Kapitel 3
Am folgenden Freitag bekam ich endlich die Gelegenheit, meinen Plan in die Tat umzusetzen.
Das Wochenende und die darauffolgenden Tage waren für mich eine einzige Qual gewesen. Bei jeder Polizeisirene war ich aufgeschreckt und hatte daran denken müssen, dass sie der unbekannten Schreiberin gelten könnte, die irgendjemand tot in ihrer Wohnung oder wo auch immer entdeckt hatte.
Ich war fasziniert gewesen, wie viele Möglichkeiten mir selbst einfielen, falls ich meinem Leben mal ein Ende setzen wollte. Leider waren mir dabei aber auch sofort die Bilder vor meinem inneren Auge erschienen, in welchem Zustand man mich auffinden würde. Es war nicht gerade appetitanregend.
Irgendwann hatte ich mir geschworen, dass ich meine Fernsehgewohnheiten dringend umstellen musste. Zu viele Krimis und Thriller waren eindeutig nicht gut für mich. Vielleicht sollte ich es lieber mit Liebesfilmen versuchen – obwohl, das war auch nicht wirklich mein Metier. Blieben wohl nur noch Komödien und Dokumentationen übrig.
Am schlimmsten war es immer morgens beim Frühstück gewesen. Da hatte ich jedes Mal einen bangen Blick in den Lokalteil der Zeitung geworfen. Ich war jeden einzelnen Artikel durchgegangen, auch noch den unbedeutendsten Zweizeiler, bis ich erleichtert festgestellt hatte, dass nichts über den Suizid einer Frau darin stand.
Kurz gesagt: Ich war ein absolutes Nervenbündel gewesen und damit wiederum meinen Kollegen gehörig auf die Nerven gegangen.
Zum Glück hatte mein Chef mich die ganze Woche über mit dem Einsatz seiner geliebten Scherzartikel verschont. Ob er von sich aus zur Besinnung gekommen war, oder ob meine Drohung, beim nächsten Einsatz in meiner Anwesenheit sofort zu kündigen und die Firma nie wieder zu betreten, ihn zur Vernunft gebracht hatte, konnte ich allerdings nicht genau sagen.
Aber wie auch immer – zumindest war er außerordentlich zuvorkommend, als ich ihm am Freitag kurz nach Arbeitsbeginn mitteilte, dass ich am Nachmittag leider früher gehen musste.
Da ich wusste, dass seine Angst vorm Zahnarzt in der Firma schon als legendär galt, hatte ich diesmal einen Zahnarzttermin vorgeschoben. Das klappte bei ihm immer, darauf konnte ich mich verlassen, auch wenn ich es natürlich möglichst sparsam einsetzte. Es war etwa vergleichbar mit der Tatsache, dass die meisten Männer nicht nachzufragen wagten und sich lieber mit betretenen Mienen abwandten, wenn man etwas von einer Untersuchung beim Gynäkologen murmelte.
Zinkelmann hatte mich nur mitfühlend durch seine runden Brillengläser angesehen und mir »viel Mut und wenig Schmerzen« gewünscht. Damit war mein früher Abgang genehmigt gewesen.
Kurz darauf saß ich in der S-Bahn und überlegte noch einmal, ob ich an alles gedacht hatte. Ich hatte recht lange daran gesessen, mir die richtige Strategie zurechtzulegen.
Dieses Mal fuhr ich in die entgegengesetzte Richtung, also in die, aus der die Bahn herkam, die ich normalerweise nahm. Außerdem war ich ein ganzes Stück früher dran als letzte Woche, in der ich das Buch mit der Tagebuchseite gefunden hatte.
Wenn meine Überlegungen stimmten und die Unbekannte freitags immer um die gleiche Zeit die Bahn nahm und ungefähr an derselben Stelle des Bahnsteigs einstieg – was ich sehr hoffte – war die Wahrscheinlichkeit, dass sie mein Buch finden würde, gar nicht so gering. Vorausgesetzt natürlich, jemand anders schnappte es ihr nicht direkt vor der Nase weg.
Ich hatte noch am Samstag in meiner Stammbuchhandlung eben zu diesem Zweck Der Gefangene des Himmels, den dritten Band der Barcelona-Trilogie von Zafón besorgt. Ich hoffte, dass sie diesen Teil noch nicht kannte und sich mit ähnlicher Einsatzbereitschaft auf ihn stürzen würde wie ich auf den Vorgänger-Band. Wenn dieser Wink mit dem Zaunpfahl nicht fruchtete, würde wohl gar nichts mehr helfen.
Ich zog noch einmal den Brief aus meiner Tasche, den ich in das Buch legen wollte, und las ihn zum mindestens dreitausendsten Mal durch.
Hallo,
mein Name ist Isabelle und ich bin 26 Jahre alt. Wir kennen uns nicht, aber ich habe in dem Buch »Das Spiel des Engels«, das du letzte Woche in der S-Bahn ausgesetzt hast, Deine Tagebuchseite gefunden und – wie ich zugeben muss – auch gelesen. Seitdem mache ich mir wirklich große Sorgen um Dich, weil ich mir nicht ganz sicher bin, wie ich Deine letzten Sätze verstehen soll.
Ich denke, ich kann ganz gut nachvollziehen, wie es dir geht. Ich weiß zwar nicht genau, was Dein Mann (oder Dein Freund) gemacht hat, aber es war bestimmt total schäbig. Und ich wollte Dir eigentlich nur sagen, dass er es auf keinen Fall wert ist, dass Du seinetwegen irgendwelchen Mist machst und Dir etwas antust.
Glaub mir, mein Leben ist momentan auch total langweilig, und manchmal frage ich mich, welchen Sinn es überhaupt hat, jeden Morgen aufzustehen. Aber trotzdem ist es doch lebenswert. Ich hoffe also wirklich, dass Du nicht vorhast, Unsinn zu machen.
Wenn Du jemanden zum Reden brauchst, schreib mir doch bitte einfach eine E-Mail. Ich würde Dir wirklich gern helfen.
Liebe Grüße
Isabelle
Darunter hatte ich meine private E-Mail-Adresse notiert.
Ich biss mir nachdenklich auf die Unterlippe. Wenn jemand anderes das Buch fand und meine Nachricht las, musste er mich für komplett durchgeknallt halten. Und wenn tatsächlich die Schreiberin der Tagebuchseite meinen Brief erhielt, ging es ihr wahrscheinlich nicht anders.
Ich rieb mir mit der Hand über das Gesicht. Plötzlich kam mir mein ganzer Plan durch und durch idiotisch vor. Wahrscheinlich würde der Brief in den nächsten Tagen im Internet kursieren, und sofort würde ich mit Tausenden von E-Mails bombardiert werden, in denen sich die Schreiber über mich lustig machten.
Trotzdem, entschied ich schließlich, war es das Risiko wert. Wenn nur eine geringe Chance bestand, meiner unbekannten Schreiberin zu helfen, musste ich sie ergreifen. Zur Not musste ich mir eben eine neue E-Mail-Adresse einrichten.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, legte ich den Brief vorne in das Buch, klappte es zu und ließ es auf einen der freien Sitze gleiten, ehe ich an der Endhaltestelle ausstieg. Ich war viel zu nervös, um direkt die Rückfahrt anzutreten und heimlich zu beobachten, wem mein ausgesetztes Buch in die Hände fiel.
Auf dem Bahnsteig atmete ich ein paar Mal tief durch. Immer noch war es ziemlich heiß und ich hatte das Gefühl, mich dringend etwas abkühlen zu müssen. Also machte mich auf direktem Weg in das nächste Eiscafé.
Ich hatte alles getan, was möglich gewesen war. Jetzt kam der schwierigste Teil. Ich konnte nur noch abwarten, ob sich die Unbekannte tatsächlich bei mir melden würde.
In der Zwischenzeit brauchte ich dringend einen riesigen Eisbecher, am besten den für zwei Personen. Natürlich nur, um meine Samba tanzenden Nerven zu beruhigen.