EINS

Gennadi verschränkte die Hände hinter dem Kopf und grinste. »Endlich haben wir unsere Ruhe!«

»Mir wäre es lieber, ich könnte mit ins Flugzeug steigen und auch nach Moskau fliegen, anstatt weiterhin diese verdammte Baracke bewachen zu müssen. Die anderen durften alle mit, sogar das Kantinen- und Reinigungspersonal ist heute Vormittag mit einer Maschine weggebracht worden! Wahrscheinlich lachen die über uns, weil wir zurückbleiben müssen, und wer weiß, wann es diesen Sesselfurzern im Ministerium einfällt, eine Ablösung zu schicken«, antwortete sein Kollege Arkadi und stieß ein paar deftige Flüche aus. Dann zog er eine Bierdose hervor und riss sie auf. »Das hier und genügend Wodka sind das Einzige, das den Aufenthalt hier erträglich macht.«

»Gib mir auch eins!« Gennadi amüsierte sich über seinen Kollegen, der die geheime Forschungsanlage auf der Belkowski-Insel als Baracke bezeichnete. Dabei gehörten ihre Arbeitsbedingungen – abgesehen von der Kälte und der Einsamkeit – zu den besten in ganz Russland. Das Gehalt war ausgezeichnet, und die meisten Dinge des täglichen Lebens gab es zum Nulltarif, darunter auch das Bier. Den Wodka mussten sie aus dem Automaten holen, aber er war sagenhaft billig. Gennadi hatte bereits ein hübsches Sümmchen für die Zeit angespart, in der er nicht mehr beim Wachdienst des Innenministeriums arbeiten würde.

Er trank einen Schluck aus der Dose, die Arkadi ihm reichte, und deutete nach draußen, wo unverkennbar ein Schneesturm aufzog. »Die nächsten drei Wochen gehört der Laden uns, Arkadi Jurijewitsch. Die hohen Herrschaften fliegen alle nach Moskau und dann weiter nach Washington, um sich für ihre Entdeckungen feiern zu lassen. Doch solange die Tiefkühltruhen in der Kantine und die Regale im Laden noch gefüllt sind, kann ich gut warten, bis das Kantinenpersonal zurückkommt. Wir …«

Was auch immer Gennadi noch hatte sagen wollen, unterblieb, denn aus dem Schneetreiben schälte sich ein zu einem Raupenfahrzeug umgebauter Lada Niva heraus und blieb vor der Forschungsstation stehen. Verwundert sahen die beiden Wachmänner, wie die Türen des Wagens geöffnet wurden und zwei Personen ausstiegen. Es handelte sich um einen Mann in einem roten Anorak und mit einer Pudelmütze und eine Frau, die einen Polarfuchsmantel und eine passende Mütze trug.

»Das ist doch Dr. Paragina!«, rief Arkadi verblüfft aus. »Was will die noch hier? Sie sollte doch mit den anderen Wissenschaftlern nach Moskau fliegen.«

»Du kannst sie ja fragen«, spottete sein Kollege und ging zum Eingangstor, um der Wissenschaftlerin aufzuschließen. Diese trat mit einem Schwall kalter Luft und etlichen Schneeflocken auf Pelzmantel und Mütze ein.

»Es tut mir leid, dass ich Sie und Arkadi Jurijewitsch noch einmal stören muss. Aber ich habe gestern in der Aufregung etwas vergessen«, sagte sie und blockierte dabei die Tür so, dass auch ihr Begleiter eintreten konnte.

»Dr. Lebow aus Moskau«, stellte sie ihn vor. »Er ist mit dem Flugzeug gekommen, um uns abzuholen. Er kann doch bei Ihnen in der Sicherheitszentrale bleiben, während ich meine Sachen hole? Ich will ihn bei diesem Schneesturm nicht draußen im Auto warten lassen.«

»Das ist doch selbstverständlich, Frau Dr. Paragina.« Gennadi verschloss das Eingangstor wieder und bat den Fremden, mit ihm in den Nebenraum zu kommen. Die Wissenschaftlerin bedankte sich freundlich, trat an die Schleuse, die zu den inneren Räumen der Forschungsstation führte, und steckte ihre Codekarte in das Lesegerät.

Unterdessen hatte sein Kollege Arkadi eine weitere Bierdose aus ihrem Vorrat genommen. Jetzt sah er sich kurz zu ihrem Gast um, doch der stand noch an der Tür und kämpfte mit dem Reißverschluss seines Anoraks. Daher wandte Arkadi sich seinen Bildschirmen zu und beobachtete, wie Dr. Paragina in den Umkleideraum ging und sich dort bis auf Slip und BH auszog. Mit einer knappen Handbewegung winkte er seinen Kollegen zu sich.

»Das darfst du dir nicht entgehen lassen, Gennadi! Die Paragina ist wirklich ein Anblick, den man hier nicht oft geboten bekommt«, sagte er so leise, dass der Fremde es nicht hören konnte.

»Vor allem in den nächsten drei Wochen nicht!« Gennadi starrte nun ebenfalls auf den Bildschirm, auf dem Nastja Paraginas weibliche Reize deutlich zu sehen waren. Weder er noch sein Kollege achteten auf den Begleiter der Wissenschaftlerin. Dieser trat einen Schritt zurück, griff in eine Innentasche seines Anoraks und zog eine eigenartig geformte Pistole hervor. Als er schoss, gab diese zweimal einen schmatzenden Laut von sich. Die beiden Wachmänner rissen noch die Münder zum Schrei auf, sackten dann aber lautlos zusammen und blieben auf dem Boden liegen.

Mit einem zufriedenen Nicken steckte der Mann, der natürlich nicht Lebow hieß, seine Waffe weg, nahm Gennadi den Codeschlüssel für das Eingangstor ab und schleifte erst ihn und danach Arkadi nach draußen. Dort zerrte er die beiden toten Männer in eine Schneewehe und kehrte in die Sicherheitszentrale zurück.

Auf dem Bildschirm sah er, wie Nastja Paragina einen Overall mit Kapuze anzog und die Forschungsstation betrat. Dort fuhr sie mehrere Computer hoch, kopierte Daten auf eine externe Festplatte und das Wichtigste zur Sicherheit zusätzlich auf eine Speicherkarte und einen USB-Stick. Schließlich steckte sie eine andere Speicherkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz und speiste die Daten ein.

Mit einem Mal wurden alle Computer in der Forschungsstation einschließlich der beiden Anlagen in der Wachzentrale lebendig. Verwirrende Symbole flimmerten über die Bildschirme, und die Helligkeit in den Räumen schwankte, als gäbe es Probleme bei der Stromversorgung.

Der falsche Lebow nickte zufrieden, ging nach draußen und verkeilte das Eingangstor so, dass es nicht mehr zufallen konnte. Das Gleiche machte er mit der Sicherheitsschleuse, die sich nun auf beiden Seiten öffnen ließ. Danach wartete er auf Nastja Paragina.

Nach einer Viertelstunde tauchte die Wissenschaftlerin wieder mit Polarfuchspelz und Mütze bekleidet auf. Sie trug einen mit einem Sicherheitsschloss versehenen Aktenkoffer in der Hand.

»Ist alles gut gegangen, Espen?«, fragte sie.

»Natürlich! Die beiden Kerle haben sich so auf die Stripteaseshow konzentriert, die du ihnen geboten hast, dass sie für nichts anderes mehr Augen hatten. Und wie war es bei dir?« Obwohl der Mann gut russisch sprach, war nicht zu überhören, dass es sich nicht um seine Muttersprache handelte.

Nastja Paragina hob ihren Aktenkoffer in die Höhe. »Hier drin ist alles, was wir brauchen. Was die Daten in den Computern der Forschungsstation angeht, so frisst die gerade der Wurm – und den Rest erledigen Kälte und Schnee! Ich habe ebenso wie du hier die Türen verkeilt und die Fenster geöffnet. In einer halben Stunde ist die Station ein Eisschrank, und das Schöne ist: Niemand kann mehr feststellen, wer die gesamte Elektronik der Station zerstört hat!«

Zufrieden lächelnd verließ die Wissenschaftlerin die Anlage, die in den drei letzten Jahren ihr Zuhause gewesen war, und stapfte zum Wagen.

Espen folgte ihr und setzte sich ans Steuer. Obwohl seit ihrer Ankunft mehr als zehn Zentimeter Neuschnee gefallen waren, wühlte sich das mit Raupen ausgerüstete Fahrzeug mühelos durch die weiße Pracht. Als Nastja Paragina sich umblickte, gingen hinter ihnen in der Forschungsstation die letzten Lichter aus.

Gleichzeitig stieg seitlich vor ihnen ein Flugzeug in den Himmel empor. Durch das Schneegestöber konnten sie für einige Augenblicke die grünen und roten Blinklichter an seinen Tragflächen erkennen.

»Wie es aussieht, ist der Pilot wegen des erwarteten Schneesturms früher gestartet«, stellte der Mann lächelnd fest.

Nastja Paragina schickte dem Flugzeug einen nicht gerade freundlichen Blick nach. »Denen dort oben wünsche ich einen ganz besonderen Flug. Für uns hoffe ich, dass wir ohne Probleme von hier wegkommen.«

»Ich sehe den Hubschrauber schon kommen.« Espen zeigte nach vorne, wo ein Helikopter knapp über der aufgewühlten See heranschwebte und gut hundert Meter vor ihnen am Ufer aufsetzte.

Der Geländewagen bewältigte auch das letzte Stück, obwohl er sich durch mannshohe Schneewehen wühlen musste. Als er schließlich anhielt, stieg die Wissenschaftlerin aus und kämpfte sich durch den aufgewirbelten Schnee auf den Hubschrauber zu.

Espen stellte den Motor ab, kurbelte das Seitenfenster herab und legte den ersten Gang ein. Den Fahrzeugschlüssel ließ er stecken und zog auch die Bremse nicht an. Stattdessen schob er die Fußmatte so über das Gaspedal, dass dieses leicht eingedrückt wurde. Dann verließ er das Raupenfahrzeug, beugte sich noch einmal ins Auto hinein und startete den Motor. Während er zum Hubschrauber stapfte, rollte der Geländewagen über die Uferkante und versank in der schäumenden See.

Kaum saßen Nastja und Espen auf ihren Plätzen und hatten sich angeschnallt, zog der Pilot die Maschine hoch und steuerte sie aufs Meer hinaus.

ZWEI

In dem Flugzeug, das Nastja Paragina und ihr Begleiter beim Start beobachtet hatten, teilten die in hellblaue Uniformen gekleideten Stewardessen zur selben Zeit Sektgläser aus. Zwei Herren im vorderen Bereich der Maschine stießen bereits miteinander an.

»Auf unseren Erfolg, Prof. Bowman! Unsere Ergebnisse sind ein Meilenstein für die Energiegewinnung der Zukunft«, erklärte einer von ihnen in einem russisch gefärbten Englisch.

»Das sind sie in der Tat! Schade, dass Dr. Paragina nicht mitfliegen konnte. Eigentlich hat sie doch den größten Anteil an unserem Erfolg«, antwortete Bowman im Tonfall eines Amerikaners von der Westküste.

Sein Gegenüber lächelte verschmitzt. »Das ist wirklich sehr schade, Prof. Bowman. Aber ihr Geschlecht hat ihr einen Streich gespielt.«

Da Bowman irritiert den Kopf schüttelte, lehnte Prof. Wolkow sich mit der Miene eines Verschwörers zu ihm hinüber. »Sie hat sich heute Morgen bei mir wegen starker Menstruationsbeschwerden abgemeldet und kann deswegen nicht mit uns fliegen. Aber jetzt auf Ihr Wohl!«

Während Wolkow trank, dachte er, dass Nastja Paraginas Unwohlsein ihm ausgezeichnet in die Karten spielte. Andernfalls wäre es ihr womöglich doch gelungen, sich in den Vordergrund zu schieben, wenn in Moskau die Ergebnisse präsentiert wurden. So aber würde die Aufmerksamkeit hauptsächlich ihm gelten. Das bedeutete mehr Ansehen, mehr Gehalt, Auszeichnungen und einen höheren Posten im Institut. Mit einem zufriedenen Lächeln setzte Wolkow das Gespräch fort.

»Nastja hofft, noch rechtzeitig nach Moskau zu kommen, um mit uns gemeinsam in Ihre Heimat fliegen zu können. Doch ich halte es für fraglich, ob man extra ihretwegen ein Flugzeug zur Insel schicken wird. Wenn Nastja Pech hat, bleibt sie in der Station, bis wir zurückkommen.«

»Das wäre bedauerlich. Frau Dr. Paragina ist nicht nur eine exzellente Wissenschaftlerin, sondern auch eine sehr gutaussehende Frau. Ich hoffe, sie hat Ihnen sämtliche Unterlagen mitgegeben. Diese müssen sowohl in Moskau wie auch in Washington gesichert werden.«

»Keine Sorge, das hat sie!« Mit diesen Worten beugte Prof. Wolkow sich nach vorne und zog einen Aktenkoffer unter seinem Sitz hervor. »Mit Hilfe der Formeln, die in diesem Koffer stecken, werden wir das Methan der Weltmeere schon in naher Zukunft gewinnen und wie ganz normales Erdöl verwenden können. Unseren Berechnungen nach reichen die bekannten Methanvorräte in den Ozeanen für mehr als vierhundert Jahre. Dabei sind Meeresböden zum größten Teil noch unerforscht.«

Prof. Wolkow schüttelte den Koffer ein wenig und wollte ihn wieder unter seinem Sitz verstauen, als das Gepäckstück unter seinen Händen aufflammte. Erschrocken ließ er es los. Im nächsten Augenblick raste ein Energieblitz durch die Maschine. Auf einen Schlag fielen alle elektronischen Instrumente im gesamten Flugzeug aus.

Noch während der Kapitän im Cockpit auf die plötzlich schwarz gewordenen Anzeigen starrte, durchschlug der Blitz die Hülle des ersten Treibstofftanks, und das Kerosin explodierte. Die Tu-204SM wurde in Stücke gerissen und die Einzelteile über ein mehrere hundert Quadratkilometer großes Gebiet in der Laptewsee verstreut. Die Trümmer, die auf das Packeis gestürzt waren, begrub ein Schneesturm, der fünf Tage lang wütete und eine Suchaktion unmöglich machte.

DREI

Als Franz Xaver Wagner in den Flur trat, vernahm er bereits die Stimmen seiner Untergebenen aus dem Besprechungszimmer. Dem Tonfall nach war Henriette von Tarow wieder einmal verärgert. Im Allgemeinen war die junge Agentin kühl und beherrscht, doch wehe, sie fühlte sich unterbeschäftigt, wie es gerade der Fall war, oder gar missachtet. Seine Leute hatten schon mehrere Wochen keinen bedeutenden Auftrag mehr erhalten, und die eintreffenden Routineaufgaben hätten auch Petra Waitl und Hans Borchart erledigen können.

Wagner passte es ebenfalls nicht, nutzlos in seinem Büro zu sitzen. Dennoch erwog er, in den Aufenthaltsraum zu gehen und Henriette den Kopf zurechtzusetzen. Ihr Job brachte auch solche Phasen mit sich. Es konnte nicht nur Adrenalin steigernde Kicks geben, sondern auch ruhigere Zeiten. Dies war im Übrigen auch der Jahreszeit angemessen, denn am Tag zuvor war der zweite Advent gewesen. In diesen letzten Wochen des Jahres konnten sie Routinearbeiten erledigen, die liegengeblieben waren. Er wollte seinen Leuten auch raten, sie sollten die Gelegenheit nützen, nach den aufregenden Ereignissen des Sommers ihre Akkus wieder aufzuladen, zögerte aber noch. Torsten Renk würde sich mit Sicherheit auf Henriettes Seite schlagen, und zwei missgelaunte Untergebene wollte er sich nicht zumuten.

Daher berat Wagner zuerst sein Büro, schaltete seinen Computer an und zog den Mantel aus. Nachdem er auch seine Winterstiefel gegen bequeme Schuhe vertauscht hatte, blickte er auf den Bildschirm und erstarrte.

Drei Zeilen blinkten in grellem Rot, und drei Worte waren besonders hervorgehoben: »wichtig!« und »streng geheim!«.

Wagner setzte sich, rief die entsprechenden Mails auf und las sie mit wachsender Erregung. Danach blieb er einige Minuten lang starr am Schreibtisch sitzen und blickte ins Leere. Seine Gedanken rotierten, entwarfen Pläne und beförderten sie ebenso schnell wieder in seinen geistigen Papierkorb. Als ihm klar wurde, dass er alleine zu keinem vernünftigen Ergebnis kam, stand er auf und ging in den Aufenthaltsraum.

Seine Leute waren so ins Gespräch vertieft, dass sie ihn zunächst nicht bemerkten. Eben warf Torsten ein Blatt Papier mit einem Ausdruck höchsten Widerwillens auf den Tisch.

»Wagner kann nicht bei Trost gewesen sein, als er das zugelassen hat!«

»Worum geht es?«, fragte Petra Waitl, die Computerspezialistin im Team.

»Ich soll den Verteidigungsminister nach Kunduz begleiten und den armen Kerlen, die dort Dienst tun, Schokonikoläuse und Tannenzweige in die Hand drücken.«

Seine Kollegin Henriette von Tarow lachte spöttisch auf. »Warum soll es dir besser gehen als mir? Als ich letztens die Leibwächterin der Entwicklungshilfeministerin spielen und mit ihr nach Afrika fliegen musste, war es mein Job, die Gastgeschenke zu tragen.«

»Jetzt versucht nicht, euch gegenseitig mit Gräuelgeschichten zu übertreffen«, warf Hans Borchart ein, der in einer Ecke Torstens Sphinx AT2000 in ihre Einzelteile zerlegt hatte, um die einmalige Waffe zu pflegen.

»Daran ist nur dieser alberne Wettstreit zwischen dem MAD und dem Bundesnachrichtendienst schuld. Die einzelnen Abteilungen schnappen wie Kampfhunde nach jedem Auftrag, den sie kriegen können, nur um zu beweisen, wie wichtig und kompetent sie sind. Daher bleibt für uns nichts übrig, als Schokonikoläuse zu verteilen und Gastgeschenke zu schleppen! Dabei habe ich gedacht, nach der Sache in Somalia wären wir richtig im Geschäft. He, was soll das? Ich will das Ding nicht!«

Henriette war so sauer, dass sie Petra Waitls Hand beiseiteschob, als diese ihr einen Lebkuchen reichen wollte.

»Schokolade beruhigt die Nerven!«, erklärte die pummelige Computerspezialistin unbeeindruckt. Dann sah sie Henriette und Torsten kopfschüttelnd an.

»Ich weiß nicht, was ihr habt! Immerhin ist unsere Abteilung in das Projekt ›Cyberwar‹ einbezogen worden. Und der Job macht mir richtig Spaß.«

»Du sitzt ja auch den ganzen Tag am Computer und tust nichts anderes, als in die Tasten zu hauen«, antwortete Henriette verschnupft.

»Sag das nicht! Immerhin habe ich im Herbst meine Maschine zum Kopieren von Metallteilen verbessert und zum Patent angemeldet. Der Prototyp steht jetzt unten im Keller, und damit fertige ich jede Woche mindestens ein Dutzend Nachschlüssel für unsere Kollegen vom BND an.« Petra machte keinen Hehl daraus, dass sie sehr stolz auf ihre Leistung war.

Das brachte Henriette nur noch mehr auf. »Du solltest für uns arbeiten, nicht für die Konkurrenz!«

Jetzt hielt Wagner es für an der Zeit einzugreifen. »Die Leute vom BND sind nicht unsere Konkurrenz, sondern unsere Kollegen.«

»Pah!« Henriettes Antwort war kurz und deutlich. Dann verschwand sie und ließ Wagner kopfschüttelnd zurück.

»Irgendwie begreife ich nicht, dass Frau von Tarow sich danach sehnt, Kugeln um ihre Ohren pfeifen zu hören.«

»Das liegt an den Genen«, warf Hans Borchart ein. »Immerhin entstammt sie einer Soldatenfamilie, die bereits aktiv war, als die Cherusker unter Arminius die Legionen des Varus vernichtet haben. So etwas hinterlässt zwangsläufig seine Spuren in der Erbmasse.«

»Ihnen gebe ich auch gleich eine Masse – und zwar an Arbeit!«, knurrte Wagner. »Oder glauben Sie, der deutsche Staat zahlt Sie dafür, dass Sie Renks Privatartillerie in Schuss halten?«

»Gegen ein wenig Arbeit hätte ich nichts einzuwenden, auch wenn ich zu jenen gehöre, die ebenfalls für unsere Konkurrenz arbeiten, um Henriette zu zitieren. Petra hat mich nämlich in ihre Supermaschine eingewiesen, damit ich sie, wenn sie in Mutterschutz geht, vertreten kann.«

»Erinnern Sie mich nicht daran! Ausgerechnet jetzt, wo sie dringend gebraucht wird, müssen wir bald auf sie verzichten …«, stieß Wagner verärgert aus.

Weder er noch Hans achteten auf Torsten, der betont auf seinem Kaugummi herumkaute. Immerhin war er mitschuldig an Petras Zustand, denn sie waren sich bei einem Mallorca-Urlaub im Frühjahr nähergekommen, als es unter Kollegen allgemein üblich war. Zwar hätte er sich ohne Zögern zu seiner Vaterschaft bekannt, aber das wollte Petra nicht. Mittlerweile war sie Ende des siebten Monats und hätte eigentlich zu Hause bleiben und sich auf die Geburt vorbereiten sollen. Aber sie weigerte sich trotz aller Probleme, die ihr Zustand ihr angesichts ihres Übergewichts bereitete, es ruhig angehen zu lassen. Henriette hatte bereits gespottet, dass Petra selbst im Kreißsaal noch auf den Monitor starren und tippen würde.

Bei dem Gedanken an Henriette stand Torsten auf. »Ich schaue mal, was unser Generalstöchterlein macht.«

»Tun Sie das«, antwortete Wagner und drehte sich zu Petra um. »Frau Waitl, kommen Sie bitte in mein Büro und nehmen Sie Ihren Laptop mit. Es ist dringend und wichtig!«

Während die Computerspezialistin verschwand, um ihren Laptop zu holen, pfiff Hans Borchart leise durch die Zähne. »Das sieht ganz so aus, als müssten Henriette und Torsten sich bald nicht mehr darin übertreffen, wem es hier langweiliger ist.«

»Das wird man sehen«, knurrte Wagner und kehrte in sein Büro zurück. Wenige Augenblicke später walzte Petra herein. Sie war durch ihre Schwangerschaft noch unbeholfener als sonst und tat sich sichtlich schwer, ihren übergroßen Laptop samt der Ausrüstung zu schleppen, die sie für notwendig hielt.

Wagner sprang auf und half ihr, damit keines der Geräte zu Boden fallen konnte. »Sie hätten sich die Sachen von Borchart oder Renk hierhertragen lassen sollen«, tadelte er sie und schob ihr einen Schreibtischstuhl hin. »Ich muss dringend einige Fragen klären, und die Antworten, die Sie finden, werden wahrscheinlich noch mehr Fragen aufwerfen, denen Sie nachspüren müssen. Dabei ist es mir vollkommen gleichgültig, wie Sie an die Informationen gelangen. Alles, worüber wir gleich sprechen werden, unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Haben Sie verstanden?«

Petra wunderte sich zwar, warum sie hier in Wagners Büro arbeiten sollte anstatt an ihrem eigenen Schreibtisch, klappte aber ihren Laptop auf und sah ihren Chef grinsend an.

»Schießen Sie los!«

VIER

Torsten öffnete die Tür des Büros, das er mit Henriette teilte. Er war offensichtlich, dass seine Kollegin immer noch verärgert war.

»Wenn du nach Afghanistan fliegst, kannst du meinem Bruder Michael einen schönen Gruß von mir ausrichten. Er ist derzeit dort stationiert«, sagte sie.

Torsten verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen. »Nicht auch das noch! Dein Bruder Dietrich geht ja noch, vor allem, seit er seine afrikanische Frau geheiratet hat. Aber Michael – na ja, du weißt ja, was ich von ihm halte!«

»Ich gebe zu, dass er ein wenig schwierig ist, aber im Allgemeinen kann man ganz gut mit ihm auskommen.«

»Ja, wenn man ihn als den Größten ansieht und ihm überall den Vortritt lässt!« Torstens Stimme klirrte. Auch wenn seine letzte Begegnung mit Michael von Tarow schon länger zurücklag, hatte er die wilde Schlägerei, in der die Auseinandersetzung mit dem Mann geendet hatte, nicht vergessen.

Henriette wusste recht genau, was sich damals zugetragen hatte, aber sie hätte es gerne gesehen, dass der jüngere ihrer beiden Brüder und Torsten sich ausgesprochen und Frieden geschlossen hätten. Vielleicht ergab sich in Afghanistan eine Gelegenheit dazu, dachte sie und öffnete ihren Mailbriefkasten in der Hoffnung, es gäbe etwas Neues. Doch die meisten E-Mails waren entweder privater Natur oder unwichtig. Außerdem musste sie eine ganze Menge an Spammails löschen.

»Petra sollte sich lieber hierfür etwas einfallen lassen, als an dem albernen ›Cyberwar‹-Projekt mitzuarbeiten. Oder kannst du dir vorstellen, dass ich eine Penisvergrößerung brauchen kann?«, wandte sie sich schnappig an Torsten.

Dieser lachte, während er seine eigenen E-Mails überflog. »Mach dir nichts draus«, meinte er. »Mir bieten sie auch so einiges an. Aber dafür gibt es die Delete-Taste.«

»Es müsste alles automatisch entfernt werden!« Während Henriette eine Spammail nach der anderen löschte, schimpfte sie über die Absender und brachte Torsten damit zum Lachen.

»Was denn?«, fragte sie wütend.

»Eine ganz spezielle Art an Spammails enthält Informationen für uns, oder hast du das vergessen?«

»Nein, oder … Verflixt, jetzt habe ich eine davon gelöscht!« Henriette wechselte in den Papierkorb ihres E-Mail-Programms und rief die entsprechende Mail auf.

»Agent 66 wünscht uns einen schönen zweiten Advent. Ich lache später darüber!«, fauchte sie und löschte weitere Mails.

Eine Zeit lang herrschte Ruhe im Raum, dann klingelte auf einmal ihr Telefon. Wagner war am Apparat. »Sehen Sie zu, dass Sie umgehend in den Besprechungsraum kommen, und bringen Sie Renk mit.«

»Wir kommen gleich!« Henriette legte auf und zwinkerte Torsten zu. »Unser großer Guru klingt ganz danach, als wäre etwas im Busch.«

Torsten winkte verächtlich ab. »Wahrscheinlich will irgendein Minister samt Gattin oder Tochter einen Ausflug in ein anderes Land machen, und sie brauchen jemand, der ihm die Kamera und der Dame den Sonnenschirm hinterherträgt.«

»Sonnenschirm! Bei dem Wetter?« Henriette zeigte nach draußen. Dort fielen gerade dicke Schneeflocken vom Himmel.

»Es gibt auch Gebiete auf der Erde, in denen es um die Zeit nicht schneit, in der Sahara zum Beispiel oder in der Arabischen Wüste. Aber wir sollten unseren Meister nicht warten lassen.« Mit diesen Worten stieß Torsten sich von Henriettes Schreibtisch ab und ging zur Tür.

Sie folgte ihm und versuchte dabei, sich ihre Neugier nicht anmerken zu lassen. Ihr Vorgesetzter hatte nicht so geklungen, als handele es sich um eine Lappalie.

FÜNF

Nur Hans Borchart befand sich bereits im Besprechungsraum und teilte Tassen und Plätzchenteller aus.

Torsten starrte auf die Leckereien und knurrte wie ein gereizter Hund. »Will unser großer Guru etwa jetzt schon unsere Weihnachtsfeier abhalten?«

»Wie kommst du auf die Idee? Wir haben gerade mal den zweiten Advent«, antwortete Hans lachend.

»Bei dem Laden hier würde mich nichts mehr wundern!« Torsten nahm sich einen Lebkuchen und aß ihn. Dann drehte er sich zu Henriette um. »Sagte Wagner nicht etwas von umgehend? Jetzt sind wir schon eine halbe Ewigkeit hier, und er lässt auf sich warten.«

»Petra fehlt auch noch«, wandte Henriette ein. Um ihre Anspannung zu mindern, schenkte sie sich Tee ein und nahm sich ein Plätzchen.

»Sie werden gleich kommen.« Hans’ Aufregung hielt sich in Grenzen. Da er bei einem Anschlag in Afghanistan einen Fuß und eine Hand verloren hatte und Prothesen trug, konnte er nur in Ausnahmefällen an Außenaktionen ihrer Abteilung teilnehmen. Daher war es sein Job, dafür zu sorgen, dass in ihrem Hauptquartier alles funktionierte, angefangen von der Kaffeemaschine bis hin zu den Computeranlagen. Bei Letzteren half ihm Petra, die, wie Hans nicht müde wurde zu betonen, aus einem Stück Draht und einem kaputten Taschenrechner einen funktionierenden PC basteln konnte.

Solche Dinge interessierten Torsten im Augenblick wenig. Während sie auf Wagner warteten, spürte er ein eigenartiges Kribbeln im Magen. Dieses Gefühl hatte er sonst nur vor brenzligen Situationen, daher weigerte er sich diesmal, es ernst zu nehmen.

»In einer halben Stunde habe ich offiziell Feierabend. Also sollte Wagner sich beeilen«, sagte er, während er sich eine Tasse Kaffee einschenkte.

»Ich schätze, heute werden Sie Überstunden machen.« Wagner hatte Torstens letzte Bemerkung bei seinem Eintritt vernommen, setzte sich an den Tisch und nahm seinem Mitarbeiter die noch nicht benutzte Tasse ab.

»Danke, den kann ich brauchen! Sie dürfen sich eine neue Tasse nehmen.«

»Das ist aber sehr großzügig von Ihnen!«, ätzte Torsten und lehnte sich missmutig zurück.

Anders als er war Henriette die Anspannung in Person. Petra fehlte noch, und das hieß für sie, dass es große Probleme geben musste.

Wagners nächste Bemerkung verstärkte diese Überzeugung. »Frau Waitl stellt gerade einige Informationen für eine Powerpoint-Präsentation zusammen. Es wird nicht lange dauern.«

Torsten verzog das Gesicht. »Für welchen Minister sollen wir diesmal Schokonikolaus-Träger spielen?«

»Schokonikolaus-Träger? Das Wort sollten Sie sich patentieren lassen. Das passt irgendwie zu Ihnen!« Wagners Grinsen nahm seiner Bemerkung die Schärfe. »Herr Borchart, haben Sie Renks große Liebe wieder zusammengebaut? Ohne seine Pistole wird er wohl kaum losziehen.«

»Es gibt endlich etwas zu tun!«, rief Henriette begeistert.

Wagner nickte der hübschen Eurasierin zu. »Ja, es gibt etwas zu tun. Allerdings handelt es sich um eine zweifelhafte Angelegenheit, und es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie einfach nur zwei Wochen Urlaub auf Staatskosten machen.«

»Und was ist die unwahrscheinliche Alternative?«, fragte Henriette neugierig.

»Wenn ich das wüsste, müsste ich Sie beide nicht losschicken. Aber warten wir mit Erklärungen lieber, bis Frau Waitl uns alles auf dem Bildschirm präsentiert. Ich habe keine Lust, zweimal dasselbe erklären zu müssen.«

Wie aufs Stichwort trat Petra ein. Sie sah auf den Tisch und rümpfte die Nase. »Warum hat mir keiner Kaffee eingeschenkt?«

»Weil Kaffee deinem Baby schadet«, antwortete Henriette und stand auf, um Petra einen als »Schokoladentrunk« bezeichneten Kakao aus dem Automaten zu holen.

Petra nahm das Getränk seufzend entgegen, setzte sich ächzend und zog die Funktastatur der Computeranlage näher zu sich heran. Als der Bildschirm aufleuchtete, wandte sie sich an Wagner. »Haben Sie den beiden schon erklärt, worum es geht?«

Ihr Chef schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe auf Sie gewartet.«

»Gut, dann fange ich an!« Als Petra ein paar Tasten drückte, wurde auf dem Bildschirm eine Karte Russlands sichtbar. Sie zoomte die Neusibirischen Inseln heran und setzte ein Kreuz auf die Belkowski-Insel.

»Über etliche Umwege und Kanäle haben wir herausgefunden, dass Russland auf dieser Insel eine geheime Forschungsstation unterhalten hat«, begann sie oberlehrerhaft.

Torsten deutete ein Gähnen an, während Henriette verwundert den Kopf schüttelte.

»Die Russen haben doch auf den meisten Inseln dort irgendwelche Forschungsstationen!«

»Das schon, aber nur selten eine, in der über einhundert Wissenschaftler höchsten Ranges tätig sind, und zwar Chemiker, Physiker, Biologen, Geologen und so weiter«, sagte Petra grinsend.

Mit schiefer Miene winkte Torsten ab. »Wenn jemand glaubt, uns auf diese Insel schicken zu müssen, damit wir nachsehen, was unsere russischen Freunde dort machen, streike ich. Die Brüder passen mir etwas zu gut auf ihre Anlagen auf, und sie gehen nicht gerade zimperlich mit ungebetenen Gästen um.«

»Ganz so gut scheinen die Brüder, wie Sie sie nennen, nicht aufzupassen. Vor knapp zwei Monaten sollten die dort beschäftigen Wissenschaftler – übrigens nicht nur Russen, sondern auch Amerikaner – nach Moskau fliegen, um ihre Ergebnisse zu präsentieren. Doch kaum hatten sie die Forschungsstation verlassen, wurde diese überfallen und vollkommen zerstört. Die beiden Wachposten hat man erfroren in einem Schneehaufen gefunden. An ihnen waren keine Anzeichen körperlicher Gewalt zu erkennen. Soweit man bei der Rekonstruktion der Katastrophe feststellen konnte, sind die Computer der Station von einem unbekannten Virus befallen und ihre Daten unwiederbringlich gelöscht worden. Den Rest haben Kälte und Schnee erledigt. Als das Personal aus dem Urlaub zurückkam und die Wachposten abgelöst werden sollten, hat man festgestellt, dass jemand die Türen und Fenster der Station geöffnet und damit das gesamte technische Equipment zerstört hatte.«

Diesmal hatte Wagner das Wort ergriffen, während Petra einige Fotos der zerstörten Forschungsanlage aufrief, an die sie auf eine nur ihr bekannte Weise gelangt war.

Als Torsten die Bilder sah, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. »Das war die Arbeit von Profis!«

»Das glauben die Russen auch. Aber sie haben bisher nicht herausfinden können, wer dahintersteckt. Derzeit verdächtigen sie die Geheimdienste etlicher Länder, zum Beispiel die Chinesen, arabische Agenten, Venezolaner, ja selbst die USA.« Petra brach mit einem freudlosen Grinsen ab.

Torsten sah sie irritiert an. »Was hat das Ganze mit uns zu tun?«

»Das erfahren Sie gleich!«, wies Wagner ihn zurecht. »Wie ich schon vorhin sagte, sollten an jenem Tag sämtliche dort beschäftigten Wissenschaftler nach Moskau fliegen. Aber das Flugzeug kam nie dort an. Da zu der Zeit ein außergewöhnlich starker Schneesturm über dem Gebiet getobt hat, konnte die Radarstation von Ust-Olenjok den Flug nicht verfolgen. Daher wissen die Russen nicht, ob die Tupolew abgestürzt oder an anderer Stelle gelandet ist. Sie nehmen nun an, dass zu der Aktion gegen die Forschungsstation auch die Entführung der Wissenschaftler gehört haben könnte.«

»Schön und gut, aber …«, begann Torsten, um erneut von Wagner unterbrochen zu werden.

»Kein Aber! Die Sache ist verdammt ernst. Russen und Amerikaner haben gemeinsam an einer Methode gearbeitet, mit der sie die Energiereserven der Erde um ein Vielfaches hätten erhöhen können.«

»Es geht hier um ein Milliardengeschäft, das Russland und die USA sich teilen wollten«, ergänzte Petra die Ausführungen ihres Vorgesetzten.

»Die sind doch in solchen Dingen sonst wie Katz und Hund«, wandte Torsten ein.

»Nicht, wenn der eine den anderen braucht. Allein hat Russland nicht die Power, die Sache durchzuziehen. Zudem benötigen sie amerikanisches Know-how und deren Zustimmung für submarine Tätigkeiten in internationalen Gewässern.«

Petra ließ die Karten mehrerer Seegebiete über den Bildschirm laufen, bevor sie weitersprach. »Wir nehmen an, dass es sich um Tiefseebohrungen in den Polarregionen der Erde handelt. Wegen der Vereisung der dortigen Meere geht dies nur mit unterseeischen Bohrplattformen. Diese müssen rundum druckfest sein, und es ist notwendig, Pipelines auf dem Ozeanboden zu verlegen. Wenn dieses Verfahren gelingt, werden sich die Energiereserven der Erde schlagartig erhöhen. Gleichzeitig wären die Erdölvorräte der arabischen Ölstaaten und auch der anderen Länder nur noch einen Bruchteil ihres jetzigen Verkaufspreises wert.«

»Deshalb haben sowohl die Russen wie auch die USA den Verdacht, dass jemand aus dieser Ecke hinter der Sache steckt. Beide Länder haben Dutzende ihrer fähigsten Wissenschaftler verloren«, ergänzte Wagner den Vortrag.

Dann sah er Torsten durchdringend an. »Fragen Sie nicht noch einmal, was das mit uns zu tun haben soll, sondern schauen Sie auf den Bildschirm!«

Torsten beugte sich vor und sah nun eine attraktive Frau mit blonden Haaren in einem eleganten Kostüm. »Das ist die russische Wissenschaftlerin Nastja Paragina, ein Genie mit mehreren Doktortiteln und eine der Hauptakteure des Projekts auf der Belkowski-Insel. Sie hat dort mehr als drei Jahre geforscht.«

»Die würde ich gerne mal zum Abendessen einladen«, rief Hans grinsend aus.

»Und nun seht euch dieses Bild an«, setzte Petra ihre Erklärungen fort, ohne auf Hans’ Bemerkung einzugehen. Auf einen Tastenbefehl hin wurde Nastja Paraginas Foto in eine Hälfte des Bildschirms verschoben, während auf der anderen das einer Frau erschien, die der Wissenschaftlerin wie aus dem Gesicht geschnitten schien.

»Das ist ebenfalls die Paragina!«

»Falsch, Torsten. Diese Frau heißt Marit Söderström, zumindest ihrem Pass nach«, trumpfte Petra auf.

Torsten schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich hätte geschworen, dass das die Paragina ist. Sogar das kleine Muttermal auf der rechten Wange ist an derselben Stelle.«

»Seltsam, nicht wahr? Vor allem, wenn man bedenkt, dass Nastja Paragina zusammen mit den anderen Wissenschaftlern auf dem Flug nach Moskau verschollen ist und dieses Bild vor drei Tagen in Paris aufgenommen wurde.«

Petra grinste freudlos, während sie die beiden Bilder wegschaltete und das Foto eines hochgewachsenen Mannes aufrief. »Das hier ist Espen Terjesen, ein bekannter norwegischer Womanizer und der derzeitige Begleiter von Marit Söderström. Eigenartig ist, dass zwar 1979 eine Marit Söderström in Strömsund/Jämtland geboren wurde, aber die Frau meinen Informationen zufolge 2008 bei einem Autounfall in den USA tödlich verunglückte. Am Steuer saß damals Torvald Terjesen, Espen Terjesens älterer Bruder, gleichzeitig Vorstandsvorsitzender und Hauptanteilseigner von International Energies. Der Unfall wurde damals vertuscht und Marit Söderströms Tod nie in ihre Heimat gemeldet. Außerdem sah die Frau so aus!«

Erneut wechselte das Bild, und eine hübsche, aber kräftiger gebaute Frau als Nastja Paragina wurde sichtbar. Ihr Haar war naturblond und nicht künstlich gebleicht.

»Klickert es langsam bei euch?«, fragte Petra, während sie versuchte, unauffällig an Henriettes Kaffeetasse zu kommen.

Die Eurasierin nahm ihr die Tasse ab und holte erneut Kakao aus dem Automaten. »Du willst doch deinem Baby nicht schaden!«

Petra seufzte und schlang das süße, pappige Zeug mit Todesverachtung hinunter. »Ich werde froh sein, wenn es vorbei ist. So gesund wie in den letzten Monaten habe ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr gelebt«, stöhnte sie, grinste dann aber. »Und jetzt kommt ihr zwei ins Spiel. Aber das soll euch Herr Wagner erklären.«

»Da bin ich ja mal gespannt«, spottete Torsten.

Wagner dankte Petra für ihre Ausführungen. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit Ihnen dafür zur Verfügung stand. Das mit dem Unfall in einem Kuhkaff in den Vereinigten Staaten dürften nur wenige herausgefunden haben. Wirklich gut!«

Er verstummte für einen Augenblick und sah Henriette und Torsten durchdringend an. »Zwar wissen wir nicht, ob die angebliche Marit Söderström wirklich Nastja Paragina ist, aber wir vermuten es. Ebenso geht es den russischen und den amerikanischen Geheimdiensten und sicher auch etlichen anderen. Dabei ist sie nur durch Zufall entdeckt worden. Ihr Begleiter Espen Terjesen hat mit seinem Protz-Schlitten einen Motorradfahrer auf die Hörner genommen, und da ein Paparazzo zufällig vor Ort war, sind die Bilder in einer Zeitschrift abgedruckt worden. Das haben die Russen mitbekommen und eine halbe Armee an Geheimdienstlern in Marsch gesetzt. Übrigens sieht die angebliche Söderström sonst so aus, wenn sie unter Leute geht.«

Auf Wagners Handzeichen holte Petra das Foto einer extravagant gekleideten Frau mit aufsehenerregender Frisur auf den Bildschirm.

Torsten schüttelte den Kopf. »So hätte ich sie nicht erkannt.«

»Gut getarnt, nicht wahr? Nur zu dumm, dass ihr Lover einen Unfall gebaut hat. Sonst würden die Russen heute noch glauben, dass die Paragina entweder abgestürzt oder entführt worden ist.«

Wagner genehmigte sich einen Schluck Kaffee, neidisch beäugt von Petra. Dabei suchte er den richtigen Einstieg, um Henriette und Torsten zu erklären, was er von ihnen erwartete.

»Nach diesem Unfall ist das Paar erst einmal von der Bildfläche verschwunden. Jetzt aber haben nicht nur die Russen herausgefunden, dass ein Espen Terjesen zusammen mit einer Marit Söderström eine Suite auf dem norwegischen Hurtigruten-Schiff Trollfjord gebucht hat. Hier kommen Sie beide ins Spiel. Frau Waitl wird Ihnen eine Kabine auf diesem Schiff buchen, und Sie werden an Bord als Erstes herausfinden, ob die beiden tatsächlich mitfahren, und wenn ja, ob es sich dabei wirklich um Espen Terjesen und Nastja Paragina handelt. Sind sie es, werden Sie das Pärchen überwachen und notfalls verhindern, dass Nastja Paragina gegen ihren Willen irgendwohin gebracht wird. Die Frau ist mehr wert als ihr Gewicht in Diamanten. Außerdem geht es um Industriespionage. Ein Teil der Technik, mit denen unterseeische Bohrplattformen betrieben werden können, wurde hier in Deutschland entwickelt und hat seinen Weg auf unbekanntem Weg nach Russland, aber auch zu International Energies in Norwegen gefunden. Dieser Energiekonzern betreibt unter anderem Ölplattformen. Der Vorstandsvorsitzende und größte Anteilseigner ist Torvald Terjesen, Espen Terjesens Bruder.«

Als Wagner am Ende seiner Ausführungen angelangt war, konnte er auf Henriettes und Torstens Gesichtern ablesen, dass den beiden etliche Fragen auf der Zunge lagen. Bedauernd hob er die Hände. »Mehr Informationen gibt es nicht – abgesehen von ein paar Details, und um die kümmert sich Frau Waitl. Sie wird Ihnen die entsprechenden Informationen übergeben, sowie sie sie zusammengestellt hat. Nur eins noch: Sind die zwei nicht an Bord oder nicht die Gesuchten, dann genießen Sie die Fahrt mit dem Schiff in die Mittwinternacht hinein. Den Heiligen Abend werden Sie übrigens in Kirkenes verbringen, und von dort sind es bloß ein paar Kilometer nach Russland. Sie verstehen?«

Torsten grinste. »Klar und deutlich! Wir sollen verhindern, dass die Russen sich selbst ein Weihnachtsgeschenk machen, indem sie Dr. Paragina über die Grenze schaffen.«

»Wenn ich etwas an Ihnen schätze, so ist es Ihr scharfer Verstand«, antwortete Wagner mit leichtem Spott.

Unterdessen schaltete Petra ihre Präsentation ab und schob die Funktastatur in die Mitte des Tisches. »So, jetzt habe ich einen … äh, Kakao verdient und einen Schokolebkuchen!« Sie griff zu und ließ sich den Lebkuchen schmecken, während Henriette eine weitere Tasse Kakao für sie besorgte.

SECHS

Die nächsten Tage waren mit Vorbereitungen für die geplante Aktion gefüllt und verliefen recht hektisch. Daher waren Henriette und Torsten ebenso froh wie der Rest der Truppe, als sie ins Taxi steigen konnten, das sie zum Flughafen »Franz Josef Strauß« brachte. Dort reichte Torsten dem Taxifahrer einen Fünfzigeuroschein und winkte ab, als dieser ihm herausgeben wollte. »Der Rest ist für Sie! Aber ich brauche eine Quittung.«

Lächelnd stellte der Mann eine Quittung aus. Torsten steckte sie in die Tasche seines Parkas, nahm die beiden großen, auf je vier Rollen laufenden Koffer und schob sie in Richtung Eingang.

Henriette war ihm schon ein Stück voraus. Auch sie hatte zwei Rollenkoffer bei sich. Zusätzlich hatte sie sich eine große, weiße Handtasche umgehängt, die das Label eines teuren Modedesigners trug. Bekleidet war sie mit einem wadenlangen weißen Steppmantel, einer weißen Kunstpelzmütze, weißen Winterstiefeletten und weißen Handschuhen. Torsten hingegen steckte in schwarzen Hosen und einem schwarzen Parka und trug eine schwarze Bommelmütze.

»Du darfst ruhig ein bisschen freundlicher dreinschauen, Torsten. Schließlich fahren wir in Urlaub!«, mahnte Henriette ihn.

Torstens Gesicht wurde womöglich noch eisiger. »Wir sehen aus wie durchgeknallte deutsche Spießbürger. Ich bin sicher, das hat Petra extra gemacht!«

»Ich finde unsere Tarnung perfekt. Wenn du jetzt deine ›Ich bin ja so angefressen‹-Maske gegen deinen normalen Gesichtsausdruck auswechselst, wird uns keiner verdächtigen, nicht das durchgeknallte deutsch-philippinische Spießbürgerehepaar zu sein, als das wir auftreten sollen.«

Im Gegensatz zu Torsten machte Henriette die Sache Spaß. Eine Fahrt auf einem Hurtigruten-Schiff hatte sie sich schon lange gewünscht, und es bestand außerdem die Chance, dabei in ein großes Abenteuer zu geraten.

Da sie sich den Gepäckannahmeschaltern näherten, bemühte sich Torsten um einen freundlicheren Gesichtsausdruck. Die Lufthansa-Angestellte sah die vier Koffer und hob die Augen zum Himmel. Aber sie behielt die geschäftsmäßig zuvorkommende Miene bei, als sie Torsten aufforderte, den ersten Koffer aufs Band zu legen. Er wechselte einen kurzen Blick mit Henriette. Nun würde es sich zeigen, ob Petra alles im Griff hatte. Am Gewicht der Koffer hatte die Computerspezialistin zwar nichts ändern können, aber wenn die Gepäckstücke durch die Sicherheitsschleuse gefahren und durchleuchtet wurden, durfte zumindest das, was sich in zweien der Koffer befand, nicht auf dem Bildschirm zu erkennen sein. Torstens Sphinx AT2000 und Henriettes Browning HP35 in Luxusausführung waren dabei die harmlosesten, aber auch die auffälligsten Dinge.

Torsten sah besorgt hinter dem Koffer her, während Henriette das Übergewicht zahlte und sich bei der freundlichen Angestellten bedankte.

Sie versetzte Torsten einen leichten Stoß. »Wir müssen weiter, Schatz! Sonst fliegen unsere Koffer allein nach Bergen.«

Mit einem leisen Brummen folgte Torsten ihr zu dem nächsten Schalter. Die Schlange dort war so lang, dass er sich fragte, wie viele Flugzeuge nötig waren, um all diese Menschen zu transportieren. Es war, als wolle halb München in die Luft gehen.

Verärgert, weil seine Gedanken sich mit solchem Unsinn beschäftigten, rückte er auf, als die Schlange vor ihm kürzer wurde. In den letzten Jahren war er meist nur beruflich geflogen und hatte sich jedes Mal auf den vor ihm liegenden Job konzentriert. Diesmal aber reisten Henriette und er nur auf einen vagen Verdacht hin nach Norwegen, um sich zwei Wochen auf einem Schiff einsperren zu lassen, das im Vergleich zu den Kreuzfahrtriesen wie ein besseres Zubringerboot wirkte.

»Schatz, wir sind dran!«, mahnte Henriette ihn.

Jetzt erst bemerkte Torsten, dass sie bereits vor dem Schalter standen. Er reichte der Lufthansa-Angestellten die beiden Ausweise, die Petra am Vortag fertiggestellt hatte, und zeigte die Bordkarten vor. Von jetzt an waren Henriette und er ein Ehepaar, das auf den Namen Schmied hörte. Die Vornamen hatten sie behalten, um zu verhindern, dass einer aus Versehen den falschen nannte. Dabei hatte er keinen Zweifel, dass Petra sich den Film Mr. und Mrs. Smith mit Angelina Jolie und Brad Pitt zum Vorbild genommen hatte. Ihr Humor war schräg genug.

Danach mussten sie sich vor der Sicherheitskontrolle anstellen, deren Schlange sich weiter vorne teilte. Während die meisten zu der Schleuse drängten, bei der sie auf konventionelle Art durchsucht wurden, warf Torsten seinen Parka in den Plastikbehälter, schob diesen auf das Band und ging auf den neuen Körperscanner zu.

Nach kurzem Bedenken folgte Henriette ihm. »Mama würde das nicht mögen! Sie hat Angst, dass dieses Ding einen wirklich nackt zeigt«, sagte sie mit einem gezierten Kichern.

Torsten nickte anerkennend. Seine Kollegin glitt immer mehr in ihre Rolle als seine von den Philippinen stammende Ehefrau hinein.

Um ihr in nichts nachzustehen, wandte er sich zu ihr um und grinste. »Wenn eines der Mädels hier draufschauen würde, wenn ich gescannt werde, hätte sie etwas zu bewundern.«

Eine junge Sicherheitsangestellte sah ihn lächelnd an. »Das sagen die meisten Männer, die hier durchgehen. Aber bisher ist noch keine Lupe in das Gerät eingebaut worden.«

Henriette kicherte erneut, während Torsten sich die Antwort verkniff, die ihm auf der Zunge lag. Ohne ein weiteres Wort ließ er die Prozedur über sich ergehen, wurde durchgewinkt und konnte die Sachen vom Band nehmen. Kurz darauf hatte auch Henriette die Kontrolle passiert und schloss zu ihm auf.

»Was meinst du, Schatz? Wollen wir noch einen Kaffee trinken? Einen Bagel hätte ich auch gerne.«

»Wenn du mich als Volltrottel hinstellen willst, benehme ich mich auch wie einer. Das ist eine Drohung!«

Damit brachte Torsten seine Kollegin jedoch nur zum Lachen.

»Frauen!«, stöhnte er und ging los, um Kaffee und einen Bagel zu holen.

SIEBEN

Der Flug nach Frankfurt verlief ereignislos. Auch beim Umsteigen in die Maschine nach Bergen gab es keine Schwierigkeiten. Anstatt in einem großen Airbus saßen sie nun in einer Bombardier CRJ1000 mit gerade mal einhundert Passagieren. Während Henriette aufmerksam im Bordheft las und dabei die Seiten mit den angebotenen Parfüm-Sorten studierte, um ihrer Rolle gerecht zu werden, lehnte Torsten den Kopf zurück und dachte über das nach, was Petra ihnen zuletzt noch mitgeteilt hatte.

Der Verdacht, es könnte sich bei der angeblichen Marit Söderström tatsächlich um Nastja Paragina handeln, hatte etliche Geheimdienste veranlasst, Agenten nach Norwegen zu schicken. Während die anderen Schiffe der Hurtigruten-Linie um die Zeit nicht einmal halb belegt waren, waren auf der Trollfjord Petras Worten zufolge sogar die Besenkammern ausgebucht. Mehr als fünf Dutzend Chinesen wollten angeblich den rauen Charme der Polarnacht erleben, ebenso etliche Araber und Südamerikaner, von Russen und Amerikanern ganz zu schweigen.

Torsten stellte sich die dummen Gesichter der Agenten für den Fall vor, dass Nastja Paragina und Espen Terjesen nicht auf die Trollfjord kommen würden. Einige Dienste hatten sich in Unkosten gestürzt und in aller Eile große Suiten gebucht, aber für ihn und Henriette hatte es nur für eine Außenkabine auf Deck sieben gereicht. Mehr hatte Wagner ihrem Spesenkonto nicht zumuten können.

Eine Stewardess unterbrach Torstens Gedankengang, als sie nach dem Getränkewunsch fragte. Während Henriette bilderbuchreif schwankte, ob sie nun Orangen- oder Tomatensaft nehmen sollte, bestellte Torsten sich Kaffee. Ein Stück Gebäck und ein kleiner Schokoladennikolaus wanderten ebenfalls auf das Klapptischchen. Endlich hatte Henriette entschieden, dass sie lieber doch Tee wollte, und lächelte die Stewardess dabei so freundlich an, dass diese ihr die Verzögerung verzieh. Auch sie erhielt Gebäck und einen Nikolaus und wickelte diesen mit sichtlicher Vorfreude aus seiner Umhüllung.

Torsten schob ihr seinen Weihnachtsmann hin. »Wenn du magst, kannst du ihn haben.«

»Ja, aber nicht jetzt, sondern auf dem Schiff. Kannst du den Schokolaus so lange behalten?« Lächelnd reichte Henriette die Süßigkeit zurück und widmete sich ihrem Gebäck.

Mangels anderer Möglichkeiten steckte Torsten das Ding in seine Jackentasche und fragte sich, ob Henriette sich extra so benahm, um ihn zu ärgern, oder ob sie einfach nur in ihrer Rolle aufging. Er selbst würde an seiner Performance als glücklicher Ehemann wohl noch arbeiten müssen. Gleichzeitig musste er daran denken, dass er wegen dieses Auftrags nicht mit dem Verteidigungsminister nach Afghanistan fliegen und Weihnachtsgeschenke an die dort stationierten Soldaten verteilen musste, und fing an zu grinsen.

»Jetzt bin ich ein Schokonikolaus-Träger, aber anders, als Wagner es geplant hatte!«

Henriette nickte zufrieden. Wie es aussah, war Torsten auf dem besten Weg, sich mit dem Auftrag auszusöhnen. Allerdings wollte sie nicht wissen, wie er reagieren würde, wenn die Angelegenheit sich als Schlag ins Wasser erwies.

ACHT

Die Maschine landete kurz vor ein Uhr westeuropäischer Zeit in Bergen. Doch es dauerte ungewohnt lange, bis Henriette und Torsten das Flugzeug verlassen konnten. Laut Durchsage einer Stewardess war auf dem Flugplatz der Teufel los.

Torsten zwinkerte Henriette kurz zu. Also war die Konkurrenz, wie er es nannte, in Mannschaftsstärke erschienen. Das versprach auf alle Fälle eine interessante Schiffsreise zu werden.

Kurz darauf wurde der Rollsteig für die Maschine aus Frankfurt freigegeben, und sie konnten das Flughafengebäude betreten. Auf dem Weg zum Gepäckband sah Torsten sich um, ob er nicht einen Geheimdienstler entdeckte, den er von früher kannte. Allerdings hätte er in der Menge, die dem Gepäckband und von da aus dem Ausgang entgegenstrebte, seine eigene Mutter nicht gefunden. Es herrschte solch ein Gedränge, dass Torsten kaum die Koffer vom Band heben konnte. Direkt vor ihnen suchte eine Gruppe Chinesen verzweifelt ihr Gepäck zusammen. Einer von ihnen schnappte sich einen von Torstens Koffern, doch bevor er diesen wegrollen konnte, stellte Henriette sich ihm in den Weg.

»Sorry, it’s mine!«

Der andere starrte zuerst sie an und dann den Koffer, ohne diesen loszulassen.

Henriette bückte sich und zeigte auf den Kofferanhänger. »Mr. Schmied. It’s my husband!«

Jetzt endlich gab der Chinese auf. Während Henriette die bereits entdeckten Koffer bewachte, stieg Torsten auf das Gepäckband, um den nächsten zu holen. Er zwängte sich mit dem sperrigen Gepäckstück durch die Menschenmasse, bis er Henriette erreichte, und stöhnte theatralisch auf. »Jetzt fehlt nur noch einer!«

»Den solltest du aber finden, denn darin steckt deine Unterwäsche zum Wechseln. Du würdest zuletzt arg streng riechen, wenn du darauf verzichten musst.« Obwohl Henriette das Gedränge nicht weniger nervte als Torsten, hatte sie beschlossen, die Sache von der komischen Seite zu nehmen.

Torsten erspähte den letzten Koffer, schob kurzerhand einen Mann, der ihm im Weg stand, beiseite, und griff zu. Der andere fluchte in amerikanischem Englisch und holte zum Schlag aus. Da fuhr ihm einer der Chinesen, der drei riesige Rollenkoffer vor sich herschob, in die Kniekehlen. Der Amerikaner strauchelte und wäre gestürzt, hätte Henriette nicht rasch genug zugegriffen.

»Wenn Sie sich trotzdem noch mit meinem Mann prügeln wollen, lasse ich Sie fallen!«, drohte sie lächelnd auf Englisch.

Der andere rappelte sich auf, knurrte etwas und holte seinen eigenen Koffer vom Gepäckband.

»Wenigstens bedanken hätte er sich können«, beschwerte Henriette sich bei Torsten.

»Das Wort Danke gehört nicht zu Larry Frazers Wortschatz«, raunte Torsten ihr zu.

Er hatte in dem Amerikaner den ersten Agentenkollegen erkannt. Während Frazer dem Ausgang zustrebte, blickte Torsten auf die Uhr. »Eigentlich wollten wir hier im Flughafen noch mittagessen. Aber ich glaube, das lassen wir lieber. Der erste Zubringerbus fährt in zehn Minuten. Wenn wir den erwischen, können wir unsere Koffer in ein Schließfach im Hurtigruten-Terminal sperren und zusehen, ob wir in der Stadt etwas Passendes finden.«

»Das ist eine sehr gute Idee. Hier ist wirklich zu viel los!« Henriette packte ihre beiden Koffer und schob sie durch die Menschenmenge nach draußen.

Als sie endlich im Freien standen, schneite es heftig. Busse fuhren heran, blieben stehen und wurden von den Fahrgästen regelrecht gestürmt. Weiter vorne war eine Gruppe Reisender dabei, ihr Gepäck in ein Taxi zu laden. Ein zweites Taxi wurde von Larry Frazer aufgehalten. Dieser stieg mit einer jungen Frau und einem jüngeren Mann hinten ein, während ein Mann mittleren Alters neben dem Fahrer Platz nahm.

»Zum Hurtigruten-Terminal!«, befahl dieser.

Da Henriette und Torsten den Anschein von schlichten deutschen Touristen aufrechterhalten wollten, suchten sie die Haltestelle des Zubringerbusses zu den Hurtigruten auf und fanden sich in einer Gruppe von mindestens fünfzig Passagieren wieder, von denen etliche mit großem Gepäck angereist waren.

»Unser Bus müsste gleich kommen«, sagte Torsten hoffnungsvoll und sah zur Straße hinüber. Doch vorerst fuhren nur Linienbusse vor. Die Taxis verschwanden eins nach dem anderen. Dafür quollen noch mehr Reisende aus dem Flughafengebäude, die wie sie am Haltepunkt des Hurtigruten-Busses stehen blieben.

»Von Pünktlichkeit halten die Brüder nichts«, knurrte Torsten, als sie bereits zehn Minuten über die angegebene Abfahrtszeit hinaus gewartet hatten.

»Ich glaube, da kommt was! Ach nein, das ist nur ein Kleinbus!« Henriette drehte sich enttäuscht ab, sah dann aber, dass ausgerechnet dieses Gefährt an ihrer Haltestelle stehen blieb. Der Fahrer stieg aus und prallte angesichts der Menge, die sich hier versammelt hatte, erschrocken zurück.

Die Passagiere, die ganz vorne standen und am längsten gewartet hatten, strömten auf den Bus zu, während die anderen von hinten drängten, um vielleicht doch noch einen Platz zu ergattern. Der Fahrer aber schloss die Tür und versperrte sie, während er gleichzeitig sein Handy herausholte und hektisch eine Nummer eintippte.

Torsten schüttelte entgeistert den Kopf. »Das soll wohl ein Witz sein!«

»Wenn, dann ist er nicht gerade gelungen.« Auch bei Henriette verabschiedete sich jetzt die gute Laune, denn es war kalt, und sie begann zu frieren.

Der Fahrer des Kleinbusses hatte sich inzwischen hinter sein Fahrzeug zurückgezogen und sprach wie ein Wasserfall in sein Handy. Dann schaltete er es aus, ging um den Wagen herum und verschwand im Flughafengebäude.

»Was ist denn jetzt kaputt?«, schimpfte ein Mann in Torstens Nähe. »Wenn der Kerl die Ersten eingeladen und weggefahren hätte, könnte er schon wieder hier sein.«

»Das glaube ich weniger. Bei diesen Wetterverhältnissen braucht er mehr als eine halbe Stunde bis nach Bergen«, erklärte Torsten.

»Sie sind schon mal hier gewesen?«

»Beruflich, vor einigen Jahren.« Torsten hatte keine Lust, mehr zu erklären, sondern sah Henriette missmutig an. »Sollen wir nicht besser wieder nach drinnen gehen?«

Obwohl Henriette nichts gegen einen warmen Raum und eine Tasse heißen Tee gehabt hätte, schüttelte sie den Kopf. »Lieber nicht! Sonst werden die anderen alle zum Schiff gebracht, und wir schauen in die Röhre.«

»Sie glauben noch an Zeichen und Wunder, was?«, mischte sich der andere Mann ein. »Keine Organisation, sage ich euch! Die müssen doch wissen, wie viele diese Fahrt gebucht haben, und den Transport entsprechend planen. Übrigens, mein Name ist Gillmann. Vielleicht sehen wir uns auf der Trollfjord

»Wir heißen Schmied und kommen aus München«, antwortete Henriette freundlich.

»Eine Bayerin sind Sie aber nicht!« Trotz Henriettes hochgestellten Kragens und ihrer Mütze hatte der andere sie als Asiatin erkannt.

»Da haben Sie ganz recht. Ich wurde in Nordrhein-Westfalen geboren.« Henriette amüsierte sich über das dumme Gesicht, das der Mann nun zog.

Gillmann stieß kurz die Luft aus der Nase und winkte ab. »Sie gehören wohl zu den sogenannten Boatpeople, die damals in Vietnam vor den Kommunisten Reißaus genommen haben. Sollen ja arbeitsame Leute sein, habe ich mir sagen lassen.«

Inzwischen war der Fahrer des Kleinbusses wieder zurückgekehrt und öffnete seine Wagentüren. Sofort drängten die Leute darauf zu. Der Mann bedeutete ihnen verzweifelt zu warten und winkte dann wahllos einige zu sich heran und ließ sie einsteigen.

»He, wir warten schon länger als die«, beschwerte sich eine Frau mittleren Alters, als sie zurückgewiesen wurde.

»Was ich an uns Deutschen so schätze ist unsere Gelassenheit, Höflichkeit und Rücksichtnahme«, knurrte Torsten und brachte Henriette damit zum Lachen.

Unterdessen war der Bus voll und fuhr vom Schimpfen der Zurückgebliebenen begleitet los. Die Hälfte der Wartenden kehrte in das Flughafengebäude zurück, um sich aufzuwärmen.

Henriette und Torsten harrten geduldig aus und wurden belohnt, dann nach einer knappen Viertelstunde tauchte ein großer Bus auf und blieb bei ihrer Haltestelle stehen. Bevor die Wartenden ihn stürmen konnten, kam der Fahrer heraus und grinste. »Als Erstes steigen die Reisenden mit wenig Gepäck ein, damit möglichst viele mitfahren können«, erklärte er auf Englisch.

»Entschuldigen Sie bitte, aber wir warten hier mit am längsten!« Henriette ließ sich ihren Unmut deutlich anmerken.

Der Fahrer hob beruhigend die Hand. »Keine Sorge. Ich nehme Sie schon mit. Notfalls muss Ihr Mann mit einem Teil des Gepäcks hierbleiben!«

Einige lachten, während Torsten langsam wütend wurde. Dann aber sagte er sich, dass es wirklich besser war, wenn seine Kollegin ins Warme kam. Mit einem Schnupfen oder gar einer heftigen Erkältung war sie ihm eher ein Klotz am Bein als eine Hilfe. Daher sah er zu, wie Henriette als Erste einstieg und ihm einen ihrer Koffer zurückließ. Kurz darauf war der Bus fast voll.

»Noch drei Leute«, rief der Fahrer und winkte einem chinesischen Paar zu, in den Bus zu steigen. Danach wäre eine Frau aus einer größeren Gruppe an der Reihe gewesen, doch die schüttelte den Kopf. »Wir wollen zusammenbleiben.«

»Auch gut«, erklärte der Fahrer und bedeutete Torsten, ihm die Koffer zu reichen. »Sie reisen ja mit viel Gepäck!«

»Sind Sie verheiratet?«, fragte Torsten.

»Nein, warum?«

»Dann können Sie auch nicht mitreden!«

Die Leute lachten. Obwohl noch viele zurückbleiben mussten, besserte sich die Stimmung. Unterdessen stopfte der Fahrer die Koffer zwischen die anderen, stieg ein und deutete auf den vordersten Sitzplatz. »Da ist es ein bisschen eng, aber Sie wollen Ihre Frau sicher nicht alleine wegfahren lassen.«

Die anderen Fahrgäste lachten wie über einen guten Witz.

Brummelnd zwängte Torsten sich auf den Sitz, den er mit zwei Reisetaschen teilen musste, und dachte dabei an Larry Frazer. Wenn die US-Geheimdienste diesen Mann schickten, mussten sie ganz sicher sein, hier Erfolg zu haben. Das bedeutete für Henriette und ihn ständige Wachsamkeit. Andernfalls befand Nastja Paragina sich schneller in einem Flugzeug nach Washington oder nach Moskau, als sie bis drei zählen konnten.

Beim Losfahren nahm Torsten durch ein Seitenfenster wahr, dass bereits der nächste Bus vorfuhr. Offensichtlich hatte die Hurtigruten-Linie endlich auf die unerwartet große Zahl der Gäste reagiert. Da er vor einigen Jahren auf dem Weg zu einem Manöver schon einmal in Bergen gelandet war, kannte Torsten den Weg vom Flughafen in die Stadt. Die meisten Passagiere wunderten sich, dass dieser so weit außerhalb lag, bald aber lenkte der Fahrstil des Busfahrers die Aufmerksamkeit der meisten auf die Straße. Der Mann drückte aufs Gas, als gäbe es weder den festgefahrenen Schnee auf der Fahrbahn noch das heftige Schneetreiben.

»Muss der Kerl so rasen?«, stöhnte jemand in der Sitzreihe hinter Torsten. Dieser drehte sich um und erkannte Gillmann, der Henriette und ihn am Flughafen angesprochen hatte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Der Mann ist mit den hiesigen Straßenverhältnissen vertraut«, antwortete Torsten und hoffte, dass er sich nicht irrte. Doch auf dem weiteren Weg wuchsen auch bei ihm Zweifel, dass sie heil am Hurtigruten-Terminal ankommen würden. Irgendwie schaffte der Fahrer es, den Bus auf der Straße zu halten, und als sie endlich vor dem langgestreckten Gebäude der Schifffahrtslinie ankamen, grinste der Kerl, als wäre alles nur ein grandioser Spaß gewesen.

Nun wartete eine weitere Überraschung auf die Passagiere. Vor dem Tor des Gebäudes zog sich eine Warteschlange mehr als dreißig Meter den Platz entlang. Nun erwies es sich für Torsten als Vorteil, als Letzter eingestiegen zu sein, denn sein Gepäck wurde als erstes ausgeladen. Während er mit langen Schritten ans Ende der Warteschlange eilte, hoffte er, dass Henriette fix genug war, ihm zu folgen.

NEUN

Im ersten Stock des Hurtigruten-Terminals saß ein Paar in einem kleinen, gemütlich eingerichteten Raum und blickte amüsiert auf die wartende Menge hinab.

»Es hat schon etwas für sich, ein besonderer Gast zu sein«, erklärte der sportlich aussehende Mann im leuchtend blauen Blazer mit Genugtuung.

»Vor allem, wenn einem bewusst ist, dass viele dieser Leute nur unseretwegen dieses Schiff besteigen.« Die ganz in Weiß gekleidete Frau klang abweisend, als gefiele ihr dieser Umstand ganz und gar nicht.

»Das ist nun einmal das große Spiel um Einfluss und Macht. Man muss immer einen gewissen Einsatz bringen«, erklärte Espen Terjesen mit einem übermütigen Lächeln.

Nastja Paragina nahm ihre Kaffeetasse zur Hand, blickte aber nur auf die dunkle Flüssigkeit hinab. »Ist das Ganze hier wirklich notwendig? Wir setzen uns auf einen Präsentierteller und fahren bis auf wenige Kilometer an die russische Grenze heran. Dabei könnte jeder Geheimdienstlehrling unsere Entführung planen.«

Espen Terjesens Miene hatte mit einem Mal jeden Anschein von Lässigkeit verloren. »Du solltest wissen, dass ich kein Lehrling bin!«

Dann sah er die Wissenschaftlerin mit blitzenden Augen an. »Wir stehen das durch, verstanden? Danach werden die Geheimdienste der Welt wissen, dass es sich nicht lohnt, uns weiterhin nachzuspüren. Aber wir sollten von nun an solche Themen meiden, denn wir dürften bald von Richtmikrofonen umzingelt sein. Deswegen werden wir wichtige Dinge nur noch dann kommunizieren, wenn ich ein paar technische Vorkehrungen gegen Abhöraktionen getroffen habe.«

Espen Terjesen lächelte überheblich, als nähme er trotz seiner Warnung den Aufmarsch der verschiedenen Geheimdienste nicht ernst.

Seine Begleiterin beobachtete weiterhin die Schlange, die langsam voranrückte. Immer wieder hielten Taxis auf dem Vorplatz, und es fuhren auch einige große Limousinen vor, denen Leute mit auffallend viel Gepäck entstiegen.

»Hier gibt sich die ganze Welt ein Stelldichein«, sagte Nastja Paragina leise.

»Je mehr, umso besser. Ich denke, wir können jetzt unsere Suite beziehen. Unser Gepäck dürfte bereits dort sein. Wenn unsere Freunde heute Abend die Ohren an ihre Hörgeräte hängen, werden wir ihnen eine gute Show bieten. Du kannst ruhig etwas lauter stöhnen, wenn es dir kommt!«

Espen Terjesen grinste, während die Frau die Lippen zusammenpresste. Zwar hatte sie nichts gegen guten Sex mit ihm, aber der Gedanke, dass vielleicht ein Dutzend Leute mithören konnten, wirkte in höchstem Maße abtörnend auf sie.

ZEHN

Die beiden Angestellten an der Rezeption der Hurtigruten schienen durch den Andrang an Reisenden überfordert, ebenso die Männer, die das Gepäck zu den Kabinen bringen sollten. Das Transportband stockte immer wieder, und davor stapelten sich die Koffer der Passagiere, die bereits eingecheckt hatten.

Endlich waren Henriette und Torsten an der Reihe. Eine der beiden Damen an der Rezeption schob ihnen das Kuvert mit den Bordkarten und den Schiffsunterlagen sowie zwei Aufkleber zu.

»Kleben Sie die bitte auf Ihre Koffer. Sie haben die Kabinennummer 759!«

»Danke, aber wir brauchen noch zwei Aufkleber. Meine Frau konnte sich nicht entscheiden, welche Kleidungsstücke sie mitnehmen sollte, und hat daher alles eingepackt«, erklärte Torsten und ignorierte Henriettes erboste Blicke.

Die Hurtigruten-Dame schrieb rasch die Kabinennummer auf zwei weitere Aufkleber und reichte sie ihm. Dann sah sie ihre Kollegin an. »Ich frage mich, wieso diesmal die meisten Gäste mit derart viel Gepäck angereist sind.«

Torsten konnte zu wenig Norwegisch, um es zu verstehen, doch die Mimik der Frau sagte ihm genug. Wie es aussah, opferten viele Agenten ihren Weihnachtsurlaub, um hier ein Paar zu überwachen, das vielleicht gar nicht an Bord kam.

»Können Sie nicht weitergehen!« Gillmann wollte ebenfalls einchecken und gab Torsten einen Schubs. Dieser drehte sich mit einem freundlichen Lächeln zu dem Mann um.

»Entschuldigen Sie!« Danach schob er seine Koffer zu dem Gepäckberg, der darauf wartete, abgetragen zu werden.

»Sollten wir die Koffer nicht besser selbst in die Kabine bringen?«, fragte Henriette leise und wies mit dem Kinn auf mehrere Männer, die einige schwere Gepäckstücke an sich nahmen und wegschleppten.

»Kannst du die drei unauffällig fotografieren?«, antwortete Torsten mit einer Gegenfrage und deutete dann ein Kopfschütteln an. »Wir müssen uns so normal wie möglich benehmen. Also lassen wir unsere Koffer hier zurück.«

Henriette nickte, holte ihr Spezialhandy aus ihrer Umhängetasche und tat so, als würde sie telefonieren. Dabei nahm sie die drei Fremden mit dem Gepäck mehrmals auf. Nun war es auch ihr klar: Ihre Reise hatte zwar wie eine ganz normale Urlaubsfahrt begonnen, doch nun wurde es ernst.

Kurz darauf betraten sie das Schiff, fuhren mit dem Aufzug auf Deck sieben und suchten ihre Kabine. Sie mussten einige Gäste passieren lassen, die in die falsche Richtung gegangen waren und ihnen nun mit schweren Koffern entgegenkamen. Endlich erreichten sie die Tür mit der 759. Torsten probierte seine Bordkarte aus und atmete auf, als er eintreten konnte.

Seine Erleichterung schwand jedoch beim Anblick der Räumlichkeiten. »Das ist ja ein Legehennenkäfig! Wie sollen es hier zwei Leute fast zwei Wochen lang aushalten?«

Henriette folgte ihm in die Kabine und schloss die Tür. Auch sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. »Besonders groß ist das Ding ja nicht. Wenn jetzt noch unsere vier Koffer kommen, frage ich mich, wo wir die hinstellen sollen.«

»Um die Koffer mache ich mir weniger Sorgen als um uns. Das sind wohl Betten für Liliputaner!« Torsten zeigte auf das schmale Bett an der Längsseite des Raumes. Die zweite Schlafmöglichkeit bestand aus einer Klappcouch direkt unter dem runden, bullaugenähnlichen Fenster an der Außenwand des Schiffes.

Unterdessen öffnete Henriette eine schmale Tür. »Das hier ist wohl das Badezimmer! Na ja, umdrehen kann man sich darin. Vorausgesetzt, man hält die Luft an. Aber wir haben schon Schlimmeres überstanden.«

Allmählich gewann ihr Optimismus die Oberhand. Sie inspizierte nun auch die Schränke und fand, dass sie trotz aller Enge mit der Kabine zurechtkommen würden.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie Torsten.

Er atmete dreimal tief durch und winkte ab. »Besser als ein Erdloch in Afghanistan ist es allemal. Ich schlage vor, wir ziehen erst einmal die Parkas aus, beziehungsweise du deinen schicken Mantel, und dann schauen wir uns die Schiffsunterlagen an. Das kannst du übernehmen!«

Da sie im Vorfeld der Reise bereits alle Pläne der Trollfjord studiert und von Petra sogar erfahren hatten, welche Angestellte an Bord waren und wo diese schliefen, hielt Henriette diese Forderung für übertrieben. Trotzdem setzte sie sich auf den einzigen Stuhl in der Kabine und öffnete das Kuvert. Neu war jedoch nur die Tischbelegung für diese Reise.

»Wir sind an Tisch 87 eingeteilt. Der ist direkt neben dem Tisch für die Crew und nicht weit von der Tür zum vorderen Teil des Speisesaals, der für die Passagiere der Suiten reserviert ist.«

»Das hat sicher Petra veranlasst, damit wir unsere Freunde im Auge behalten können.«

»Du meinst die beiden, die wir observieren sollen?«, fragte Henriette.

Torsten schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht nur! Es geht auch um die Leutchen aus Russland, Amerika und andere Schnüffelnasen. Laut Wagner ist es wichtig, diese Herrschaften im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie keinen Unsinn anstellen. Allerdings sollten wir über dieses Thema erst reden, wenn unser Gepäck hier ist und wir einige Vorkehrungen getroffen haben. Mir geht es erst einmal um unser verpasstes Mittagessen. Wollen wir zusehen, ob wir unten im Café etwas bekommen?«

»Ich habe Hunger wie ein Wolf oder, besser gesagt, wie eine Wölfin«, bekannte Henriette und zog den Mantel aus. Er wanderte ebenso wie die Mütze in den schmalen Schrank. Dann nahm sie ihre Handtasche, ging damit in die winzige Hygienezelle und machte sich zurecht. Als sie wieder herauskam, glänzten ihre Lippen dunkelrot, auf den Wangen lag Rouge, und sie hatte sich die Nase gepudert, damit sie nicht glänzte.

»Jetzt brauche ich noch einen oder zwei dieser Klunker, die Petra besorgt hat«, sagte sie feixend und zog mehrere Ringe und eine Brosche aus ihrer Handtasche.

»Na, wie sehe ich aus?«, fragte sie schließlich.

»Auf jeden Fall nicht wie die Frau, mit der ich gerne verheiratet wäre. Aber als Tarnung ist es ideal. Ich hoffe, ich schaffe es, den dämlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der dazu passt.«

»Schau nur so drein wie vorhin an der Rezeption. Dann passt es schon.«

Bevor Torsten etwas darauf antworten konnte, schlüpfte Henriette auf den Flur hinaus. Dort standen einige Gepäckstücke herum, aber ihre waren nicht darunter.

Henriette begann sich Sorgen um ihr technisches Equipment zu machen, das Petra in zwei der Koffer verstaut hatte und das sie für ihren Auftrag dringend benötigten. »Sollten wir nicht zuerst fragen, wo unsere Sachen bleiben?«, fragte sie Torsten, der gerade aus der Kabine trat.

Er steckte die codierte Bordkarte ein und schüttelte den Kopf. »Die werden das Zeug schon bringen. Du hast ja gesehen, was für ein Berg sich bei der Rezeption gestapelt hat.«

»Nicht, dass es zurückbleibt und wir ohne Gepäck reisen müssen!« Noch bevor Henriette weitere Befürchtungen äußern konnte, kamen zwei Männer den Flur entlang. Jeder war über eins neunzig groß und so breitschultrig, dass er einem Kleiderschrank hätte Konkurrenz machen können. Rasch zog sie ihr Handy und schoss ein paar Bilder von den beiden, ohne dass diese es merkten.

»Sollten wir mit Petra Kontakt aufnehmen? Dann könnten wir ihr auch gleich die Fotos schicken, die ich bisher gemacht habe«, fragte sie Torsten.

Er schüttelte den Kopf. »Erst einmal habe ich Hunger!«

Unterdessen waren die beiden Kleiderschränke vorne um die Ecke verschwunden, und Henriette schnaubte. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass Torsten ihren Auftrag nicht ernst genug nahm. Ihr Kollege reagierte nicht auf ihren Unmut, sondern winkte ihr, ihm zu folgen, stiefelte gemütlich zum Aufzug und drückte auf den Knopf für das fünfte Deck, auf dem sich das Café und das Restaurant der Trollfjord befanden.

Dort ballten sich bereits etliche vor der kleinen Selbstbedienungstheke, und eine verzweifelte Angestellte erklärte immer wieder, dass das Café und der Shop erst nach dem Ablegen des Schiffes öffnen würden. Doch die hungrigen Passagiere ließen sich nicht abwimmeln.

Ganz vorne stand Gillmann und schimpfte, dass es eine Schweinerei sei, wie man hier behandelt würde. Auch einige andere Passagiere, von denen Torsten ihrem Akzent nach drei als Amerikaner und einen als Israeli einordnete, beschwerten sich lauthals über die Zustände.

Schließlich schob Torsten sich durch die Menge und sprach die Frau an. »Sie sollten das Café lieber aufmachen, bevor die Passagiere endgültig verärgert sind und vielleicht sogar handgreiflich werden. Es war am Flughafen so schlimm, dass kaum jemand zu Mittag essen konnte. Die Leute haben Hunger und sind schlecht gelaunt. Das wird bestimmt nicht besser angesichts der Tatsache, dass es erst um halb neun Abendessen gibt.«

Die Frau starrte ihn an, als verstünde sie kein Englisch, nahm aber ihr Handy, drückte eine Nummer und redete in kurzen, stoßartigen Sätzen hinein. Die Antwort schien ihr nicht so recht zu passen, doch sie nickte schließlich, steckte das Telefon ein und sah Torsten an. »Ich habe den Zahlmeister gefragt, was ich machen soll. Er schickt gleich jemand, der mir helfen wird. Wenn Sie so lange noch warten könnten!«

»Aber gerne!« Torsten drehte sich zu den anderen Passagieren um und begann zuerst auf Englisch und dann auf Deutsch zu erklären: »Es kommt gleich jemand, um hier zu bedienen. Vielleicht sollten Sie inzwischen Platz nehmen.«

»Hier ist aber Selbstbedienung«, bellte Gillmann ihn an.

»Das schon. Aber so kommen diejenigen, die etwas gekauft haben, nicht mehr weg.«

Die Angestellte tippte Torsten an. »Der Kaffeeautomat funktioniert bereits. Die erste Tasse ist frei, hat der Zahlmeister gesagt!«

Da die Frau recht leise sprach, gab Torsten ihre Worte an die anderen Passagiere weiter. Zu seiner Zufriedenheit bemerkte er, dass Henriette sich geschmeidig mit nach vorne geschlängelt hatte und nicht nur als eine der Ersten Kaffee und Teewasser aus dem Automaten lassen konnte, sondern auch noch zwei Sitzplätze an den Fenstern ergatterte.

Auch er hatte Erfolg. Da er in aller Ruhe mit der Stewardess geredet hatte, erhielt er als Erster zwei belegte Sandwiches sowie zwei Flaschen Cola und konnte diese unfallfrei zu dem Tisch bringen, an dem Henriette saß.

Während sie aßen, beobachteten sie die Menschen, die sich um die Theke drängten. Henriette schoss etliche Fotos mit ihrer Handykamera, indem sie so tat, als telefoniere sie. Das machte sie so geschickt, dass Torsten beschloss, sie später, wenn sie allein waren, dafür zu loben. Endlich hatte auch er das Gefühl, auf der Jagd zu sein.

Als die drei Amerikaner und der Mann aus Israel am Nebentisch Platz nahmen, hätte er ein Jahresgehalt darauf verwettet, dass diese zu den Geheimdiensten ihrer Länder gehörten. Die Männer benahmen sich zwar völlig unauffällig, doch er spürte ihre Wachsamkeit. Außerdem war für jemand vom Fach die leichte Ausbeulung ihrer Blousons nicht zu übersehen.

Auf sein Zeichen hin schoss Henriette auch von diesen Männern Fotos. Es blieb ihnen jedoch nur wenig Zeit, denn bald waren die Sandwiches gegessen und die Becher leer.

»Viel war es nicht, aber bis zum Abendessen wird’s reichen«, meinte Torsten zu Henriette.

»Sind Sie fertig?«, fragte da der männliche Teil eines gediegen wirkenden älteren Paares.

»Wir wollten gerade aufbrechen«, erklärte Torsten freundlich und bot Henriette den Arm. »Was meinst du, Schätzchen? Wollen wir in unsere Kabine zurück und nachsehen, ob unsere Koffer bereits gekommen sind? Oder möchtest du dich noch ein wenig auf dem Schiff umsehen?«

Sie tat so, als müsse sie überlegen. »Das Schiff würde ich schon gerne ansehen, aber vorher will ich mich ein bisschen frischmachen.«

»Dann gehen wir in die Kabine. Auf Wiedersehen!« Torsten nickte dem Ehepaar und auch Gillmann, der zwei Tische weiter saß, kurz zu und führte seine Kollegin zum Aufzug.

ELF

Zwei Koffer standen bereits vor der Tür, darunter zu Henriettes und Torstens Erleichterung der mit dem wichtigsten elektronischen Equipment. Im anderen befanden sich Henriettes persönliche Sachen. Sie schob ihn in die Kabine und stellte ihn an den Rand ihres Bettes, während Torsten den zweiten Koffer auf die kleine Anrichte hob, die als Frisierkommode und Schreibtisch dienen sollte. Er öffnete ihn vorsichtig und beseitigte Petras Sicherung. Dann holte er eine Verlängerungsschnur mit mehreren Buchsen heraus und schloss sie an eine der beiden Steckdosen in der Kabine an. Als Nächstes folgte ein Gerät, das einem alten Transistorradio glich.

Torsten schaltete es ein und lauschte einige Augenblicke der leisen Musik, die aus dem Apparat drang, und grinste dann zufrieden. »Jetzt können wir uns wieder über unseren Job unterhalten. Laut Petra stört das Ding Abhöranlagen und Mikrofone in einem Umkreis von fünf Metern so, dass die Lauscher an der Wand zwar nicht die eigene Schand, dafür aber die Hitlisten von oben nach unten und unten nach oben zu hören bekommen.«

»Wir sollten Kontakt zu Petra aufnehmen und ihr mitteilen, was wir schon herausgefunden haben«, antwortete Henriette.

»Bin schon dabei!« Torsten nahm Henriettes Umhängetasche an sich, die sie vorhin im Schrank verstaut hatte, und öffnete ein innen angebrachtes Schloss mit einem kleinen Schlüssel. Nun kam ein speziell ausgekleidetes Geheimfach zum Vorschein, in dem ein gerade mal DIN-A4-großer, flacher Laptop sichtbar wurde. Er holte das Gerät heraus, klappte es auf und schaltete es ein.

Kaum wurde der Bildschirm hell, erschien auch schon Petras Gesicht darauf. »Na, habt ihr es gut geschafft?«, fragte sie.

»Es gab leichte Probleme, aber nichts Weltbewegendes«, antwortete Torsten.

Petra lachte leise auf. »Ich kann es mir vorstellen. Ich habe mich ein wenig in die Überwachungskameras auf dem Flughafen, im Hurtigruten-Terminal und auf dem Schiff eingeklinkt. Bei euch ist wirklich was los. Im Gegensatz zur baugleichen Midnatsol hat die Trollfjord mehr als die doppelte Passagierzahl. Übrigens sind alle Suiten ausgebucht. Ich schätze, dass sich mehr als die Hälfte von ihnen im Augenblick in Geheimdienstzentralen verwandeln.«

»Davon gehe ich aus. Aber jetzt wollen wir dir ein paar Fotos rüberwachsen lassen. Vielleicht kannst du sie zuordnen.«

Noch während Torsten es sagte, reichte Henriette ihm die Speicherkarte, damit er die Daten übertragen konnte. Es dauerte überraschend lange, bis das Gerät die Transaktion für beendet erklärte.

Torsten blickte verwundert auf den Bildschirm. »Was ist mit dem Kasten los? So lahm war er doch noch nie!«

»Denk an die geografische Breite, in der ihr euch aufhaltet. Dort ist die Satellitenverbindung verdammt schlecht. Sobald ihr den Polarkreis überschreitet, werde ich einen Umweg über ein paar andere Satelliten als den üblichen machen müssen, damit wir überhaupt in Kontakt bleiben können«, erklärte ihm Petra und rief eine Grafik auf, um Torsten und Henriette das Problem aufzuzeigen.

»Das Signal des Satelliten erreicht euch dort oben sehr flach und ist damit schwächer als hier oder gar am Äquator. In ein paar Tagen werdet ihr jenseits des von ihm erreichbaren Gebiets sein, vergleichbar einem Schiff, das auf dem Meer hinter den Horizont verschwindet. Dann ist eine Internetverbindung über Satellit fast unmöglich. Aber ich gebe mein Bestes, damit es auch weiterhin klappt. Jetzt kümmere ich mich erst einmal um die Brüder, die ihr aufgenommen habt. Wenn ich etwas herausgefunden habe, melde ich mich!« Mit diesem Versprechen verschwand Petra vom Bildschirm.

Bevor sie die Verbindung beendete, überspielte sie Torsten noch einige Dateien. Während er diese aufrief, sah Henriette ihn besorgt an. »Wenn Petra Probleme bekommt, mit uns Verbindung zu halten, kann sie uns nicht so unterstützen, wie wir es gewohnt sind.«

»Irgendwie biegen wir das schon hin. Aber schau her! Das ist interessant. Petra hat die Flugbewegungen nach Bergen ausgewertet und dabei zwei Flüge entdeckt, die nicht offiziell gemeldet wurden. Beide kamen aus den Vereinigten Staaten. Wenn das keine Geheimdienstler waren, kannst du mich ab heute Heinrich nennen.«

»Das ist aber nicht sehr galant von dir! Mein Name ist die weibliche Form von Heinrich.«

Doch weder sie noch Torsten gingen weiter auf das Wortspiel ein, sondern nahmen sich die Informationen vor, die Petra ihnen geschickt hatte. Die meisten Flugzeuge, die in Bergen gelandet waren, schienen normale Ferienflieger oder Linienmaschinen zu sein, aber ein paar andere schrien geradezu danach, dass sie Angehörige der verschiedenen Geheimdienste hierhergebracht hatten.

Mit einem Grinsen wies Torsten auf eine spezielle Liste. »Diese Leute hier wurden weder im Flughafen noch bei den entsprechenden Fluglinien namentlich erfasst. Aber das macht sie nicht unsichtbar. Petra hat einen Datenabgleich der gemeldeten Flug- und Bahnpassagiere nach Bergen mit der Reservierungsliste der Trollfjord verglichen. Da diese Personen scheinbar aus dem Nichts auf der Passagierliste dieses Schiffes aufgetaucht sind, gehören sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Geheimdienst.«

»Aber es sind keine Chinesen dabei«, wandte Henriette ein. »Die, die wir gesehen haben, werden nicht nur den Wunsch haben, auf dieser Fahrt das Nordlicht zu sehen.«

»Die Chinesen sind Profis und geübt, unauffällig zu arbeiten. Die Leute, die nach Bergen gekommen sind, sind angeblich Gewinner eines Preisausschreibens. Dieses soll sogar abgehalten worden sein, und zwar noch bevor wir von Nastja Paraginas angeblichem Auftauchen in Paris erfahren haben. Laut Petra wurden die entsprechenden Daten erst danach eingefügt und nach hinten datiert. Hörst du die Nachtigall trapsen?«

»Du glaubst, das Preisausschreiben war nur ein Vorwand, um unauffällig Leute hier einschleusen zu können?«, fragte Henriette und lachte gleich darauf über sich selbst. »Entschuldige! Ich weiß, wir werden nicht fürs Glauben bezahlt, sondern fürs Wissen.«

»Wir werden sie ebenso im Auge behalten wie die US-Girls und -Boys. Übrigens würde es mich nicht wundern, wenn die Amis zu unterschiedlichen Geheimdiensten gehören und im Grunde mehr gegeneinander als miteinander arbeiten. Mit ihrem Kompetenzgerangel haben die Leutchen schon ein paarmal wichtige Aktionen versaubeutelt.« Torsten wollte noch etwas sagen, doch da klopfte es an die Tür. Im Reflex griff er unter seinen Blouson, erinnerte sich dann aber, dass seine wie auch Henriettes Pistole in einem der beiden noch vermissten Koffer steckten.

Mit einem leisen Knurren stand er auf und ging zur Tür. Als er öffnete, stand einer der beiden Kerle, die wie Kleiderschränke wirkten, auf dem Gang und grinste. »Diese beiden Koffer gehören Ihnen, nicht wahr?«

Torsten nickte. »Ja! Wir haben sie schon vermisst.«

»Es tut mir leid, aber heute ist sehr viel los. Zu allem Überfluss kleben auch die Aufkleber nicht richtig, und bei anderen ist die Aufschrift kaum zu lesen. Es freut mich, dass wir die Ihren herausfinden konnten. Hoffentlich schaffen wir das beim Rest auch noch.«

»Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall Erfolg«, antwortete Torsten und steckte dem Mann einen Zwanzigkronenschein zu. Dieser verabschiedete sich und ging mit langen Schritten den Gang entlang.

»Die haben unsere Koffer untersucht«, flüsterte Henriette erregt, nachdem die beiden Gepäckstücke in der Kabine standen und Torsten die Tür geschlossen hatte.

»Das werden wir gleich sehen!« Den Koffer mit seinem persönlichen Gepäck schob Torsten erst einmal in eine Ecke. Bei dem anderen stellte er das Zahlenschloss ein und öffnete ihn vorsichtig, bis er die Hand hineinschieben konnte. Als er einen dünnen Faden ertastete, grinste er.

»Ich glaube nicht, dass jemand seine Finger in diesem Gepäckstück hatte. Petras Sicherung ist noch unversehrt.«

»Und wenn jemand sie wiederhergestellt hat?«, fragte Henriette.

Mit einem Auflachen riss Torsten den Faden ab und machte den Koffer ganz auf. »Unwahrscheinlich, dass sie auf die Schnelle das gleiche Garn zur Hand gehabt haben. Außerdem hat Petra noch ein paar Freundlichkeiten eingebaut, die mir sagen, dass niemand hineingesehen hat.« Torsten nahm einige persönliche Gegenstände heraus und verstaute sie im Schrank. Den Browning HP35 reichte er Henriette, während er selbst das Schulterhalfter mit seiner Sphinx AT2000 umlegte.

»Das kannst du leider nicht tun. Die Beule auf deinen Rippen wäre zu auffällig«, sagte er grinsend.

Henriette antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich habe zwei speziell gearbeitete Handtaschen bei mir. Darin sieht man die Waffe nicht einmal, wenn ich die Dinger aufmache. Aber glaubst du, es ist sinnvoll, jetzt schon mit der Artillerie herumzulaufen? Was ist, wenn wir jemandem damit auffallen? Die Angehörigen anderer Geheimdienste achten bestimmt auf so etwas.«

»Du hast recht! Verstauen wir die Sachen wieder im Koffer und kümmern uns mehr um die Sicherung unserer Unterkunft.«

»Aber nicht zu lange. In einer halben Stunde beginnt das Begrüßungsbüffet, und ich muss sagen, ich habe wirklich Hunger.«

»Das Sandwich war etwas für den hohlen Zahn«, stimmte Torsten ihr zu und legte die Waffen zurück in die Hüllen, welche dem Radar einen ganz anderen Inhalt vorgegaukelt hatten. In den nächsten Minuten räumte er seinen privaten Koffer aus und hängte die Kleidungsstücke in den Schrank. Danach wandte er sich kopfschüttelnd an Henriette.

»Beim nächsten Einsatz lasse ich mir die Klamotten nicht mehr von Petra aussuchen!«

Seine Kollegin musste lachen. »Du kannst hier nicht in Jeans und Lederjacken herumlaufen.«

»Oder in grauen und dunkelblauen Anzügen wie unsere amerikanischen Freunde!« Torsten stimmte in das Gelächter mit ein und suchte sich die Kleidungsstücke heraus, die er an diesem Abend anziehen wollte. Die Sachen mochten zwar nicht seinem persönlichen Geschmack entsprechen, hatten dafür aber einige andere Vorteile. Beide Manschettenknöpfe enthielten winzige Richtmikrofone, seine Krawattennadel war ein Funkgerät, mit dem er mit Henriette über einen von ihren Ohrringen Kontakt halten konnte, und in der Perle auf seinem Einstecktuch befand sich das Objektiv einer Minikamera, die automatisch Aufnahmen machte.

Da Henriette mehr Schmuck tragen konnte, war sie besser ausgerüstet als er. Auch der Inhalt ihrer Handtasche hatte es in sich, denn es gab darin kaum etwas, das nicht irgendeinem Zweck diente.

Mit dem Gefühl, gut auf ihre Aufgabe vorbereitet zu sein, sahen die beiden sich an.

»Ich bin so weit«, erklärte Henriette.

»Ich auch!« Torsten wollte zur Tür, als eine Lautsprecherdurchsage erklang, die die Passagiere mit singendem Tonfall darauf aufmerksam machte, dass in einer Viertelstunde das Begrüßungsbüffet eröffnet werde. »Meine Damen und Herren. Sie haben mit Ihren Bordkarten und den übrigen Unterlagen auch Ihre Tischnummern erhalten. Der Restaurantmanager unseres Schiffes bittet Sie, sich danach zu richten. Diese Plätze sind während der gesamten Fahrt für Sie reserviert. Es wird gebeten, auch das Frühstück an diesen Tischen einzunehmen. Außerdem teilt der Zahlmeister der Trollfjord Ihnen mit, dass Sie Ihre Koffer an der Schiffsrezeption auf Deck vier in Verwahrung geben können. So haben Sie mehr Platz in Ihren Kabinen.«

»Gegen mehr Platz hätte ich nichts, aber wir können unsere Koffer nicht abgeben«, sagte Henriette mit einem Aufstöhnen.

Torsten schüttelte den Kopf. »Wir geben zwei, nein sogar drei Koffer ab. Das ist unverfänglicher, als wenn wir alle hierbehalten würden. Allerdings machen wir das erst nach dem Büffet.«

ZWÖLF

Die Glastüren des Bordrestaurants standen bereits offen, doch die Leute stauten sich in einer Weise davor, dass Henriette und Torsten kaum den Aufzug verlassen konnten. Nach ein paar Schritten sahen sie, dass weiter vorne zwei Besatzungsmitglieder die Passagiere dazu aufforderten, sich die Hände mit dem Inhalt der Sprühflaschen zu desinfizieren, die auf einem schmalen Bord bereitstanden. Schiffsgäste, die sich einfach an ihnen vorbeidrängen wollten, hielten sie auf und zeigten betont auf die Platte mit dem Sprühzeug.

»Wovor haben die Angst?«, fragte Henriette.

»Noroviren und ähnlich unangenehme Dinge«, antwortete Gillmann, der neben sie getreten war. Er hielt den Zettel mit seiner Tischnummer in der rechten Hand, stopfte ihn aber, als sie sich den Sprühflaschen näherten, in seine Hosentasche. Er schaffte es, sich vor Henriette zu schieben, und eilte dann schnurstracks in das Restaurant. Da er jedoch nicht wusste, wie die Tische nummeriert waren, suchte er zuerst auf der falschen Seite.

Henriette und Torsten hatten diese Probleme nicht, denn sie wussten, wo sie sitzen würden. Allerdings gingen sie nicht sofort auf ihre Plätze zu, sondern taten so, als müssten sie ebenfalls suchen. Es war kein Zufall, dass sie dabei an einigen Tischen mit Leuten vorbeikamen, die Petra verdächtigte, zu einem Geheimdienst zu gehören. Torstens im Einstecktuch verborgene Kamera sowie eine zweite, die in Henriettes auffälliger Brosche steckte, nahmen alle verdächtigen Personen auf und sammelten die Daten auf je einer Speicherkarte, die unter ihrer Kleidung versteckt war.

Als die beiden sich dem Tisch 87 näherten, begegneten sie auch wieder Gillmann. Dieser hielt seinen Zettel in der Hand und starrte missmutig darauf. »Können Sie etwas mit der Nummerierung der Tische anfangen? Ich finde meinen nicht«, wandte er sich an Torsten.

»Welche Nummer haben Sie denn?«, fragte Henriette hilfsbereit.

»Tisch 87!«

»Welch ein Zufall! Das ist auch unser Tisch.« Henriette gelang es, freundlich zu klingen, obwohl ihr der Mann nicht sympathisch war.

Unterdessen beschloss Torsten, die Sache abzukürzen. Rechts und links schauend ging er an dem Tisch für die Crew vorbei und zeigte auf den nächsten. »Da ist er doch!«

»Gott sei Dank!«, antwortete Gillmann und nahm Platz, ohne auf Torsten und Henriette Rücksicht zu nehmen.

Henriette schaute, ob es Tischkarten gab, die die Plätze vorgaben. Doch wie es aussah, wurde hier die Tischordnung den Passagieren überlassen. Bevor sie und Torsten sich setzten, grüßten sie das bereits am Tisch sitzende Paar, bei dem es sich dem Aussehen nach um Chinesen handelte. Der Mann war ein schlanker, recht hochgewachsener Mittvierziger in einem dunklen Anzug mit Krawatte, sie wirkte gut zehn Jahre jünger, war klein und zierlich und sah in ihrem rosafarbenen Kostüm sehr apart aus.

»Guten Tag«, antwortete der Chinese in einem nahezu akzentfreien Englisch. »Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Wu Fanglian und das ist meine Frau Dai Zhoushe.«

»Sehr angenehm! Mein Name ist Torsten Schmied und das ist meine Frau Henriette.« Torsten neigte kurz den Kopf, rückte Henriette den Stuhl zurecht und nahm dann selbst Platz. Kaum saß er, beugte Gillmann sich zu ihm herüber und zupfte ihn am Ärmel. »Ich weiß nicht, was die sich dabei gedacht haben, uns zu diesen Ausländern an den Tisch zu setzen. Dabei sind doch genug andere Deutsche an Bord. Ich habe vorhin mit zwei Frauen gesprochen, die ebenfalls mitfahren. Die wären mir als Tischnachbarn lieber als diese beiden dort.«

»Man kann es sich nun einmal nicht aussuchen«, antwortete Torsten. Er hatte den Verdacht, dass Gillmann keine Fremdsprachen beherrschte und sich deshalb ärgerte. Oder hatte der Mann grundsätzlich etwas gegen Ausländer? Er quittierte die Überlegung mit einem inneren Schulterzucken, denn er hatte einen Job zu erledigen. Wichtiger war es herauszufinden, ob das chinesische Paar ebenfalls zum Geheimdienst gehörte oder tatsächlich nur auf Reisen war.

Henriette unterhielt sich bereits mit Frau Dai. Beide hatten rasch ein Thema gefunden, denn die Chinesin interessierte sich dafür, wie eine Asiatin nach Deutschland kam.

»Ich bin bereits das Ergebnis einer deutsch-philippinischen Ehe«, antwortete Henriette freundlich. »Meine Mutter ist als Krankenschwester nach Deutschland gekommen, und mein Papa war ihr erster Patient.«

Torsten verfolgte die Unterhaltung der beiden Frauen eine Weile und fand, dass seine Kollegin ihre Rolle ausgezeichnet spielte. Gleichzeitig fragte er sich, für wen die restlichen drei Plätze am Tisch reserviert waren. Kurz darauf führte eine Stewardess einen baumlangen jungen Mann in Jeans und einem Hemd mit Westernmotiven heran und erklärte ihm auf Englisch, dass dies Tisch 87 sei.

»Thank you!«, antwortete der fröhlich und sah seine fünf Tischnachbarn an. »Hello!«

Gillmann verdrehte die Augen. »Noch so ein Ausländer, mit dem man nicht ein Wort wechseln kann. Ich muss mit den Leuten hier reden. Das kann doch nicht sein!«

Noch während er nach einer Stewardess oder einem Steward Ausschau hielt, kam ein junges Pärchen heran, sah das Schild mit der 87 und atmete auf.

»Hier sind wir richtig, Schnuckelchen«, sagte der Mann.

»Wir haben auch lange genug gesucht!« Die junge Frau klang leicht verärgert und setzte sich, ohne sich vorzustellen. Der Mann tat es ihr nach, nahm die Getränkekarte an sich und las stirnrunzelnd die Preise für die einzelnen Posten vor.

»Die haben doch nicht alle! Wenn ich den Wechselkurs richtig im Kopf habe, verlangen die für ein Glas Wein zwölf Euro. Dafür bekommen wir zu Hause eine ganze Flasche.«

»Soviel ich gehört habe, ist das Wasser im Reisepreis inbegriffen«, mischte sich Gillmann ein, der froh war, mit jemandem deutsch reden zu können. »Aber Sie haben schon recht. Die Getränkepreise hier sind gesalzen. Deswegen werde ich wohl alkoholfreies Bier trinken. Das ist billiger. Übrigens gibt es auch alkoholfreien Wein. Wenn Sie hier schauen wollen!«

Er nahm dem anderen die Getränkekarte ab und wies auf die entsprechende Stelle.

»Ich will aber keinen alkoholfreien Wein«, maulte die junge Frau. »Ich habe mich auf diese Reise gefreut und möchte sie genießen!«

Ein Blick traf ihren Partner, der diesem deutlich machte, dass sie sich keinerlei Einschränkungen unterwerfen würde.

Da ihm das zuletzt angekommene Paar uninteressant erschien, wandte Torsten seine Aufmerksamkeit dem Rest des Saales zu. Sie saßen dicht am Büffet, das ein großes Oval in der Mitte des Saals bildete. Rechts und links davon gab es je vier Reihen Tische bis zu den Fenstern. Zwar konnte er von seinem Platz aus nur einen Teil des Büffets überblicken, stellte aber zufrieden fest, dass die Schifffahrtsgesellschaft so einiges hatte auffahren lassen. Ein paar Tische weiter auf die Eingangstür zu nahmen die Kellner bereits die Getränkebestellungen auf.

Ein Blick auf die Uhr zeigte Torsten, dass sich die Eröffnung des Büffets bereits um eine halbe Stunde verzögert hatte. Die meisten Passagiere saßen schon auf ihren Plätzen, nur noch vereinzelt kamen Nachzügler herein. Von den beiden Personen jedoch, um deretwegen viele der Anwesenden die Reise auf der Trollfjord gebucht hatten, fehlte jede Spur.

Gerade als Torsten sich fragte, ob ihr Auftrag sich als ein Schuss in den Ofen erweisen würde, betraten zwei weitere Gäste den Raum. Das Gerede im Saal erstarb wie auf Kommando, und die meisten Passagiere starrten den hochgewachsenen, sportlich wirkenden Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht und den kurz gehaltenen, weißblonden Haaren an. Er trug enge, schwarze Hosen und eine schwarze Weste über einem weißen Hemd. Die Frau, die ihm folgte, erregte noch mehr Aufmerksamkeit. Auch sie war groß, schlank und blond. Ihr weißes Kostüm stammte ebenso wenig aus einem Billigladen wie die weißen Schuhe mit den mehr als zehn Zentimeter hohen Absätzen. Da sie auch weiße Handschuhe anhatte, stellte ihre schwarze Handtasche den einzigen Kontrast dar.

Torsten wechselte einen kurzen Blick mit Henriette, die sich ebenso wie er fragte, was Nastja Paragina und Espen Terjesen dazu bewog, so aufzutreten. Sogar der letzte Geheimdienstlehrling konnte erkennen, dass seine Zielpersonen aufgetaucht waren.

Es schien, als würden die beiden ihren Auftritt genießen. Um die Lippen der Frau spielte ein spöttisches Lächeln, während Espen Terjesen eine der Stewardessen zu sich winkte.

Was er zu ihr sagte, konnten Henriette und Torsten von ihrem Platz aus nicht verstehen. Kurz darauf schritten Nastja Paragina und Terjesen an ihnen vorbei in den Teil des Bordrestaurants, der besonderen Gästen vorbehalten war. Ein Kellner führte sie an einen Tisch und fragte, was die Herrschaften zu trinken wünschten.

Gillmann maulte. »Zu uns könnte auch endlich ein Kellner kommen und die Bestellung aufnehmen!«

»Ich glaube nicht, dass man uns verdursten lässt!« Torstens Augenmerk war viel zu sehr auf das Paar im abgeschlossenen Teil des Restaurants gerichtet, als dass er die Geduld aufgebracht hätte, sich Gillmanns Gemeckere anzuhören. Er machte einige Aufnahmen von Nastja Paragina und Espen Terjesen und fotografierte auch die Gäste, die in ihrer Nähe saßen.

Die Gruppe im vorderen Speisesalon erhielt ihre Getränke vor den restlichen Passagieren. Auch besorgten die Stewards den Herrschaften die ersten Leckerbissen, obwohl das Büffet noch nicht eröffnet worden war.

Bei den anderen Passagieren machte sich daher allmählich Unmut breit. Gillmann beschwerte sich erneut, doch niemand hörte auf ihn. Das junge Pärchen war mit sich selbst beschäftigt, das chinesische Paar saß freundlich lächelnd da, und der Mann im Westernlook studierte mit erstaunlicher Ausdauer die Getränkekarte.

»Was wünschen die Damen und Herren zu trinken?« Endlich erschien ein Steward und sah die acht am Tisch 87 erwartungsvoll an.

»Wasser ohne Kohlensäure und ein alkoholfreies Bier«, meldete Gillmann als Erster seine Wünsche an.

»Ich möchte ein Glas Merlot und du, Schnuckiputz?«, fragte der weibliche Teil des jungen Pärchens. Ihr Partner nahm dem Westernhelden die Getränkekarte ab, sah hinein und warf sie auf den Tisch.

»Ein Glas alkoholfreies Bier. Richtiges Pils haben Sie ja eh nicht«, sagte er mürrisch.

Der Steward nickte beflissen. »Wir haben Pils an Bord.«

»Ich will aber alkoholfreies Bier. Das andere ist mir zu teuer!« Damit war für den jungen Mann die Sache erledigt.

Der Mann im Westernhemd sah zuerst Henriette und Torsten und dann Herrn Wu und Frau Dai an, bevor er bestellte. »Ein ganz normales Bier.«

Nach einem kurzen Blickkontakt mit Torsten bestellte Wu Fanglian die Getränke für sich und seine Frau. »Eine Tasse Tee und ein Bier!«

»Wir hätten gerne ein Glas alkoholfreien Wein und ein alkoholfreies Bier. Außerdem habe ich eine Frage«, erklärte Torsten, der zuletzt an die Reihe kam. »Wann gibt es endlich was zu essen? Wir haben zu Mittag nur ein Sandwich bekommen und entsprechend Hunger.«

Der Steward behielt seine freundliche Miene bei. »Gleich wird der Kapitän die Gäste begrüßen, und danach bringen wir die Suppe. Anschließend wird das Büffet eröffnet.«

»Dann sollte der Kapitän seine Rede kurzhalten, sonst gibt es eine Meuterei an Bord, noch bevor wir in See gestochen sind!« Torsten lächelte, doch niemand, der ihn kannte, hätte seine Miene freundlich genannt.

Inzwischen war der Tisch der Crew neben ihrem eigenen voll besetzt. Der Kapitän, ein stattlicher Mann in einer arg engen Uniform, erhob sich, nahm ein Mikrofon zur Hand und sagte mehrere Sätze auf Norwegisch, bevor er die Gäste auf Englisch begrüßte und ihnen eine gute Reise wünschte.

Die Suppe wurde bereits aufgetragen, als ein ebenfalls gut gepolsterter Mann in Uniform das Mikrofon übernahm und eine weitere Ansprache auf Norwegisch, Englisch und Deutsch hielt.

»Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie im Namen der Hurtigruten-Gesellschaft. Mein Name ist Kjell Wallström. Ich bin der Reiseleiter auf Ihrem Schiff. Als Erstes möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir auf unserer Reise in die Mittwinternacht eine große Anzahl an Exkursionen für Sie vorbereitet haben. Sie haben die Liste mit Ihren Schiffsunterlagen erhalten und können sie in unserem Reisebüro auf Deck acht buchen. Damit wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.«

Wie auf Kommando entfernten nun eine Stewardess und zwei Stewards die Bänder, mit denen das Büffet bisher abgesperrt gewesen war, und gaben den Weg frei.

Gillmann hatte seine Suppe bereits geleert und gehörte zu den Ersten, die sich ohne Rücksicht auf das Büffet stürzten. Obwohl Henriette und Torsten Hunger hatten, warteten sie, bis die Reisenden vor ihnen so weit aufgerückt waren, dass sie selbst die Teller in die Hand nehmen konnten. In der Zwischenzeit nutzten sie jede Gelegenheit, andere Passagiere und auch die Angehörigen des Servicepersonals zu fotografieren.

Darüber vergaßen sie nicht, den einen oder anderen Leckerbissen auf ihre Teller zu legen. Das Angebot war reichhaltig, und das Küchenpersonal brachte sofort Nachschub, wenn etwas ausging. In der Hinsicht stellte die Trollfjord selbst Gillmann zufrieden. Dieser hatte seinen Teller so beladen, dass Henriette sich fragte, wie der Mann diesen Berg unfallfrei zu seinem Platz schaffen wollte. Sie selbst wählte noch ein paar Krebse aus, während Torsten einen Schlag Erbsenmus auf seinen Teller tat und sich dann an Fleisch und Wurst hielt.

Als sie zu ihrem Tisch zurückkehrten, waren die Suppenteller abgeräumt worden, und der Steward hatte die Getränke gebracht. Für je zwei Personen stand eine große Flasche Wasser bereit. Henriette benutzte ihre, um ihren Wein zu verdünnen, während Torsten einen Schluck Bier trank und das Glas mit einem zufriedenen Nicken zurückstellte.

Gillmann zog nach dem ersten Schluck eine säuerliche Miene. »Na ja, der Durst treibt’s rein«, murrte er und bestellte beim Bedienungspersonal eine zweite Flasche. Dem Wasser, das er sich mit dem Westernhelden hätte teilen können, gönnte er keinen Blick.

Geraume Zeit hörte man nur das Klappern der Bestecke. Torsten warf hie und da einen verstohlenen Blick auf Nastja Paragina und Espen Terjesen. Die beiden stellten sich nun ebenfalls beim Büffet an und boten dabei das Bild eines jungen, fröhlichen Paares, das die Reise genoss. Dennoch nahm Torsten die kleinen Anzeichen wahr, die die Anspannung der beiden verrieten. Sein Instinkt meldete sich und sagte ihm, dass Terjesen und die Paragina etwas planten, das bestimmt nicht in seinem Sinn und vermutlich auch nicht in dem der übrigen Geheimdienstler hier an Bord war. Also war es das Wichtigste herauszufinden, was die beiden vorhatten.

Gerade, als er den Entschluss gefasst hatte, beugte Henriette sich zu ihm hin und tat so, als würde sie ihn auf die Wange küssen. »Vorsicht, der Mann an dem dritten Tisch auf der Steuerbordseite schaut immer wieder zu dir her«, wisperte sie.

»Das Schweinefleisch schmeckt wirklich ausgezeichnet. Du solltest es probieren«, antwortete Torsten und sah Henriette auffordernd an.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke! Ich bleibe bei meinen Fischen und Krebsen.«

Sie zeigte auf die Wasserflasche. »Kannst du mir die reichen?«

»Gerne!« Torsten drehte sich in die Richtung und lobte seine Kollegin in Gedanken.

Sie hatte es ihm mit ihrer Bitte ermöglicht, unauffällig zu jenem Tisch an Steuerbord hinüberzuschauen. Wie die meisten anderen Tische war auch dieser voll besetzt, aber ein Mann fiel ihm sofort auf. Das lag nicht an dessen Größe oder Kleidung, sondern an dem energisch wirkenden Gesicht und den durchdringenden hellen Augen. Es handelte sich um John Thornton vom amerikanischen Heeresgeheimdienst, den Torsten ebenso wie Larry Frazer in Afghanistan kennengelernt hatte.

Aber das konnte er Henriette nicht hier im Restaurant mitteilen. Diese Information würde warten müssen, bis sie wieder in ihre Kabine zurückgekehrt waren.

Seines Erachtens hatte der Auftrag inzwischen eine Dimension angenommen, die ihm und seiner Kollegin all ihr Können abverlangen würde. Mit diesem Gedanken stand er auf, um sich einen Nachschlag zu holen.

Henriette folgte ihm mit geschmeidigen Bewegungen und trat an die großen Schalen, die allerlei Meeresgetier enthielten. »Das Essen hier ist einfach herrlich, Schnuckiputz!«, rief sie dabei so laut, dass es an den umliegenden Tischen gehört werden musste.

Bei dem Ausdruck bekam Torsten Zahnschmerzen, und er überlegte, wie er sich dafür revanchieren konnte. Für seinen Geschmack hatte Henriette zu lange dem jungen Paar an ihrem Tisch zugehört, das sich gegenseitig nur mit Schnuckelchen anredete.

DREIZEHN

In ihrer Kabine aktivierte Torsten als Erstes ihr Abschirmgerät, damit ihnen niemand zuhören konnte. Dann stöhnte er laut und schüttelte den Kopf. »War das ein Betrieb! Man glaubt kaum, dass so viele Leute auf dieses Schiff passen.«

»Mich wundert es nicht. Die Kabinen sind ja klein genug dafür!« Henriette war über ihren privaten Koffer gestolpert und daher nicht gerade bester Laune. Sie beherrschte sich jedoch und deutete auf den Laptop, den Torsten offen auf dem kleinen runden Tisch neben seiner Bettcouch hatte stehen lassen. »War das nicht riskant?«

»Ich glaube kaum, dass bereits am ersten Tag die Kabinen von harmlosen Touristen durchsucht werden, und wenn doch, hätte gerade diese Tatsache Misstrauen beseitigt. Das Ding ist mit zwei Betriebssystemen geladen, eines für uns und eines für neugierige Gäste. Ich weiß zwar nicht, was Petra da alles zusammengebastelt hat, aber ich bin davon überzeugt, dass alles seine Richtigkeit hat.«

»Und was ist mit unserer Ausrüstung?« So ganz konnte Henriette nicht glauben, dass diese neugierigen Augen entgehen würde.

»Da keine bösen Buben gekommen sind und die Koffer aufgebrochen haben, ist bisher nichts passiert. Wir müssen darauf achten, dass nichts zu sehen ist, wenn einer von uns die Tür öffnet und draußen jemand vorbeigeht. Außerdem werden wir unsere Kabine so sichern, dass nur wir sie mit unseren Bordkarten öffnen können. Allerdings werden wir in der Zeit das Schild ›Bitte nicht stören‹ raushängen müssen.«

Torsten klappte den Laptop auf, wartete, bis er hochgefahren war, und schaltete ihn wieder auf das eigentliche System um. Kaum war das erledigt, tauchte Petras Gesicht auf dem Bildschirm auf.

»Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen«, beschwerte sie sich.

»Sorry, aber das Abendessen verlief arg zäh«, erklärte Torsten bedauernd.

»Ihr habt wenigstens etwas essen können, während ich bereits halb verhungert bin!«

»Und was ist mit der Pizzaschachtel schräg hinter dir?«, fragte Torsten grinsend.

»Das war gerade mal eine Vorspeise. Und jetzt erzähle! Habt ihr Nastja Paragina und Espen Terjesen gesehen? Laut der letzten Passagierliste müssten sie an Bord sein.«

»Sind sie auch. Wir schicken dir gleich einige hundert Fotos, die wir gemacht haben. Vielleicht kannst du ein paar Leute identifizieren.«

Torsten steckte seine Speicherkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz und startete die Transaktion. Während die Übertragung lief, erfuhr er von Petra, dass auch in Trondheim, Bodø und Tromsø Ausländer zusteigen würden.

»Ich habe von ihnen nur aus den Dateien in den Computern der Hurtigruten erfahren«, setzte sie hinzu. »Daher nehme ich an, dass die neuen Passagiere sich ebenfalls für unsere beiden Freunde interessieren. Unser großer Guru befürchtet, die Russen werden versuchen, die Frau, die wir für Nastja Paragina halten, oben in Kirkenes zu entführen. Das Gleiche gilt für die Amerikaner, die auf der Belkowski-Insel noch mit den Russen zusammengearbeitet haben. Derzeit ist die Wissenschaftlerin der einzige Mensch auf der Welt, der über die dort erzielten Forschungsergebnisse Bescheid weiß. Das könnte einige andere böse Buben dazu veranlassen, dieses Wissen mit ihr zusammen verloren gehen zu lassen – wenn du verstehst, was ich meine.«

»Klar und deutlich! Aber jetzt zu den Fotos, dir wir dir am Nachmittag geschickt haben. Hast du schon etwas herausgefunden?«, fragte Torsten.

Petra grinste wie ein selbstzufriedener Buddha. »Natürlich! Die Daten spiele ich dir zu, sobald dein Datentransfer abgeschlossen ist.«

»Was ist mit den beiden Kerlen, die das Format von Kleiderschränken haben?«, wollte Henriette wissen.

»Die arbeiten seit zwei Jahren bei der Hurtigruten-Linie«, erklärte Petra, nahm ihre Tasse zur Hand und blickte missmutig hinein. »Da drin ist Kakao! Langsam gewöhne ich mich an das Zeug. Aber weiter zu den beiden Burschen: Sie haben vorher bei International Energies gearbeitet.« Petra trank die Tasse leer und hielt sie hoch. »Ich könnte noch eine brauchen!«

»Kein Problem!« Hans Borchart grinste kurz in die Kamera. »Na, wie fühlt ihr euch?«

»Derzeit wie eine Ölsardine ohne Öl. Die Kabine ist eng, das Schiff ist mit Leuten vollgestopft, und wir können nichts anderes tun als zugucken.« Henriette kämpfte schon wieder mit einem Anfall schlechter Laune. Außerdem ärgerte sie sich, weil ihr Verdacht bezüglich der beiden wuchtig gebauten Hurtigruten-Angestellten sich in nichts aufzulösen schien, da diese längst nicht mehr für International Energies arbeiteten.

Doch noch war Petra nicht fertig. »Eigentlich ist es nichts Ungewöhnliches, wenn zwei Männer, die auf Bohrplattformen gearbeitet haben, sich hinterher einen gemütlicheren Job suchen. Weder Bjarne Aurland noch Age Hemsedalen haben wirklich malocht, denn sie gehörten zum Wachpersonal. Übrigens war Aurland bei dem Unfall dabei, bei dem die echte Marit Söderström ums Leben gekommen ist. Damit zählte er zumindest damals zum engeren Kreis um Torvald Terjesen. Als solcher lässt man nicht ohne Grund einen gut bezahlten Job sausen und heuert bei den Hurtigruten an.«

»Und welchen Grund kann Aurland gehabt haben?«, fragte Henriette gespannt.

Petra zuckte mit den Achseln. »Das müssen wir noch herausfinden. Interessant ist, dass sein Kollege Hemsedalen zum Stellvertreter des Zahlmeisters auf der Trollfjord aufgestiegen ist und in dieser Funktion auch auf eigene Faust Fracht transportieren lassen kann. Ich werde morgen zusehen, ob ich etwas mehr über die beiden und ihre Aktivitäten herausfinde. Jetzt möchte ich ins Bett.«

»Kannst du noch eine Frage beantworten? Wer ist der Kerl an dem dritten Tisch auf der Backbordseite, der Torsten mehrfach angestarrt hat?«, fragte Henriette.

Torsten lachte auf. »Das kann ich dir sagen! Der Mann heißt John Thornton. Ich kenne ihn aus Afghanistan. Damals gehörte er noch zum Geheimdienst der U. S. Army. Er wurde bei dem Einsatz verletzt und musste den Dienst quittieren. Was er jetzt macht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er bei einem der zivilen amerikanischen Geheimdienste angeheuert. Wenn wir hier auf der Trollfjord einen Verbündeten brauchen, ist er die erste Adresse.«

Sowohl Henriette wie auch Petra begriffen, dass hinter dem Ganzen mehr stecken musste, als Torsten mit dürren Worten erklärt hatte. »Ich werde ihm auf alle Fälle einmal nachspüren, aber erst morgen«, sagte Petra.

»Das heißt eher heute! Das Büffet hat beinahe bis Mitternacht gedauert«, korrigierte Henriette sie.

»Ja, es ist spät geworden«, stimmte Petra ihr zu. »Nur noch eines! Wenn ihr euch über die vielen Leute an Bord wundert: Die meisten von denen sind harmlose Gesellen. Es gab vor ein paar Monaten einen längeren Filmbericht über die Hurtigruten-Fahrten, außerdem wurde stark für diese Reisen geworben. Das hat viele dazu bewogen, sie zu buchen, vor allem die eure, auf der Weihnachten am entferntesten Punkt der Route gefeiert wird. Ein Wort noch zu den sechsundfünfzig Chinesen an Bord: Die Bonzen in Peking haben die in Marsch gesetzt, damit ihre Agenten im Rudel verschwinden. Auch die Amis und Russen haben einige harmlose Menschen dazu animiert, auf der Trollfjord mitzufahren. Ihr könnt damit rechnen, dass die, die am meisten auffallen, keine Geheimdienstler sind.«

Damit wollte Petra die Datenübertragung beginnen, hielt aber in der Bewegung inne und fügte noch etwas hinzu. »Fast hätte ich es vergessen: Bei euch oben ist für die nächsten Tage kein besonders gutes Wetter angesagt. Zieht euch warm an, wenn ihr ins Freie geht. Nicht dass ihr zu Eis erstarrt!«

Bevor Henriette oder Torsten darauf reagieren konnte, schaltete sie auf den Übertragungsmodus.

»Es tut mir leid, dass wir sie so lange aufgehalten haben. Immerhin muss sie auf sich und ihr Baby achtgeben«, sagte Henriette und wandte sich mit einem fragenden Blick an Torsten. »Wer geht als Erster in die Hygienezelle?«

»Geh du ruhig. Ich bringe noch rasch die Koffer weg.«

»Glaubst du, die Schiffsrezeption ist noch besetzt?«, fragte Henriette verwundert.

Torsten stieß ein freudloses Lachen aus. »Das hier ist ein Fährschiff! Der Kasten läuft in der Nacht mehrere Häfen an, daher muss jemand unten sein.«

»Fahren wir schon?«, fragte Henriette und gähnte. Dann kniete sie sich auf die Bettcouch und starrte durch das Fenster nach draußen. »Muss wohl so sein, denn ich sehe Gischt aufspritzen. Dabei habe ich gar nicht bemerkt, wie wir abgelegt haben.«

»Du warst zu sehr auf unsere möglichen Konkurrenten konzentriert. Allerdings war der Ruck kaum zu spüren, und hier zwischen den Inseln fährt die Trollfjord wie auf Schienen. Aber du hast Petra gehört. In ein paar Tagen ist das vorbei, und wir lernen die raue Wirklichkeit der nördlichen Meere kennen.«

Noch während er es sagte, begann Torsten, ihre Ausrüstung umzupacken. Was auch durch Zufall nicht gesehen werden durfte, wanderte in Henriettes Spezialkoffer. Diesen verschloss er sorgfältig und schob ihn unter das Klappbett. Ihren privaten Koffer steckte er in einen der seinen und schob diese zur Tür. Bevor er ging, steckte er noch einen Beutel in seine Jackentasche, in dem es leise klirrte.

»Es kann ein wenig dauern, bis ich zurückkomme. Leg dich ruhig schlafen.«

»Als wenn ich das könnte, wenn ich weiß, dass du draußen auf Erkundung gehst!«, maulte Henriette.

»Hier in der Kabine kann ich schlecht auf Erkundung gehen«, antwortete Torsten lachend und wollte hinaus.

Da hielt Henriettes Ruf ihn zurück. »Welches Bett willst du?«

Torsten musterte die beiden Schlafstellen, die selbst ein anspruchsloser Reisender als schmal und unbequem empfinden musste, und beschloss, höflich zu sein. »Nimm das Bett an der Seitenwand, unter dem dein Koffer liegt. Ich werde mit der Bettcouch unter dem Fenster vorliebnehmen.«

»Gut!«, murmelte Henriette, die zu müde war, um sich dagegen aussprechen zu können. Während sie ihre Sachen für die Nacht zusammensuchte, verließ Torsten die Kabine und schob die beiden großen Koffer in Richtung Aufzug.

VIERZEHN

Auf Deck drei wurde Torsten die Koffer los. Die Frau an der Rezeption sah ihn kommen und lachte. »Ihre Koffer sind wohl ein wenig zu groß für Ihre Kabine!«

»Das können Sie laut sagen«, antwortete Torsten. »Ich hätte sie gerne schon eher abgeliefert, aber die Durchsage kam zu spät.«

»Es steht auch in den Schiffsunterlagen, dass unser Zahlmeister die Koffer während der Fahrt verstauen kann«, erklärte die Frau, während sie zwei Aufkleber heraussuchte und von Torstens Bordkarte die Zimmernummer ablas. »Aber ich bin trotzdem froh, dass Sie jetzt noch kommen. Spätestens am Vormittag werden die meisten Passagiere bemerkt haben, dass ihre Koffer nicht gerade die idealen Zimmergenossen sind.«

Die Frau reichte Torsten die ausgefüllten Aufkleber und bat ihn, diese an den Koffern anzubringen. Er erhielt eine Bescheinigung, die er vorzeigen sollte, wenn er sie wieder abholen wollte. Dann verschwand die Frau mit den beiden Gepäckstücken durch eine Tür.

Torsten blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete die Bilder des norwegischen Königspaars an der Wand sowie die Plakate, die auf Ausflüge hinwiesen. Um nicht aufzufallen, würden Henriette und er ein paar davon mitmachen müssen. Er beschloss, die Auswahl seiner Kollegin zu überlassen. Nun aber hatte er etwas anderes vor.

Mit ein paar Schritten war er beim Aufzug. Trotz der späten oder, besser gesagt, frühen Stunde war dieser in der Zwischenzeit benutzt worden. Lächelnd wartete Torsten, bis er wieder hielt, und drückte erst einmal die Sechs. Auf dem Deck angekommen, öffnete er eine der schweren Türen, die ins Freie führten, und trat auf den um das ganze Schiff führenden Gang hinaus.

Es war kalt, und ein leichter Wind blies ihm entgegen. Fröstelnd zog er seinen Blouson zu und sagte sich, dass er beim nächsten Mal einen Pullover darunter tragen oder gleich den dickeren Parka anziehen musste. Trotzdem ging er einmal um das ganze Schiff herum und sah sich dabei die Rettungsboote an. Sie waren recht groß und blieben im Grunde unbeachtet, also stellten sie ein gutes Versteck dar. Er machte nicht den Fehler, die gelbe Abdeckung an einem der Boote zu öffnen und hineinzuschauen, horchte aber mit Hilfe seiner Manschettenmikrofone in die Richtung jedes Bootes.

Es war nichts zu vernehmen. Dennoch war er sicher, dass sich noch vor kurzem jemand in einem der Boote aufgehalten hatte. Auf dem Deck lag Schnee, und er konnte die Abdrücke von grobstolligen Winterschuhen erkennen, die von dem Boot wegführten.

So ein Amateur, dachte Torsten, fragte sich aber gleichzeitig, ob es sich um eine Falle handeln konnte. Wenn es so war, sollte ein anderer als er sich darin verfangen. Er verließ den Gang durch dieselbe Tür, durch die er ihn betreten hatte, und sah, dass der Fahrstuhl erneut benutzt worden war. Aus diesem Grund stieg er die Treppe hoch und tat so, als wolle er sich die dort hängenden Bilder anschauen. Auf dem achten Deck verließ er das Treppenhaus.

Nun galt es, vorsichtig zu sein, um kein Aufsehen zu erregen. Von Petra wusste er, dass ihre Zielpersonen sich in der Reeder-Suite an Steuerbord aufhielten. Am besten war diese über die Backbord-Reeder-Suite oder die anschließende Grand-Suite zu überwachen, doch die eine hatten Amerikaner gemietet und die andere mehrere Serben, bei denen Torsten gewettet hätte, dass sie in Wirklichkeit russische Pässe hatten.

Vorsichtig spähend näherte er sich dem Eingang der Suite, bemerkte einen Schatten und wich bis zur Treppe zurück. Jemand kam aus dem nach dem Maler Kaare Espolin Johnson benannten Aufenthaltsraum, steckte unterwegs ein Handy ein und verschwand in einer der Grand-Suiten, ohne ihn zu bemerken.

Torsten schlich wieder nach oben, huschte nach vorne und drückte einen stecknadelkopfgroßen Gegenstand in den Teppichboden des Ganges. Danach kehrte er zur Treppe zurück und sah sich ein Deck tiefer einem großen, hageren Mann gegenüber, der ihm grinsend entgegensah.

»Ich dachte mir doch, dass du nur der crazy German sein kannst!«

»Hallo John! Das ist aber eine Überraschung.« Torsten versuchte nicht einmal, John Thornton weiszumachen, dass er nicht der war, für den dieser ihn hielt. Dafür kannten sie einander zu gut.

»Mit deiner Begleiterin hättest du mich beinahe getäuscht«, sagte der Amerikaner kopfschüttelnd. »Den Trick kannte ich von dir noch nicht.«

»Wie geht es dir, John? Alles gut überstanden?« Torsten klopfte dem anderen auf die Schulter, als wären sie wirklich Freunde, sie sich durch Zufall wiedergetroffen hatten und sich darüber freuten.

»Hast du Lust auf einen Drink? Die Bar ist noch offen«, schlug Thornton vor.

»Gerne!« Torsten folgte dem Mann nach vorne.

Nur ein paar einzelne Gäste saßen auf den Sesseln, während ein weiß gekleideter Steward bereits die Gläser für den kommenden Tag einräumte.

»Einen Whisky Soda«, bestellte Thornton. »Und was trinkst du?«

»Ein alkoholfreies Bier.«

»Kommt sofort!« Der Barkeeper unterbrach seine Tätigkeit und füllte die beiden Gläser.

Thornton nahm sie entgegen und wies mit dem Kinn zum Eingang der Panorama-Lounge. »Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen, Crazy!«

»Das kann man wohl so sagen«, antwortete Torsten grinsend und folgte seinem Bekannten in einen großen Raum, der ringsum mit Fenstern ausgestattet war, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Dort saßen trotz der Dunkelheit einige Passagiere und starrten in die nordische Nacht hinaus.

»Es ist doch sonderbar, dass so viele so viel Geld ausgeben, um in einem solchen Klima auf einem unbequemen Schiff zu reisen«, begann Thornton das Gespräch.

Torsten spürte die Anspannung seines Gegenübers und lächelte. »Da magst du recht haben.«

»Vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich haben sie das Gefühl, auf diese Weise die Grenzen der Zivilisation abzustreifen, und suchen den Hauch der Einsamkeit, ohne es wirklich sein zu wollen. Aber jetzt cheers!« Thornton hob sein Glas Torsten entgegen.

Dieser stieß mit ihm an und trank einen Schluck seines alkoholfreien Bieres. »Was hast du getrieben, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«, fragte er.

»Dasselbe wollte ich dich fragen!« Der Amerikaner lachte mit einem gekünstelten Unterton auf und hob in einer unbestimmten Geste die Hände. »Dann eben ich zuerst. Also, nachdem ich mich von meinem Unfall erholt hatte, habe ich erst einmal Urlaub in Alaska gemacht und mir überlegt, wie ich einen neuen Anfang machen könnte, denn in meinen alten Job konnte ich nicht mehr zurückkehren. Ein Freund, der mit mir auf dem College war, hat mir schließlich eine Stelle angeboten, und nun bin ich im mittleren Management seiner Firma beschäftigt. Das Gehalt ist annehmbar und der Job abwechslungsreich genug, um mich nicht zu langweilen. Und du?«

»Ich bin ins Autogeschäft eingestiegen und verkaufe jetzt Neuwagen«, log Torsten. »Meine Frau hat irgendwann eine Werbung für diese Fahrt entdeckt und mich so lange gelöchert, bis ich sie gebucht habe.«

»Eine hübsche Frau! Asiatin?«, fragte Thornton.

Torsten schüttelte den Kopf. »Nur halb. Sie wurde in Deutschland geboren. Aber ich glaube, ich sollte jetzt wieder in meine Kabine. Sonst denkt sie noch, ich wäre ins Meer gefallen. Wir können noch ein andermal plauschen.«

»Das sollten wir auch tun. Wie wäre es um …«, Thornton sah auf seine Uhr, »… heute um neun Uhr morgens auf Deck neun draußen auf dem Sonnendeck? Hier habe ich das Gefühl, als krabble mir zu viel Getier herum.«

Den Hinweis auf die Wanzen, die hier höchstwahrscheinlich versteckt waren, verstand Torsten. »Also gut, um neun! Bis dorthin werden wir ja wohl mit dem Frühstück fertig sein.« Er trank aus, reichte Thornton die Hand und grinste. »Gute Nacht, Old Boy.«

»Gute Nacht, Crazy. Und pass auf dich auf!« Thornton klopfte Torsten auf die Schulter und ging vergnügt davon.

Einige Sekunden sah Torsten ihm nach, dann stand auch er auf, ging zum Lift und fuhr ein Deck tiefer. Als er seine Kabine erreichte, schlief Henriette bereits. Er machte sein Bett zurecht, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und ging in das winzige Badezimmer. Während er sich die Zähne putzte, fragte er sich, welche Pläne John Thornton tatsächlich verfolgte. Das Märchen mit dem Managerposten glaubte er ihm ebenso wenig wie dieser ihm den Autoverkäufer abnahm.