugzeug gesprungen war.
»Gibt es noch etwas zu essen oder zu trinken?«
Dai Zhoushe machte eine bedauernde Geste. »Wenn es etwas gab, haben wir es hinausgeworfen.«
»Stimmt nicht ganz! In diesem Fach hier sind noch ein paar Schokoriegel und zwei Dosen Cola.« Henriette holte die Sachen heraus und hielt sie triumphierend in die Höhe.
»Dann kann unsere Polarexpedition ja beginnen«, meinte Torsten trocken und öffnete die Tür. Sofort biss die Kälte in sein Gesicht, und er schloss schnell die Hose, die Henriette nach der Verarztung seiner Hüftwunde offen gelassen hatte. Als er die ersten Schritte versuchte, schmerzte das Gehen höllisch, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen zu können.
Den beiden Frauen entging nicht, dass er Probleme hatte, und sie sahen sich kurz an. »Eine von uns trägt den Rest unserer Ausrüstung samt Torstens Laptop, die andere stützt ihn«, erklärte Henriette und war erleichtert, als Dai Zhoushe nickte.
NEUN
Während die drei Gestrandeten zu der Hütte aufbrachen, fand auf der geheimen Unterseestation von International Energies so etwas wie ein Tribunal statt. Torvald Terjesen saß im schwarzen Ledersessel seines Büros. Auf dem Sessel neben ihm flegelte sich sein Bruder Espen und spielte dabei mit einer Pistole, während Bjarne Aurland und der Kapitän der Fenrisulfr wie begossene Pudel vor den beiden standen.
»Ich fasse es nicht!«, stieß Espen hervor. »Ihr seid zu blöd gewesen, ein Kleinflugzeug mit Propellerantrieb abzuschießen?«
»Vorwürfe und Beleidigungen bringen jetzt nichts«, wies sein Bruder ihn zurecht. »Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt unternehmen sollen.«
»Das Flugzeug hat keinen Funkspruch mehr abgegeben, bevor es abgestürzt ist!«, versuchte Aurland sich zu verteidigen.
Espen Terjesen winkte jedoch ab. »Es gibt heutzutage andere Kontaktmöglichkeiten als ein simples Funkgerät. Wenn sie auf einer ungewöhnlichen Frequenz senden, konntet ihr nichts mitbekommen.«
»Die Überwachungsbojen um die Station haben ebenfalls nichts aufgefangen, und die decken den größten Teil der möglichen Funkfrequenzen ab«, erklärte Aurland.
»Trotzdem können wir nicht sicher sein, ob die Kerle nicht doch noch jemanden informieren konnten.« Nachdem Espen Terjesen sich einen Teil der Schuld zumessen musste, dass es jemandem gelungen war, die Trollfjord zu retten, wollte er keinen weiteren Fehler machen.
Daher fixierte er Aurland mit seinem Blick. »Ihr behauptet, das fremde Flugzeug wäre abgestürzt. Habt ihr das gesehen?«
Sowohl Aurland wie auch Halldorsen schüttelten den Kopf. »Das nicht, aber wir konnten anmessen, dass die Maschine mehr und mehr an Höhe verloren hat. Sie muss vor Nordaustlandet ins Meer gestürzt sein«, sagte Ersterer.
»Oder auf eine Eisscholle! Zurzeit herrscht dort starker Eisgang«, setzte der Kommandant der Fenrisulfr hinzu.
»Das heißt, ihr nehmt an, dass sie abgestürzt sind. Aber was ist, wenn das nur ein Trick war und sie außerhalb eurer Radarreichweite ganz normal weitergeflogen sind? Dann wissen jetzt auch andere davon, dass sich hier ein U-Boot herumtreibt, das es eigentlich nicht geben darf.«
Bis dorthin hatte Torvald Terjesen seinem Bruder das Verhör überlassen, aber nun griff er selbst ein. »Fakt ist, die Aktion mit der Trollfjord lief nicht so, wie es geplant war. Infolgedessen tauchte hier ein Flugzeug auf, das ebenfalls nicht wie geplant abgeschossen werden konnte. Also müssen wir damit rechnen, dass bald noch mehr Leute ihre neugierigen Nasen in diese Gegend stecken.«
»Warum habt ihr nicht zwei Raketen auf dieses verdammte Flugzeug abgeschossen?«, fragte Espen aufgebracht.
»Wir waren sicher, dass eine reicht! Es ist nicht gerade billig, diese Dinger auf dem Schwarzmarkt zu besorgen«, wandte Halldorsen ein.
Espen stieß ein kurzes Lachen aus. »Als wenn Geld bei International Energies eine Rolle spielen würde! Verdammt, ihr hättet diesen Kasten vom Himmel holen müssen, und wenn es hundert Raketen gekostet hätte.«
»Von hätte und müssen wird es auch nicht besser«, bremste ihn sein Bruder. »Wir sollten jetzt auf alles vorbereitet sein. Zum Glück ist die Station so weit ausgerüstet, dass sie einige Monate ›toter Fisch‹ spielen kann. Es wird daher keine Transporte mehr hierher geben, wenn ich sie nicht höchstpersönlich anordne. Ist das klar?«
Espen nickte grimmig. »Vollkommen klar.«
»Nastja wird ihre Forschungen hier unten weitertreiben. Dann können wir in einigen Monaten mit dem Testbetrieb der Methanverflüssigung beginnen. Klappt das, werden wir die erste Förderstation vor der Westküste Norwegens errichten. Dorthin werden wir auch unsere offizielle Zentrale verlagern. Aurland, das übernimmst du, sobald Nastjas Versuchsreihe erfolgreich zu Ende gegangen ist.«
»Das mache ich gerne, Herr Terjesen!« Aurland atmete erleichtert auf. Solange sein Chef ihm wichtige Aufträge erteilte, war er nicht in Ungnade gefallen.
»Der Bau dieser Station und ihre Versorgung werden von Tromsø aus erfolgen. Die entsprechenden Vorbereitungen sind bereits getroffen. Ich werde mit der Midgardsormr zu unserer Bohrplattform vor Kjøllefjord fahren und von dort mit einem Versorgungshubschrauber nach Tromsø fliegen, um den höchstbesorgten Bruder zu spielen. Dort werde ich durchsickern lassen, dass ich bereit bin, Lösegeld für Espen zu zahlen. Irgendein Idiot wird sicher eine Forderung stellen. Ich zahle das Geld und bin für die Welt erst einmal der Betrogene. Damit, so hoffe ich, kann ich International Energies aus diesem ganzen Schlamassel heraushalten.«
»Ich werde vor dem Fernsehgerät sitzen und zusehen, wie du an meine Entführer appellierst, mich freizulassen«, warf Espen amüsiert ein. Da sein Bruder das Ruder wieder fest in der Hand hielt, konnte er der Situation mittlerweile eine komische Seite abgewinnen.
»Ich glaube nicht, dass du das tun wirst«, erklärte Torvald Terjesen kühl. »Da du uns dieses Flugzeug auf den Hals gehetzt hast, wirst du als Erstes danach suchen.«
»Soll ich etwa zwischen den Eisschollen im Meer herumschwimmen und nachsehen, ob ich Leichen oder Wrackteile finde?«, fragte Espen bissig.
»Genau das wirst du tun!«, antwortete Torvald Terjesen ungerührt. »Nimm eines der Tauchboote! Aurland und Hemsedalen sollen dich begleiten. Die Ymir wird euch auf dem ersten Teil des Weges Geleitschutz geben. Deren Besatzung wird ein zerlegtes Ultraleichtflugzeug an Bord nehmen und bei unserem Stützpunkt an der Küste von Nordaustlandet zusammenbauen. Damit kannst du auf der Insel nach dem fremden Flugzeug suchen, wenn du es im Meer nicht gefunden hast.«
Bei den derzeitigen Wetterbedingungen mit einem Ultraleichtflugzeug aufzusteigen, war eine Tortur. Daher begehrte Espen Terjesen auf. »Können wir nicht einen Hubschrauber von einer unserer Ölplattformen nach Nordaustlandet ordern? Damit kann ich auch bei stärkerem Wind die Insel absuchen.«
Torvald sah ihn strafend an. »… und geortet werden! Bei dem Aufruhr, den du verursacht hast, richten sich verdammt viele Augen auf diese Weltengegend. Nein, du wirst die Suche unauffällig betreiben. Und noch etwas! Lass dich von niemandem außer unseren eigenen Leuten sehen. Vergiss nicht, du bist von bösen Schurken entführt worden.«
»Das werde ich bestimmt nicht vergessen!« Espen schluckte seinen Unmut hinunter, schob die Pistole in den Gürtel und funkelte Aurland auffordernd an. »Du hast meinen Bruder gehört! Es gibt etwas zu tun. Lass das Tauchboot drei fertigmachen und sag Age Bescheid, dass wir in einer Stunde aufbrechen.«
»Vergiss nicht die Ymir und das zerlegte Leichtflugzeug! Das U-Boot soll euch zunächst eskortieren und dann den Hangar aufsuchen«, ermahnte sein Bruder ihn mit einem bösen Grinsen, denn er gönnte Espen die eisigen Stunden in der Luft. In der Zeit konnte dieser einige seiner Dummheiten abbüßen.
»Das vergesse ich ganz bestimmt nicht«, schnaubte Espen und fand, dass es gar nicht so schlecht war, wenn er seinen Bruder eine Zeit lang nicht sehen musste.
ZEHN
Für die Gefangenen war die Lage unverändert. John Thornton saß noch immer mit Anthony Rumble, Sally Marble und Pat Shears in seiner Zelle, mit nichts am Leib als seinem Schlafanzug, und wartete darauf, dass jemand kam. Hunger und vor allem der Durst machten ihnen zu schaffen, und John ging davon aus, dass ihre Entführer sie weichkochen wollten. Bei ihm würden sie sich allerdings die Zähne ausbeißen. Er hatte schon ganz andere Situationen überstanden und hoffte, dass er auch diesmal den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte.
Sally und Pat traute John ebenfalls zu dichtzuhalten, was auch immer geschah. Doch dass dies auch für Rumble galt, bezweifelte er. Der Mann war kein durchtrainierter Agent, sondern ein Bürokrat, auch wenn er die Leitung der Aktion auf der Trollfjord an sich gerissen hatte. Dabei konnten ihre Entführer gerade von ihm eine Menge erfahren und entweder selbst verwenden, teuer verkaufen oder die USA mit diesem Wissen erpressen. Der Gedanke, dass über Jahrzehnte mühsam aufgebaute Spionagesysteme durch Rumbles Schuld auf einen Schlag zusammenbrechen konnten, erschreckte John, auch wenn er nicht mehr zum Geheimdienst gehörte.
»Wann gibt es endlich etwas zu essen? Wollen die uns verhungern lassen?«
Rumbles Ausbruch beendete Johns Sinnieren, und er erhob sich von seiner Pritsche. »Wenn die Kerle es darauf anlegen, uns fertigzumachen, kann das noch eine ganze Weile dauern«, raunte er Rumble ins Ohr.
Obwohl sie ausgemacht hatten, sich nur auf diese Weise zu verständigen, damit der Feind nicht jedes hier gesprochene Wort mithörte, wurde Rumble laut. »Mein Gott, das können sie doch nicht tun!«
»Die können viel, wenn die Nacht lang ist – und die Polarnacht ist hier verdammt lang!«, gab John verärgert und ebenfalls viel zu laut zurück.
Da hörte er Sally im Bett über dem seinen stöhnen. »Wisst ihr, dass heute der Heilige Abend ist?«
»Ich glaube, der war schon gestern«, antwortete Pat Shears mürrisch.
»Auf jeden Fall erst mal trotz allem Merry Christmas euch allen!« Johns Worte galten vor allem Sally.
Nur in Nachthemd und Höschen mit drei Männern auf engstem Raum eingesperrt zu sein, ohne auch nur einen Hauch von Intimsphäre, setzte ihr stark zu. Vielleicht wollten die Gegner die Frau damit zermürben, um sie als Erste zu verhören.
John schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sally war eine ausgebildete Agentin und hatte Schulungen durchlaufen, in denen ihr beigebracht worden war, wie sie sich in einem solchen Fall zu verhalten hatte. Sie würde nicht durchdrehen. Vielleicht bin sogar ich es, der sich als Schwachpunkt erweist, und nicht Rumble, dachte er.
Jetzt mach dir nicht schon vorher in die Hosen, rief er sich zur Ordnung. Die Kerle wollen, dass wir unsicher werden. Wichtiger erschien es ihm, darüber nachzudenken, in wessen Hände sie gefallen waren. Vielleicht gab es auch eine Möglichkeit, eine Botschaft nach draußen zu schmuggeln. Eine Million Dollar als Belohnung mochten so manchen dazu bewegen, seine Meinung ebenso wie seine politischen Ansichten zu ändern. Allerdings hatte er keine Million Dollar zu vergeben, und seine Firma würde sich bedanken, wenn er eine solche Summe von ihr verlangte. Noch während er überlegte, ob er mit Rumble darüber reden sollte, klang der Lautsprecher direkt über Sallys Bett auf.
»So, Leute, jetzt gibt es zu futtern und anständige Kleidung. Verschwindet also erst einmal nach hinten. Einer von euch soll sich auf die Toilette setzen. Die drei anderen quetschen sich daneben. Und noch was: Wenn einer Stunk machen will, schlagen wir die Tür zu, und ihr müsst einen Tag länger Kohldampf schieben. Außerdem schalten wir dann die Heizung runter, damit ihr frisch bleibt!«
John achtete weniger auf die Aussage des Gesprochenen, sondern mehr auf dessen Akzent. Der Mann sprach das Englische so ähnlich aus wie die Stewardessen und Stewards auf der Trollfjord. Vermutlich also ein Norweger oder zumindest Skandinavier. Diese Länder saßen jedoch mit Amerika im selben Boot und gehörten sogar der NATO an.
Neugierig, was sie zu sehen bekommen würden, scheuchte er Pat Shears nach hinten und half dann Sally, von ihrem Bett herunterzusteigen. Kurz darauf quetschten sie sich in den hinteren Teil des Raumes und schauten auf die Tür.
»So ist es brav«, hörten sie die Lautsprecherstimme sagen.
Dann schwang die Tür auf, und sie starrten in das gleißende Licht eines starken Scheinwerfers. John riss im Reflex die Hand hoch, um seine geblendeten Augen zu schützen. Doch da schlug die Tür bereits wieder zu, und er sah ein Tablett mit vier Tellern und einer Plastikflasche mit Wasser sowie mehrere zusammengelegte Kleidungsstücke in hellroter Farbe.
»Endlich!« Rumble eilte zu dem Tablett, öffnete mit zittrigen Händen die Wasserflasche und begann zu trinken.
»He, Mister, vergessen Sie nicht, dass hier noch drei andere durstig sind!«, fuhr Pat seinen Chef an, als dieser mehr als ein Drittel der Flasche geleert hatte und nicht aufhören wollte. Auch Sally beschwerte sich, während John seine Meinung bestätigt sah, dass Rumble besser an seinem Schreibtisch in Washington geblieben wäre, als sich hier in Europa als James Bonds Enkel aufzuspielen.
Da Rumble so aussah, als würde er am liebsten weitertrinken, nahm John ihm die Flasche ab und reichte sie Sally. Diese lächelte ihn dankbar an, beherrschte sich beim Trinken und ließ zwei Drittel des Restes für John und Pat Shears zurück.
»Jetzt Sie«, forderte John Pat auf.
Dieser atmete kurz durch und trank. Seine Selbstbeherrschung war geringer als Sallys, denn als er absetzte, war die Flasche nur noch zwei Fingerbreit gefüllt. Als Shears das merkte, zog er betroffen den Kopf ein. »Tut mir leid, Thornton, ich …«
»Schon gut«, antwortete John und leerte die Flasche. Es war verdammt wenig Wasser, und sein Durst war danach noch genauso groß wie vorher. »Beim nächsten Mal werden wir rationieren«, sagte er, während er einen der mit Büchsenravioli gefüllten Teller an sich nahm. Der Löffel, der darin steckte, war aus Plastik. John leckte ihn ab und hob ihn hoch.
»Ich glaube nicht, dass wir uns mit einem solchem Werkzeug einen Gang ins Freie graben können!«
Sally kicherte, während Pat sich an die Stirn tippte. »Die Wände sind aus Metall! Da würde selbst ein Löffel aus Eisen wenig helfen.«
»Es sollte ein Witz sein!«
In diesem Augenblick wünschte John, Larry Frazer wäre an Pats Stelle. Larry war zwar ein Schweinehund gewesen, doch er hatte gewusst, worauf es ankam. Shears hingegen war das typische Produkt von CIA und Secret Service. Beim Heeresgeheimdienst hatten sie solche Typen schon immer Weicheier genannt.
Ohne sich um die anderen zu kümmern, hatte Rumble seine Ravioli gegessen und sah nun bedauernd auf die leere Wasserflasche. »Jetzt wäre ein Schluck zum Nachspülen gut.«
Seine drei Zellengenossen empfanden diese Bemerkung als unangemessen, immerhin hatte Rumble mehr Wasser getrunken als Sally und John zusammen.
Shears machte eine verächtliche Handbewegung. »Man sollte keine Amateure auf wichtige Geheimdienstposten setzen.«
Rumble fuhr empört auf. »Hören Sie mal, ich war beim Secret Service, als der Präsident mich mit der Aufgabe betraute, die versauten Geheimdienste der United States wieder auf Vordermann zu bringen!«
»Gelernt haben Sie dabei aber wenig, denn Sie haben unseren Freunden eben erklärt, dass Sie ein verdammt hohes Tier in den Staaten sind.«
Obwohl John leise sprach, kamen seine Worte einer Ohrfeige gleich. Rumble schluckte und verzog sich auf seine Pritsche. Die anderen aßen ihre Rationen auf und begutachteten die Kleidungsstücke, die man ihnen gebracht hatte. Sie bestanden aus Hemden, Hosen und Jacken, deren Taschen zugenäht worden waren.
»Viel haben wir ohnehin nicht hineinzustecken«, spottete John, während er eine Hose über seine Pyjamahose streifte. Auch Sally ließ ihre Schlafsachen an, während Pat Shears sich bis auf die Unterhose auszog und dann ihre Gefangenenkluft überstreifte. Das letzte Bündel Kleidung warf er auf Rumbles Bett.
»Das ist für Sie! Sie werden darin zwar aussehen wie ein Junge, der in die Hosen und die Jacke seines Vaters geschlüpft ist, aber es gibt nur diese eine Größe für die Herren. Es sei denn, Sie wollen Sallys Klamotten haben.«
Obwohl John sich ebenfalls über Rumble geärgert hatte, hielt er Pats Kommentar für überflüssig. Wenn Spannungen zwischen ihnen entstanden, war dies nur zum Vorteil ihrer Entführer. Er versuchte, das den anderen mit unverfänglichen Worten klarzumachen, doch die Einzige, die ihn verstand, war Sally. Während Pat den harten Hund heraushängen ließ, legte Rumble sich beleidigt auf seine Pritsche und gab vor zu schlafen.
ELF
Eine gute Stunde nach der Essensausgabe klang der Lautsprecher erneut auf. »Achtung, gleich geht die Tür auf. Dann kommt ihr einzeln und mit hinter dem Nacken verschränkten Händen auf den Flur, verstanden?«
Rumble erhob sich. »Wollen die uns jetzt verhören? Da werden sie Pech haben. Von uns sagt keiner etwas, das ist ein Befehl.«
»Das sagt der Richtige!«, antwortete Pat Shears giftig.
»Er ist immer noch Ihr Chef«, mahnte John ihn.
Zu mehr kam er nicht, denn in dem Augenblick öffnete sich die Tür mit einem schmatzenden Geräusch. John zog interessiert die Augenbrauen hoch. Wie es aussah, gab es hier leichte Druckunterschiede. Das deutete auf ein besonders gut abgeschottetes Gefängnis hin. Da die anderen zögerten, trat er als Erster in den Flur hinaus und versuchte dabei so viel wie möglich zu erfassen. Doch er stand nur in einem gut sechs Yards langen Gang und sah sich einer Gruppe Männern gegenüber, die einem Boxenteam bei einem NASCAR-Rennen glichen. Alle trugen feste Overalls, Handschuhe sowie einen Helm, dessen Scheiben so dunkel waren, dass er die Gesichter dahinter nur schemenhaft erkennen konnte. Einer hielt eine Maschinenpistole in der Hand, drei weitere ein Gerät, das er als Elektroschocker identifizierte, während zwei weitere seltsame Leuchtstäbe in der Hand hielten, die durch Kabel mit einem aktenkoffergroßen Metallkasten verbunden waren. Im Hintergrund waren noch einmal vier Männer mit Elektroschockern zu sehen.
Erst jetzt sah John, dass in dem Gang auf ihrer Seite noch zwei weitere Türen abgingen, die genauso aussahen wie die ihres Gefängnisses. Auf der gegenüberliegenden Seite gab es ebenfalls drei solcher Türen.
Waren dort die übrigen Gefangenen untergebracht?, fragte John sich. Er wusste zwar nicht genau, wie viele Gefangene ihre Entführer von der Trollfjord gemacht hatten. Doch wenn die anderen Zellen genauso ausgestattet waren wie ihre eigene, hatten hier insgesamt vierundzwanzig Menschen Platz, und das war eine stattliche Anzahl. Der Gang war an beiden Seiten durch Türen verschlossen, die weder Klinke noch Schloss aufwiesen und wahrscheinlich nur von außen geöffnet werden konnten.
»Wo bleibt der Nächste? Raus jetzt, sonst machen wir euch Beine! Und du stellst dich mit dem Gesicht zur Wand«, kam es gleich aus mehreren Lautsprechern.
Da John keinen Stromschlag mit einem Elektroschocker riskieren wollte, befolgte er sämtliche Befehle und stellte sich so, wie es von ihm gefordert wurde. Neben ihm wurde Sally platziert, während Rumble und Shears an die gegenüberliegende Wand getrieben wurden.
»Was wollt ihr von uns?«, fragte Rumble nervös.
Ihre Bewacher blieben stumm. An ihrer Stelle befahl die Lautsprecherstimme ihm und den anderen Gefangenen, die Kleidung abzulegen.
»Ich denke nicht daran«, rief Rumble und krümmte sich im nächsten Moment vor Schmerz, weil ihm ein Elektroschocker gegen das Rückgrat gepresst wurde.
John wusste, wann Widerstand sinnlos war, und zog sich bis auf die Unterhose aus.
»Die auch!«, bellte die Lautsprecherstimme.
»Wie es aussieht, wollen die Jungs was sehen«, meinte er zu Sally, die mit verkniffener Miene ihr Nachthemd abstreifte und schließlich auch das Höschen auszog.
Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte John, dass Pat Shears bereits nackt dastand und ihre Bewacher angrinste. »Da staunt ihr, was?«, sagte er herausfordernd.
»Angeber!«, lachte einer und wurde sofort von der Stimme aus dem Lautsprecher gescholten. »Maul halten!«
Der andere machte eine Geste, die John als ein »schon gut!« interpretierte, dann kamen die beiden Männer mit den Leuchtstäben auf ihn zu.
»Arme und Beine spreizen und gegen die Wand lehnen«, wies ihn der Lautsprecher an.
John gehorchte. Als aber die Kerle mit ihren Stäben über seinen Körper fuhren und dabei einen fürchterlichen Juckreiz auslösten, musste er die Zähne zusammenbeißen. Ein Mann nahm seinen Pyjama und seine Unterhose an sich, ein anderer löste die Uhr von seinem Handgelenk, und ein Dritter zog ihm die dünne Goldkette über den Kopf, an dem das Symbol hing, welches ihn mit einem Kreis anderer Absolventen seiner Universität verband.
»Die beiden will ich hinterher wiederhaben«, sagte er und erhielt dafür einen heftigen Stromschlag. Als er wieder geradeaus denken konnte, war ihm klar, dass die Kerle keinen Sinn für Humor hatten.
Für Sally wurde die Sache doppelt demütigend, denn die Kerle fuhrwerkten ihr ungeniert mit den Stäben zwischen den Beinen herum und strichen ihr über die Brustwarzen. Auch sie wurde um alles erleichtert, was sie bei sich trug, wie ihre Uhr, ihre Ohrringe und das Goldkettchen um ihre Taille.
Nach ihr kamen die beiden anderen Männer an die Reihe. Pat ließ die Aktion ungerührt über sich ergehen, während Rumble vor Wut fast platzte. Dieser musste neben seiner Uhr und seinem Ehering auch seine Brille abliefern. Danach starrte er ihre Wächter mit zusammengekniffenen Augen an und bewegte seine Kiefer, als kaue er Kaugummi. Da er als Mann um einiges schlechter ausgestattet war als Pat, war er sich sicher, dass er in der nächsten Zeit mit dem Spott seines Untergebenen würde leben müssen. Pat hatte auch zu John hinübergeäugt und dann Sally beinahe mit den Augen aufgefressen.
In der Hinsicht ist Shears immer noch ein College-Boy, dachte John und fragte sich, was als Nächstes kommen würde.
Nachdem die Kerle ihnen alle persönlichen Sachen abgenommen hatten, wies einer von ihnen auf die vier hellroten Hemden, Hosen und Jacken. Fast gleichzeitig erklärte eine Stimme den vieren, dass sie sich wieder anziehen und in ihre Zelle zurückkönnten.
Sally raffte als Erste ihre Sachen an sich, zögerte dann aber, mit nacktem Hintern in die aus rauem Stoff gefertigten Hosen zu schlüpfen.
»Kannst sie ruhig anziehen. Mehr gibt es nicht«, kam es höhnisch aus dem Lautsprecher.
Nun überwand Sally sich und zog sich an. John und Pat waren bereits fertig, während Rumbles Hände so zitterten, dass er den Hosenknopf nicht zubrachte. »Diese verdammten Schurken! Wenn wir die erwischen, zahlen wir es ihnen kräftig heim«, murmelte er viel zu laut.
John antwortete nicht darauf, sondern kehrte in die Zelle zurück und setzte sich auf seine Pritsche. Als ein Schatten über ihn fiel, blickte er auf und sah Sally.
»Kann ich mich neben Sie setzen?«, fragte sie leise.
John wies mit der rechten Hand neben sich. »Gerne! Wir können auch ein wenig reden, wenn Ihnen danach ist. Ich könnte zum Beispiel von meinem letzten Angelurlaub in Maine erzählen. Oder ziehen Sie Gespräche über Football vor?«
»Der Angelurlaub ist mir ganz recht. Mein Vater hat mich früher immer zum Angeln mitgenommen. Es war sehr schön.«
Während die beiden miteinander sprachen, tippte Pat sich ein paarmal gegen die Stirn. John achtete nicht auf ihn, denn er wusste, wie entspannend eine Unterhaltung sein konnte, und ließ sich weder durch Shears’ Geste noch durch Rumbles missmutiges Gesicht beirren. Wenn sie die Gefangenschaft heil überstehen wollten, mussten sie ruhig und bei wachem Verstand bleiben. Daher legte er den Arm um Sally, zog sie leicht an sich und berichtete von den Forellen aus Maine und dem herrlichen Lachs, den er vor Jahren in Alaska geangelt hatte. Wie er erhofft hatte, beruhigte die junge Agentin sich, und nach einer Weile glaubte er in ihren Augen wieder den Willen zu sehen, sich durch nichts unterkriegen zu lassen.
ZWÖLF
Torvald Terjesen wies auf den Haufen aus Uhren, Brillen und Schmuck, der auf seinem Schreibtisch lag, und schüttelte verärgert den Kopf. »Das hätte schon auf der Midgardsormr geschehen müssen! Ich bin sicher, in dem Gerümpel befindet sich ein versteckter Sender. Wie hätte es jenes Flugzeug sonst geschafft hierherzukommen?«
Bjarne Aurland, den Terjesen entgegen seiner ursprünglichen Absicht doch nicht mit seinem Bruder mitgeschickt hatte, zog den Kopf ein. Als er antworten wollte, bedeutete sein Chef ihm zu schweigen.
»Ich weiß schon, was du sagen willst. Doch allen Versprechungen meines Bruders zum Trotz seid ihr gegen die richtigen Geheimdienstler doch nur blutige Amateure.«
Dies wollte Aurland nicht auf sich sitzen lassen. »Ich war beim Geheimdienst«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme, »und ich weiß, wie es geht. Das Flugzeug muss der Zufall hierhergelenkt haben. Über uns ist ein halber Kilometer Salzwasser. Da kommen keine Funkwellen durch.«
»Ich gehe lieber davon aus, dass es doch der Fall war«, antwortete Terjesen. »Aus diesem Grund wird diese Station in nächster Zeit alle Aktivitäten einstellen.«
»Auch die Versuche der Russin?«, fragte Aurland.
Terjesen schüttelte den Kopf. »Nastja wird ihre Forschungen weiterbetreiben, und ihr werdet sie dabei unterstützen, so gut es möglich ist. Sonst geschieht hier gar nichts. Notfalls werdet ihr sogar die Wachbojen einziehen, damit sie nicht von einem Flugzeug der norwegischen Küstenwache entdeckt werden. Jetzt aber seht zu, dass ihr diese Sachen mit einem der Tauchboote mindestens einhundert Kilometer von hier auf dem Meeresgrund vergrabt!«
»Und was wird mit den Gefangenen?«, fragte Aurland.
Terjesen ging darauf ein, weil es seinen eigenen Absichten entgegenkam. »Ihr werdet die Leute noch vierundzwanzig Stunden im eigenen Saft schmoren lassen und dann morgen jeweils einen pro Zelle verhören. Notiert mir, was wichtig ist, und schickt es mir per Kurier.«
»Das machen wir, Herr Terjesen. Wie weit dürfen wir gehen? Diese Agenten sind keine Amateure, um Ihre eigenen Worte zu benutzen. Freiwillig werden die nicht reden.«
»Ich will vorerst keine Toten. Schüchtert sie ein, gebt ihnen ein paar Drogen und genug Alkohol – und schlagt sie, wenn es nötig ist!«
»Und was ist mit den Frauen? Können wir die …« Aurland ließ den Rest unausgesprochen, doch sein Chef begriff auch so, was er meinte.
»Ich will keine sexuellen Handlungen, die nur eurer Befriedigung dienen. Wenn es nötig ist, wird es auf die entsprechende Weise geschehen, aber nur auf meine Anweisung und in meiner Anwesenheit!« Terjesens Stimme klang hart.
Die Männer, die er um sich versammelt hatte, waren nicht unbedingt die besten Charaktere, und er musste sie eng an die Kandare nehmen, wenn er Disziplinlosigkeiten vermeiden wollte. Daher erteilte er Aurland genaue Befehle, was während seiner Abwesenheit zu geschehen habe, verabschiedete dann den Mann und sah sich ein paar Minuten im Fernsehen die zusammenkopierten Ausschnitte über die Irrfahrt der Trollfjord an.
Viel Neues erfuhr er nicht, da die Behörden die Wahrheit zurückhielten und die Presse lustig vor sich hin fabulieren konnte. Da war von einem fatalen Computerfehler die Rede, der den Kapitän dazu gebracht habe, in die Barentssee hinauszufahren. Der Rest waren die üblichen Verschwörungstheorien, die feindliche Mächte für diesen Zwischenfall verantwortlich machten. Ein Sender beschuldigte sogar Aliens, die Trollfjord überfallen und einige Besatzungsmitglieder und Passagiere entführt zu haben.
Eines war jedoch allen klar: Die Trollfjord war mit mehr Leuten an Bord aus ihrem letzten Hafen ausgelaufen, als mit den Hubschraubern nach Kirkenes gebracht worden waren. Ein junges deutsches Urlauberpaar, das die überall herumschwärmenden Journalisten mehrfach interviewt hatten, vermisste vier Personen von ihrem Achtertisch, und zwei weitere ihrer Tischnachbarn waren tot.
Torvald Terjesen verlor bald das Interesse, sich das Flennen der Frauen und die skurrilen Behauptungen der männlichen Passagiere anzuhören. Daher schaltete er den Fernseher aus und stand auf. Er beschloss, vor seinem Aufbruch nach Nastja Paragina zu sehen und sie zu fragen, ob die Wissenschaftlerin im Labor alles zu ihrer Zufriedenheit vorgefunden hatte.
Da sein Wohnbereich so angelegt worden war, dass er die wichtigsten Teile der Station betreten konnte, ohne andere Bereiche durchqueren zu müssen, erreichte er das Labor, ohne gesehen zu werden. Auch wenn sich jetzt mehr als einhundert Menschen hier aufhielten, wollte Terjesen in der Lage sein, völlig ungestört zu bleiben. Er trat auf die Tür zu, die in den Laborbereich führte, und musste unwillkürlich daran denken, dass sich über ihnen fünfhundert Meter Wasser erstreckten.
Terjesen hatte die Station so errichten lassen, dass sie dem herrschenden Druck und noch weitaus höherem standhielt, und das Bauwerk hatte alle seine Erwartungen erfüllt. Stolz auf seinen Prototyp strich er über einen blanken Stahlträger und sagte sich, dass in wenigen Jahren Dutzende solcher Stationen vor Wind und Wetter geschützt im Ozean schwimmen und Flüssigmethan fördern würden.
Um das zu verwirklichen, brauchte er Nastja. Aber sein Interesse an ihr war nicht nur wissenschaftlicher Natur, das spürte er immer stärker. Mit diesem Gedanken trat er in den kleinen Vorraum und drückte den Klingelknopf, um sich bemerkbar zu machen.
Terjesen fand Nastja über einen Bildschirm gebeugt, den sie so aufmerksam betrachtete, dass sie ihn zunächst nicht wahrnahm. Erst als er sich räusperte, drehte sie sich langsam um.
»Torvald! Du willst sicher die ersten Testergebnisse sehen.«
Obwohl Nastja einen dunkelroten Laborkittel trug und ihre Haare zu einem strengen Knoten aufgesteckt hatte, wirkte sie auf ihn verführerischer als jede andere Frau.
»Nicht nur!«, antwortete er. »Ich wollte auch sehen, ob du mit deinem Quartier zufrieden bist und ob du irgendetwas brauchst, das ich dir besorgen kann.«
»Danke, ich werde sehr gut versorgt, und du bietest mir hier die besten Forschungsmöglichkeiten. Ich will die chemische Formel des Trägers so verändern, dass wir nur noch ein Drittel, vielleicht sogar nur ein Viertel der bisher berechneten Menge brauchen, um Methan-Öl zu gewinnen.« Nastja hatte bereits auf der Belkowski-Insel die theoretischen Berechnungen durchgeführt und wollte diese nun in die Tat umsetzen.
Fasziniert sah Terjesen zu, wie sie ihr Labormodell testete und das als Eis gebundene Methan unter Wasser in eine helle Flüssigkeit umwandelte, die nur leicht zäher war als normaler Dieselkraftstoff.
»Die Förderung von Methan-Öl wird weitaus effektiver sein als die von Erdöl«, erklärte Nastja. »Wir können fast dreiundneunzig Prozent des verfügbaren Methans umwandeln und absaugen. Vielleicht gelingt es mir sogar, diese Rate noch um einen oder zwei Prozentpunkte zu erhöhen.«
»Du bist eine faszinierende Frau und ebenso klug wie schön«, entfuhr es Terjesen.
Nastja machte eine wegwerfende Handbewegung. »Als Frau freut man sich, als hübsch zu gelten. Aber eigentlich ist der Verstand bei einem Menschen wichtiger als das Aussehen! Mein Äußeres hat leider dazu geführt, dass ich als Wissenschaftlerin nicht ernst genommen wurde.«
»Ich nehme dich sehr ernst«, antwortete Terjesen. »Zum Beispiel habe ich vor, den raffinierten Treibstoff, den wir aus Methan gewinnen, Paragin zu nennen.«
»Eine hohe Ehre! Aber du solltest nicht vergessen, dass Nastja Paragina offiziell für tot zu gelten hat.«
»Das ändert nichts daran, dass du die Formel für diese Verarbeitungsmethode entdeckt hast. Sieh es so: Nur wenige Menschen können miterleben, wie sie posthum geehrt werden. Und ich werde dafür sorgen, dass dies geschieht.« Torvald Terjesen fasste erregt nach ihren Händen und hielt sie fest. »Für mich wirst du immer die Größte bleiben!«
Nastja sah ihn mit schräg gehaltenem Kopf an. »Soll das etwa eine Liebeserklärung sein?«
»Was spricht dagegen? Oder hängst du so sehr an meinem Bruder, dass du dich mit ihm zufriedengeben willst, obwohl du den obersten Chef bekommen kannst?«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Nastja Torvald Terjesen für einen eiskalten Geschäftsmann gehalten, der über Leichen ging, solange man diese nicht mit ihm in Verbindung bringen konnte. Mit einem Mal aber begriff sie, was ihn antrieb. Es war der Neid auf seinen gutaussehenden Bruder und das Bestreben, diesen in allem zu übertreffen. Ihre Gedanken rasten. Espen hatte sie fasziniert und daher überreden können, ihre Forschungsergebnisse International Energies zur Verfügung zu stellen. Doch war sie so verliebt in Espen, dass sie ihm treu bleiben wollte?
Der jüngere Terjesen war ein spritziger Gesprächspartner und ein ausgezeichneter Liebhaber. Allerdings war sie nie eine Frau gewesen, die sich von ihrem Unterleib beherrschen ließ. Nastja betrachtete Torvald Terjesen und überlegte, was es ihr für Vorteile bringen würde, wenn sie sich mit ihm zusammentat. Sein Bruder vermochte ihr einen gewissen Reichtum zu bieten und sinnliche Befriedigung. Torvald hingegen versprach ihr eine Teilhabe an der Macht und die Anerkennung als Wissenschaftlerin, die man ihr bisher vorenthalten hatte.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie.
Torvald Terjesen ließ nicht locker. »Ich verlasse noch heute die Station, um aufs Festland zurückzukehren und die Dummheiten auszubügeln, die Espen in letzter Zeit begangen hat. Wann ich zurückkomme, kann ich nicht sagen.«
Für sie hieß dies, dass er sie jetzt und auf der Stelle besitzen wollte. Verunsichert blickte sie zu der Anzeigetafel. Ihr Experiment lief gut und musste nicht ständig überwacht werden. Dennoch galt es, Vorsicht walten zu lassen und einige Regeln zu beachten.
»Wir dürfen es aber nicht hier tun, sondern müssen in mein Schlafzimmer gehen.«
»Wir gehen in meins«, antwortete er mit heiserer Stimme und fasste sie am Arm.
Nastjas erste Einschätzung bestätigte sich: Torvald Terjesen war ein Mann, der rasch und fest zugriff und der gewohnt war, das Erreichte zu behalten. Sie fühlte sich überrumpelt, fragte sich aber gleichzeitig, ob sie es sich leisten konnte, ihn zurückzuweisen. Ihr Verstand sagte nein, und daher deutete sie auf die Tür.
»Unterhalten wir uns in deinen Räumen weiter!«
»Es wird nicht beim Unterhalten bleiben«, lachte er und führte sie aus dem Labor. Als Nastja den normalen Weg durch die Station einschlagen wollte, hielt er sie auf und öffnete lächelnd den Eingang zu seinem Geheimgang. »Auf diese Weise sind wir schneller dort und müssen uns unterwegs nicht von meinen Leuten angaffen lassen!«
Im Grunde hielt er nicht viel von den Männern, die er um sich versammelt hatte. Es waren charakterlose Schwächlinge, Verräter, teilweise sogar Verbrecher, die er und sein Bruder gezielt ausgesucht und mit Geld angelockt hatten. Einige waren früher beim Militär gewesen und bildeten so etwas wie seine Prätorianergarde. Die meisten waren Norweger, aber es gehörten auch ein paar Amerikaner dazu, die daheim kein Bein auf die Erde gebracht hatten, einige Engländer, Franzosen und sogar eine Handvoll Deutsche. Sie alle zeichnete eines aus: Sie waren Spezialisten auf ihrem Gebiet.
Torvald Terjesen schob die Gedanken an seine Männer in dem Augenblick beiseite, in dem er und Nastja seine privaten Gemächer betraten. Dort holte er eine Flasche teuren finnischen Wodka aus dem Eisschrank und goss zwei ebenfalls im Eisschrank aufbewahrte Gläser voll.
»Auf unsere Zusammenarbeit auf allen Gebieten! Nasdrowje!« Er trank sein Glas in einem Zug leer und sah anerkennend, dass Nastja es ihm gleichtat.
»Du bist wirklich etwas Besonderes!«, sagte er mit vor Erregung rauer Stimme.
»Ich bin vor allem niemand, den man in den Schrank stellen und nur dann herausholen kann, wenn man ihn braucht!« In ihrer Stimme klang eine gewisse Warnung mit, sie nicht mit falschen Versprechungen hinzuhalten.
Das hatte Torvald Terjesen auch nicht vor. Im Augenblick jedoch überwog seine Leidenschaft alles andere. Er trat auf sie zu und öffnete den Reißverschluss ihres Laborkittels. Dann glitten seine Hände über ihre schlanken, aber weiblichen Formen. Während sein Atem gepresst klang, blieb die Russin kalt bis ins Mark. In diesem Augenblick stellte ihr Körper eine Waffe dar, die sie einzusetzen gedachte, um noch mehr Einfluss zu erlangen. Daher ließ sie es zu, dass Terjesen sie bis auf die Haut auszog und zu seinem Bett trug. Als er sie hingelegt hatte, zerrte er sich die eigene Kleidung vom Leib und wälzte sich auf sie.
Ein so geschickter Liebhaber wie sein Bruder war er nicht, eher rau, fordernd und vor allem auf die eigene Befriedigung bedacht. Doch während er sie mit hastigen Stößen liebte, stellte sie sich die Macht vor, die sie über ihn erringen konnte, und genoss damit ein Gefühl, das einem heftigen Orgasmus in nichts nachstand.
DREIZEHN
Torsten hätte sich niemals träumen lassen, dass es so schwer sein könnte, lumpige einundzwanzig Kilometer zurückzulegen. Solange die Schneedecke fest genug war, um sie zu tragen, ging es ja noch. Doch an vielen Stellen bildete der Schnee hohe Wechten, die es zu überwinden galt.
Er selbst vermochte kaum etwas zu tun, daher mussten die beiden Frauen sich selbst und ihm den Weg bahnen. Seine Kopfverletzung beeinträchtigte ihn zwar kaum, doch bei jedem Schritt schoss ihm ein Stechen durch den Körper, das ihm den Atem nahm. Es war kalt, und der scharfe Wind, der ihnen entgegenblies, machte es noch schlimmer. Zwar trugen sie Winterkleidung, doch war die für gelegentliche Ausflüge vom Schiff aus gedacht gewesen, und nicht, wie Torsten mit bitterem Spott sagte, für eine Polarexpedition.
Eben übernahm Henriette die Spitze und wühlte sich durch eine Schneewehe, die fast doppelt so hoch war wie sie. »Pass auf, dass du nicht unter dem Schnee begraben wirst«, rief Torsten ihr zu.
»Und in keine Gletscherspalte fällst, die durch den Schnee verdeckt ist«, setzte Dai Zhoushe hinzu.
Sie hatte es kaum gesagt, da wurde Henriette vom Erdboden verschluckt.
»Verdammt!«, stieß Torsten aus und humpelte auf die Stelle zu.
»Vorsicht!«, mahnte die Chinesin. »Wenn Sie ebenfalls in eine Spalte fallen, kann ich Sie allein und ohne Seil nicht herausziehen.«
Ohne auf ihren Einwand zu achten, drang Torsten in die Schneewehe ein und rief nach Henriette. Auf einmal hörte er ihre Stimme ganz nah und blieb stehen.
»Wo bist du?«
»Hier«, klang es schräg unter ihm auf.
Torsten beugte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, um in dieser weißen Hölle etwas erkennen zu können. Da war tatsächlich eine Gletscherspalte!
Allerdings konnte er nicht einmal schätzen, wie tief sie war. Vorsichtig, damit Henriette nicht verschüttet wurde, räumte er den Schnee beiseite und sah nach unten. Da die Spalte teilweise mit Schnee gefüllt war, entdeckte er seine Kollegin erst, als diese heftig winkte.
»Du hättest dir für deinen Parka eine andere Farbe aussuchen sollen als weiß«, rief er ihr zu.
»Das war Petras Idee. Sie meinte, es wäre für meine Tarnung auf der Trollfjord am besten«, antwortete Henriette.
Sie sah Torstens Kopf und Arm ein ganzes Stück weiter oben auftauchen und begriff, dass sie tief in die Spalte hineingerutscht war. Über ihr gab es eine etwa vier Meter hohe Eiswand, und die konnte sie ohne Hilfsmittel nicht bewältigen.
Unterdessen war auch Dai Zhoushe näher gekommen und sah mit unbewegter Miene in die Spalte hinunter. »Haben Sie eine Ahnung, wie wir Ihre Kollegin hier herausholen sollen?«, fragte sie Torsten.
»Es wird uns etwas einfallen müssen!« Torsten dachte verzweifelt nach, doch sein Gehirn war wie gelähmt.
»Ich schlage vor, wir beide gehen weiter und suchen die Hütte. Dort finden wir sicher einen Strick, der lang genug ist. Mit dem kehre ich hierher zurück und hole Frau von Tarow heraus.«
»Bis dorthin kann Henriette erfroren sein.«
»Manchmal muss man Verluste hinnehmen.«
Torsten schnaubte wütend. »Nur über meine Leiche!«
»Dann lassen Sie sich etwas einfallen! Wir haben keine Zeit«, zischte Dai Zhoushe ihn an.
In Henriette trugen Angst und Hoffnung einen verzweifelten Kampf miteinander aus. Schließlich blickte sie entschlossen nach oben. »Frau Dai hat recht, Torsten. Ihr könnt mich ohne Hilfsmittel hier nicht herausholen. Seht zu, dass ihr die Hütte erreicht! Ich halte schon durch, bis Frau Dai zu mir zurückkehrt.«
Henriette glaubte nicht daran, dass die Chinesin wiederkommen und ihr helfen würde, doch wenn Torsten nicht Vernunft annahm und weiterging, würde auch er in dieser weißen Einöde den Tod finden.
»Wir sollten doch die norwegischen Behörden informieren«, murmelte Torsten, doch dann ballte er auf einmal die Faust. »So mag es gehen! Zum Glück halten die Schneeverwehungen auf beiden Seiten der Spalte den Eiswind ab. Darf ich also die Damen bitten, sich ein bisschen freizumachen. Wenn wir genug Kleidungsstücke aneinanderbinden, müssten wir es schaffen!«
»Wenn es nicht klappt, erfriert Ihre Kollegin nur noch schneller und wir mit ihr!« Trotz ihrer harschen Entgegnung begann Dai Zhoushe, ihren Parka auszuziehen.
Torsten streifte Hose, Parka, Pullover, das Hemd und sogar sein Sportunterhemd aus und spürte sofort den Biss der Kälte.
»Lange halten wir das nicht durch«, stöhnte er, während er die einzelnen Teile miteinander verband.
Unten hatte Henriette ihre Kleidung ebenfalls ausgezogen und knüllte sie jetzt zusammen, um sie nach oben zu werfen.
»Vorsicht!«, rief ihr Dai Zhoushe zu. »Wenn Sie zu kurz werfen, erwischen wir Ihre Sachen nicht und das Zeug fällt möglicherweise so tief in die Gletscherspalte hinein, dass Sie es nicht erreichen können.«
Henriette schleuderte die Kleiderkugel nach oben. Obwohl Torsten sich so weit wie möglich streckte, gelang es ihm nicht, danach zu greifen. Henriette konnte sie im letzten Moment wieder auffangen, rutschte dabei aber etwa einen Meter tiefer.
»Jetzt muss es klappen!« Mit einem wilden Schrei warf sie Hose, Parka und Pullover nach oben. Es war erneut zu kurz. Während ihr wegen der Kälte und aus Enttäuschung die Tränen in die Augen traten, sah Torsten Dai Zhoushe beinahe drohend an. »Sie müssen ein Stück in die Spalte hinein! Ich halte Sie fest!«
Die Chinesin überlegte einen Augenblick, biss dann die Zähne zusammen und nickte. »Gut! Aber wenn Sie mich fallen lassen, sind wir alle drei tot, ob Sie die Norweger dann benachrichtigen oder nicht.«
Statt einer Antwort nahm Torsten sein Kleiderseil und band es an ihrem Knöchel fest. »Das ist zur Sicherheit. Und jetzt machen Sie. Wir haben hier keine Sauna, in der wir uns aufwärmen können!«
Mit einem zischenden Laut legte Dai Zhoushe sich halbnackt auf das Eis, rutschte nach vorne und schob sich kopfüber in die Gletscherspalte hinein. Torsten hielt sie so gut fest, wie er es vermochte, spürte aber, dass ihm jegliches Gefühl aus den Fingern zu weichen drohte.
Unten wartete Henriette, bis Dai Zhoushe ihr die Arme entgegenstreckte, und warf ihre Sachen noch einmal mit aller Kraft nach oben. Die Chinesin griff zu, schnappte sich das Bündel und presste es an die Brust.
»Sie können mich hochziehen«, rief sie Torsten zu.
Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie herauszuholen, und doch hatten sie es erst halb geschafft. Mit Fingern, die so steif waren wie Bleistifte, verlängerte er das Notseil um Henriettes Kleidungsstücke.
»Jetzt muss es klappen! Sonst finden zukünftige Generationen hier einmal drei Gletscherleichen«, stieß Dai Zhoushe hervor.
»Ich habe auch keine Lust, als zweiter Ötzi zu enden«, knurrte Torsten und warf das andere Ende seines provisorischen Seils in die Gletscherspalte hinab.
Henriette streckte die Arme aus und konnte es fassen. »Ich habe es«, rief sie. »Ich brauche allerdings ein bisschen mehr, wenn ich es mir um die Brust wickeln soll.«
»Dafür reicht es nicht! Also halte dich gut fest!«
Als Torsten an dem Seil zog, krallte Henriette die Finger in seinen Pulloverärmel und spürte, wie es aufwärtsging. Da sie nur noch ihre feine Unterwäsche und eine dünne Bluse trug, schrammte sie schmerzhaft über vorstehenden Eiszacken. Die Kälte war kaum noch zu ertragen, und sie spürte nach wenigen Atemzügen ihre Hände nicht mehr. Doch wenn sie losließ, würde sie erneut in die Gletscherspalte stürzen und sich möglicherweise so sehr verletzen, dass ihr niemand mehr helfen konnte.
Mit aller Selbstbeherrschung, die sie aufzubringen vermochte, krallte sie sich fest. Dai Zhoushe streckte ihr die Arme entgegen und fasste sie unter den Achseln. Sekunden später lag Henriette neben der Chinesin und Torsten auf dem blanken, scharfkantigen Eis, das bei der Aktion freigelegt worden war. Noch konnte sie es kaum fassen, gerettet worden zu sein. Doch nun kam die härteste Arbeit für alle drei. Die Knoten, mit denen Torsten die Kleidungsstücke aneinandergebunden hatte, waren festgezogen und ließen sich nur mit den Zähnen lösen, weil die Finger kraftlos abrutschten.
Torstens Pullover war als erstes Kleidungsstück wieder verwendbar. Doch anstatt es selbst anzuziehen, streifte er es Dai Zhoushe über. »Dafür, dass Sie uns geholfen haben!«, sagte er.
Die Chinesin maß ihn mit einem verwunderten Blick, während sie mit dem Knoten ihres Parkas kämpfte. »Sie sind ein eigenartiger Mann, Torsten Renk. Ich hoffe, wir sehen uns nicht irgendwann auf verschiedenen Seiten wieder. Es würde mir leidtun, Sie töten zu müssen.«
»So leicht bin ich nicht umzubringen«, erwiderte Torsten achselzuckend und reichte Henriette ihren Pullover. Kurze Zeit später waren sie alle wieder angezogen, doch die Kälte wollte nicht aus ihren Gliedern weichen.
»Ich glaube nicht, dass ich noch einen einzigen Schritt gehen kann«, stöhnte Henriette.
»Das solltest du aber, wenn du nicht erfrieren willst. Ich teste jetzt, wie breit die Gletscherspalte ist. Wenn wir Pech haben, müssen wir uns einen anderen Weg suchen.« Torsten stemmte sich hoch und stieß dabei einen kurzen, schrillen Schrei aus.
»Was ist?«, fragte Henriette besorgt.
»Nur meine Verletzung. Sie meldet sich wieder, nachdem ich sie während der letzten Viertelstunde fast vergessen hatte.« Mit schmerzverzogenem Gesicht humpelte Torsten am Rand der Gletscherspalte entlang und versuchte zu erkennen, wo sich der gegenüberliegende Rand befand. Nach einigen Sekunden schüttelte er den Kopf.
»Wegen der Schneeverwehungen auf der anderen Seite kann ich nicht erkennen, wo die Spalte endet. Daher schlage ich vor, wir suchen uns einen anderen Weg. Irgendwie werden wir die elende Hütte schon finden.«
»Aber bitte vor dem nächsten Schneesturm!« Henriette wies nach Osten, wo trotz des herrschenden Dämmerlichts pechschwarze Wolken zu erkennen waren.
VIERZEHN
Auf ihrem weiteren Weg musste Torsten noch zweimal Kontakt zu Hans Borchart aufnehmen, der in der Zentrale bei München geblieben war, um ihnen zu helfen. Zum Glück gelang es diesem, den Standort der Gruppe zumindest ungefähr festzustellen und sie in die Richtung zu leiten, in der die wissenschaftliche Station lag.
Mit Sorge sah Torsten die Anzeige der Ladekapazität seines Akkus. In dieser Kälte brauchte der Laptop besonders viel Strom, und daher würde dem Gerät bald der Saft ausgehen.
Zuletzt befanden sie sich nur noch gut zweihundert Meter von dem angeblichen Standort der Hütte entfernt, konnten aber in der weißen Landschaft kein Gebäude ausmachen. Torsten drohte trotz des sie umgebenden Dämmerlichts schneeblind zu werden und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Für weitere Ausflüge sollten wir uns Schneebrillen anfertigen«, sagte er zu seinen Begleiterinnen.
»Vorher müssen wir die Hütte finden, sonst gibt es keine Ausflüge mehr«, gab Dai Zhoushe giftig zurück. Sie war am Ende ihrer Kraft und fühlte sich wie ein Eiszapfen. Henriette ging es nicht besser.
»Wo kann dieses verdammte Ding nur sein?«, schrieb Torsten für Hans Borchart.
Dieser verglich die Daten auf dem Computer und schrieb dann auf einen Zettel: »Richtung Ostnordost bis zu dem Felsen!«
Torsten sah jedoch keinen Felsen. Ein kleiner Hügel erregte schließlich seine Aufmerksamkeit, und er sagte sich, dass er vom Boden aus nicht die gleichen Bedingungen erwarten konnte wie sein Kollege auf den Satellitenbildern. So gut es ging stiefelte er in die Richtung, bog um das Hügelchen und sah die zugeschneite Hütte vor sich.
»Ich habe sie gefunden!«, rief er den beiden Frauen erleichtert zu.
Diese näherten sich mit steifen Bewegungen und blieben vor dem Haus stehen. »Die haben einen schlechten Hausmeisterdienst! Nicht einmal der Schnee ist weggeräumt«, versuchte Henriette zu witzeln und machte sich daran, die Tür mit den Händen freizuschaufeln.
Torsten half ihr, während Dai Zhoushe in den Schnee sank und vor Erschöpfung weinte. Doch nach wenigen gepressten Atemzügen stand sie bereits wieder auf und beteiligte sich an der Arbeit.
Als die Tür frei war, standen sie vor dem nächsten Problem, denn die Hütte war versperrt. »Die haben anscheinend keine Gäste erwartet«, sagte Torsten knurrig und schätzte ab, wie viel Gewalt er aufbringen musste, um sie aufzubrechen.
Da streifte Dai Zhoushe ihren rechten Handschuh ab, griff in eine der vielen Taschen ihres Parkas und brachte eine Reihe von Dietrichen hervor.
»Vielleicht passt einer«, kommentierte sie ihr Tun und probierte den ersten aus.
Zwei Minuten später konnten sie eintreten. Innen war es nicht wärmer als draußen, doch wenigstens waren sie dem schneidenden Eiswind entkommen.
Dai Zhoushe taumelte auf einen Stuhl zu, setzte sich und barg ihren Kopf in den Händen. Auch Torsten war am Ende seiner Kraft. Er versuchte zwar noch, an den Herd zu kommen, gab dann aber mit einem Stoßseufzer auf. »Ich schaffe es nicht! Aber einer von uns muss den Ofen anheizen, sonst haben wir uns umsonst geplagt.«
»Dann muss ich es wohl tun! Zum Glück liegt genügend Holz bereit.« Henriette war nicht weniger erschöpft, sagte sich aber, dass die beiden noch etwas bei ihr guthatten, weil sie von ihnen aus der Gletscherspalte geholt worden war. Daher kniete sie neben dem Ofen nieder, öffnete ihn und steckte einige Späne hinein.
»Hat jemand von euch ein Feuerzeug?«, fragte sie.
Dai Zhoushe griff in die Tasche und warf ihr eines zu. Um das Feuer zu entzünden, brauchte Henriette Papier. Da sie aber den Rest des Notizblocks dringend brauchten, um sich mit ihrer Zentrale zu verständigen, nahm sie eine Zweihundertkronennote und hielt sie über das Feuerzeug. Der Geldschein erfüllte seinen Zweck, und so brannte schon bald ein Feuer im Ofen.
Als es langsam warm wurde, erwachten die Lebensgeister der drei. Torsten streifte seinen Parka ab und humpelte zum Herd, um die Finger geschmeidiger zu machen. »Ich nehme Kontakt zu Hans auf und melde ihm, dass wir die Hütte erreicht haben«, erklärte er.
»Erst sollten wir sehen, ob es hier etwas zu essen gibt. Das Verhungern dauert zwar etwas länger als das Erfrieren, soll aber weitaus unangenehmer sein.« Henriette vermochte schon wieder zu witzeln, gab dann mit einer entsagungsvollen Miene den Platz am warmen Ofen auf, um die Hütte zu durchsuchen. Kurz darauf hörten Dai und Torsten ihren Jubelruf.
»Wir sind gerettet! Es gibt eine Vorratskammer, und in der habe ich einen Karton mit Konservendosen gefunden, die anscheinend im Herbst zurückgelassen wurden. Dazu gibt es eine Flasche russischen Wodka. Den können wir jetzt gut gebrauchen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du unter die Alkoholiker gegangen bist«, spottete Torsten.
Henriette kam mit einer großen Konservendose und der Flasche zurück und grinste. »Der Schnaps ist nicht für mich, sondern für dich, mein Lieber, aber nicht zur inneren Anwendung! Mit dem Zeug werden wir deine Verletzungen desinfizieren. Es wird zwar ein bisschen brennen, ist jedoch besser, als nichts zu tun.«
»Solange es nicht schlimmer ist als amerikanischer Bourbon, dürfte mir das wurscht sein. Das Zeug hat mir mal ein amerikanischer Sergeant in Afghanistan auf eine Abschürfung gekippt. Pah, war das scheußlich!«
Noch während Torsten in der Erinnerung daran stöhnte, begann Henriette zu lachen. »Gib zu, du wolltest den Whisky lieber trinken!«
»Nein, danke! Da trinke ich lieber mal ein kleines Glas Highland Single Malt, und das auch nur sehr selten.«
»Torsten, du bist ein Snob!« Henriette schüttelte in gespielter Verachtung den Kopf, öffnete dann eine der Dosen mit ihrem Allzweckmesser und sah hinein.
»Sieht aus wie Hühnersuppe. Das können wir nach dem Marsch durch die weiße Hölle da draußen gut gebrauchen.«
»Gibt es auch einen Topf, in dem wir sie warm machen können?«, fragte Dai Zhoushe, der die beiden Deutschen schon wieder zu übermütig wurden.
»Ein Soldat erwärmt sein Essen notfalls in der Dose«, antwortete Henriette und entdeckte dann ein Topfungetüm, das mindestens zehn Liter fasste. »Ich glaube, wir lassen es bei der Dose. Wenn wir dieses Ding nehmen, ist nicht einmal der Boden richtig bedeckt.«
»Den Topf können wir verwenden, um Schnee zu schmelzen!« Torsten stand auf und wollte bereits seinen Parka anziehen, doch Dai Zhoushe hielt ihn auf.
»Das übernehme ich! Sie sehen zu, dass Sie Kontakt zu Ihrer Dienststelle bekommen, und fragen nach neuen Anweisungen.«
Wie es aussah, war die Dame gewohnt zu befehlen. Das nährte Torstens Verdacht, ein hohes Mitglied des chinesischen Geheimdiensts vor sich zu haben. Aber wenn er recht hatte, war sie gut getarnt. Schließlich hatte Petra die Frau überprüft und für völlig harmlos befunden. Das jedoch war Dai Zhoushe mit Sicherheit nicht.
Torsten klappte seinen Laptop auf und schaltete die Verbindung zur Zentrale durch. Diesmal war Wagner am anderen Ende der Leitung und hielt einen Zettel vor die Kamera.
»Sehe, Sie haben es in die Hütte geschafft. Gut gemacht!«
»Es war nicht gerade leicht, durch die Winternacht zu stapfen. Und jetzt sitzen wir erst einmal fest«, antwortete Torsten leicht angesäuert und erinnerte sich erst dann wieder, dass man ihn nicht hören konnte. Rasch schrieb er die Sätze auf einen Notizzettel.
Sein Vorgesetzter hob beschwichtigend die Rechte und schrieb nun seinerseits. »Nur keine Panik. Wir arbeiten bereits an Szenarien, wie wir Sie von dort oben wegholen können«, las Torsten, als Wagner fertig war.
»Und unser Auftrag?«
»Wir sollten die Unterhaltung per E-Mail führen! So dauert es zu lange, außerdem haben Sie eine Sauklaue«, gab Wagner zurück.
Sein Kopf verschwand vom Bildschirm. Dafür erschien Petras spezielles Schreibsystem, und Torsten konnte mitlesen, was sein Vorgesetzter in die Tasten klopfte.
»Erst mal schöne Grüße von Petra. Sie will spätestens heute Nachmittag die Klinik verlassen. Bis zur Geburt hat sie nach Auskunft der Ärzte noch ein paar Wochen Zeit.«
»Es geht ihr also gut?«, tippte Torsten ein.
»Sie hat extra unseretwegen ihre Frauenärztin gewechselt, weil die vorherige sie unbedingt für den Rest ihrer Schwangerschaft in die Klinik einer mit ihr befreundeten Ärztin einweisen wollte. Mehr Einsatz kann ich wirklich nicht verlangen. Sobald sie hier ist, wird sie die Daten analysieren, die uns bisher vorliegen. Danach wissen wir mehr.
Eins ist klar: Euer Flugzeug ist nicht aus Jux und Tollerei abgeschossen worden. In der Gegend muss etwas existieren, das sich vor aller Welt verbergen will – und die Norweger scheinen darin verwickelt zu sein, denn sie haben das Seegebiet für alle anderen Schiffe gesperrt. Doch wir konnten erreichen, dass die vor der norwegischen Küste patrouillierende U-34 die Anweisung bekam, in eure Richtung zu fahren.«
»Wenn uns der Kahn abholen soll, müssen wir uns zur Küste durchschlagen!«, wandte Torsten ein.
»Das müsst ihr irgendwann sowieso. Jetzt bleibt ihr erst einmal in der Wissenschaftsstation und seht zu, dass ihr euch erholt. Da es keine weiteren Punkte gibt, die dringend besprochen werden müssen, sollten wir jetzt schließen, um den Akku Ihres Laptops nicht zu sehr zu belasten. Machen Sie es gut und grüßen Sie Frau von Tarow!«
Damit beendete Wagner die Verbindung. Torsten hätte zwar noch gerne einige Informationen durchgesehen, doch nach einem Blick auf die Ladeanzeige des Geräts erschien es ihm klüger, es abzuschalten.
»Was sagt Wagner?«, fragte Henriette, die noch damit beschäftigt war, den Inhalt der Konservendose in einen verzehrfähigen Zustand zu versetzen.
»Wir sollen hierbleiben, bis wir neue Befehle erhalten. Petra will noch heute ins Hauptquartier kommen und sich die bisher gesammelten Informationen ansehen. Vielleicht findet sie etwas heraus, was uns weiterhelfen kann.«
»Hoffentlich!« Henriette seufzte, denn bislang war bei diesem Auftrag nichts so gelaufen, wie es geplant gewesen war. Außerdem hatten die Banditen, die die Trollfjord beinahe versenkt hätten, bei ihnen noch etwas gut, und sie hätte ihnen die Rechnung dafür liebend gerne persönlich präsentiert. Sie wusste, dass Torsten und Dai Zhoushe nicht anders dachten. Die Chinesin hatte sogar noch mehr Grund, die Schurken zu jagen, denn die hatten ihren Ehemann und einige ihrer Leute entführt. Doch solange sie keine Anhaltspunkte hatten, wo sie diese Banditen finden konnten, waren ihnen die Hände gebunden.