Kapitel 19

 

Gleich am nächsten Morgen machte ich mich an die Bewältigung der neuen Herausforderung.

Es war eine ziemlich harte Nuss, die Lily mir da zu knacken gegeben hatte, mindestens eine Kokosnuss, wenn nicht sogar eine Macadamia. Allein die Vorstellung, von oben in die Tiefe zu blicken, brachte mich ins Schwitzen.

Ich zwang mich, an etwas Schönes zu denken. Der gestrige Abend bot sich da geradezu an. Sebastian hatte mich zum Essen abgeholt, danach waren wir ins Kino und anschließend noch einen Cocktail trinken gegangen.

Allerdings war keiner von uns besonders darauf scharf gewesen, noch einmal das Blue Moon zu betreten. Stattdessen hatten wir uns eine gemütliche kleine Altstadtkneipe ausgesucht.

Erstaunlicherweise war es uns gelungen, ziemlich unbefangen miteinander umzugehen, auch wenn ich manchmal das dringende Bedürfnis verspürt hatte, seine Hand zu berühren oder mich einfach ein bisschen anzulehnen. Unter Aufbringung all meiner Willenskraft hatte ich es geschafft, mich zu beherrschen. Ich hätte ja auch schlecht von Sebastian verlangen können, dass er rein freundschaftlich mit mir umging, nur um dann meinerseits an ihm herumzufummeln. Und er war tatsächlich den ganzen Abend über standhaft geblieben. Selbst beim Abschied hatte er nicht versucht, mich zu küssen.

So ganz hatte mir das allerdings auch nicht gepasst.

Mit dem Gedanken an die angenehmen Stunden, die wir gemeinsam verbracht hatten, tröstete ich mich, als ich mit der Bergbahn hoch zum Heidelberger Schloss fuhr.

Ich hatte von einem Schulausflug noch gut in Erinnerung, dass es dort unzählige Mauern gab, hinter denen es steil nach unten ging. Genau das war auch der Grund, warum ich seitdem nicht mehr dort gewesen war. Aber jetzt würde ich mich endlich überwinden. Das Schloss war genau der richtige Ort, um mich langsam an die Höhe heranzutasten. Dachte ich zumindest.

Doch schon, als es mit der Bahn ungewohnt steil nach oben ging, überkamen mich erste Zweifel, und als ich am Schloss angekommen war, erschien mir mein Vorhaben fast unmöglich.

Eine ganze Weile lief ich unschlüssig am Schloss auf und ab – natürlich immer in respektvollem Abstand zu allen Mauern, hinter denen die Tiefe plötzlich auf mich lauern könnte. Doch irgendwann zwang ich mich, mein Vorhaben endlich anzugehen.

Mit schlotternden Knien näherte ich mich einem kleinen Türmchen in der Schlossmauer, aus dem man durch mehrere scheibenlose Fenster direkt nach unten sehen konnte. Schritt für Schritt trat ich weiter an die bedrohliche Tiefe heran, wobei mir jeder Schritt schwerer fiel als der vorige.

Plötzlich trat ein japanisches Pärchen auf mich zu. Die Frau hatte eine Kamera in der Hand. Beide sprachen in gebrochenem Englisch auf mich ein und gestikulierten wild. Es war klar, was sie von mir wollten: das obligatorische Ich-war-da!-Beweisfoto. Ich sollte sie zusammen vor der imposanten und weltbekannten Kulisse fotografieren.

Doch Ablenkung konnte ich gar nicht gebrauchen. Nicht jetzt, wo ich schon so weit gekommen war. Ich brauchte jetzt jedes Fünkchen Konzentration, das ich zusammenklauben konnte.

Mit einer herrischen Geste brachte ich die beiden zum Schweigen. Nur aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie sich einen fragenden Blick zuwarfen, die Achseln zuckten und dann gespannt beobachteten, was ich da eigentlich machte.

Bevor ich ganz an das Fenster im Türmchen herantrat, hielt ich kurz inne, holte tief Luft und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Dann machte ich den entscheidenden Schritt, beugte mich leicht aus dem Fenster.

Ich hatte mit allem gerechnet, mit Schwindel, Übelkeit. Sogar eine Ohnmacht oder einen Schreikrampf hatte ich in Betracht gezogen, doch es passierte – nichts! Ich sah einfach nach unten. Ein bisschen schummrig wurde mir schon, aber das kannte ich aus meiner Kindheit, das lag an der ungewohnten Perspektive.

Ich konnte selbst kaum fassen, dass ich es geschafft hatte.

Plötzlich fiel alle Anspannung von mir ab. Ich lehnte mich an die Wand neben dem Fenster und ließ mich erschöpft nach unten rutschen, bis ich auf dem Steinboden saß. Das japanische Pärchen, das alle meine Bewegungen gespannt verfolgt hatte, begann plötzlich zu lachen und mir zuzujubeln. Anscheinend hatten sie ganz genau verstanden, was gerade passiert war. Ich lächelte ihnen zu und deutete eine kleine Verbeugung an.

Sie revanchierten sich ihrerseits, indem sie ein Foto von mir machten.

Nachdem ich mich einigermaßen von der Anstrengung erholt hatte, machte ich das gesamte Schlossgelände unsicher. Zu jeder Mauer rannte ich hin, nur um mich hinüberzulehnen und nach unten zu sehen.

Dass ich dabei mehr als nur einen irritierten Blick erntete, war mir völlig egal. Ich war so begeistert von mir selbst, dass ich jeden Touristen am Schloss hätte umarmen und küssen können.

 

Nach einer Weile machte ich mich auf den Heimweg. Ich war immer noch in absoluter Hochstimmung. Lilys Herausforderung hatte ich mit Bravour gemeistert, was sollte mich da noch schocken können?

Vielleicht der Hängekorb eines Fensterputzers, überlegte ich, als ich vor ebensolchem zum Stehen kam. Der Korb war mit starken Haken außen an der Glasfassade eines mehrstöckigen Bürogebäudes befestigt. Noch stand er unten an der Straße, aber der Fensterputzer, ein junger Typ mit südländischem Aussehen und Dreitagebart, machte sich gerade für seinen Job fertig, während er mit kräftigen Kaubewegungen einen Kaugummi malträtierte.

Spontan sprach ich ihn an.

»Entschuldige, darf ich dich mal was fragen?«

Er drehte sich zu mir um. »Ja?«

»Kannst du mir einen riesigen Gefallen tun? Es geht um eine Wette, die ich unbedingt gewinnen möchte. Würdest du mich in deinem Korb mit nach oben nehmen? Nur ganz kurz!« Ich setzte mein charmantestes Lächeln ein.

Er sah mich an, als habe ich ihn gebeten, auf einer Kuh drei Mal um den Block zu reiten. Doch schließlich willigte er ein.

»Meinetwegen. Aber echt nur kurz.« Dann grinste er plötzlich. »Oder du bleibst einfach ein bisschen länger und hilfst mir ein bisschen beim Putzen.«

»Äh – nein«, gab ich zurück. »Aber trotzdem danke für das Angebot.«

Trotz meiner Dreistigkeit hielt er mir bereitwillig die Einstiegsklappe für den Korb auf. Ich schlüpfte hinein.

Doch während ich mich auf der Straße noch vollkommen siegessicher gefühlt hatte, schrumpfte meine Zuversicht sofort, als ich merkte, wie wackelig die Vorrichtung war.

»Aber nicht so schnell, okay?«, bat ich kleinlaut und fügte erklärend hinzu: »Ich hatte nämlich bis heute Morgen noch Höhenangst.«

Am Blick des Fensterputzers konnte ich deutlich erkennen, dass er mich spätestens jetzt für nicht mehr ganz zurechnungsfähig hielt, aber immerhin warf er mich nicht raus. Als er den Knopf zum Aufwärtsfahren drückte, setzte sich der Korb ruckelnd in Bewegung.

Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen. Krampfhaft hielt ich mich am Rand des Korbs fest und vermied es, den Blick auf die Straße zu richten, die sich immer weiter entfernte.

Als wir ungefähr auf Höhe des zweiten Stockwerks ankamen, passierte es: Plötzlich sah ich es wieder vor mir, den in die Tiefe stürzenden Körper, die in der Luft wehenden Haare. Mir wurde übel.

»Bitte, lass mich sofort runter«, japste ich atemlos. »Ich muss hier raus!«

Doch der Fensterputzer dachte gar nicht daran, meiner Bitte nachzukommen. Er grinste mich hämisch an. »Ach was, jetzt schaffen wir’s auch bis ganz oben.« Lässig legte er seinen Arm um meine Schulter. »Ich bin ja bei dir.«

»Lass mich sofort runter!«, schrie ich in Panik. Ich griff nach der Steuerung für den Korb, aber der Kerl hielt sie so, dass ich nicht hinkam. Dabei lachte er laut auf.

Ich sah keinen Ausweg mehr. Ich drehte meinen Kopf zu seiner Hand, die immer noch locker über meiner Schulter hing – und biss mit aller Kraft hinein.

Sofort stieß der Fensterputzer mich von sich weg, sodass ich gegen den hinteren Rand des Korbs prallte. Dann starrte er mich hasserfüllt an.

»Was soll denn das? Du verdammte Schlampe!«

Einen Moment lang befürchtete ich, er würde sich auf mich stürzen und mich verprügeln oder aber mich einfach aus dem Korb werfen. Doch er hielt sich nur wehleidig seine Hand und jammerte vor sich hin.

Immerhin hatte ich erreicht, dass der Korb nun wieder nach unten fuhr.

Wir waren noch nicht am Boden angekommen, als ich allen Mut zusammennahm, mich über den Rand schwang und auf die Straße sprang. Mit einem Mal fühlte ich mich leicht und gelöst. Seltsamerweise hatte sich meine Angst genau in dem Augenblick verflüchtigt, als er mich geschubst hatte.

Nachdem ich einen Sicherheitsabstand von ein paar Metern zwischen uns gebracht hatte, drehte ich mich noch einmal zu ihm um. Sein düsterer Blick erinnerte fatal an Hassos Herrchen, als sein Hund meinen Apfelkuchen verspeist hatte.

»Ich danke dir«, rief ich ihm zu. »Ich glaube, du hast mich endgültig kuriert.«

 

Eine besondere Herzensangelegenheit
titlepage.xhtml
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_000.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_001.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_002.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_003.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_004.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_005.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_006.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_007.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_008.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_009.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_010.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_011.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_012.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_013.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_014.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_015.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_016.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_017.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_018.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_019.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_020.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_021.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_022.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_023.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_024.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_025.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_026.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_027.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_028.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_029.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_030.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_031.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_032.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_033.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_034.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_035.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_036.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_037.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_038.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_039.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_040.html
CR!R0WJVXZVBN2DX1Z7D8CJTMYCNY8R_split_041.html