EINS
Torsten Renk sah auf das Spielbrett und schüttelte den Kopf. »Sie haben mich schon wieder schachmatt gesetzt, Doktor. Dabei dachte ich, ich wäre ein guter Spieler.«
»Das sind Sie auch. Aber da ich kein Interesse daran habe, mit den anderen Karten zu spielen oder mir idiotische Pornofilme anzusehen, habe ich Herrn Terjesen gebeten, mir einen guten Schachcomputer zu besorgen.«
Der Arzt lächelte melancholisch. »Die Männer hier an Bord sind raue Kerle, die ebenso wie ich irgendwann einmal in ihrem Leben gescheitert und dann von Terjesen angeheuert worden sind. Ich will nicht behaupten, dass alle schlecht sind, aber die meisten würden für hunderttausend Dollar einen Mord begehen, einige sogar für weniger. Torvald Terjesen hat jedem von ihnen eine Million als Prämie geboten, wenn sie für ihn arbeiten. Wissen Sie, was das heißt?«
Torsten hob interessiert den Kopf. »Nein.«
»Sie tun alles, was er ihnen befiehlt, und es interessiert sie nicht, ob es dabei Opfer gibt. Denen geht es einzig um ihre Prämie.«
»Ihnen nicht?«, fragte Torsten.
Der Arzt winkte verächtlich ab. »Ich bekomme mein Gehalt und gehöre nicht zu denen, die für Terjesen morden.«
»Wie Hemsedalen und Aurland.«
»Die sind die rechte und die linke Hand des jungen Terjesen und haben ihm geholfen, all die Waffen und anderen Utensilien hierherzubringen, von denen die Behörden nichts wissen dürfen. Um das und anderes zu erreichen haben sie auf seine Weisung hin bei den Hurtigruten angeheuert.«
Es war nicht zu überhören, dass der Arzt die beiden Männer nicht mochte. Dies machte ihm den hochgewachsenen, hageren Norweger sympathisch. Außerdem war er ein ausgezeichneter Mediziner, der durch tragische Umstände an die Terjesens geraten war.
Nun stand Dr. Rolsen auf, trat neben Torstens Bett und forderte ihn auf, seine Hose herunterzuziehen. »Ich will mir noch einmal Ihre Hüfte ansehen. Wenn wir nicht aufpassen, könnten Spätfolgen bleiben.«
Der Arzt übertrieb, weil er nicht wusste, wie viel von dem, was hier gesprochen wurde, Unbefugten zu Ohren kam. Daher tat er so, als sei Torstens Verletzung schwerer, als sie tatsächlich war. Auf diese Weise konnte er ihn noch eine Weile im Krankenrevier behalten und hatte so wenigstens für ein paar Tage einen interessierten Gesprächspartner.
Als er die Wunde abtastete, war er sehr zufrieden. Sie nässte nur noch wenig und hatte sich auch nicht entzündet. Gerade, als er Wundgel daraufstrich und einen Verband anlegte, klang eine Lautsprecherdurchsage auf.
»Alle mal herhören! Wer kann, soll den Fernseher einschalten. Unser Chef hält gleich eine Rede.«
»Das würde mich interessieren«, sagte Torsten, da der Arzt keine Anstalten machte, das Fernsehgerät an der Wand einzuschalten.
»Wenn Sie meinen!« Missmutig stand der Mediziner auf und schaltete den Apparat ein.
Zunächst war nur ein Sprecher zu sehen, der Nachrichten verlas. Torstens Norwegischkenntnisse reichten nicht aus, um viel zu verstehen. Er begriff lediglich, dass es um die Trollfjord ging. Dann wurde auf Torvald Terjesen umgeschaltet. Dieser stand auf einem verschneiten Platz vor einem mit Lichterketten geschmückten Baum und sprach in das Dutzend Mikrofone hinein, die ihm entgegengestreckt wurden. Da Terjesen englisch sprach, konnte Torsten dem leidenschaftlichen Appell an die angeblichen Entführer seines Bruders folgen.
»Ich bitte Sie, wo Sie auch sind, Espen und die anderen vermissten Personen freizulassen, und erkläre mich als norwegischer Patriot bereit, meinen Anteil an dem Lösegeld aufzubringen, das Sie fordern wollen!«
Mit diesen Worten endete Torvald Terjesens Rede, und die Regie schaltete wieder zurück ins Studio.
Während der Arzt den Fernseher ausschaltete und Tee kochte, drehten sich Torstens Gedanken um Terjesen. Gegen seinen Willen bewunderte er die Kaltschnäuzigkeit, mit der der Mann aufgetreten war. Niemand, der das gehört hatte, würde auf die Idee kommen, der Unternehmer könnte selbst hinter der ganzen Sache stecken.
Torsten haderte mit seiner Hilflosigkeit, versuchte aber, das Bild eines Kranken aufrechtzuerhalten, der den Mut verloren hatte. Bisher hatte er noch keine Möglichkeit gefunden, etwas an seiner Situation zum Positiven zu wenden, und wie es aussah, blieb ihm nur die Hoffnung, dass es Henriette gelingen würde, die Behörden zu informieren, damit diese den Umtrieben der Terjesens ein Ende setzen konnten.
Es war jedoch fraglich, ob die norwegische Regierung ihr glauben würde. Mit International Energies stellte Torvald Terjesen eine nationale Ikone dar, die der Globalisierung des Energiemarkts trotzte. So einem Mann schickte man wegen der Anzeige einer Ausländerin nicht gleich ein Polizeikommando auf den Hals.
Vielleicht bringt Wagner etwas zustande, sagte er sich und beantwortete die Frage des Arztes, ob er noch eine Partie Schach mit ihm spielen wolle, mit Ja. Schließlich hatte er derzeit nichts anderes zu tun.
ZWEI
Torvald Terjesens leidenschaftlicher Appell, seinen Bruder und die anderen Entführten freizulassen, war auch in die Zellen der Gefangenen übertragen worden. Während John Thornton mittlerweile wusste, wer für ihre Entführung verantwortlich war, schöpfte Anthony Rumble Hoffnung. Da er nicht abgehört werden wollte, winkte er Sally, John und Pat zu sich heran.
»Das war eine gute Rede von Mr. Terjesen. Jetzt kann er als Strohmann für mögliche Lösegeldzahlungen eingesetzt werden. Unsere Leute können daher im Hintergrund bleiben.«
»Sie glauben, man wird uns gegen Lösegeld freilassen?« In ihrer Erregung sprach Sally fast zu laut.
»Ich glaube eher, sie werden uns auspressen wie Zitronen und dann ins Meer werfen.« John wollte nicht, dass die junge Frau sich falsche Hoffnungen machte, und erntete dafür eine giftige Bemerkung von Rumble.
»Wir haben es hier nicht mit Wilden zu tun wie Sie damals in Afghanistan, sondern mit zivilisierten Menschen!«
»Den Unterschied habe ich bisher noch nicht feststellen können!«, antwortete John trocken. Rumble behandelte ihn noch immer wie einen Außenstehenden, der nicht zu seinem Team gehörte. Dabei bot er mehr Erfahrung auf als Sally Marble, Pat Shears und vor allem Rumble selbst. Das wollte dieser Bürohengst jedoch nicht akzeptieren. Aber wenn sie je eine Chance erhalten wollten, von hier wegzukommen, würde Rumble umdenken müssen.
DREI
Zwei Zellen weiter hatte auch Dai Zhoushe Torvald Terjesens Rede gelauscht. Anders als die übrigen Gefangenen wusste sie, dass es sich dabei nur um ein Schauspiel für die Öffentlichkeit handelte, mit dem Terjesen jeden Verdacht von sich und seinen Leuten ablenken wollte. Seine Chancen standen gut, denn niemand würde annehmen, dass ein Privatmann in der Lage war, solche Aktionen wie auf der Belkowski-Insel und der Trollfjord durchzuführen.
Wie Torsten hoffte auch Dai darauf, dass es Henriette gelingen würde, ihren Vorgesetzten zu informieren. Ob und in welcher Weise dieser etwas gegen die Terjesens unternehmen konnte, entzog sich ihrem Wissen. Doch wenn es so weit war, würde sie darauf vorbereitet sein. Ihr Blick streifte Abu Fuad. Dieser hatte sie bis jetzt nicht beachtet. Ihre Tarnung als unbedarfte chinesische Touristin war also immer noch perfekt.
Ihre Gedanken glitten weiter zu ihrem Ehemann. Er war ein ausgezeichneter Wissenschaftler, hatte mit ihrer Geheimdiensttätigkeit nicht das Geringste zu tun und wusste nicht einmal, welchen Rang sie einnahm und in welchem Aufgabengebiet sie tätig war. Auch er musste sich irgendwo in dieser geheimen Station befinden. Da die Gefangenen keinen Kontakt miteinander hatten, vermochten weder Abu Fuad noch Manolo Valdez oder der dritte Mann, der sich Shmuel Rodinsky nannte, zu sagen, wo er steckte oder ob die Schurken ihn vielleicht schon umgebracht hatten.
Sie befürchtete es, und diese Vorstellung schmerzte sie. Doch auch von dem Gedanken an den möglichen Tod ihres Mannes durfte sie sich nicht beeinträchtigen lassen. Sie würde bis zum letzten Atemzug ihre Pflicht erfüllen, und das hieß, die Feinde ihres Landes auch in dieser schwierigen Lage zu vernichten. Gleichgültig, was geschah, Ibrahim Farid alias Abu Fuad und Manolo Valdez würden diese Station nicht lebend verlassen.
VIER
Henriettes Adrenalinspiegel stieg, als Hemsedalen ihr erklärte, dass sie sich bis auf weniger als zehn Seemeilen der Station genähert hatten. »Ich muss jetzt auftauchen und das Signal geben. Sonst orten sie uns und hetzen die Fenrisulfr auf uns.«
»Was ist mit dem Treibeis?«, fragte Henriette. »Stellt das keine Gefahr für das Tauchboot dar?«
Hemsedalen schüttelte den Kopf. »So hoch tauchen wir nicht. Wir suchen eine Lücke im Eis, lassen eine Boje hinauf und senden über die das Erkennungssignal. Das wird von den Bojen der Station aufgefangen, und wir erhalten die Erlaubnis zum Andocken.«
Es missfiel Henriette, auf diesen Mann angewiesen zu sein. Zwar hatte sie sich während der Fahrt die Kontrollen erklären lassen und traute sich zu, das Tauchboot auch selbst zu steuern. Doch um zum geheimen Stützpunkt des Feindes vorzudringen, brauchte sie Hemsedalens Unterstützung.
»Tauchen Sie auf!«, befahl sie. Sie schob sich in die Küchennische, um dem Aufnahmewinkel der Bildfunkanlage zu entkommen, und drückte sich selbst die Daumen.
Während das Tauchboot nach oben schwebte und etwa zehn Meter unter der Meeresoberfläche stehen blieb, schwitzte Age Hemsedalen Blut und Wasser. Wenn er dieser asiatischen Kampfmaschine, wie er Henriette für sich bezeichnete, gehorchte, konnte dies das Aus für die Terjesen-Brüder und ihre hochfliegenden Pläne bedeuten. Andererseits war ihm trotz der Millionenprämie, die Terjesen ihm versprochen hatte, die eigene Haut wichtiger als der geschäftliche Erfolg seiner Auftraggeber.
Als er die Antenne hochfuhr und die Station anfunkte, gab diese Überlegung den Ausschlag. Die Leistung des Geräts war so schwach, dass es schon dreißig Kilometer weiter nur noch verzerrt und in einhundert Kilometern überhaupt nicht mehr aufgefangen werden konnte.
»Hier Tauchboot drei, Hemsedalen«, meldete er sich.
Die Antennen auf den Bojen, die über der Station schwammen, empfingen sein Rufzeichen und leiteten es über die Kabel, die nach unten führten, an die geheime Basis weiter. Kurz darauf erfolgte die Antwort. »Hallo Age, seid ihr schon zurück?«
»Nur ich! Die anderen wollen ein paar Geräte aus dem notgelandeten Flugzeug ausbauen und zu unserem Küstenstützpunkt bringen. Ich soll sie in einer Woche abholen. Jetzt bin ich gekommen, um die Akkus aufzuladen. Außerdem geht es mir nicht gut. Ich werde mir ein paar Pillen von unserem Doc geben lassen und mich dann in die Falle hauen.«
»Mach das!«, antwortete der Funker in der Basis. »Du hast Andockerlaubnis an Schleuse vier.«
»Danke!« Hemsedalen beendete die Verbindung und holte die Antenne ein. Anschließend ließ er das Tauchboot wieder absinken und hielt auf die Unterseeplattform zu. Sein Blick schweifte über die Kontrollanzeigen. Die Akkus zeigten nur noch wenige Prozent Leistung. Wenn er bei dem Manöver etwas mehr Energie verbrauchte als unbedingt nötig, konnte er selbst vielleicht nicht mehr anlegen und würde von einem anderen Tauchboot abgeschleppt werden müssen. Dessen Besatzung würde merken, dass er nicht allein war, und die Station warnen. Ein Blick auf das eisige Gesicht Henriettes und die auf seinen Bauch gerichtete Mündung ihrer Maschinenpistole ließen ihn diesen Plan jedoch sogleich wieder verwerfen.
Henriette entging nicht, dass ihr Gefangener verzweifelt nach einem Ausweg suchte, und sie war fest entschlossen, ihm kein Schlupfloch zu lassen.
Etwas großes Dunkles, das von ein paar Positionsleuchten markiert wurde, tauchte vor ihnen auf und beendete Henriettes Überlegungen. Sie lehnte sich vor und starrte auf das riesige Gebilde aus Stahl, das hier mitten im nördlichen Ozean in fünfhundert Metern Wassertiefe schwebte. Stahlseile, die am Grunde des Meeres verankert waren, hielten die Station auf Position. Dieses Ding konnte nicht unbemerkt errichtet worden sein, sagte Henriette sich. Gewiss wussten norwegische Behörden davon. Wahrscheinlich hatte Torvald Terjesen die Station als harmlose unterseeische Bohrplattform deklariert. Die Norweger wollten ebenso wie die Russen, Kanada und die USA den Ölreichtum der Nordpolarmeere ausbeuten, und normale Bohrplattformen waren wegen des Eisgangs und der gewaltigen Winterstürme in dieser Gegend nicht geeignet.
Die Station erschien Henriette wie ein Symbol einer neuen Zeit, in der der Mensch nun auch den Rest seines Planeten zu erobern begann. Während Hemsedalen die Unterwasserstation überquerte und das Tauchboot zu einer der vorspringenden Schleusen bugsierte, entdeckte sie zwei U-Boote. Eines war unverkennbar ein Militär-U-Boot, das andere wirkte wie eine Art Unterseetransporter.
»Was sind das für Schiffe?«, fragte sie Hemsedalen.
»Das eine ist die Fenrisulfr und das andere die Midgardsormr, die Torvald Terjesen nach eigenen Plänen hat bauen lassen«, antwortete dieser und steuerte das Tauchboot so nahe an die Andockschleuse, dass die Greifer es präzise umschließen konnten.
»Wenn Sie nicht gesehen werden wollen, sollten Sie sich in die Toilette verziehen«, erklärte er. »Ich muss mit den Leuten reden, und dabei schaut jemand herein.«
Es passte Henriette nicht, den Mann allein lassen zu müssen. Jetzt kam der Schwachpunkt ihres Planes. Wenn Hemsedalen in der Station den Mund aufmachte, war sie geliefert. Hoffentlich lässt er sich noch länger bluffen, dachte sie und zog sich in die winzige Toilette zurück. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, fixierte sie Hemsedalen noch einmal mit einem drohenden Blick. »Ich hoffe für Sie, dass Sie die Minibombe in Ihrem Bauch nicht vergessen. Wenn mir auch nur das Geringste nicht passt, knallt es, haben Sie verstanden?«
Hemsedalen nickte und überlegte, wie lange das Ding wohl brauchte, um auf natürlichem Weg wieder ans Tageslicht zu gelangen. Zu allem Überfluss schlug er sich derzeit mit einer argen Verstopfung herum. Vielleicht sollte er sich vom Doktor Abführpillen geben lassen oder gleich eine ordentliche Dosis Rizinusöl. Doch auch dann würde es einige Stunden dauern, bis er sicher sein konnte.
Jemand klopfte an die Hülle des Tauchboots. Im nächsten Moment wurde die Luke von außen geöffnet, und ein Mann steckte den Kopf herein. »Willkommen daheim, Age!«
»Spar dir deine blöden Sprüche, Jarle. Sieh zu, dass du die Kabel ansteckst, damit der Kasten wieder Saft kriegt. Ich bin quasi mit dem letzten Volt hier angekommen.«
»Keine Sorge! Das machen wir schon. Was ist mit dem Boot? Müssen wir die Lebensmittelvorräte aufstocken? Und was ist mit der Toilette?«
»Die Lebensmittel suche ich mir selbst aus. Das letzte Mal war zu viel dabei, das mir nicht geschmeckt hat. Und die Toilette leere ich bei meiner nächsten Fahrt in der Nordaustlandet-Station. Hier müsste das Zeug eh wieder entsorgt werden.«
»Ist gut!« Froh, weniger Arbeit zu haben, steckte Jarle das Stromkabel an, damit die Akkus aufgeladen werden konnten. Dann klinkte er das Kabel ein, welches das Tauchboot mit dem normalen Kommunikationsweg der Station verband. Auf diese Weise konnten Computerdaten von der Station zum Tauchboot direkt übertragen werden. Ganz zuletzt half er seinem Kollegen, der sich so steif bewegte, als sei er halb erfroren, in die Schleuse zu steigen.
Kaum war Hemsedalen draußen, schloss er die Luke des Tauchboots und stapfte in die Station hinein. Beim Stationsarzt besorgte er sich mehrere Abführpillen, suchte anschließend sein Quartier auf und wartete ungeduldig auf die Wirkung des Medikaments.
FÜNF
Henriette ließ zehn Minuten verstreichen, bevor sie die Toilette verließ. Im Boot war es nun bis auf den schwachen Schein einiger Kontrollleuchten dunkel. Da sie davon ausgehen musste, dass Kameras das Tauchboot unter Beobachtung hielten, schaltete sie kein Licht ein. Das machte den nächsten Schritt ihres Planes erheblich schwieriger. Um mit Petra Kontakt aufzunehmen, musste sie ihren Laptop mit dem Bordcomputer des Tauchboots verbinden. Wegen des teilweise automatisch ablaufenden Anlegemanövers hatte sie es nicht früher gewagt, denn das wäre den Technikern in der Station womöglich aufgefallen. Nun aber, so hoffte sie, würden diese sich wohl nicht um das Tauchboot kümmern.
Um wenigstens etwas sehen zu können, zog sie ihr Mehrzweckwerkzeug aus der Tasche und schaltete die kleine LED-Leuchte ein. Deren Lichtkegel war nicht größer als fünf Zentimeter und konnte von außen nicht bemerkt werden, solange sie ihn nicht direkt auf eines der Bullaugen oder die auf der Konsole eingebaute Kamera richtete. Mit zusammengebissenen Zähnen schraubte sie einen Teil der Verkleidung ab und verband den Laptop mit dem Bordcomputer. Dann stöpselte sie das Gerät an eine Steckdose, um es benutzen und den leeren Akku aufladen zu können.
Nachdem sie den Laptop gestartet hatte, versuchte sie über die Funkbojen der Station mit Petra Kontakt aufzunehmen.
Es dauerte eine Weile, bis sie das computergesteuerte Funknetz umgehen konnte und direkten Zugriff auf eine der Bojen erhielt. Endlich meldete Petra sich.
Henriette erschrak, als sie das fleckige Gesicht ihrer Kollegin sah. Der Computerspezialistin schien es gar nicht gut zu gehen, dennoch beugte sie sich mühsam über ihren Bildschirm und gab ein paar Befehle ein.
»Wie geht es dir?«, schrieb Henriette besorgt.
»Beschissen!«, erklärte Petra auf einem Schriftband im unteren Teil des Bildschirms. »Ich fühle mich wie ein Wal, der an Land gespült wurde. Zudem kriege ich keinen Kaffee, keine Pizza, keinen Hamburger, ja nicht einmal eine richtige Wurstsemmel, weil meine neue Ärztin ebenfalls meint, ich müsse mich gesünder ernähren.«
So ging es einige Minuten weiter. Obwohl Henriette die Zeit unter den Nägeln brannte, ertrug sie Petras Klagen. Sie befürchtete, dass jede Aufregung den Zustand ihrer Kollegin verschlimmern und zu einem Zusammenbruch führen konnte. Dann würde Petra ihr überhaupt nicht mehr helfen können.
»Ich bin jetzt bei dieser ominösen Unterseestation«, meldete sie, als Petra endlich zu lamentieren aufhörte.
»Das sehe ich«, antwortete diese. »Ich muss jetzt schauen, was ich da machen kann. Aber das kann dauern. Es war schon eine harte Nuss, den Bordcomputer der Trollfjord zu hacken. Die Firewall hier hat noch eine ganz andere Qualität. Ich melde mich bei dir, sobald ich es geschafft habe.«
»Ich hoffe, es dauert nicht zu lange. Ich habe im schlechtesten Fall nur ein oder zwei Stunden Zeit«, beschwor Henriette sie.
»Ich tue, was ich kann, aber zaubern habe ich noch nicht gelernt«, antwortete Petra unwirsch und schaltete die Verbindung ab.
Henriette blieb als Opfer vieler Zweifel zurück. Wenn Hemsedalen den Mumm hatte, seine Kumpane darüber zu informieren, dass sie sich im Tauchboot befand, würde sie in Kürze die stattliche Zahl der Gefangenen vergrößern, die diese Schurken hier eingesperrt hatten. Das gleiche Schicksal drohte ihr, wenn es Petra nicht gelang, sich in den Stationscomputer einzuhacken – oder wenn sie zu lange dafür brauchte.
Um sich nicht beim Warten die Fingernägel abzukauen oder gar in Panik zu verfallen, setzte Henriette sich im Schneidersitz auf den Boden, nahm den Laptop auf den Schoß und lud sich das Simulationsprogramm aus dem Bordcomputer hoch, das Hemsedalen ihr gezeigt hatte. Der Bildschirm war so hell, dass sie die Tasten erkennen konnte, daher musste sie ihn so wenden, dass sein Licht nicht durch eines der Bullaugen fiel und man ihn von außen bemerkte.
Zuerst rief sie die unterste Stufe der Simulation auf und übte das Tauchen und Aufsteigen des Bootes sowie einfache Lenkbewegungen. Doch schon bald befriedigte sie das nicht mehr. Daher schaltete sie das Level der Simulation immer höher, bis sie es zuletzt auf höchster Stufe mit den überraschendsten Problemen zu tun bekam, angefangen von einem plötzlich ausbrechenden Unterwasservulkan bis hin zum Angriff fremder U-Boote, die sie abschießen wollten.
Ein wenig erinnerte diese Simulation sie an ein Computerspiel. Wahrscheinlich war das Ding bewusst so programmiert worden, damit die Besatzung sich bei der Tauchfahrtsimulation nicht langweilte. Ihr half diese Stufe, die nächsten Stunden ohne einen hysterischen Ausbruch zu überstehen. Da sie immer wieder nachsah, wo sich die einzelnen Schalter und Hebel auf der Konsole befanden, glaubte sie nach einer Weile, das Tauchboot in der Realität genauso gut beherrschen zu können wie in der Simulation.
SECHS
Während Henriette ihre Nervosität bekämpfte, indem sie ihre Tauchbootsimulationen immer weiter steigerte, und Torsten in der Krankenstation mit dem Stationsarzt Schach spielte, wobei sie nur einmal gestört wurden, als Age Hemsedalen den Arzt herausklingelte, um sich Abführtabletten abzuholen, saß Petra an ihrem Schreibtisch und hasste Gott und die Welt. Ihr ging es schlecht, und sie hatte Hunger und Durst. Als Hans Borchart ihr Karottensaft und Möhrensticks hinstellte, fuhr sie jedoch wütend auf.
»Hältst du mich für den Osterhasen?«
»Nein, wieso?«, fragte Borchart verdattert.
»Wegen diesem Karnickelfraß hier! Meine Augen sind noch gut genug, damit ich mich nicht an Karotten vergreifen muss. Ich will etwas Gescheites zum Essen und Trinken haben!«
Petra war so laut geworden, dass im nächsten Moment Wagner hereinstürmte. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Ich habe keine Lust mehr, hierzusitzen und mein Gehirn auszuwringen, wenn ich solches Zeug zum Essen bekomme!« Zusammen mit Petras Antwort flog ihm der Teller mit den Möhrenstiften entgegen.
Wagner zog den Kopf ein und starrte die schwangere Frau verärgert an. »Verdammt noch mal, jetzt führen Sie sich nicht so auf! Frau von Tarow und Renk sitzen bis zur Halskrause in der Scheiße, und Sie beschweren sich, weil Ihnen unsere Mohrrüben nicht passen. Sehen Sie besser zu, dass Sie die Firewall dieser verdammten Station knacken, sonst sind unsere Kollegen erledigt.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Petra ihm auch noch das Glas mit dem Karottensaft an den Kopf werfen, dann aber krümmte sie sich zusammen und presste sich die Hände auf den Bauch.
»Es tut so weh!«, stöhnte sie.
»Soll ich den Krankenwagen rufen?«, fragte Hans Borchart erschrocken.
»Das geht nicht, Frau Waitl muss …«, begann Wagner, wurde aber von Petra unterbrochen.
»Ich muss überhaupt nichts, und am wenigsten muss ich mir Ihre dummen Sprüche anhören! Wenn Ihnen nicht passt, wie ich arbeite, dann machen Sie Ihren Scheiß doch alleine!«
Wagner schluckte, wollte dann etwas sagen, doch da schob Hans ihn zur Tür hinaus. »Herr Wagner, wissen Sie was? Sie setzen sich jetzt ins Auto und besorgen erst mal drei Pizzen sowie eine große Flasche koffeinfreies Cola, außerdem Schokolade und vielleicht noch ein Glas Gewürzgurken. Ich kümmere mich inzwischen um Petra.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Wagner ihm widersprechen. Dann aber sagte er sich, dass sie auf Petra angewiesen waren und alles für sie tun mussten, damit sie weiterarbeiten konnte. Doch was war, wenn sie damit das ungeborene Kind gefährdeten? Durften sie Petra in ihrem Zustand wirklich so viel zumuten?
Andererseits sah er sich verpflichtet, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Henriette von Tarow und Torsten Renk zu retten. Wenn er sich an die norwegischen Behörden wandte und erklärte, der hochgeachtete Konzernchef Torvald Terjesen halte auf einer Unterseestation mehr als zwei Dutzend Geheimdienstagenten als Geiseln, würde man ihn auslachen. Tief durchatmend sah er Borchart an.
»Ich fahre! Sehen Sie zu, dass Sie Frau Waitl beruhigen können. Wenn sie es nicht schafft, unsere beiden Freunde herauszuhauen, schafft es keiner.«
»Ich tue, was ich kann«, erklärte Hans mit einem gezwungenen Lächeln und kehrte in Petras Büro zurück. Diese saß auf ihrem Schreibtischstuhl und weinte ungehemmt.
»Komm, Petra, es wird schon wieder! Ich habe unseren großen Guru losgeschickt, Pizza zu holen. Ganz gleichgültig, was deine Frauenärztin sagt, eine Pizza wird dir sicher nicht schaden.«
»Mir geht es nicht um eine Pizza«, stieß Petra erregt hervor. »Es ist alles so unbequem hier. Mit tut der Rücken zum Zerbrechen weh, außerdem kriege ich schlecht Luft und kann kaum noch tippen.«
Borchart betrachtete ihren Schreibtisch und sah ein, dass sie mit ihrem Schwangerschaftsbauch tatsächlich kaum noch daran arbeiten konnte. Nach kurzem Nachdenken grinste er. »Das kriegen wir schon hin, Petra. Lass mich mal machen!« Ohne weitere Erklärung verließ er das Büro.
In der nächsten halben Stunde vernahm Petra zwar mehrmals das Zischen eines Schweißgeräts und das Kreischen einer Säge, war aber zu schlapp, um nachzusehen, was Hans da bastelte. Zu ihrer Erleichterung ließen ihre Schmerzen nach, und die Angst, sie könnte ihr Kind zu früh und zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt zur Welt bringen, verflog langsam. Trotzdem fühlte sie sich nicht imstande, am Computer weiterzuarbeiten. Dabei war es so wichtig, dachte sie. Torsten war gefangen, und Henriette steckte letztlich in der Falle. Wenn sie den beiden nicht helfen konnte, würde Henriette sich ihren Feinden stellen müssen. Und was mit Torsten geschah, würde sie möglicherweise niemals erfahren.
Während Petra noch diesen Gedanken nachhing, kam Hans herein und sah sie aufmunternd an. »Magst du dich nicht für eine halbe Stunde auf die Liege im Aufenthaltsraum legen und ein wenig schlafen? Danach geht es dir sicher besser.«
Petra fühlte sich todmüde und nickte. »Also gut, eine halbe Stunde, aber nicht mehr! Du weckst mich, verstanden? Vielleicht fällt mir dann ein, wie ich Henriette und Torsten heraushauen kann.«
»Das schaffst du sicher!«, erklärte er und half ihr aufzustehen.
Er brachte Petra in den Aufenthaltsraum und sah zu, wie sie sich auf das Ruhebett legte und nach wenigen Minuten wegdämmerte. Dann kehrte er in ihr Arbeitszimmer zurück und begann, ihre Computeranlage abzubauen.
Er war mit seiner Arbeit fast fertig, als Wagner mit zwei großen Tüten zurückkam und erst einmal schluckte, als er Petras Arbeitszimmer ausgeräumt fand und sie selbst im Aufenthaltsraum schlief.
»Geht es ihr so schlecht?«, fragte er erschrocken.
Hans grinste. »Ziemlich! Ich hielt es für besser, dass Petra sich erst einmal ausruht, bevor sie weiterhin Nüsse knacken muss, die für alle anderen Computerspezialisten ein paar Nummern zu groß wären.«
»Ob Frau Waitl überhaupt eine Chance hat?«
So ganz schien Wagner davon nicht überzeugt zu sein, doch Hans kannte seine Kollegin. »Wenn Petra es nicht schafft, schafft es niemand.«
»Danke, so was hört man gerne!« Petra war durch das Gespräch der beiden Männer wach geworden. »Mir geht es jetzt besser. Ich habe nur einen fürchterlichen Hunger.«
»Dagegen habe ich ein Mittel«, erklärte Wagner und stellte seine Tüten auf den Tisch. »Was wollen Sie, Pizza mit Salami und Schafskäse oder lieber eine Lasagne? Ich habe auch eine Portion Spaghetti Bolognese mitgebracht.«
»Lasagne«, entschied Petra. »Und was gibt es zu trinken?«
»Für Sie koffeinfreie Cola sowie Roibuschtee mit Cranberrygeschmack, für Borchart und mich Leitungswasser, da Sie unser gesamtes Spesenbudget bereits aufgefuttert haben!« Wagner zwinkerte Petra dabei zu, damit sie die Bemerkung nicht allzu ernst nahm, und teilte die Portionen aus.
»Borchart, setzen Sie sich doch zu uns«, rief er, weil dieser noch einmal den Raum verließ.
»Gleich, Herr Wagner. Ich möchte nur noch rasch etwas holen!« Damit verschwand Hans und kehrte kurz darauf mit einem Gestell zurück, auf dem Petras Bildschirm, ihr Rechner und die Tastatur samt allen Peripheriegeräten, die sie sich angeschafft hatte, befestigt waren.
Sowohl Petra wie Wagner starrten ihn verwirrt an, doch bevor einer etwas sagen konnte, hob Hans beschwichtigend die Rechte. »Keine Sorge, die Anlage ist voll intakt. Es war nicht zu übersehen, dass es Petra immer schwerer fällt, weiterhin an ihrem Schreibtisch zu sitzen. Daraufhin habe ich mir ein paar Gedanken gemacht.«
»Da bin ich aber gespannt«, murmelte Petra misstrauisch.
Ihr Kollege ließ sich jedoch nicht beirren, sondern schob seine Vorrichtung neben die Liege, stellte deren Kopfteil ein bisschen höher und zeigte ihr anschließend, dass Bildschirm und Tastatur an schwenkbaren Armen angebracht waren, die über das Ruhebett geschoben werden konnten.
»Es ist für dich sicher bequemer, halb im Liegen zu arbeiten. Wenn du müde wirst, brauchst du die Geräte nur wegschwenken und das Kopfteil herunterlassen. Ich bringe dir auch eine Decke, damit du es gemütlicher hast.«
Da die Arbeit am Schreibtisch für Petra immer beschwerlicher geworden war, lächelte sie schließlich und nickte. »Danke! Ich werde es so versuchen.«
»Sehr schön! Und das hier ist der Clou.« Hans schwenkte erneut einen Arm nach vorne, der zwei Ablageflächen trug.
»Was soll das sein?«, fragte Wagner.
»Hier passen zwei Tassen und mehrere kleine Teller drauf. Petra braucht doch Brennstoff bei ihrer Arbeit!« Hans führte auch diesen Schwenkarm vor und setzte sich dann zu den beiden an den Tisch.
»Da Sie so lange gewartet haben, ist für Sie nur die Pizza übrig geblieben«, erklärte Wagner bärbeißig. Zwar war er im Grunde stolz auf seinen Untergebenen, ärgerte sich jedoch, weil er nicht selbst an Petras Bequemlichkeit gedacht hatte.
Nach der Lasagne und zwei Gläsern koffeinfreier Cola fühlte Petra sich in der Lage loszulegen. Sie ließ sich von Hans Borchart die Geräte so einstellen, dass sie bequem damit arbeiten konnte, und versuchte erneut, sich in das Computersystem der geheimen Unterwasserstation einzuhacken. Rasch wurde ihr klar, dass dies auf direktem Weg nicht ging. Dafür war die Anlage zu gut abgeschirmt. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie jedoch einen Kommunikationskanal zur Firmenzentrale von International Energies in Tromsø und schlich sich mit etwas Mühe in deren Computersystem ein. Von dort aus gelangte sie schließlich an den Hauptrechner auf der Station. Allerdings erwies dieser sich als eine harte Nuss, die sich selbst mit ihrem neuesten Hackerprogramm nicht knacken ließ.
Schließlich gab Petra es auf, in den Kern des Computers eindringen zu wollen, und begnügte sich mit einigen nachrangigen Programmen, die sie leichter beherrschen konnte. Da die Überwachung der Gefangenen dazugehörte, konnte sie von einer Kamera auf die andere schalten. Doch Torsten war nirgends zu finden.
»Verdammt, irgendwo muss er sein!«, fauchte sie, nachdem sie nur Dai Zhoushe, John Thornton und gut zwei Dutzend andere Agenten ausfindig gemacht hatte.
»Gibt es Probleme?«, fragte Wagner besorgt.
»Dieser ganze Scheiß ist ein einziges Problem«, antwortete Petra giftig und arbeitete verbissen weiter. Jetzt gelang es ihr, den Zugang zu den Privaträumen der Terjesen-Brüder zu knacken. Torvald Terjesen befand sich nicht in der Station, sondern spielte in Tromsø den besorgten Bruder. Dafür aber entdeckte sie Espen Terjesen und in dem angrenzenden Appartement Nastja Paragina. Während Ersterer zufrieden aussah, machte die Wissenschaftlerin keinen besonders glücklichen Eindruck.
Petra kam nun auch an die Pläne der Station und wandelte sie für sich in ein 3-D-Modell um, das von Stunde zu Stunde genauer wurde, bis sie endlich die Kommunikationsleitungen von der Station zu dem Tauchboot übernehmen konnte, in dem Henriette sich verbarg.
Da sie nicht einfach »Hallo, da bin ich!« sagen wollte, spielte sie in Anspielung auf Henriettes Herkunft aus einer alten Soldatenfamilie einen Militärmarsch ein.
SIEBEN
Henriette hatte eben ihr letztes Simulationsprogramm mit einem neuen Punkterekord beendet und fragte sich, ob sie es wagen konnte, sich eine Tiefkühlmahlzeit in der Mikrowelle warm zu machen, als auf einmal der Bayerische Defiliermarsch erklang. Im ersten Augenblick zuckte sie erschrocken zusammen, sah dann aber auf dem Bildschirm des Tauchboots Petras grinsendes Gesicht.
»Na, was sagst du jetzt?«, vernahm sie deren Stimme. Da sie sich seit längerer Zeit nur noch schriftlich hatten austauschen können, atmete Henriette erleichtert auf.
»Du hast es geschafft!«
Petra schüttelte den Kopf. »Nicht so gut, wie ich gehofft habe, aber es lässt sich trotzdem einiges mit dieser Verbindung unternehmen. Ich glaube, ich könnte die Station sogar teilweise fluten.«
»Aber dann sinkt sie doch ab«, rief Henriette erschrocken aus.
»Ja«, gab Petra feixend zu. »Vielleicht mache ich das auch, aber erst, wenn ich euch von dem Ding heruntergeholt habe. Das allerdings wird nicht einfach sein. Bis jetzt konnte ich mich nur in einige Peripherieprogramme einhacken.«
»Hast du Torsten gefunden?«
Petra schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Zwar habe ich die Zellen entdeckt, in denen die Gefangenen stecken. Doch dort ist er nicht.«
»Gibt es ein Krankenrevier? Torsten ist ja verletzt!«
»Ich werde nachsehen«, versprach Petra und fragte nach, ob sie für Henriette noch etwas tun könnte.
»Kannst du dafür sorgen, dass die Außenkameras der Station nicht wahrnehmen, dass jemand hier drinsteckt? Es ist stockdunkel, und ich möchte langsam etwas essen und mir einen starken Kaffee machen. Ich bin eben schon über dem Laptop eingeschlafen. Dafür brauche ich die Mikrowelle und Licht in der Küche, und davon soll man in der Station nichts mitbekommen.«
»Das müsste hinzukriegen sein. Warte ein paar Minuten. Ich gebe dir Bescheid.«
Petra unterbrach die Verbindung und drang weiter in die Programme der Station ein. Die interne Überwachung war zwar einer der sensibleren Bereiche, doch nach einigen Anläufen knackte sie auch diese und schaltete die Kameras, die auf Henriettes Tauchboot gerichtet waren, in eine Endlosschleife, in der immer die gleiche Bildfolge zu sehen war. Bei einer Gefangenenzelle hätte sie das nicht riskieren dürfen, doch bei einem angedockten Tauchboot fiel das sicher nicht auf.
Nachdem sie Henriette grünes Licht gegeben hatte, machte sie sich wieder auf die Suche nach Torsten. Schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit hatte sie die Überwachungskameras der Krankenstation unter Kontrolle und konnte die beiden Räume unter die Lupe nehmen, die dem Stationsarzt als Praxis zur Verfügung standen.
Petra fiel ein mittlerer Felsblock vom Herzen, als sie Torsten entdeckte. Es schien ihm gut zu gehen, denn er spielte mit dem Arzt Schach. Noch während sie sich überlegte, wie sie mit ihm Kontakt aufnehmen konnte, läutete es draußen, und der Arzt stand mit einer bedauernden Geste auf.
»Ich werde wohl gebraucht. Ich komme so schnell zurück, wie ich kann«, erklärte er und verließ den Raum.
»Hoffentlich nicht zu schnell«, murmelte Petra und wählte einen Lautsprecher mit kleiner Leistung an. »Hallo Torsten, alter Junge, hörst du mich?«
Torsten riss es so heftig herum, dass es ihm schmerzhaft durch seine Hüftverletzung schoss. »Petra, bist du es?«
»Wer sollte es sonst sein?«, spottete sie. »Ich habe keine Zeit, dir zu erklären, wie ich es geschafft habe. Erst einmal will ich alles tun, um dich und die anderen Gefangenen zu befreien.«
»Weißt du, wo die Leute stecken?«
»Natürlich! Du bist nicht einmal so weit von ihnen entfernt. Du musst nur von der Krankenstation nach links durch zwei Schleusen gehen.« Petra wollte noch mehr sagen, doch Torsten unterbrach sie.
»Wie soll ich das schaffen?«
»Indem du mich machen lässt«, erklärte Petra selbstzufrieden.
»Und wie sollen wir von hier wegkommen? Ich weiß zwar nicht, wie tief wir sind, aber ich glaube nicht, dass wir so einfach auftauchen können. Außerdem laden die Temperaturen an der Oberfläche nicht gerade zum Baden ein.«
»Wenn du hier durch eine Schleuse nach draußen gehst, brauchst du dir wegen der Minusgrade an der Oberfläche keine Sorgen mehr zu machen. Nein, mein Junge, um dort herauszukommen, braucht ihr ein U-Boot – und um das werde ich mich als Nächstes kümmern. Eine andere Frage: Welchen Agenten glaubst du vertrauen zu können?«
»Da es um ihre Freiheit geht, würde ich sagen, allen. Ein paar halte ich für besonders vertrauenswürdig: John Thornton, Dai Zhoushe und vielleicht auch deren Mann …« Torsten nannte noch ein paar Namen, die Petra sich notierte. Ein Blick auf ein kleines Feld am oberen linken Eck des Bildschirms zeigte ihr jedoch, dass der Arzt gerade seinen Patienten verabschiedete, und so unterbrach sie die Verbindung.
Noch wusste sie nicht, ob sie wirklich etwas ausrichten konnte, doch ihr Ehrgeiz war geweckt. Auch war es für sie um ein Vielfaches angenehmer, auf der Liege zu arbeiten als am Schreibtisch, und sie fühlte sich sehr viel wohler. Zum Glück gab ihr Kleines derzeit Ruhe, so als begreife es, dass es seine Mutter nicht stören durfte. Da Hans bereitstand, um ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, machte es ihr zunehmend Spaß, den Stationscomputer der Terjesens zu unterwandern.
ACHT
Petra ging so geschickt vor, dass niemand etwas bemerkte. Von Programmen und Dateien, die zu gut abgesichert waren, hielt sie sich fern. Allerdings würde sie nicht endlos so weitermachen können. Spätestens beim nächsten Sicherheits-Check würde man merken, dass sich jemand an einigen der Programme zu schaffen gemacht hatte. Bis dorthin musste alles über die Bühne sein.
Als Erstes brauchte sie ein Fluchtfahrzeug für die Gefangenen. Ein Tauchboot wie das, in dem Henriette saß, kam nicht in Frage, denn es war viel zu klein. Es gab jedoch auch drei U-Boote bei der Station. Um zu den beiden Militär-U-Booten zu gelangen, hätten die Gefangenen die gesamte Station durchqueren müssen. Da das unmöglich war, konzentrierte sie sich auf das dritte U-Boot. Dessen Andockstation war über den Flur zu erreichen, an dem die Zellen der Gefangenen lagen, und es mussten keine der belebteren Teile der Station durchquert werden. Die einzige Frage war, ob einer der Gefangenen in der Lage war, das U-Boot zu steuern. Da Petra diese nicht beantworten konnte, programmierte sie im Bordcomputer der Midgardsormr einen Kurs, der das Boot von der Station wegbringen würde. Sobald die Gefangenen an Bord wären, war nur noch ein Befehl von ihr notwendig, und die Fahrt konnte beginnen.
Zufrieden orderte sie ein frisches Glas koffeinfreie Cola und setzte ihre Vorbereitungen fort.
NEUN
Dai Zhoushes Stimmung schwankte zwischen der Erwartung, der Vorgesetzte der beiden deutschen Agenten könnte bereits eine Aktion gegen ihre Entführer in Gang gesetzt haben, und der Hoffnungslosigkeit ihrer eigenen Lage. Die Unterwasserstation war mit Tauchern nicht zu stürmen. Also würde man diese, sofern die Besatzung sich nicht ergab, mit Torpedos beschießen und versenken müssen. Dabei würde auch sie sterben. Obwohl sie sich sagte, dass sie ihrem Land dieses Opfer schuldete, gefiel ihr der Gedanke, in diesem schwimmenden Riesensarg zugrunde zu gehen, nicht besonders. Außerdem würde nicht nur sie sterben, sondern auch ihr Mann, und dieser Gedanke schmerzte doppelt.
Mehrfach erwog sie, eine Gefangenenrebellion anzuzetteln. Doch dafür hätte sie den drei Agenten in ihrer Zelle vertrauen müssen. Abu Fuad war jedoch ihr Todfeind, und Manolo Valdez stand ebenfalls auf der anderen Seite. Außerdem zeigten beide deutlich, wie wenig sie von einer Frau hielten. Shmuel Rodinsky, der dritte Mann in der Zelle, belauerte die beiden anderen genauso wie diese ihn. Jeder von ihnen hatte mit den beiden anderen Rechnungen zu begleichen, und selbst die Tatsache, dass sie alle in derselben Klemme steckten, änderte daran nichts.
Dai Zhoushe spielte dennoch in Gedanken jede Möglichkeit durch, wie sie ihre Wärter überwältigen und wenigstens einen als Geisel nehmen konnte. Allerdings fragte sie sich, was sie damit gewann. Ihre Bewacher waren skrupellose Banditen, denen das Leben anderer Menschen nichts wert war. Wahrscheinlich würde ihr Widerstand zu nichts anderem führen als zu einem letzten Aufbegehren und einem tapferen Tod. Doch wie auch immer es ausging, sie würde bald handeln müssen, denn lange konnte sie den Stift mit dem Kampfspray nicht mehr verbergen. Zudem schwebte sie in der Gefahr, dass die Hülle am Sprühknopf undicht wurde und sie durch das austretende Gas starb.
Sie sah sich noch einmal um und überlegte, was sie auf eigene Faust unternehmen konnte. Die anderen drei hatten sich hingelegt und dösten. Ihr schweifender Blick blieb nun auf dem Lautsprecher hängen, mit dem die Entführer ihre Anweisungen gaben. Dieser befand sich direkt über ihrer Liege an der Wand. Da keiner der drei Männer so nahe bei dem Ding hatte schlafen wollen, war ihr als vermeintlich schwächster Person dieses Bett geblieben.
Mitten in ihre Überlegungen hinein, ob sie den Lautsprecher oder das Mikrofon, mit dem sie abgehört wurden, irgendwie nutzen konnte, vernahm sie auf einmal leise chinesische Musik. Verwundert legte sie das Ohr gegen das Metallgitter, hinter dem der Lautsprecher sich befand, und lauschte verblüfft.
Da klang auf einmal eine kaum vernehmbare Stimme auf, die sie auf Englisch ansprach. »Einen schönen Gruß von Henriette von Tarow und Torsten Renk, Frau Dai! Wenn Sie mich verstehen, tun Sie so, als müssten Sie gähnen.«
So schnell hatte Dai noch nie den Mund aufgerissen.
»Sehr gut!«, kam es nur für sie vernehmlich aus dem Lautsprecher. »Lauter will ich nicht werden, um die Entführer nicht zu alarmieren. Da die Kerle alle Gespräche überwachen, könnten sie aus falschen Bemerkungen die richtigen Schlüsse ziehen.«
Dai Zhoushe sagte sich, dass die Frau, die mit ihr sprach, einen seltsamen Humor haben musste. Doch das war im Augenblick nebensächlich. Was zählte war, dass sie Kontakt mit ihr aufgenommen hatte. Die Unbekannte, die zum Team der Deutschen gehören musste, erklärte ihr, dass sie versuchen wolle, die Gefangenen innerhalb der nächsten Stunde zu befreien. Obwohl Dai Zhoushe sich ein hohes Maß an Selbstbeherrschung angeeignet hatte, keuchte sie auf.
»So schnell schon?« Es gelang ihr nur mit Mühe, diese Worte zu hauchen.
»Richten Sie sich darauf ein. Ich melde mich wieder. Halt, noch eine Frage: Kann jemand aus eurem Team mit einem U-Boot umgehen?«
»Ja!«, raunte Dai Zhoushe. »Einer meiner Begleiter war bei der Marine.«
»Er muss nicht viel mehr tun als auf die Kontrollen zu schauen und den Kasten zuletzt in den Hafen zu steuern. Das konnte ich nicht mehr programmieren«, antwortete Petra. Anfangs hatte sie überlegt, dass Henriette das Steuer übernehmen sollte. Aber deren Andockschleuse lag auf der entgegengesetzten Seite der Unterwasserstation, und sie wusste nicht, ob sie für ihre Kollegin einen Weg zu dem U-Boot finden konnte. Daher verabschiedete sie sich erleichtert von der Chinesin, um sich den nächsten Gefangenen herauszupicken, mit dem sie reden wollte.
ZEHN
Die Stimmung in John Thorntons Zelle war miserabel. Pat Shears benahm sich wie ein ungezogener Junge und beschimpfte Rumble als Weichei. Auch Sally Marble gegenüber, die ihn bremsen wollte, wurde er ausfallend.
»Junge, wenn dir deine gesunden Knochen etwas wert sind, solltest du dir einen höflicheren Ton zulegen«, wies John ihn zurecht.
Sofort fuhr Shears zu ihm herum. »Von Ihnen lasse ich mir überhaupt nichts sagen, Sie Versager!«
»Halten Sie den Mund!«, rief Sally, winkte dann aber ab. »Wegen mir können Sie ruhig weiterstreiten. Das geht mir sonst wo vorbei!«
Etwas in ihrer Stimme alarmierte John. Er machte jedoch nicht den Fehler, sich ihr zuzuwenden, sondern sah Pat Shears grinsend an. »Ihre Eltern haben offenbar vergessen, Ihnen Manieren beizubringen. In meiner Zeit wäre jemand wie Sie niemals in den Geheimdienst übernommen worden.«
Pat Shears hörte ihm zunächst mit offenem Mund zu, kam dann aber mit geballten Fäusten auf ihn zu. »Sie wollen es nicht anders!« Im nächsten Moment rammte er die rechte Faust nach vorne. Doch dort war Johns Kinn nicht mehr. Stattdessen traf Shears eine der Streben der oberen Pritsche und schrie vor Schmerz auf.
»Wenn es dumm gelaufen ist, haben Sie sich eben ein paar Finger gebrochen«, kommentierte John ungerührt.
Der Agent fluchte wütend und rieb sich die geprellte Hand mit der Linken.
John drehte sich unterdessen zu Rumble um. »Mit solchen Leuten wollten Sie Ihren Job erfolgreich abschließen?«
»Hören Sie, Thornton! Ihr Gerede, wie gut Sie damals im Vergleich zu uns waren, geht auch mir auf den Geist.« Rumble warf John einen beleidigten Blick zu und ging dann zu Shears, der mit verzerrtem Gesicht auf dem Boden kniete. »Wie geht es?«
»Beschissen!«, stöhnte Shears. »Und das nur wegen dieses Trottels.«
»Sally soll sich um Ihre Hand kümmern!«, sagte Rumble und warf der jungen Frau einen auffordernden Blick zu.
Doch Sally winkte empört ab.
»Stellen Sie sich ans Wasserbecken und lassen kaltes Wasser über die Hand laufen. Das kühlt«, erklärte John, als Rumble die junge Afroamerikanerin zurechtweisen wollte. Irgendetwas war eben geschehen, das fühlte er instinktiv.
Da richtete Sally sich auf und stieg von ihrer Pritsche.
»Ich könnte heulen«, sagte sie mit verkniffener Miene, »und brauche jemand, der mich in den Arm nimmt und knuddelt. John, übernehmen Sie das?«
Rumble wollte etwas einwenden, doch da setzte Sally sich schon zu John auf die Pritsche. Nach wenigen Augenblicken legte sie sich hin und forderte John auf, dasselbe zu tun. Dieser gehorchte und brachte seinen Mund dabei an ihr Ohr.
»Was ist?«, fragte er unhörbar für die anderen und für die Abhörmikrofone.
»Kennen Sie einen Torsten Renk?«, wisperte Sally zurück.
»Den verrückten Deutschen?« John hatte nicht gewusst, ob Torsten ebenfalls gefangen genommen worden war. Doch wenn es so war, musste es ihm irgendwie gelungen sein, mit Sally Kontakt aufzunehmen. »Ja, ich kenne ihn«, versicherte er der jungen Frau leise.
»Wir sollen uns für die Flucht bereithalten, und zwar in spätestens einer Stunde, wahrscheinlich sogar eher!«
Obwohl John Thornton Torsten kannte, war diese Nachricht eine Überraschung für ihn. Er fragte sich, ob er Rumble und Shears einweihen sollte, entschied sich aber dagegen. Beide verfügten ganz offenbar nicht über die Selbstbeherrschung, die eigentlich Voraussetzung für ihren Job war. Als Sally ihm dann auch noch zuflüsterte, dass sie mit einer Frau gesprochen habe, wunderte er sich noch mehr.
Ihre beiden Mitgefangenen Rumble und Shears starrten sie giftig an, und der Geheimdienstkoordinator murmelte etwas von schlechter Moral, weil Sally und John so eng aneinandergekuschelt lagen wie ein Liebespaar. Doch die ließen sich nicht stören, sondern warteten angespannt auf das Signal zum Ausbruch.
ELF
Während Sally Marble, John Thornton und einige andere wie elektrisiert auf ihre Befreiung warteten, gelang es Petra, immer mehr Informationen über die Station zusammenzutragen. Mit Torsten und Dai Zhoushe hatten die Banditen neunundzwanzig Gefangene gemacht. Während ihr Kollege noch in der Krankenstation untergebracht war, steckten die anderen in sieben Zellen zu je vier Personen. Bei drei Zellen war es ihr gelungen, die Leute zu informieren. Die Gefangenen in den anderen vier Zellen würden von ihrer Befreiung überrascht werden, und Petra konnte nur hoffen, dass sie richtig reagierten.
Schritt für Schritt setzte sie nun ihren Plan in die Tat um. Als Erstes übernahm Petra die Kontrolle über die Schleusen und Türen, welche die Gefangenen bei ihrer Flucht benutzen mussten, und koppelte die Midgardsormr dabei so weit wie möglich vom Hauptcomputer ab. Dabei stieß sie auf ein neues Problem. Die Andockschleuse, an der Henriettes Tauchboot befestigt war, lag auf der anderen Seite der Station. Um zur Midgardsormr zu kommen, hätte ihre Kollegin die gesamte Anlage ungesehen durchqueren müssen, und das war unmöglich. Nachdem Petra eine Weile nachgedacht hatte, nahm sie wieder Kontakt zu Henriette auf.
»Hey! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen«, meldete diese sich erleichtert.
»Ich vergesse nie etwas«, wies Petra ihre Kollegin zurecht. »Aber jetzt mal im Klartext: Ich habe nachgeschaut, ob ich dich auf geheimen Pfaden zur Midgardsormr lotsen kann. Aber dafür sind viel zu viele böse Buben auf der Station unterwegs. Du musst dich daher mit dem Tauchboot auf die Socken machen, sowie ich dir das Zeichen gebe. Mit voller Akkuladung dürftest du es bis Longyearbyen schaffen.«
»Und was ist mit Torsten und den anderen?«, fragte Henriette.
»Für die werde ich eines der U-Boote besorgen. Wir müssen die beiden Aktionen aber exakt koordinieren, damit die Schufte nicht zu früh gewarnt werden und entweder dich oder Torstens Gruppe aufhalten können.«
Petra erläuterte Henriette ihren Plan und sah diese mehrmals zustimmend nickten.
Zuletzt fuhr Henriette mit der Faust durch die Luft. »Ganz passt es mir nicht, dass wir uns alle heimlich davonschleichen müssen. Immerhin hatten wir einen Auftrag, den wir erfüllen sollten.«
»Du meinst die Paragina?«
Henriette nickte seufzend. »Ja, die meine ich. Es gefällt mir nicht, die Frau bei diesen Schurken zu lassen. Ich traue den Terjesens zu, dass sie die norwegische Regierung, aber auch die Amis und Russen mit ihr und ihrem Wissen erpressen. Dann wäre unsere ganze Aktion für die Katz.«
»Und was willst du tun?«
»Kannst du prüfen, ob ich ungesehen zur Paragina und wieder zurück kommen kann? Ich würde sie mir gerne schnappen und mitnehmen.«
»Du bist verrückt!«, stieß Petra aus, forschte aber sofort nach, wo die Wissenschaftlerin sich gerade befand.
Es dauerte ein wenig, dann entdeckte sie Nastja Paragina im Labor. Die Russin arbeitete allein, also hatten die Terjesen-Brüder offensichtlich noch keinen Wissenschaftler angeheuert, der ihr hätte assistieren können. Zuerst erschien es Petra unmöglich, von Henriettes Standplatz bis zum Labor vorzudringen. Dann aber entdeckte sie mehrere Gänge, die nicht im offiziellen Plan eingetragen waren.
»Ich habe einen Weg gefunden. Ich muss dir aber jede Schleuse und jede Tür einzeln öffnen, und das kostet Zeit, die wir möglicherweise nicht haben.« Ihre Hoffnung, Henriette könnte es sich anders überlegen, schwand jedoch, als diese ihren Browning durchlud.
»Dann sieh zu, was du machen kannst!« Henriette steckte neben ihrer Pistole auch Torstens Sphinx AT2000 ein, hängte sich eine der Maschinenpistolen über die Schulter und nahm die zweite in die Hand. »Ich bin so weit!«
»Muss ich ab jetzt Ramba zu dir sagen?«, spottete Petra und setzte dann hinzu, dass Henriette sich an den blauen Lichtern an den Korridorwänden würde orientieren müssen. Nachdem sie einige weitere Überwachungskameras durch Endlosschleifen ausgeschaltet hatte, auf denen nichts zu sehen war, öffnete sie die erste Schleuse.
Henriette drang vorsichtig in die Station ein. Um sie herum war es bis auf ein gelegentliches Knacken geradezu unheimlich ruhig. Die blauen Lichter, die sie führen sollten, waren gut zu erkennen, und so kam sie rasch vorwärts. Trotzdem hätte Henriette sich gewünscht, Sprechkontakt zu Petra halten zu können. Doch sie besaß nicht die dafür notwendige Ausrüstung und musste sich darauf verlassen, dass ihre Kollegin sie überwachte und rechtzeitig eingriff, wenn sich etwas Unvorhergesehenes tat.
Auf zwanzig Metern passierte Henriette drei Schleusen. Wie es aussah, hatten die Terjesens ihre Station in kleine, abgeschottete Bereiche aufgeteilt, damit bei einem Wassereinbruch immer nur überschaubare Sektionen überflutet werden konnten. Dadurch gab es keine langen Korridore und auch keine Menschen, die einfach spazieren gingen. Auf diese Weise erreichte Henriette unbemerkt Torvald Terjesens Geheimgang und stand kurz darauf vor dem letzten Schott, das sie von dem Labortrakt trennte.
ZWÖLF
Nastja Paragina war sich nicht mehr über ihre Gefühle im Klaren. Ihr ganzer Ehrgeiz war es gewesen, in die Geschichte der Wissenschaft als diejenige einzugehen, die der Menschheit die Ausbeutung der riesigen Methanvorräte des Planeten ermöglicht hatte. Doch wenn sie, wie von den Terjesens geplant, von aller Welt für tot gehalten wurde, würde sie nicht unter ihrem eigenen, sondern unter einem falschen Namen in den Annalen der Wissenschaft geführt werden. Auch die Tatsache, dass sie selbst dahintersteckte, stellte sie nicht zufrieden. Andererseits hatte sie sich den Terjesen-Brüdern ausgeliefert und musste tun, was diese von ihr verlangten – einschließlich ihnen als Sexspielzeug dienen.
»Jetzt sei nicht albern«, sagte sie mahnend zu sich selbst. »Immerhin wirst du in einem unbeschreiblichen Luxus leben können.«
Doch als sie darüber nachdachte, was sie wirklich brauchte, fielen ihr außer der auf der Trollfjord verlorenen Garderobe nur ein paar wissenschaftliche Geräte ein, mit denen sie dringend ihr Labor ergänzen musste.
Mit einem Seufzer wandte sie sich wieder ihrer Versuchsreihe zu, mit der sie die Katalysatorflüssigkeit verbessern wollte. Dabei entging ihr, wie sich hinter ihr ein Schott öffnete und eine junge Frau mit vorgehaltener Maschinenpistole hereinkam.
»Guten Abend, Frau Paragina«, grüßte Henriette freundlich.
»Guten Abend«, antwortete Nastja, wunderte sich im nächsten Moment darüber, dass sich außer ihr noch eine Frau auf der Station befand, und drehte sich verblüfft um. Beim Anblick der schwerbewaffneten Asiatin schrie sie auf und streckte im ersten Impuls die Hand zum Alarmknopf aus.
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, warnte Henriette die Russin. »Sonst müsste ich Sie erschießen.«
»Wer sind Sie?«, presste Nastja mühsam beherrscht hervor.
»Unwichtig! Wo haben Sie Ihre Unterlagen?«
Nastja griff unwillkürlich an die Oberschenkeltasche ihrer Hose, in der eine Minifestplatte, eine SD-Karte und ein USB-Stick mit ihren relevanten Forschungsergebnissen steckten. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das werde ich Ihnen nicht sagen!«
»Also werde ich Sie doch erschießen müssen«, konterte Henriette mit künstlicher Gelassenheit und hob den Lauf der MP an.
Der Bluff gelang, denn Nastja rief sofort, dass sie die Unterlagen bei sich habe. »Zumindest bis auf die Ergebnisse der letzten Testreihe. Die sind noch im Computer«, setzte sie leise hinzu.
»Dann kopieren Sie sie!« Henriette brannte die Zeit unter den Nägeln, doch wollte sie auf keine Informationen verzichten.
»Was werden Sie mit mir machen, wenn ich Ihnen die Unterlagen gegeben habe?« Nastja war notfalls bereit, alles zu zerstören, wenn ihr die Antwort nicht gefiel.
Lächelnd wies Henriette auf das noch immer offene Schott. »Wir beide werden eine kleine Reise unternehmen.«
»Ich verlange freies Geleit und …«
»Das Einzige, was ich Ihnen versprechen kann, ist, dass ich Sie nicht umgehend erschieße!« Henriette wollte sich auf keine Diskussionen einlassen und gab Nastja einen Wink mit der Maschinenpistole. »Wird’s bald?«
Zwei, drei Sekunden schwankte Nastja noch, dann trat sie an den Computer, gab den Kopierbefehl ein und zog anschließend eine SD-Card heraus. Auf den Befehl der Unbekannten löschte sie auch die im Computer gespeicherten Daten. Mit einem Mal fühlte sie eine tiefe Leere in sich.
Sie hatte sich an Oleg Wolkow rächen wollen, doch diese Rache hatte Ausmaße angenommen, die sie niemals gewollt hatte. Als sie vor Henriette durch das Schott ging, dachte sie, dass die Terjesens jetzt doch nicht das Monopol auf die Methanverflüssigung erhalten würden. In gewisser Weise war sie sogar froh darüber. Auch wenn sie selbst nicht wusste, was mit ihr geschehen würde, so würde ihre Erfindung nun doch für alle Zeiten mit ihrem eigenen Namen verbunden sein.
DREIZEHN
Petra wartete gerade so lange, bis Henriette mit ihrer Gefangenen das Tauchboot erreicht hatte, dann setzte sie das Kernstück ihres Plans in Gang. Nun musste alles blitzschnell gehen. Als Erstes meldete sie sich im Krankenrevier. »Torsten, auf geht’s!«
Noch während Rolsen verwundert aufblickte, weil aus dem Lautsprecher eine unbekannte, deutsch sprechende Frauenstimme drang, war Torsten sofort auf den Beinen. Ihm widerstrebte es jedoch, den Mann, der ihn gut behandelt hatte, einfach niederzuschlagen oder gar zu fesseln.
»Die Terjesens sind am Ende, Doc. Ihre geheime Station ist entdeckt und wird bald aufgegeben werden müssen. Sie gehören nicht zu den Schurken, die die beiden Brüder hier versammelt haben. Daher mache ich Ihnen den Vorschlag, mit mir zu kommen.«
»Und wo wollen Sie hin?«
»Diese Station verlassen. Es ist alles vorbereitet.«
Rolsen warf einen kurzen Blick auf den Alarmknopf, sah dann aber seinen deutschen Patienten an und lächelte. »Also gut, ich folge Ihnen!«
Torsten nickte erleichtert in Richtung der Überwachungskamera, die Petra unter ihre Kontrolle gebracht hatte. »Wir sind bereit! Wohin geht es?«
Als Antwort schwang die Tür automatisch auf, und er sah einen blauen Pfeil, der nach links zeigte. Das ist typisch Petra, dachte er, als er Rolsen am Arm packte und in diese Richtung schob.
Zwei Schotts weiter hatten Torsten und der Arzt den Gang erreicht, in dem sechs Gefangenenzellen lagen, und Petra blockierte den Weg hinter ihm. Damit war diese Sektion vom Inneren der Station so lange nicht erreichbar, bis jemand die Blockade im Computer brechen konnte. Aber bis dahin würde den Gefangenen genug Zeit zur Flucht bleiben.
Als Nächstes informierte Petra Dai Zhoushe, John Thornton und einen französischen Agenten, den sie von ihrer Aktion in Somalia her kannte, und öffnete die Türen ihrer Gefängnisse und das Schott zu dem Gang, in dem die letzte mit Gefangenen gefüllte Zelle lag.
VIERZEHN
Im Gegensatz zu Abu Fuad, Manolo Valdez und Shmuel Rodinsky war Dai Zhoushe vorgewarnt, als auf einmal eine Frauenstimme aufklang und sie zum Verlassen der Zelle aufforderte. Gleichzeitig ging die Tür auf. Rodinsky wagte es als Erster, den Kopf auf den Flur hinauszustecken.
»Da ist niemand«, rief er und sah im nächsten Moment verblüfft, wie auch die anderen Türen geöffnet wurden und die ersten Gefangenen vorsichtig herausschauten.
»Irgendwas geht hier vor«, sagte er nach hinten und verließ die Zelle.
Abu Fuad und Manolo Valdez sahen sich kurz an und wollten Rodinsky folgen. Doch da glitt Dai Zhoushe geschmeidig wie eine Schlange an ihnen vorbei und blockierte die Tür. »Nicht so schnell! Wir haben noch eine kleine Rechnung zu begleichen«, sagte sie lächelnd, griff mit ihrer Rechten in die Hose und holte den Kampfspraystift aus seinem Versteck.
»Was soll das?«, fragte Valdez unwirsch und wollte sie beiseiteschieben. Im selben Augenblick sprühte die Chinesin ihm etwas ins Gesicht, das wie Höllenfeuer brannte. Er wollte schreien, doch als er Luft holte, raste ein entsetzlicher Schmerz durch seinen gesamten Körper. Dann erlosch die Welt um ihn herum, und er versank in einer wohltuenden Schwärze.
Noch während er zusammenbrach, wandte Dai Zhoushe sich Abu Fuad zu. Dieser hatte zuerst verblüfft zugesehen, schlug aber nun nach ihr. Dai Zhoushe wich geschmeidig aus und schoss auch ihm das Kampfgift ins Gesicht. Danach trat sie nach draußen, drückte den Knopf der manuellen Türschließanlage und verriegelte den Eingang zu ihrer Zelle. Mit einem letzten Blick auf die Tür, hinter der zwei ihrer erbittertsten Gegner dem Gift erlegen waren, wandte sie sich ab und schloss sich den Gefangenen an, die zur Midgardsormr strebten.
FÜNFZEHN
Trotz seiner Anspannung amüsierte John Thornton sich über Rumbles und Shears verblüffte Gesichter, als plötzlich eine Frauenstimme aufklang und sie anwies, ihr Gefängnis zu verlassen.
»Was heißt das?«, rief Rumble aus, wagte es aber nicht, sich der offenen Tür zu nähern.
»Das«, antwortete John, »ist eine Geheimdienstaktion, wie sie sein sollte. Und jetzt raus! Oder gefällt es Ihnen hier so gut, dass Sie noch bleiben wollen?« Er folgte Sally, die bereits zur Tür hinausgeschlüpft war. Zögernd kamen ihnen die beiden anderen nach.
Da sich auf dem Flur immer mehr Gefangene versammelten, wurde es dort rasch eng, und so öffnete Petra das erste Schott in Richtung Andockstation der Midgardsormr.
»Torsten, übernimm du das Kommando!«, forderte sie ihren Kollegen auf.
Dieser schob den Arzt vor sich her und hob dann die Hand. »Alle herhören!«, rief er auf Englisch. »Folgen Sie mir! Uns steht ein U-Boot zur Verfügung, mit dem wir fliehen können.«
Torsten sah sich nach Dai Zhoushe um, entdeckte sie aber nirgends. Da er keine Zeit hatte, nach ihr zu suchen, eilte er so rasch, wie seine Verletzung es zuließ, durch die sich öffnenden Schotts und erreichte schon bald die Schleuse mit der Zutrittsluke. Diese öffnete er auf Petras Anweisung von Hand, und schon konnten die ersten Befreiten an Bord steigen.
Torsten blieb vor dem U-Boot stehen und wartete, bis alle die Luke passiert hatten. Als Letzte erschien Dai Zhoushe mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
»Schön, Sie wiederzusehen, Renk!«
»Sind noch Leute von der Trollfjord im Gang?«, fragte Torsten.
»Nein, ich bin die Letzte.«
So ganz traute Torsten ihr nicht, doch als er in den Gang hineinschaute, war dort niemand zu sehen. Dafür klang Petras Stimme alarmierend aus den Lautsprechern.
»Ihr müsst verschwinden! Rasch! Die Kerle haben gemerkt, dass sich was tut.«
Sogleich stieg Torsten durch das Luk, schloss es hinter sich und betrat den Kommandoraum. Zu seiner Erleichterung hatte die Besatzung das U-Boot verlassen und keine Wache zurückgelassen. Während Dai Zhoushe ihren Mann umarmte, nahm bereits ein Landsmann von ihr den Platz des Navigators ein und machte sich mit den Kontrollen vertraut. Noch musste er nicht eingreifen, denn Petra löste das U-Boot per Computerbefehl von der Station und schaltete den von ihr programmierten Autopiloten ein.
Die Midgardsormr erwachte zum Leben und nahm Fahrt auf. Torsten atmete auf, da kam ein Mann auf ihn zu. »Entschuldigen Sie, aber ich vermisse zwei Männer, die mit mir in der Zelle waren.«
»Haben diese den Ruf nicht gehört, mit uns zu kommen?«, fragte Torsten.
»Doch, aber als sie zögerten, habe ich die Zelle als Erster verlassen. Nach mir kam nur noch diese Chinesin dort drüben heraus!« Shmuel Rodinsky zeigte auf Dai Zhoushe, die sich an ihren Mann klammerte, als wäre er ihr einziger Halt auf der Welt.
Torsten ahnte, was geschehen sein musste, und fragte Rodinsky: »Kennen Sie die Namen der Vermissten?«
»Nein! Der eine war ein englischer Geschäftsmann arabischer Herkunft und der andere ein Südamerikaner, der wie eine Mischung aus Fidel Castro und Che Guevara aussah.«
Damit konnten nur Manolo Valdez und Abu Fuad gemeint sein, daran hatte Torsten keinen Zweifel. Sein Blick wanderte erneut zu Dai Zhoushe, die so wirkte, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Dennoch musste es ihr gelungen sein, zwei der erfahrensten Agenten der Welt auszuschalten, ohne dass jemand es bemerkt hatte.
Noch während Torsten sich fragte, wie sie das bewerkstelligt haben mochte, gab das automatische System des U-Boots Alarm.
SECHZEHN
Espen Terjesen sah mit wachsendem Vergnügen der Fernsehreportage über die Ereignisse auf der Trollfjord zu. Eben gab der Moderator eine neue, noch krudere Verschwörungstheorie zum Besten. Die Nähe zu Russland, das Eindringen mehrerer russischer Schiffe in die norwegischen Hoheitsgewässer bei einem solchen Sturm sowie gezielte Falschinformationen durch die eigenen Leute hatten dazu geführt, dass rasch ein Schuldiger ausfindig gemacht worden war. Sogar die USA waren mittlerweile davon überzeugt, dass Russland hinter der Aktion steckte, und die Beziehungen der beiden Staaten waren innerhalb kürzester Zeit auf einen Stand gesunken, der dem des Kalten Krieges glich.
In einer solch aufgewühlten Atmosphäre würde niemand an International Energies denken, und wenn doch, dann galt die Firma allenfalls als Opfer jener Machenschaften. Die norwegischen Behörden verdächtigten Russland nämlich, auch den vermissten Terjesen entführt zu haben, um Informationen über die norwegischen Bohrprojekte im Polarmeer zu erpressen.
»Das läuft ja prächtig!«, sagte Espen Terjesen grinsend und streckte die Hand vor, um die Ruftaste des Labors zu drücken.
»Hallo Nastja! Was hältst du davon, deine Experimente für eine gewisse Zeit zu unterbrechen und einen Drink mit mir zu nehmen?«, fragte er und sagte sich, dass es nicht bei dem Drink bleiben würde. Sein Bett war groß, und der Gedanke, eine Frau in dieser Tiefe zu lieben, hatte immer noch etwas Verführerisches an sich.
Er erhielt jedoch keine Antwort.
»Nastja, was ist? Melde dich!«, rief er um einiges lauter ins Mikrofon der Sprechanlage.
Auch jetzt reagierte die Russin nicht.
»Vielleicht ist sie in ihrem Zimmer«, murmelte er und wählte diesen Raum an. Doch auch dort gab es kein Zeichen, dass Nastja seinen Ruf empfangen hatte.
Espen Terjesen versuchte es in zwei weiteren Räumen, dann rief er die Sicherheitszentrale an. »Hallo Rune! Kannst du nachsehen, wo Nastja ist?«
»Kann ich machen. Aber geben Sie mir keine Schuld, wenn sie gerade auf der Toilette sitzt oder unter der Dusche steht!« Rune Skadberg schaltete grinsend auf seiner Konsole herum, bis er sich schließlich verwirrt bei seinem Chef zurückmeldete. »Ich finde Frau Paragina nirgends.«
Espen schüttelte irritiert den Kopf. »Schau mal in den Räumen meines Bruders nach. Vielleicht hat er ihr den Zugangscode gegeben.«
»Sie wissen, dass der Chef das nicht mag«, wehrte Skadberg ab.
»Er mag es noch weniger, wenn Nastja verloren geht.« Noch war Espen weniger besorgt als verärgert, weil die Frau nicht auf seine Rufe reagiert hatte.
»Vielleicht hat sie sich verletzt und ist zum Arzt gegangen.«
Dies erschien Rune Skadberg die plausibelste Lösung, und er schaltete um auf die Krankenstation. Dort sah er aber nur den Arzt und den verletzten Gefangenen beim Schachspiel. Schon wollte er Espen durchgeben, dass Nastja auch dort nicht zu finden sei. Da glitt sein Blick zufällig über die Uhr der Krankenstation. Verwirrt kniff er die Augen zusammen. Laut Digitalanzeige dort sollte es 11:38 Uhr sein, doch auf seiner Computeruhr stand klar und deutlich 12:57 Uhr.
»Teufel, da stimmt was nicht!«, stieß er hervor und schaltete hektisch an seinen Kontrollen herum. Es dauerte einige Sekunden, dann hatte er sich direkten Zugriff zu den Überwachungskameras der Krankenstation verschafft. Deren Uhr zeigte jetzt die gleiche Zeit an wie sein Computer. Dafür aber waren der Arzt und der Gefangene verschwunden. Misstrauisch geworden überprüfte Skadberg weitere Überwachungskameras und entdeckte, dass einige davon ebenfalls manipuliert worden waren.
Mit erschrockener Miene meldete er sich wieder bei Espen. »Herr Terjesen, wir haben ein Problem!«
»Was ist los?«
»Irgendjemand hat in unserem Computer herumgepfuscht.«
»Unmöglich! Die Programme habe ich selbst geschrieben.« Trotz seiner Worte wurde Espen bleich wie frisch gefallener Schnee. So rasch er konnte, verließ er sein Quartier und eilte zur Zentrale. Dort traf er Skadberg und die anderen Männer in heller Aufregung an.
»Ich habe einen Trupp zu den Gefangenenzellen geschickt. Doch der Zugang zum Gang ist blockiert«, erklärte Skadberg hastig.
»Lass sehen!« Espen zerrte den Mann von seinem Stuhl und nahm selbst darauf Platz. Er begriff sogleich, dass einige Programme nicht so abliefen, wie von ihm geplant. Er überbrückte einige Computerroutinen und sprach die Überwachungskameras direkt an. Sofort verschwanden die drei Männer und die zuletzt gefangene Chinesin vom Bildschirm, und er sah nur noch zwei reglos am Boden liegende Gestalten. Der dritte Mann und die Frau waren verschwunden. Als er die nächste Zelle aufrief, war diese vollkommen leer.
»Verdammt, das ist doch nicht möglich!« Ein paar Augenblicke lang wurde ihm vor Schreck schwindelig, dann aber schlug er wütend auf die Konsole. »Ihr Idioten! Was habt ihr hier gemacht? Vielleicht Pornofilme angesehen? Auf die Station habt ihr jedenfalls nicht geachtet!«
»Aber die Anzeigen und Bildschirme waren vollkommen normal«, verteidigte Skadberg sich und seine Männer.
Espen Terjesen ging nicht darauf ein, sondern schaltete mehrere Programme ab, die ganz offensichtlich gehackt worden waren, und konfigurierte die Außenbordkameras neu. Schon auf den ersten Blick sah er, dass die Midgardsormr nicht mehr an der Stelle lag, an der sie angedockt hatte.
Jetzt geht es ums Ganze!, durchfuhr es ihn, und er brüllte Skadberg an. »Sofort sämtliche Ortungsgeräte einschalten!«
Dieser starrte ihn verblüfft an, denn darauf hatten sie bisher bewusst verzichtet, um nicht durch einen dummen Zufall von außen angemessen zu werden.
Bevor er jedoch widersprechen konnte, blaffte Espen ihn an. »Mach schon!«
Mit einem flauen Gefühl im Magen gab Skadberg den Befehl durch und hörte schon nach wenigen Sekunden einen überraschten Ausruf des Mannes am Echolot.
»U-Boot eine halbe Meile südlich, entfernt sich mit mittlerer Geschwindigkeit. Außerdem schwimmt ein Tauchboot davon.«
»Das Tauchboot ist im Moment uninteressant. Wir müssen unbedingt das U-Boot erwischen. Gib Alarm! Halldorsen soll die Fenrisulfr fertigmachen. Ich bin gleich bei ihm.«
Espen verließ in aller Eile die Zentrale und rannte den Gang entlang. Mit einem Mal ging ein Ruck durch die Station. Er prallte gegen die Wand, fluchte und lief weiter.
Rune Skadberg starrte entsetzt auf die Anzeige, die ihm verriet, dass die Flutventile eines der Ballasttanks geöffnet worden waren. »Sofort wieder schließen!«, brüllte er seine Männer an.
Diese arbeiteten hastig, dennoch schien es endlos lange zu dauern, bis sie die Ventile wieder unter Kontrolle hatten.
»Wir sind um zwanzig Meter abgesackt«, gab ein Mann durch.
»Ausblasen!«, befahl Skadberg.
Da bewegte sich die Station erneut, und er musste sich festhalten, um nicht zu stürzen. »Was ist jetzt los?«
»Die Ventile zweier weiterer Ballasttanks sind offen!« Noch während der Mann es sagte, versuchte er, diese wieder zu schließen.
Es war wie beim Wettlauf zwischen Hase und Igel. Wer auch immer die Flutventile manipulierte, war den Männern in der Station stets eine Nasenspitze voraus.
»Wir sind jetzt schon auf sechshundert Meter Tiefe und müssen die Befestigungskabel einholen, wenn wir das Bohrgestänge nicht riskieren wollen«, erklärte der für die Bohranlage zuständige Techniker.
»Können wir nicht die Ballasttanks ausblasen und wieder bis zur normalen Höhe aufsteigen?«, wollte Skadberg wissen.
Der Techniker schüttelte den Kopf. »Wir haben Tank vier bereits das zweite Mal ausgeblasen. Wenn wir so weitermachen, gehen uns die Pressluftvorräte aus, und du weißt, was das bedeutet!«
»Dann kriegen wir die Station überhaupt nicht mehr hoch!« Das war das Schreckensszenario, welches sie seit ihrer Ankunft auf der Station verfolgte. Keiner wollte tief unten auf dem Grunde des Meeres eingeschlossen sein, ohne dass es eine Möglichkeit gab, jemals wieder nach oben zu kommen. Die drei Tauchboote würden ihnen dort unten nicht helfen, denn diese konnten maximal sechs Leute aufnehmen und kamen mit der Ladung ihrer Akkus kaum weiter als bis zu ihrem Stützpunkt auf Nordaustlandet. Das wären achtzehn Männer von hundert, die sich auf der Station befanden. Ihr letztes U-Boot, die Ymir, war nicht für den Druck in großer Tiefe ausgerüstet und würde schon bald von den Wassermassen zerdrückt werden.
»Wie lange haben wir noch Zeit?«, fragte Skadberg mit verkniffener Miene.
»Vielleicht noch eine halbe Stunde. Danach wird es brenzlig.«
Skadberg nickte, als müsse er einen Beschluss bekräftigen. »Wir warten noch zwanzig Minuten. Gelingt es uns bis dahin nicht, die Station zu stabilisieren, müssen wir sie evakuieren.«
»Aber das wird Espen Terjesen nicht wollen«, wandte Bjarne Aurland entsetzt ein. Er hatte geschlafen, war aber beim ersten Absacken der Station aufgewacht und noch im Pyjama in die Zentrale geeilt.
Skadberg wandte sich mit eisiger Miene zu Aurland um. »Wir haben mit International Energies einen Vertrag abgeschlossen, für sie zu arbeiten, aber nicht, für die Firma zu krepieren. Außerdem ist Espen Terjesen selbst schuld. Er hätte diesen Unsinn mit der Trollfjord niemals anfangen sollen. Die Terjesens können später ein Team mit stärkeren Tauchbooten und genügend Pressluftflaschen zur Station schicken und diese wieder heben lassen.«
Mittlerweile war auch Hemsedalen in den Kontrollraum gekommen. Er kochte immer noch vor Wut, weil er dieser Halbasiatin auf den Leim gegangen war. Die angebliche Minibombe hatte sich als simple Zweikronenmünze entpuppt. Doch als er Skadberg zuhörte, bekam er auf einmal Angst. »Und wenn das Schwein, das sich in unseren Computer eingehackt hat, eines der normalen Schotts öffnet und die Station vollläuft?«
Skadberg antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Die Station hat mehr als einhundert Schotts und Schleusen. Da hätte der Kerl viel zu tun, und das kann er nicht, wenn wir die Station vollkommen abschalten, bevor wir gehen.«
»Und warum schalten wir nicht gleich jetzt alles ab, um diesen Kerl loszuwerden?«, fragte Aurland.
»Weil du in dem Fall nicht einmal mehr die Toilettenspülung betätigen kannst! Wir wären hilflos hier unten eingesperrt! Dass wir unser Computersystem wieder hochfahren könnten, nachdem es gehackt worden ist, halte ich für zweifelhaft.«
Rune Skadberg wandte Aurland den Rücken zu, schaltete die allgemeine Rufanlage ein und wies die Männer der Station an, sich für eine rasche Evakuierung bereit zu machen. Er wusste selbst, dass es nicht einfach sein würde, so viele auf der Ymir und den verbliebenen Tauchbooten unterzubringen, und fluchte insgeheim auf Espen Terjesen, der mit der Fenrisulfr aufgebrochen war, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was mit der Station passierte.
SIEBZEHN
Während Petra die Tanks der Station immer wieder flutete, um Terjesens Männer davon abzuhalten, etwas gegen die geflohenen Gefangenen unternehmen zu können, schwebte Henriettes Tauchboot hinter der Midgardsormr her. Etwa fünfzig Meilen würde sie das U-Boot begleiten, dann aber den Kontakt zur U-34 suchen, die auf Wagners Anregung ins Nordmeer geschickt worden war, und mit ihrer Gefangenen auf dieses Boot umsteigen. Ein kurzer Blick zeigte ihr, dass Nastja Paragina sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben schien. Das machte die Dinge einfacher, denn sie hätte die Russin sonst fesseln müssen, damit diese nicht in die Steuerung des Tauchboots griff oder auf sie selbst losging.
Etwa eine halbe Meile vor dem Tauchboot zog die Midgardsormr ihre Bahn. Der von Petra programmierte Autopilot funktionierte einwandfrei und hielt das U-Boot auf Kurs.
Ein ganzes Stück zurück, aber auf voller Leistung laufend folgte Espen Terjesen mit der Fenrisulfr dem fliehenden U-Boot und ließ dabei die Abstandsanzeige nicht aus den Augen.
»Wir kriegen ihn!«, sagte er bereits zum dritten Mal zu Halldorsen, der neben ihm stand.
Der U-Boot-Kapitän nickte. »In spätestens zehn Minuten haben wir aufgeschlossen. Aber was machen wir, wenn die Midgardsormr auftaucht, um einen Funkspruch abzusetzen?«
»Wir schießen sie ab!« In seiner Wut, überlistet worden zu sein, war Espen Terjesen zu allem bereit. Zudem war ihm klar, dass sich die geflohenen Agenten kein zweites Mal mehr einfangen lassen würden. Unter Wasser war es mit ihrer Ausrüstung unmöglich, das andere U-Boot zu entern. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass die Verfolgten auftauchten und um Hilfe funkten. Erst jetzt fiel ihm die spurlos verschwundene Nastja wieder ein. Was war, wenn sie sich auf dem entführten U-Boot befand? Einen Moment schwankte er, dann aber verzog er das Gesicht. Sie mochte eine exzellente Wissenschaftlerin sein und eine aufregende Geliebte. Doch auch sie war ersetzbar. Als eine seiner ersten Aktionen in der Station hatte er heimlich ihre Forschungsdaten im Laborcomputer kopiert. Diese Daten befanden sich jetzt auf einem unscheinbaren USB-Stick in seiner Hosentasche. Damit war Nastja im Grunde überflüssig, und – was noch besser war – mit diesen Daten besaß er endlich die Macht über seinen Bruder. Von diesem Gedanken erfüllt, wandte er sich an den Kapitän und wiederholte seinen Befehl.
»Wir schießen sie auf jeden Fall ab. Torpedos bereit machen! Sollte jemand etwas bemerken, wird man es den Russen in die Schuhe schieben. Und jetzt gebt Gas!«
Halldorsen sah ihn kurz an und zuckte dann mit den Schultern. »Es ist Ihre Entscheidung! Aber die werden Sie mit Ihrem Bruder ausmachen müssen.«
Ohne Zögern erteilte er den Befehl, den ersten Torpedo abschussfertig zu machen.
Während die Fenrisulfr immer weiter aufholte, kaute Espen Terjesen sich die Fingernägel ab. Ihm war klar, dass sein Bruder diese Sache ihm anlasten würde. Vielleicht würde Torvald ihm sogar verbieten, ihren internen Geheimdienst weiterzuführen. Zum ersten Mal überkam ihn das Gefühl, sich mit der Aktion auf der Belkowski-Insel und deren Folgen übernommen zu haben. Sogleich schüttelte er diesen Gedanken wieder ab. Es brauchte nur einen Torpedotreffer, dann war der letzte Beweis seiner Verstrickung in diese Affäre beseitigt.
»Wir feuern, sobald es möglich ist!«, wies er Halldorsen an und ballte die Faust. Bislang war er immer Sieger geblieben, und das würde nach dem heutigen Tag nicht anders sein.
ACHTZEHN
Wir werden verfolgt und angepeilt«, meldete der Chinese, der die Kontrollen der Midgardsormr überwachte.
»Was heißt das?«, fragte Anthony Rumble nervös.
»Wenn wir Pech haben, schießen sie uns ab«, antwortete Torsten grob.
John Thornton sah ihn besorgt an. »Glaubst du, das fremde U-Boot ist bewaffnet?«
»Auf unser Flugzeug haben sie jedenfalls nicht mit Erdnüssen geschossen. Allerdings ist ein schweres MG leichter zu bekommen als Torpedos. Also sollten wir beten, dass sie keine an Bord haben.«
Torsten hätte liebend gerne mit Petra Kontakt aufgenommen, um die automatische Steuerung abzuschalten, doch seit sie sich von der Unterwasserstation und damit auch von deren Funkbojen gelöst hatten, gab es keine Verbindung mehr. Sie würden nicht einmal ausweichen können, wenn die anderen auf sie schossen. Das Einzige, was ihnen zu tun blieb, war beten.
Auf der Fenrisulfr stieß Halldorsen einen triumphierenden Ruf aus. »Sie bleiben auf gleicher Tiefe. Wenn sie jetzt noch auftauchen wollen, sind wir schneller als sie!«
»Wie lange dauert es, bis sie in Reichweite sind?«, fragte Espen Terjesen.
»Keine sechzig Sekunden, achtundfünfzig, siebenundfünfzig …« Halldorsen zählte grinsend mit, während sein Waffenoffizier das verfolgte U-Boot anpeilte und auf den Abschuss wartete, als wäre dies alles nur ein Computerspiel. Die Männer an Bord der Fenrisulfr waren Söldner, denen es gleichgültig war, auf wen sie schossen. Hauptsache, sie wurden dafür bezahlt. Einige wie Kapitän Halldorsen genossen sogar die Macht, die ihre Waffen ihnen verliehen, und kosteten diese aus.
»Torpedorohr geflutet und abschussbereit«, meldete der Waffenoffizier, als der Kapitän bei drei angekommen war, und zählte die letzten Zahlen mit.
»Zwei, eins, Feuer!« Der Mann drückte den Abschussknopf und behielt den Lauf des Torpedos auf seinem Ortungsschirm im Auge. »Torpedo genau auf Kurs.«
Dann bemerkte er einen kleinen Reflex leicht seitlich der geplanten Torpedobahn und fluchte.
»Verdammt, da ist das verloren gegangene Tauchboot! Wenn die Zielsuche des Torpedos es erfasst, wird es ein Schuss in den Ofen.«
Halldorsen blickte ihm über die Schulter und schüttelte den Kopf. »Das Ding ist zu klein und weit genug weg. Der Torpedo läuft gut und wird die Midgardsormr in drei Minuten erreichen.«
»Dann sind die Kerle drüben erledigt«, stieß Espen Terjesen aus und heftete den Blick auf den kleinen roten Punkt auf dem Ortungsschirm, der das verfolgte U-Boot symbolisierte.
NEUNZEHN
Henriette bemerkte den Abschuss des Torpedos als Erste und erschrak bis ins Mark. Damit hatte Petra sicher nicht gerechnet! Allerdings konnte sie ihrer Kollegin keinen Vorwurf machen. Die Vorstellung, dass sich hier private U-Boote mit voller Bewaffnung herumtrieben, war absurd. Trotzdem hatten diese Kerle ihr Flugzeug abgeschossen und würden, wenn nicht etwas Überraschendes geschah, auch Torsten und die befreiten Gefangenen mit einem Schlag vernichten.
Ein paar Sekunden lang beobachtete Henriette die Bahn des Torpedos auf dem kleinen Ortungsschirm des Tauchboots. Dann packte sie den Steuerhebel und schob den Geschwindigkeitsregler ganz nach vorne. Das Tauchboot wurde schneller und näherte sich dem Kurs, den der Torpedo eingeschlagen hatte.
»Was machen Sie da?«, fragte Nastja erschrocken. Zwar begriff die Russin nicht genau, was draußen geschah, merkte aber an Henriettes Miene, dass etwas vorging, was ihnen gefährlich werden konnte.
»Jetzt wird sich herausstellen, ob ich die Computersimulationen für dieses Boot erfolgreich geübt habe!«, antwortete Henriette, ohne von ihren Kontrollen aufzusehen.
Sie kreuzte die Bahn des Torpedos, stellte anhand der Anzeigen fest, dass dessen Zielerfassung sich auf sie richtete, und schlug den ersten Haken.
Der Torpedo war zu schnell, um ihr sofort folgen zu können, und musste daher eine weitaus größere Kurve ausfahren als sie. Aber er kam mit der mehrfachen Geschwindigkeit des Tauchboots hinter ihr her. Henriette stemmte die Linke gegen den Geschwindigkeitsregler, um die letzte Zehntelmeile an Tempo herauszuholen, und fragte sich gleichzeitig, wie lange sie das Geschoss ausmanövrieren konnte. Da fiel ihr Blick auf das Ortungsecho des verfolgenden U-Boots, und sie fasste einen verzweifelten Plan.
Inzwischen hatte der chinesische U-Boot-Fahrer auf der Midgardsormr den Torpedo ausgemacht und stieß einen Schrei aus. »Wir werden beschossen!«
Torsten starrte auf den Bildschirm, auf dem ein roter Punkt den rasch aufkommenden Torpedo anzeigte. »Können wir ausweichen?«
Der Chinese schüttelte den Kopf. »Nicht, solange der Autopilot das U-Boot steuert! Aber andernfalls hätten wir auch keine Chance.«
Sofort vergaß Torsten den Vorwurf, den er Petra machen wollte, und sagte sich, dass sie mit einer solchen Situation nicht hatte rechnen können. Wie es aussah, hatten die Terjesen-Brüder sich eine private Kriegsmarine aufgebaut, um ihren Stützpunkt verteidigen zu können. Noch während er überlegte, welche Chancen ihnen noch blieben, sah er, wie das Tauchboot, auf dem sich Henriette befinden musste, den Kurs des Torpedos kreuzte und diesen von ihrem U-Boot ablenkte.
»Bist du verrückt geworden!«, schrie er, obwohl sie ihn nicht hören konnte.
»Frau von Tarow ist eine große Kriegerin«, hörte er eine leise Stimme neben sich. Als er sich umdrehte, sah er Dai Zhoushe hinter sich stehen. Sie wirkte ernst, hatte aber sichtlich Hoffnung geschöpft.
Ihr Landsmann winkte niedergeschlagen ab. »Sowie der erste Torpedo fehlgegangen ist, werden sie einen zweiten auf uns abfeuern. Unsere Verfolger sind schneller als wir und können uns jederzeit vernichten.«
»Vielleicht auch nicht«, stieß Dai Zhoushe aus und wies mit dem Daumen auf den Ortungsschirm. Dort sah man, dass das Tauchboot auf das verfolgende U-Boot zuhielt und den Torpedo hinter sich herzog.
»Henriette, du bist tatsächlich verrückt!«, stieß Torsten aus und krallte sich vor Anspannung an der Konsole fest.
Mittlerweile hatten Halldorsen und sein Waffenoffizier auf der Fenrisulfr gemerkt, dass der Torpedo die Richtung geändert hatte.
»Elender Mist! Der wird nur das Tauchboot treffen«, stieß der Kapitän hervor.
»Ich mache den zweiten Torpedo schussfertig. Mit dem kriegen wir die Kerle!« Ohne den Befehl abzuwarten, betätigte der Waffenoffizier seine Kontrollen.
Espen Terjesen schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie es aussieht, will das Tauchboot uns rammen, um uns aufzuhalten!«
»Keine Chance! Der Torpedo erwischt es vorher«, beruhigte ihn Halldorsen.
Für ihn war das Ganze wie ein Spiel zwischen Katze und Maus, bei dem er den Part der Katze übernommen hatte.
»Wir warten mit dem zweiten Torpedo, bis das Tauchboot erledigt ist und wir dessen Überreste hinter uns gelassen haben. Sonst knallt das Geschoss gegen eines der Trümmerstücke, und wir können es ebenfalls abschreiben. Danach würde es mindestens eine halbe Stunde dauern, bis wir den nächsten Torpedo schussfertig haben.«
Der Waffenoffizier zog die Hand wieder zurück und starrte wie die anderen auf den Ortungsschirm, um den Todeskampf des Tauchboots mitzuerleben.
Der Tod war der unsichtbare Begleiter jedes Geheimagenten im Einsatz, doch Henriette hatte nicht vor zu sterben. Sie reizte die Geschwindigkeit ihres Tauchboots bis zum Äußersten aus und verfolgte dabei, wie der Torpedo immer mehr aufholte. In weniger als zwanzig Sekunden würde er sie erreicht haben, dachte sie und fasste das Steuer mit beiden Händen.
»Festhalten«, rief sie Nastja zu, während sie das Steuer scharf nach links riss. Das Tauchboot war nicht besonders schnell, aber höchst wendig, doch einen solchen Haken wie jetzt hatte es noch nie geschlagen. Henriette wäre aus dem Stuhl geschleudert worden, hätte sie sich nicht mit einer Hand festgekrallt. Nastja war sogar gegen die Toilettentür geflogen und halbbetäubt zu Boden gesunken.
Doch Henriette musste ihr Augenmerk wieder auf den Torpedo richten. Dieser versuchte, dem Tauchboot zu folgen, war aber nicht wendig genug und zog wenige Meter an ihnen vorbei. Bevor er sie erneut anpeilen konnte, traf sein Suchstrahl auf die weitaus größere Fenrisulfr, und er schoss auf das neue Ziel zu.
Espen Terjesen hatte eine Explosion erwartet. Doch der Torpedo verfehlte das Tauchboot, änderte erneut seinen Kurs und hielt auf ihr U-Boot zu.
»Was ist los?«, fragte er Halldorsen.
»Verfluchte Scheiße!«, schrie der Kapitän. »Auftauchen, sofort!«
Sein Navigator drückte noch die entsprechenden Knöpfe, doch es war zu spät. Der Torpedo traf den Bug des U-Boots und explodierte.
Espen Terjesen sah, wie es auf einmal hell um ihn wurde, und er begriff, dass die ehrgeizigen Pläne, die sein Bruder und er geschmiedet hatten, endgültig gescheitert waren.
Dann zerriss eine Explosion das U-Boot.
ZWANZIG
Nachdem die Gefahr gebannt war, herrschte auf der Midgardsormr grenzenloser Jubel. Henriette atmete ebenfalls auf, doch als sie ihr Tauchboot wieder auf den richtigen Kurs brachte, zitterten ihr die Hände. Wasser, sagte sie sich, war nicht ihr Metier.
Sie aktivierte den Autopiloten, um sich um Nastja zu kümmern, die zusammengekauert am Boden saß. »Haben Sie sich verletzt?«
»Ich glaube nicht. Aber ich … Bei Gott, bin ich froh, dass es vorbei ist! Dieser Mann war bereit, über Leichen zu gehen.«
»Er ist über Leichen gegangen«, erklärte Henriette scharf. »Oder haben Sie die Toten von der Belkowski-Insel vergessen?«
»Wolkow und dieser aufgeblasene Amerikaner Bowman haben nur das bekommen, was sie verdienten!« Nastjas Stimme klang giftig. An diesem Gedanken hatte sie sich bisher festgehalten und wollte ihn auch nicht so einfach aufgeben.
»Und was ist mit denen, die mit ihnen gestorben sind, der Pilot des Flugzeugs und seine Crew, die Flugzeugpassagiere – oder die beiden Wachmänner des Instituts?«, fragte Henriette bissig.
Nastja senkte den Kopf, ging aber nicht auf ihre Worte ein. »Was werden Sie mit mir machen?«
»Ich bringe Sie in meine Heimat. Dort werden andere über Sie entscheiden.«
Damit war für Henriette alles gesagt. Ihr Tauchboot konnte auf die Dauer nicht mit der Midgardsormr mithalten, daher drosselte sie die Geschwindigkeit und stieg höher. Als sie weit genug oben war, nutzte sie die erste Lücke im Treibeis, um aufzutauchen, fuhr die Antenne das Tauchboots aus und suchte Kontakt mit Petra.
Es dauerte einige Augenblicke, bis ihre Kollegin sich meldete. Petra sah erschöpft, aber auch recht zufrieden aus. Als sie Henriette auf dem Bildschirm sah, strahlte sie über das ganze Gesicht. »Hat alles geklappt?«
»Wir hatten noch ein kleines Problem, aber das konnte ich lösen«, antwortete Henriette. »Torsten und die anderen sind auf dem Weg nach Longyearbyen. Meine Passagierin und ich würden ebenfalls gerne den Heimweg antreten.«
»Schaffst du es noch zweihundert Kilometer weit? Dann wäre die U-34 bei euch.«
Henriette warf einen Blick auf die Ladeanzeige der Akkus und nickte. »Zweihundert Kilometer sind drin. Welchen Kurs soll ich nehmen?«
»Nordnordwest! Im Süden treiben sich zu viele norwegische Schiffe herum. Die müssen ja nicht unbedingt etwas mitbekommen.« Petra zwinkerte Henriette kurz zu und gab einige Befehle in ihren Computer ein.
»So, in einer Viertelstunde weiß der Kapitän der U-34 Bescheid und wird euren Rendezvouspunkt ansteuern. Ich lege mich jetzt ein bisschen schlafen. Es war ganz schön anstrengend!«
»Danke, Petra! Das hast du gut gemacht«, lobte Henriette sie und beschloss, großzügig zu sein und den Torpedo nicht zu erwähnen.
Zweihundert Kilometer bedeuteten angesichts der Strömungsverhältnisse und einer vertretbaren Geschwindigkeit zwischen fünfzehn und achtzehn Stunden Fahrt. Das war genug Zeit, um ihre Gefangene besser kennenzulernen.
Während einer interessanten Unterhaltung verabschiedete Henriette sich von der Vorstellung, eine abgefeimte Verbrecherin vor sich zu haben. Im Grunde waren Nastja und sie einander nicht unähnlich. Wie sie selbst hatte auch die russische Wissenschaftlerin stets gegen Vorurteile ankämpfen müssen. Als Nastja schließlich von ihrem Vorgesetzten ausmanövriert und betrogen worden war, hatte dies sie zu einem leichten Opfer für den charmanten Espen Terjesen und seine Versprechungen gemacht.
Dem Norweger war es gelungen, sie zum Verrat an ihrem Land und zum Untertauchen zu bewegen, und er hatte die Opfer, die dies gekostet hatte, schöngeredet. Eine Zeit lang hatte Nastja sich mit ihrer Rolle als Rächerin für all die Benachteiligungen, die sie erlitten hatte, wohlgefühlt. Doch im Grunde strebte sie weniger nach dem Luxus, den Espen Terjesen ihr versprochen hatte, als nach Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistung.
Aber das, was geschehen war, konnte nicht so leicht unter den Tisch gekehrt werden. Daher vermochte Henriette nicht zu sagen, was mit Nastja Paragina in Zukunft geschehen würde. Froh, dass sie ihren Auftrag doch noch erfolgreich abgeschlossen hatte, aber angesichts von Nastjas Geschichte dennoch ein wenig melancholisch gestimmt, tauchte sie am verabredeten Punkt in einer Lücke im Eis auf und sah kurz darauf den dunklen Rumpf der U-34 neben sich aufsteigen. Es blieb ihnen nicht viel Zeit, auf das U-Boot überzuwechseln, denn die Eisschollen drohten bereits die Lücke wieder zu schließen. Daher behielt Henriette nur den Laptop, ihren Browning und Torstens Sphinx AT2000, ließ die erbeuteten Waffen zurück und sah Nastja auffordernd an. »Wir können gehen!«
Die Russin nickte und stieg als Erste aus der Luke. Die Hände mehrerer Matrosen der U-34 streckten sich ihr entgegen. Nach einem kaum unmerklichen Zögern ließ sie sich in das U-Boot helfen.
Mit einem letzten Blick auf das Tauchboot, mit dem sie so einiges erlebt hatte und das nun wohl vom Eisgang zerquetscht auf den Grund des Meeres sinken würde, folgte Henriette Nastja und sah sich kurz darauf dem Kapitän der U-34 gegenüber.
»Willkommen an Bord«, grüßte er.
»Danke!« Henriette fühlte sich mit einem Mal unendlich müde und erschöpft. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne hinlegen. Die letzten Tage sind arg anstrengend gewesen. Kümmern Sie sich inzwischen um meine Begleiterin. Ich will nicht, dass sie uns verloren geht!«
»Was hier auf dem U-Boot kaum möglich sein wird«, antwortete der Kapitän lachend und wies einen Matrosen an, eine Kabine mit zwei Betten für die beiden Frauen fertigzumachen.
EINUNDZWANZIG
Der von Petra programmierte Autopilot steuerte die Midgardsormr bis wenige Kilometer vor den Hafen von Longyearbyen. Für die restliche Strecke übernahm der chinesische U-Boot-Fahrer das Steuer. Dieser erledigte seinen Job so routiniert, dass Torsten sich fragte, ob nicht auch die Chinesen geplant hatten, Nastja Paragina mit einem U-Boot zu entführen. Die einzige Person, die er danach hätte fragen können, war Dai Zhoushe, und die wich ihm beharrlich aus. Sie ließ auch nichts verlauten, was mit Abu Fuad und Manolo Valdez geschehen sein konnte. Ebenso wenig fragten sie oder ein anderer Agent nach Nastja Paragina. Da diese sich nicht an Bord des U-Boots befand, gingen wohl alle davon aus, dass sie in der Unterwasserstation zurückgeblieben war. Sie von dort herauszuholen überstieg jedoch die Möglichkeiten aller.
Kaum lag das U-Boot am Kai, wurde das Hafengebiet von norwegischen Polizisten weiträumig abgesperrt. Torsten wunderte sich nicht, an ihrer Spitze jenen Geheimdienstmann zu sehen, den er Olsen getauft hatte.
Bevor die Befreiten von Bord gehen konnten, galt es ein Problem zu lösen. Keiner von ihnen trug Kleidung, die für die arktischen Temperaturen geeignet war. Daher setzte Torsten erst einmal einen Funkspruch ab und forderte, ihnen Parkas, Pullover, Hosen, Schuhe und Unterwäsche zu bringen, damit sie sich entsprechend anziehen konnten.
Noch während er mit dem Mann im Hafenamt sprach, übernahm Olsen die Verbindung. »Was ist da los?«, bellte er ins Mikrofon. »Wir haben hier eine Meldung, dass eine unserer Ölplattformen evakuiert werden musste. Wenn Sie dahinterstecken, werden Sie dafür bezahlen!«
»Ich habe warme Kleidung bestellt, damit wir an Land gehen können. Bevor wir die nicht haben, erfahren Sie kein Wort!«
Olsens Antwort verriet Torsten, dass der Mann vor Wut fast platzte. Ohne sich davon beeinflussen zu lassen, wiederholte er seine Frage: »Was ist jetzt mit der Kleidung?«
Olsen begriff, dass er das Patt nur auflösen konnte, wenn er nachgab, und befahl, warme Kleidung zur Midgardsormr bringen zu lassen. Er kannte das U-Boot, da er bereits als Gast der Terjesen-Brüder damit gefahren war. Und weil die evakuierte Bohrstation den Terjesens gehörte, sah er Torsten und dessen Begleiter als Saboteure an, die zur Rechenschaft gezogen werden mussten. Entsprechend aufgebracht empfing er die Gruppe, als diese sich umgezogen hatte und das U-Boot verließ.
Torsten hörte sich Olsens Drohungen ein paar Sekunden an, dann unterbrach er ihn rüde. »Wir alle hier waren Gefangene einer Bande, die von Torvald und Espen Terjesen angeführt worden ist. Sollte sich herausstellen, dass die norwegischen Behörden die verbrecherischen Umtriebe dieser beiden Männer gedeckt oder gar unterstützt haben, wird Ihre Regierung der internationalen Öffentlichkeit einiges zu erklären haben. Außerdem wollen wir jetzt ins Warme und hätten auch nichts gegen eine ausreichende Mahlzeit und hinterher ein Badezimmer ohne Wanzen und Kameras einzuwenden. Haben Sie verstanden, oder muss ich deutlicher werden?«
Noch bevor Olsen etwas antworten konnte, schob sich John Thornton vor Torsten und sah den Norweger grinsend an. »Sie sollten diese Warnung ernst nehmen, mein Guter! Und noch etwas: Wenn Sie uns jetzt nicht in Ruhe lassen, werden Sie auf der schwarzen Liste etlicher Geheimdienste ganz weit oben stehen. Espen Terjesen und seine Kumpane Age Hemsedalen und Bjarne Aurland haben nicht nur Kapitän Andresen und seine Crew auf der Trollfjord ermordet, sondern auch einige unserer Leute. Sie können sich vorstellen, dass unsere Laune nicht die beste ist und so mancher unter uns Ihnen liebend gerne zu prachtvollen dritten Zähnen verhelfen würde!«
»Sie, das lasse ich mir nicht gefallen!«, schrie Olsen ihn erbost an.
Im selben Moment eilte sein Stellvertreter herbei und reichte ihm ein Funktelefon. »Oslo ist am Apparat! Sie schicken ein Flugzeug, um die Herrschaften abzuholen.« Danach wandte der Mann sich an Torsten, Thornton und die anderen Befreiten.
»Die norwegische Regierung bittet Sie, Berichte über die Ereignisse der letzten Tage zu erstellen, und entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten, die Sie dabei hinnehmen mussten.«
»Das klingt doch schon ganz anders als das Gebrüll dieses Moschusochsen«, sagte Torsten zu Thornton und ließ Olsen stehen.
ZWEIUNDZWANZIG
Das Quartier in Longyearbyen war akzeptabel, das Essen reichhaltig und deftig. Auch landete das Flugzeug, das die Gruppe abholen sollte, schon nach kurzer Zeit. Daher konnten Torsten und die anderen, die auf der Unterwasserstation gefangen gewesen waren, die arktische Wildnis bald verlassen. Rolsen nahm Torsten einfach mit. Der Mann war gut und zuverlässig, doch er brauchte eine Arbeit, bei der er nicht andauernd unter Stress stand. Da die Bundeswehr unter einem Mangel an qualifizierten Medizinern litt, würde der Mann dort gut aufgehoben sein.
Obwohl die Agenten zu teilweise verfeindeten Geheimdiensten gehörten, herrschte Waffenstillstand zwischen ihnen. Aber die Berichte, die sie schrieben, waren für die norwegische Regierung alles andere als angenehm. Die Wut darüber, dass die Terjesen-Brüder ihre Pläne unter den Augen der norwegischen Behörden hatten verfolgen können, kochte in den Befreiten. Auch Torsten überreichte dem sichtlich geknickten Olsen zwei Seiten, auf denen er aufgeschrieben hatte, was er den Norwegern zukommen lassen wollte. Durch ein Telefongespräch mit Wagner wusste er inzwischen, dass auch Henriette die ganze Sache gut überstanden hatte und sich mit Nastja Paragina auf dem Weg nach Deutschland befand. Aber das war etwas, das außer ihm niemanden hier etwas anging.
In Oslo trennten sich die Wege. Ein wenig bedauerte Torsten es, dass Dai Zhoushe ohne Abschied abreiste. John Thornton hingegen kam noch einmal auf ihn zu und reichte ihm grinsend die Hand. »Herzlichen Dank, du verrückter Kerl! Richte ihn auch deiner Kollegin aus. Die Frau passt zu dir. Was sie mit dem Tauchboot angestellt hat macht ihr so leicht keiner nach. Ich habe allerdings das Gefühl, als wäre sie nicht allein gewesen. Solltet ihr Deutschen in naher Zukunft ganz zufällig eine Möglichkeit zur Energiegewinnung aus dem im Meer gebundenen Methan entwickeln, würde mein Konzern sich freuen, wenn er mit einsteigen könnte.«
Torstens Miene blieb unbewegt. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Auf alle Fälle habe ich mich gefreut, dich wiederzusehen. Mach es gut! Wirst du mit Rumble und seiner Bande zusammen fliegen?«
»Nein, ich habe einen anderen Flug gebucht. Die Zeit, die ich mit Rumble und Shears verbringen musste, reicht mir vollkommen. Es war mir zu viel Rumble, musst du verstehen«, antwortete Thornton mit einem Wortspiel und schüttelte dann den Kopf. »Ich würde mein Gehalt für die nächsten drei Jahre hergeben, um zu erfahren, wie du und deine Kollegin das fertiggebracht habt.«
»Sei vorsichtig! Ich könnte es dir sonst erzählen.«
Torsten verabschiedete sich lachend und ging auf die Sicherheitsschleuse zu. Nach all der Aufregung der letzten Tage wollte er mit seinen Gedanken allein sein. Doch kaum hatte er das Gate für den Flug nach München erreicht, sah er Daisy und Viktor Brünger vor sich und wurde von diesen mit Fragen bombardiert.
Unterdessen beobachtete John Thornton, wie Anthony Rumble und der Chef des US-Heeresgeheimdienstes mit ihren Teams jenem Gate zueilten, das für spezielle Gäste reserviert war, und wunderte sich, dass Sally Marble fehlte. Kurz darauf sah er die junge Frau unschlüssig in seiner Nähe stehen. Sie wirkte niedergeschlagen und schien geweint zu haben. Rasch ging er auf sie zu und sprach sie an. »Was ist denn mit Ihnen los, Sally?«
»Kann ich mit Ihnen sprechen, John?«, fragte sie bedrückt.
»Jederzeit!«
»Es ist … Sie wissen doch, ich sollte Valdez ausschalten. Inzwischen habe ich erfahren, dass ich in die falsche Kabine geraten bin und einen unbeteiligten deutschen Touristen umgebracht habe! Darüber komme ich nicht hinweg.« Sallys Lippen zitterten, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
John tat sie leid. Wie es aussah, war sie nicht hart genug für ihren Job. Mit einer sanften Bewegung zog er sie an sich und strich ihr über das Haar.
»Sie trifft keine Schuld, Sally. Diese Sache hat Rumble zu verantworten, der unbedingt einen Schnellschuss aus der Hüfte abfeuern wollte, und seine Halbaffen, die sich von Manolo Valdez an der Nase herumführen ließen und Ihnen die falsche Kabinennummer genannt haben.«
»Das sage ich mir ja auch«, antwortete Sally leise. »Doch es ändert nichts an der Tatsache, dass ich einen Unschuldigen getötet habe.«
»Für Männer wie Rumble und Shears ist der Mann nichts weiter als ein Kollateralschaden, weil er zur falschen Zeit die falsche Kabine gebucht hatte.« John warf einen verächtlichen Blick in die Richtung, in der Rumble mit seinem Team verschwunden war, und sah wieder Sally an. »Was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich habe Mr. Rumble gesagt, dass ich diesen Job nicht länger machen kann. Er meint, ich sollte es mir noch einmal überlegen, aber mein Entschluss steht fest. Deshalb wollte ich fragen, ob Sie mir nicht zu einem Job verhelfen könnten, der besser zu mir passt!«
John spürte, dass es Sally höchst unangenehm war, bitten zu müssen, freute sich aber auch über das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte. Nachdenklich nickte er. »Ich könnte eine Assistentin brauchen, die so gut mit dem Computer umgehen kann wie Sie, Sally. Wenn Sie wollen, gehen wir jetzt gemeinsam zum Flugschalter und lösen das Ticket für Sie!«
»Danke, John!«, antwortete sie, und zum ersten Mal stahl sich der Anflug eines Lächelns auf ihr Gesicht.
DREIUNDZWANZIG
Die Weihnachtszeit war vorüber, doch Hans Borchart schmückte den Aufenthaltsraum ihres Hauptquartiers mit Strohsternen, Tannenzweigen und Lametta. Auf dem Tisch brannten alle vier Kerzen des Adventskranzes, und aus einem großen Topf drang der süßliche Duft von Glühwein. Gerade stellte er noch zwei Schalen mit Plätzchen und Lebkuchen hinzu.
»Glaubst du, dass es reicht?«, fragte er Petra Waitl über die Schulter hinweg.
Diese hatte es sich auf der Liege bequem gemacht und spielte auf ihrem Computer Spider Solitär. Nun hob sie den Kopf und nickte. »Das sieht doch gut aus! Es ist nur schade, dass wir keinen Tannenbaum haben. Aber der würde an einem zehnten Januar vielleicht doch etwas übertrieben wirken.«
»Wir feiern Weihnachten eben zum Zeitpunkt der orthodoxen Kirche«, erklärte Hans, ohne genau zu wissen, wann deren Gläubige Christi Geburt begingen.
Franz Xaver Wagner steckte den Kopf zur Tür hinein. »Sind Sie so weit, Borchart? Unsere beiden Helden werden gleich eintreffen. Ich habe eben einen Dienstwagen des Kanzleramts auf den Parkplatz einbiegen sehen.«
»Wir sind fertig, Chef!«, antwortete Petra und bewegte die letzte Karte ihres Spieles. Danach schob sie die Konsole mit der Tastatur beiseite und blickte neugierig zur Tür.
Es dauerte noch einige Sekunden, dann hörten sie Schritte auf dem Gang. Kurz darauf kam Henriette von Tarow herein, sah die Weihnachtsdekoration und starrte Petra und die anderen erstaunt an. »Was ist denn hier los?«
»Da euer Weihnachten doch arg in die Hose gegangen ist, dachten wir, ihr würdet euch über eine kleine interne Feier mit uns freuen. Es gibt sogar ein paar Geschenke!« Hans wies grinsend auf einige Päckchen auf der Anrichte. »Erwartet aber nichts Weltbewegendes! Es handelt sich nur um ein paar Werbegeschenke, die uns das Kanzleramt hat zukommen lassen. Für Torsten ist es ein ledergebundener Planungskalender für das neue Jahr, und für dich eine winzige Flasche Parfüm.«
So ganz stimmte es nicht, denn auch Petra, Wagner und er hatten ihren beiden Freunden und Kollegen je eine Kleinigkeit besorgt. Doch das war im Augenblick nicht wichtig.
»Schön, dass ihr heil zurückgekommen seid!«, begrüßte Wagner Henriette und Torsten, der ihr leicht humpelnd gefolgt war.
»Ganz heil nicht! Der Arzt, der mich untersucht hat, meint, dass ich ein paar Wochen aussetzen muss«, antwortete Torsten griesgrämig.
Wagner winkte ab. »Es hätte viel schlimmer kommen können! Also seien wir froh, dass ihr wieder hier seid. Wollt ihr einen Glühwein?«
Der abrupte Themenwechsel brachte Henriette zum Lachen. »Gerne! Es ist wirklich nett, dass ihr extra eine Weihnachtsfeier für uns vorbereitet habt. Ich habe das Fest doch ein wenig vermisst.«
Während Hans die Tassen mit Glühwein füllte, setzten Henriette und Torsten sich an den Tisch und angelten sich je einen Lebkuchen.
»Es ist schön, wieder hier zu sein«, bekannte Henriette.
»Was ist eigentlich aus Nastja Paragina geworden?«, wollte Petra von Henriette wissen.
»Die wurde in Wilhelmshaven von Vertretern der Regierung unter die Fittiche genommen. Man will ihr die Gelegenheit geben, ihre Forschungen fortzusetzen und – wenn sich die Gemüter etwas beruhigt haben – mit den Russen und Amis Kontakt aufnehmen, ob man die Ausbeutung des Methans nicht gemeinsam in Angriff nehmen sollte. Man plant, die letzten Monate ihrer Biografie ein wenig zu glätten, so dass sie weder etwas mit dem Anschlag auf die Belkowski-Insel noch mit der Trollfjord zu tun hat.«
»Sie wird also für die Verbrechen, an denen sie beteiligt war, nicht zur Verantwortung gezogen.« Wagner klang mürrisch, denn schließlich war Nastja Paragina der Auslöser für den Tod etlicher Menschen gewesen.
Henriette zuckte mit den Schultern. »Der eigentliche Schurke war Espen Terjesen. Er hat Nastjas Gefühle ausgenutzt und sie immer tiefer in den Sumpf hineingezogen. Im Grunde war sie eher Opfer denn Täterin. Hätten ihre Vorgesetzten sie nicht um die verdiente Anerkennung gebracht, wäre das alles nicht passiert.«
Jetzt mischte sich Torsten ein. »Sie sollten das Thema nicht weiterverfolgen, Herr Wagner. Henriette hat die Wissenschaftlerin auch mir gegenüber schon glühend verteidigt. Erzählen Sie uns lieber, wie es in Norwegen weitergegangen ist.«
»Die dortigen Behörden waren, was die Verbrechen der Terjesen-Brüder angeht, zunächst noch recht ungläubig. Aber als ihre Küstenwache das U-Boot mit der Besatzung der Unterseestation aufgebracht und dessen Bewaffnung entdeckt hat, mussten sie uns glauben. Torvald Terjesen ist umgehend festgenommen worden, schiebt aber alle Verbrechen auf seinen toten Bruder. Ganz wird ihm dies allerdings nicht gelingen. Dafür ist seine Verstrickung in dessen Pläne zu offensichtlich.«
»Und was ist mit der Unterwasserstation der Terjesens, Herr Wagner?«, fragte Henriette.
»Die habe ich um insgesamt dreihundert Meter abgesenkt«, antwortete Petra an seiner Stelle. »Das hat gereicht, die Besatzung so in Panik zu versetzen, dass sie die Station verlassen hat. Sobald die Verhandlungen mit den Norwegern über die entsprechende Bergeprämie abgeschlossen sind, werde ich ihnen mitteilen, wie sie dieses Ding betreten und auf normale Arbeitshöhe heben können.«
Petra klang so zufrieden mit sich und ihrer Leistung, dass Henriette überlegte, ob sie ihr nicht doch von dem Torpedo erzählen sollte, dem Torsten und die anderen Befreiten beinahe zum Opfer gefallen wären. Dann aber dachte sie daran, dass ihre Freundin und Kollegin in einem Monat ihr Kind zur Welt bringen würde, und wollte ihr weitere Aufregung ersparen.
»Wie geht es dir eigentlich?«, fragte sie stattdessen.
»Besser als über Weihnachten«, sagte Petra lächelnd. »Ich habe noch mal die Frauenärztin gewechselt. Die neue drängt mir keinen idiotischen Diätplan auf, sondern sagt, ich könnte alles essen, was mir schmeckt, wenn auch in Maßen und nicht in Massen. Außerdem bin ich quasi schon im Schwangerschaftsurlaub und nur noch mal hereingekommen, um euch zu sehen. Die Zeit bis zur Geburt werde ich in einem Bundeswehrsanatorium verbringen und nebenbei ein wenig am Projekt ›Cyberwar‹ arbeiten. Die Kolleginnen und Kollegen, die damit beauftragt sind, warten schon händeringend darauf, dass ich zu ihnen stoße.«
»Du willst uns verlassen?«, fragte Henriette erschrocken.
Petra schüttelte den Kopf. »Ich bleibe natürlich bei der Gruppe. Aber die Hälfte der Zeit werde ich an ›Cyberwar‹ arbeiten.«
Während Henriette aufatmete, bemerkte Torsten einen verkniffenen Zug um Wagners Lippen und fragte: »Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten?«
»Nicht direkt«, erklärte Wagner mit einem freudlosen Lachen. »Unsere Erfolge haben sich herumgesprochen, und jetzt versucht der MAD, uns wieder einzugliedern, während der BND uns in seinen Stall stellen will. Noch sträubt sich der Kanzleramtsminister dagegen, aber unter einem Nachfolger dürften die Karten neu gemischt werden.«
»Es ist doch eigentlich gleichgültig, unter welchem Dach wir unsere Aufträge erfüllen«, wandte Henriette ein.
»Wir waren zu gut! Deshalb wollen sie uns als Ausbilder für ihre eigenen Leute haben«, erklärte Wagner grollend.
»Ehe ich grünen Jungs beibringe, wie sie sich als Geheimagenten benehmen sollen, kehre ich zur Luftwaffe zurück!«, stieß Henriette empört aus. »Da kann ich wenigstens fliegen!«
»Apropos fliegen! Die Staatssekretärin im Verteidigungsministerium und wahrscheinliche Nachfolgerin des Ministers fliegt in zwei Wochen nach Südamerika. Sie braucht jemand, der ihr die Gastgeschenke nachträgt, und ist auf Sie beide verfallen. Torsten dürfte bis dorthin wieder so weit hergestellt sein, dass er den Job erledigen kann, und Sie können sich mit den Kontrollen einer A380 vertraut machen. Zwar glaube ich nicht, dass Sie je so ein Ding fliegen werden, doch man weiß nie, was passiert. Aber jetzt trinkt euren Glühwein aus, bevor er kalt wird!«
»Ich kann nachschenken«, bot Hans an.
Sofort hielten ihm die anderen die Tassen hin. Sogar Petra trank eine Tasse mit, und für kurze Zeit traten alle Probleme und Sorgen in den Hintergrund. Wagner gelang es sogar zu grinsen, als er ein Kuvert in die Hand nahm und in die Höhe hob.
»Das hier ist von der Hurtigruten-Reederei. Sie lädt das Ehepaar Schmied sowie die Kapitänin zur See Petra Waitl als Dank für die Rettung der Trollfjord ein, die Reise Bergen – Kirkenes – Bergen als ihre verehrten Gäste zur Mittsommerzeit, also im Juni, in den beiden Reeder-Suiten mitzumachen.«
Während Henriette sofort den Kopf schüttelte und Torsten entsetzt abwinkte, leuchteten Petras Augen erwartungsvoll auf. »Eine Fahrt in die Mittsommernacht hinein habe ich mir schon immer gewünscht! Das wird gewiss herrlich, meint ihr nicht auch?«
Das Anschlagen der Haustürklingel enthob Henriette und Torsten einer Antwort. Hans eilte hinaus und kehrte wenige Augenblicke später mit einem kleinen Päckchen zurück. »Es war die Postbotin. Diese Sendung kommt aus China und ist an Henriette von Tarow und Torsten Renk gerichtet.«
»Gib her!« Ohne sich um die fragenden Blicke der anderen zu kümmern, nahm Torsten seinem Kollegen das Päckchen ab, las als Absender Dai Zhoushe und öffnete es.
»Pass auf die Briefmarken auf. Meine Nichte sammelt die«, bat Hans noch, da brachte Torsten auch schon ein Rollbild aus Seide zum Vorschein. Als er es ausrollte, war vor einer stilisierten chinesischen Landschaft ein roter Drache zu sehen.
Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch zeigte er das Bild und wandte sich an Henriette. »Glaubst du auch, was ich glaube?«
»Das ist ja der Hammer!«, stieß seine Kollegin hervor und sah ihn dann an. »Ob wir sie oder die anderen Geheimagenten auf der Trollfjord je wiedersehen werden?«
»Nicht, wenn uns der MAD oder der BND als Dresseure für ihren hoffnungslosen Nachwuchs krallt«, antwortete Torsten bissig.
Dann aber winkte er ab. »Ich glaube nicht, dass es dazu kommt! Dafür sind wir einfach zu gut!«
»Das sind wir«, stimmte Henriette ihm zu und stieß mit ihm an.
»Nachträglich noch fröhliche Weihnachten, Torsten, und darauf, dass dies nicht unser letzter gemeinsamer Auftrag war.«